Sauerland, M. & Krajewski, J. (2012). Banner - Prof. Dr. Jarek ...
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transfer 04/<strong>2012</strong><br />
Werbeforschung & Praxis FORSCHUNG |<br />
<strong>Banner</strong> Blindness –<br />
Ein psychologischer Erklärungsversuch<br />
✉ sauerland@uni-landau.de<br />
✉ krajewsk@uni-wuppertal.de<br />
<strong>Dr</strong>. phil. Martin <strong>Sauerland</strong><br />
Universität Koblenz-Landau<br />
<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Jarek</strong> <strong>Krajewski</strong><br />
Bergische Universität Wuppertal<br />
Im vorliegenden Beitrag wird das Phänomen <strong>Banner</strong> Blindness aus theoretischer<br />
und empirischer Perspektive analysiert. Mit dem Terminus <strong>Banner</strong><br />
Blindness werden Befunde zusammengefasst, aus denen hervorgeht, dass<br />
<strong>Banner</strong>werbung im Internet von Rezipienten oft nicht mit Aufmerksamkeit<br />
belegt wird und die entsprechenden Werbeinhalte nicht erinnert werden können.<br />
Dieses Phänomen wird mithilfe so genannter Top-down-Prozesse der<br />
Infor ma tions verarbeitung analysiert. Diese Prozesse können den Wahr nehmungs<br />
apparat für zielrelevante Reize sensibilisieren und für zielirrelevante<br />
Stimuli, wie z. B. Werbeanzeigen, desensibilisieren. Bei einer zielgerichteten<br />
Recherche im Internet können Werbereize von Rezipienten somit systematisch<br />
ausgeblendet werden. Implikationen einer solchen Konzeption des<br />
<strong>Banner</strong> Blindness-Phänomens für die Gestaltung und Wirkung von <strong>Banner</strong>werbung<br />
werden erörtert.<br />
Schlagworte: � <strong>Banner</strong> Blindness � Präattentive Reizanalyse � Top-down-Prozesse<br />
1 Das Phänomen<br />
Obschon die empirische Befundlage nicht vollständig konsistent<br />
ist, konnte in verschiedenen Studien immer wieder<br />
festgestellt werden, dass <strong>Banner</strong>werbung im Internet von<br />
Internetnutzern oft nicht mit Aufmerksamkeit belegt wird<br />
und die Erinnerungsleistung an die entsprechenden Werbeinhalte<br />
daher äußerst gering ist (Bayles 2000; Burke et al.<br />
2005; Pagendarm/Schaumburg 2001). Dieses Phäno men ist<br />
als sogenannte <strong>Banner</strong> Blindness in die einschlägige Literatur<br />
eingegangen (Benway/Lane 1998; Hervet et al. 2011;<br />
Nielsen 2007). Das Phänomen tritt insbesondere dann auf,<br />
wenn Internetnutzer eine zielgerichtete Recherche durchführen.<br />
Bei einem „frei flottierenden“ Surfen im Internet tritt<br />
das Phänomen hingegen weniger häufig auf. Darüber hinaus<br />
sind insbesondere <strong>Banner</strong> betroffen, die durch eine hohe<br />
Typikalität für Internetwerbung gekennzeichnet sind, während<br />
Werbung, die beispielsweise im Stil eines Dialogfelds<br />
o. Ä. gestaltet ist, weniger oft betroffen ist. In diesem<br />
Beitrag soll das Phänomen <strong>Banner</strong> Blindness aus psychologischer<br />
Perspektive erhellt werden. Es soll geklärt werden,<br />
(a) aus welchen Gründen und (b) auf welche Weise<br />
Internetnutzer <strong>Banner</strong>werbung ausblenden.<br />
transfer Werbeforschung & Praxis, 58 (4), xx-xx<br />
2 Folgen der Marktsättigung<br />
Um verstehen zu können, warum bestimmte Informationsangebote<br />
über Konsumgüter von Personen übersehen, ignoriert<br />
oder gar bewusst vermieden werden, ist es nötig, auf<br />
ein fundamentales Charakteristikum der Märkte einzugehen<br />
– nämlich deren Sättigung. Der Begriff Sättigung beschreibt<br />
hier stark vereinfachend die Tatsache, dass es eine Vielzahl<br />
von Anbietern auf bestimmten Märkten gibt, die eine<br />
Vielzahl von Produkten und Dienstleistungen zur Bedürfnisbefriedigung<br />
bereitstellen, wobei der Bedarf jedoch prinzipiell<br />
gedeckt ist und lediglich noch Ersatzbedarf auf Seiten<br />
der Verbraucher besteht (KroeberRiel/Esch 2011).<br />
Die Sättigung der Märkte hat dazu geführt, dass Verbrau cher<br />
zahlreiche Produkte als austauschbar wahrnehmen (Clancy/<br />
Trout 2002; Esch 2011; Nommensen 1990). So scheint es<br />
beinahe gleichgültig, welche Margarinesorte im Supermarkt<br />
gekauft wird. Die überwiegende Mehrzahl der in dieser<br />
Kategorie angebotenen Produkte scheint sich auf relativ vergleichbarem<br />
Qualitätsniveau bei relativ vergleichbaren<br />
Preisen zu bewegen. Umfragen zeigen auch, dass sogar die<br />
Markenimages der deutschen Kraftfahrzeug hersteller als
04/<strong>2012</strong> | FORSCHUNG<br />
austauschbar erlebt werden (Michael 2002). Dafür sind nicht<br />
ausschließlich Wahrnehmungsverzerrungen auf Seiten der<br />
Verbraucher verantwortlich, denn die Produkte vieler<br />
Produktkategorien scheinen zumeist auch faktisch austauschbar<br />
zu sein – sie besitzen in der Tat ähnliche<br />
Eigenschaften bei vergleichbarer Qualität und ebensolchen<br />
Preisen. Einen Indikator für diesen Sachverhalt stellt ein<br />
Befund aus dem Jahr 2002 dar, der belegt, dass die überwiegende<br />
Mehrzahl der von Stiftung Warentest geprüften<br />
Produkte das Urteil „gut“ erhält (Borsch 2002).<br />
Eine weitere Folge der Marktsättigung besteht darin, dass die<br />
Vielzahl von Anbietern eine „Flut“ von Werbe informationen<br />
für die von ihnen produzierten Produkte erzeugt. Diese<br />
Informationsflut ist zu groß, um von den Verbrauchern vollständig<br />
verarbeitet werden zu können. In Anbetracht der<br />
generell zunehmenden Informations ange bote sind<br />
Verbraucher auf diese Weise mit einem Information<br />
Overload (Informationsüberflutung) konfrontiert, der durch<br />
die limitierte Aufnahmekapazität des menschlichen Bewusstseins<br />
bzw. durch die Beschränkung der menschlichen<br />
Aufmerksamkeitsressourcen zustande kommt. Dieser<br />
Information Overload hat vermutlich zu einer asymmetrischen<br />
Beurteilung der folgenden beiden Fehler geführt:<br />
(1) Ein Fehler besteht darin, alle verfügbaren Informationen<br />
zu registrieren und zu durchdenken, obwohl<br />
ein Großteil der Informationen sich als belanglos für<br />
die Ziele einer Person entpuppen könnte.<br />
(2) Ein weiterer Fehler besteht darin, Informationen generell<br />
abzuwehren, obwohl sich einige darunter befinden,<br />
die wichtig für die Zielerreichung sein könnten.<br />
Die Übermenge an zur Verfügung stehenden irrelevanten<br />
Informationen hat somit möglicherweise eine<br />
„überpauschalisierte“ Abwehrhaltung auf Seiten der<br />
Verbraucher begünstigt. Zumindest jedoch zwingt die<br />
beschränkte Informationsverarbeitungskapazität des<br />
menschlichen Gehirns zu einer selektiven Verteilung<br />
der Aufmerksamkeit auf zielrelevante Reize und somit<br />
zu einer Ausblendung peripherer Informationen.<br />
Eine solche Abwehrhaltung gegenüber irrelevanten<br />
Informationen für die Zielerreichung wird durch eine weitere<br />
Folge der Marktsättigung verstärkt: Werbungtreibende<br />
wetteifern mit allen zur Verfügung stehenden medialen<br />
Mitteln um die begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen der<br />
Verbraucher. Die Verbraucher ihrerseits trachten jedoch<br />
danach, die dadurch oft penetrant anmutende Werbung aktiv<br />
zu vermeiden. Die Ergebnisse einer von unserem Forscherteam<br />
im Jahr 2009 durchgeführten Umfrage mit 65 Befragten<br />
weisen in der Tat darauf hin, dass die überwiegende<br />
Mehrzahl der Verbraucher auf einer Skala von 1 (stimme<br />
sehr zu) bis 5 (stimme überhaupt nicht zu) angibt, dass<br />
Werbung als aufdringlich (M (Median) = 2,44; SD (Standard<br />
abweichung) = 0,63), peinlich (M = 2,88; SD = 0,73),<br />
transfer<br />
Abstract<br />
Werbeforschung & Praxis<br />
In the following article, the phenomenon of banner blindness<br />
will be analyzed from a theoretical and an empirical<br />
point of view. Results of studies are combined using the<br />
term banner blindness, if they show that recipients often<br />
do not pay attention to online banner advertisement and,<br />
hence, cannot remember the relevant content of the advertisement.<br />
This phenomenon is analyzed with so-called topdown<br />
information-processes. These processes can raise<br />
the recipients’ awareness to focus strongly on target-relevant<br />
stimuli, while desensitizing recipients for target-irrelevant<br />
stimuli as e. g. advertisements. Therefore, during target-oriented<br />
online research, stimuli in advertising can be<br />
systematically ignored by recipients. Implications for<br />
design and impact of banner advertisement due to such a<br />
conception of the banner blindness-phenomenon are dealt<br />
with.<br />
frustrierend (M = 2,13; SD = 0,59) und manipulierend (M =<br />
2,31; SD = 0,60) empfunden wird und dass nur selten<br />
Interesse am beworbenen Produkt oder an der Werbung<br />
selbst besteht (nur in 8 Prozent der Werbe begegnungen). Die<br />
Attribute unterhaltsam (M = 3,06; SD = 0,82), stimulierend<br />
(M = 3,50; SD = 0,89) oder informativ (M = 3,45; SD =<br />
0,78) weisen deskriptiv betrachtet hingegen durchwegs<br />
niedrigere Zustimmungswerte auf. Dieser Sachverhalt wird<br />
auch (1) durch das florierende Geschäft mit Ad und<br />
Spamblockern, (2) durch die zahlreichen an Briefkästen<br />
angebrachten Aufkleber mit der Bitte, von Werbesendungen<br />
verschont zu bleiben – teils sogar mit Androhungen des<br />
Rechtswegs bei Zuwiderhandlung – und (3) durch das<br />
ZappingPhänomen exemplarisch belegt. Diese negative<br />
Voreinstellung zur Werbung und die angesprochenen Gegenmaßnahmen,<br />
die von Verbrauchern ergrif fen werden, können<br />
als das Ergebnis einer Abwehrhaltung auf Grund erworbenen<br />
Wissens über werbetechnische Beeinflussungs versuche<br />
verstanden werden (vgl. dazu das Persuasion Knowledge<br />
Model, Friestad/Wright 1994).<br />
Aus all diesen Sachverhalten kann geschlossen werden, wie<br />
die überwiegende Mehrzahl der Werbebegegnungen für<br />
Personen nicht beschaffen ist – sie ist nämlich nicht aktiv<br />
und elaboriert. Auf Grund der Austauschbarkeit von Waren<br />
müssen Verbraucher Werbung oft nicht aktiv verarbeiten,<br />
auf Grund der Informationsüberlastung können sie<br />
Werbung i. d. R. nicht aktiv verarbeiten und wegen ihrer<br />
7
8<br />
transfer 04/<strong>2012</strong><br />
Werbeforschung & Praxis FORSCHUNG |<br />
Aufdringlichkeit wollen Verbraucher Werbung gelegentlich<br />
nicht aktiv verarbeiten (Cho/Cheon 2004). Der psychologische<br />
Zustand, in dem sich Werberezipienten in der überwiegenden<br />
Mehrzahl der Werbebegegnungen befinden, ist – den<br />
bisherigen Ausführungen folgend – mit Begriffen, wie z. B.<br />
aktiv, elaboriert, aufmerksam, interessiert, motiviert oder<br />
reflektierend, somit nicht adäquat beschrieben – zumindest<br />
nicht in Bezug auf die konkrete Werbeinformation.<br />
Werbung begegnet Verbrauchern jedoch unabhängig davon, ob<br />
diese dies wollen, und unabhängig davon, ob diese<br />
Aufmerksamkeitskapazitäten zur Verfügung stehen haben oder<br />
nicht – nämlich beispielsweise im Vorbeifahren an einer<br />
Litfaßsäule, beim Durchblättern einer Zeitschrift, im Hintergrund<br />
bei der Übertragung eines Fußballspiels, beim Radiohören<br />
während einer konzentrierten Autofahrt durch eine<br />
Stadt, in Form der permanent erscheinenden PopUpWerbung<br />
oder auch durch die häufig erscheinende <strong>Banner</strong>werbung während<br />
einer Internetrecherche (Felser 2002; 2007). Auch wenn<br />
Werbebegegnungen dieser Art nur schwer zu vermeiden sind,<br />
so lässt sich der psychologische Zustand, in dem sich die<br />
Verbraucher während der Rezeption befinden, doch oft als<br />
unaufmerksam, desinteressiert, abgelenkt, uninformiert, passiv,<br />
gleichgültig oder sogar abwehrend beschreiben. In eher<br />
physikalischen Beschreibungs dimen sionen sind solche<br />
Werbebegegnungen zumeist unscheinbar, kurz oder eingebettet<br />
in komplexe Reizumgebungen.<br />
Solche Rezeptionszustände hängen mit der erwarteten<br />
Irrelevanz von Werbeinformation für die aktuellen Ziele<br />
einer Person zusammen. So kann eine Person während einer<br />
Werbebegegnung möglicherweise innerlich mit anderen<br />
Sachverhalten beschäftigt sein (z. B. Reflexion über einen<br />
kurz zurückliegenden Streit mit dem Ehepartner) oder sie<br />
ist durch bedeutsame äußere Reize abgelenkt (bspw. ein<br />
Ampelsignal oder die Entdeckung einer Information, die für<br />
ihre Internetrecherche wichtig ist). Wegen der beschränkten<br />
menschlichen Informationsverarbeitungskapazität wird der<br />
Aufmerksamkeitsfokus daher nur selten direkt auf die<br />
Werbeinformationen gerichtet. Dies ist der Grund dafür,<br />
dass angebotene Informationen über Konsumgüter von den<br />
Verbrauchern häufig übersehen, ignoriert oder sogar aktiv<br />
vermieden werden.<br />
3 Das Ausblenden von<br />
Werbeinformationen<br />
Gesetzt den Fall, dass Werbeinformationen oft irrelevant<br />
sind für die aktuellen Motive, Ziele oder Interessen eines<br />
Verbrauchers – auf welche Weise kann diese Person die ihr<br />
begegnenden Werbeinformationen dann ausblenden? Speziel<br />
le kognitive Prozesse ermöglichen die „geistige Aus blendung“<br />
irrelevanter Informationen. Kognitionen sind grundsätzlich<br />
darauf gerichtet, bestimmte motivationale Ziele zu<br />
erreichen und Hindernisse zu beseitigen, die entsprechenden<br />
Zielen entgegenstehen (Anderson 2001). Aus psychologischer<br />
Perspektive ist somit zu erwarten, dass im Falle der<br />
Konfrontation mit einem komplexen Problem (wie z. B.<br />
einer Suchaufgabe bei einer Internetrecherche) entsprechende<br />
problembezogene kognitive Ressourcen massiv rekrutiert<br />
werden und problembezogene neuronale Netz werke aktiviert<br />
werden. So wäre es beispielsweise von Vorteil, wenn<br />
die kognitive Verarbeitung thematisch einschlägiger Informa<br />
tionen stark vorbereitet und forciert werden würde,<br />
sobald ein Individuum mit einem Suchproblem o. Ä. konfrontiert<br />
wird. Damit würde die entsprechende Person beispielsweise<br />
befähigt werden, motiv oder zielrelevante<br />
Reizkonfigurationen mit hoher Geschwindigkeit zu erkennen<br />
und deren Nutzwert adäquat einzuschätzen.<br />
Prozesse der beschriebenen Art lassen sich als Topdown<br />
Prozesse der Informationsverarbeitung rubrizieren (Palmer<br />
1975). Solche TopdownProzesse beginnen zunächst mit der<br />
Aktivierung spezifischer problem bzw. motivrelevanter<br />
Netzwerke in zentralen Bereichen des Gehirns. Bestimmte<br />
Nervenbahnen, die für frühe Schritte der (visuellen) Informationsverarbeitung<br />
zuständig sind, werden sodann von diesen<br />
zentralen motiv oder zielrelevanten Prozessoren selektiv<br />
gehemmt. Gleichzeitig werden andere Nerven bahnen, die für<br />
die frühe visuelle Informationsverarbeitung zuständig sind,<br />
selektiv erregt. Auf diese Weise können frühe perzeptive<br />
Verarbeitungsschritte bei der Informations aufnahme von übergeordneten<br />
motivrelevanten Prozessoren „penetriert“ und<br />
somit die Antworttendenz bestimmter neuronaler Struk turen<br />
moduliert und „umkonfiguriert“ werden. Dies kann z. B. zu<br />
einer Steigerung der Empfindlichkeit der Retina für bestimmte<br />
Reizkonfigurationen wie zielrelevante Wörter oder Bilder führen,<br />
während die Sensibilität für die Wahr neh mung und weitere<br />
Verarbeitung zielirrelevanter Reiz kon fi gurationen, wie z. B.<br />
<strong>Banner</strong>werbung, erschwert, gehemmt oder sogar völlig blockiert<br />
wird. Die Wahrnehmung kann auf diese Weise selektiv<br />
für bestimmte motiv oder zielrelevante Reizklassen sensibilisiert<br />
und für alle anderen Reizklassen desensibilisiert werden<br />
(Metzinger 2003). Wahrnehmungs schwellen und Reaktionszeiten<br />
können somit selektiv für motiv oder zielthematische<br />
Stimuli sinken, während die perzeptuelle Vigilanz und die<br />
Explorationsintensität für motiv oder zielrelevante Reize<br />
ansteigt (vgl. dazu auch die Hypothesentheorie der Wahrnehmung<br />
von Bruner/Postman 1951).<br />
Es existieren zahlreiche empirische Nachweise für TopdownProzesse<br />
dieser Art. Eine beispielhafte Untersuchung<br />
von Gardner et al. (2000) demonstriert ihre Wirkungsweise:<br />
In mehreren Experimenten konnten die Autoren zeigen,<br />
dass Probanden, die durch einen simulierten Computer<br />
Chat Room eine soziale Zurückweisung erfahren hatten, in<br />
einem späteren Gedächtnistest selektiv bessere Erinnerungs<br />
leistungen für soziale Ereignisse aufwiesen (die in<br />
einem zuvor zu lesenden Tagebuch aufgeführt waren) als
Hermann Nitsch Schüttbild/Sevilla<br />
KOSTBARE KULTUR<br />
ÖSTERREICH WEIN<br />
„Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die<br />
Anbetung der Asche.“ Gustav Mahler<br />
www.österreichwein.at
10<br />
transfer 04/<strong>2012</strong><br />
Werbeforschung & Praxis FORSCHUNG |<br />
Probanden, die in dem simulierten Chat Room sozial akzeptiert<br />
wurden. Diese Resultate stützen die Annahme, dass die<br />
Sensibilität für soziale Informationen als eine Funktion der<br />
aktuellen Anschlussmotivation variiert. Die genannten<br />
Autoren generalisieren die Ergebnisse ihrer Experimente<br />
wie folgt: „We believe that just as physical hunger increases<br />
sensitivity to food cues …, social hunger increases sensitivity<br />
to social cues, implying that an individual’s shifting levels<br />
of belonging may fundamentally shape the perception and<br />
representation of his or her social world“ (Gardner et al.<br />
2000, S. 495). Im Rahmen einer Pionierstudie zu diesem<br />
Themenkreis teilten Wispé und <strong>Dr</strong>ambarean (1953) ihre<br />
Probanden in drei Gruppen auf. Die Probanden der ersten<br />
Gruppe nahmen 24 Stunden vor dem eigentlichen Untersuchungsbeginn<br />
keine Nahrung mehr zu sich. Eine weitere<br />
Gruppe fastete lediglich zehn Stunden vor Untersuchungsbeginn,<br />
die Probanden der verbleibenden dritten<br />
Gruppe indes nahmen unmittelbar vor Untersuchungs beginn<br />
noch Nahrung zu sich. Die eigentliche Unter suchung<br />
bestand nun darin, dass die Probanden aller Gruppen versuchen<br />
sollten, Begriffe zu identifizieren, die nur kurz gezeigt<br />
wurden. Einige der Begriffe waren direkt auf den<br />
Deprivationszustand der Probanden bezogen (z. B. lemonade,<br />
munch; übersetzt: Limonade, mampfen), andere hingegen<br />
waren in dieser Hinsicht völlig neutral (z. B. serenade,<br />
hunch; übersetzt: Ständchen, Ahnung). Im Vergleich zur<br />
Kontrollgruppe benötigten die Probanden der ersten beiden<br />
– nahrungsdeprivierten – Gruppen genau dann eine signifikant<br />
kürzere Darbietungsdauer zur Identifizierung der<br />
Begriffe, wenn diese Begriffe bedürfnisbezogen waren. Bei<br />
der Identifikationsgeschwindigkeit der neutralen Be grif fe<br />
traten hingegen keine Unterschiede zwischen den Gruppen<br />
auf. Offenkundig wurde die Verarbeitung nahrungsthematischer<br />
Begriffe durch den experimentell induzierten motivationalen<br />
Zustand der Probanden beeinflusst. Wispé und<br />
<strong>Dr</strong>ambarean resümieren ihre Befunde auf folgende Weise:<br />
„In general we can conclude that with increasing need,<br />
needrelated words are recognized more rapidly.“ (Wispé/<br />
<strong>Dr</strong>ambarean 1953, S. 30).<br />
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind auch<br />
Experimente von Bruner und Goodman (1947) sowie von<br />
Holzkamp und Keiler (1967), aus denen z. B. hervorgeht,<br />
dass ökonomisch deprivierte Kinder die Größe von Münzen<br />
in einem höheren Maß überschätzten als Kinder aus wohlhabenden<br />
Verhältnissen. Auch in diesem Fall wirken sich<br />
Bedürfnisse, Ziele und Interessen auf die Wahrnehmung der<br />
Probanden aus. Hassebrauck und Schwarz (2006) konnten<br />
sogar zeigen, dass Frauen während der fertilen Phase ihres<br />
Zyklus für die Verarbeitung partnerschaftsbezogener Informationen<br />
sensibilisiert waren. Für neutralthematische<br />
Informationen ergab sich hingegen keine beschleunigte<br />
Informationsverarbeitung. Die erhöhte Östrogen aus schüttung<br />
während der fertilen Phase – die vermutete Ursache<br />
der Leistungssteigerung – führt offenbar nicht generell zu<br />
einer beschleunigten kognitiven Verarbeitung, sondern aktiviert<br />
augenscheinlich in funktionaler und selektiver Weise<br />
hochgradig spezialisierte Netzwerke im Gehirn, während<br />
andere Netzwerke unbeeinflusst bleiben oder sogar<br />
gehemmt werden. In einer weiteren frühen Untersuchung<br />
wiesen auch Atkinson und Walker (1956) nach, dass das<br />
Anschlussmotiv (das Bedürfnis nach sozialen Kontakten)<br />
die Wahrnehmung auf motivrelevante Reize auszurichten<br />
vermag. Dazu wurden Probanden aufgefordert, im Rahmen<br />
einer Wahrnehmungsaufgabe anzugeben, welcher von vier<br />
Quadranten, in denen undeutliche Stimuli dargeboten wurden,<br />
ihnen am klarsten erscheint. Die Wahrnehmung hochanschlussmotivierter,<br />
kontaktbedürftiger Personen war<br />
gegenüber demjenigen Quadranten, in dem anschlussthematische<br />
Reize präsentiert wurden, deutlich sensibilisiert.<br />
Abb. 1: Suchpfade von zwei Probanden nach unbemerkter Aktivierung des Ziels, soziale Kontakte zu vermeiden<br />
(links), und unbemerkter Aktivierung des Ziels, soziale Kontakte aufzusuchen (rechts).
04/<strong>2012</strong> | FORSCHUNG<br />
Auch mithilfe von EyeTrackingProzeduren lassen sich –<br />
anhand verschiedener Blickbewegungsparameter – Zusammen<br />
hänge zwischen dem aktuellen Motivationszustand von<br />
Personen und der funktionalen Ausrichtung ihrer Wahrnehmung<br />
auf bedürfnisrelevante Objekte demonstrieren<br />
(z. B. Monty et al. 1975). Monty et al. (1975) boten heroinabhängigen<br />
Probanden und nichtabhängigen Kontrollpersonen<br />
Bilder mit drogenbezogenen und neutralen Inhalten<br />
dar. Gemessen wurden die Blickbewegungen der Proban<br />
den während der Darbietungen der verschiedenen<br />
Reizvorlagen. Wie erwartet wurden die bedürfnisrelevanten<br />
Bildinhalte von den abhängigen Probanden intensiver<br />
exploriert als von den Kontrollpersonen.<br />
In einem Experiment von <strong>Krajewski</strong>, <strong>Sauerland</strong> und<br />
Müssigmann (2011) wurden Probanden entweder mit den<br />
Kosten (Konkurrenz, ansteckende Krankheiten etc.) oder mit<br />
dem Nutzen (Hilfeleistung, Kooperation etc.) interpersoneller<br />
Kontakte unbemerkt konfrontiert (entsprechend ausgerichtete<br />
Items waren in einem scheinbar für das Experiment<br />
belanglosen Fragebogen eingestreut). Es zeigte sich, dass<br />
Probanden, die unbemerkt mit dem Nutzen interpersonaler<br />
Kontakte konfrontiert wurden, soziale Bereiche auf verschiedenen<br />
dargebotenen Bildern signifikant länger explorierten<br />
(� Abbildung. 1, rechter Teil) als Probanden, die mit den<br />
Kosten interpersonellen Kontakts konfrontiert waren<br />
(� Abbildung 1, linker Teil). Hingegen explorierten Probanden,<br />
die mit den Kosten interpersonellen Kontakts konfrontiert<br />
waren, nicht soziale „Flucht und Vermei dungsbereiche“<br />
(z. B. Ausgänge, entlegene Sitzplätze) auf den Bildern signifikant<br />
länger (� Abbildung 1, linker Teil) als Probanden, die<br />
mit dem Nutzen interpersonellen Kontakts konfrontiert wurden<br />
(� Abbildung 1, rechter Teil). Die Flucht und<br />
Vermeidungsbereiche wurden von der erstgenannten Gruppe<br />
auch signifikant schneller entdeckt. Ohne dies zu durchschauen,<br />
zeigten die Probanden somit z. B. soziale Vermeidungstendenzen,<br />
wenn sie zuvor unbemerkt mit den möglichen<br />
Kosten, die durch interpersonellen Kontakt entstehen<br />
können, konfrontiert wurden. Diese Effekte beruhen offenbar<br />
auf einer unbewussten Aktivierung von Zielen, die zu einer<br />
Sensibilisierung für motiv und/oder zielkongruente Reizklassen<br />
bzw. zu einer Desensibilisierung für motiv und/oder<br />
zielinkongruente Reizklassen führt und das Blickverhalten<br />
der Probanden entsprechend steuert.<br />
Insgesamt lassen diese Untersuchungen und Phänomene<br />
den Schluss zu, dass aktualisierte motivationale Zustände,<br />
persönliche Ziele, Erfahrungen und Erwartungen die Wahrnehmung<br />
von Personen auf kongruente Stimuli auszurichten<br />
vermögen und inkongruente Reize ausgeblendet werden<br />
können. Dabei kann es sich einerseits um einen bewusst<br />
kontrollierten Vorgang der Aufmerksamkeits steuerung handeln,<br />
es kann sich aber auch – wie einige der geschilderten<br />
Experimente zeigten – um einen automatischen Prozess<br />
handeln, der unbewusst reguliert wird. Der Befund, dass<br />
transfer<br />
Werbeforschung & Praxis<br />
<strong>Banner</strong>werbung häufig nicht beachtet wird, kann nun ebenfalls<br />
mithilfe der geschilderten Prozesse erklärt werden: Bei<br />
einer Internetrecherche verfolgen Personen in der Regel ein<br />
sehr konkretes Suchziel bzw. sie sind motiviert, etwas<br />
Bestimmtes anzusehen, in Erfahrung zu bringen o. Ä.<br />
Solche Ziele und Motive können TopdownProzesse der<br />
beschriebenen Art in Gang setzen. Die Wahrnehmung der<br />
Internetnutzer wird somit auf motiv oder zielkongruente<br />
Stimuli ausgerichtet und für solche Reizklassen sensibilisiert,<br />
während die Verarbeitung von Reizen, die für die<br />
aktuellen Zielvorgaben der Person irrelevant sind bzw. sein<br />
könnten (z. B. Werbereize), gehemmt wird. Durch letzteres<br />
werden solche Reize somit bewusst oder auch unbewusst<br />
ausgeblendet. Werbereize lassen sich vermutlich sehr oft als<br />
irrelevant für die Zielerreichung klassifizieren. Die Platzierung<br />
von personenbezogener Werbeinformation gelingt<br />
im Internet jedoch zunehmend besser, sodass <strong>Banner</strong>werbung<br />
gelegentlich auch ziel oder motivrelevanten<br />
Charakter haben kann. Ceteris paribus müssten solche personenbezogenen<br />
Werbeinformationen gemäß dem hier vorgestellten<br />
TopdownKonzept somit eher entdeckt und<br />
intensiver exploriert werden. Möglicherweise werden solche<br />
Werbeinformationen jedoch wegen der oben thematisierten<br />
„überpauschalisierten Abwehrhaltung“ – d. h. wegen<br />
der Erwartung, dass die angebotenen Werbeinformationen<br />
höchstwahrscheinlich irrelevant sind, ebenfalls häufig ausgeblendet.<br />
In einem solchen Fall orientiert sich der „ausblendende<br />
Part“ der TopdownMechanismen möglicherweise<br />
an allgemeinen Charakteristika von Werbeanzeigen,<br />
wie z. B. der erwarteten Position auf einer Website oder der<br />
zumeist typischen farbenfrohen Anzeigengestaltung (Friestad/Wright<br />
1994). Dies erklärt auch, warum <strong>Banner</strong> ohne<br />
Werbeinhalt ebenfalls von der <strong>Banner</strong> Blindness betroffen<br />
sein können und weshalb untypische, dialogfeldartige<br />
Werbung weniger stark betroffen ist.<br />
In einem TVSpot für den VW Passat CC (� Abbildung 2)<br />
aus dem Jahr 2008 wurden die beschriebenen Effekte indes<br />
für werbetechnische Zwecke aktiv genutzt. Der Spot zeigt<br />
das zu bewerbende Automobil bei einer Stadtfahrt. Der Spot<br />
endet scheinbar abrupt mit der Frage „Ist Ihnen die Frau mit<br />
dem Leoparden aufgefallen?“. Zum Beweis der Tatsache,<br />
dass in dem Spot tatsächlich eine Frau mit einem Leoparden<br />
an der Leine in der Stadt spazieren geht, wird die entsprechende<br />
Szene des Spots nochmals wiederholt. Der Spot<br />
endet mit dem Slogan „Der neue Passat CC. Wer ihn sieht,<br />
sieht nichts anderes!“. Da die überwiegende Mehrzahl der<br />
Werberezipienten die Frau mit dem Leoparden bei der ersten<br />
Begegnung mit diesem Spot in der Tat nicht bewusst wahrnimmt,<br />
kann diese Werbung bei den Werberezipienten in die<br />
Überzeugung münden, dass das beworbene Auto tatsächlich<br />
die Aufmerksamkeit in besonderer Weise zu fesseln vermag.<br />
Im Rahmen dieser Werbung werden somit zwei psychologische<br />
Effekte ausgenutzt: Zum einen wird der so genannte<br />
Inattentional Blindness Effekt genutzt (Simons/Chabris<br />
11
12<br />
transfer 04/<strong>2012</strong><br />
Werbeforschung & Praxis FORSCHUNG |<br />
Abb. 2: Szene aus einem TV-Spot für den VW<br />
Passat, in welchem der Inattentional Blindness<br />
Effekt werbestrategisch genutzt wurde.<br />
1999), der darin besteht, dass bestimmte potenziell sichtbare<br />
Objekte in der Umwelt einer Person nicht wahrgenommen<br />
werden, weil die Aufmerksamkeit auf Reize fokussiert ist,<br />
die für die aktuelle Zielsetzung der Person bedeutsamer<br />
sind. Zum anderen werden Selbstwahrnehmungsphänomene<br />
genutzt (Bem 1967), die Personen dazu veranlassen, aus der<br />
Beobachtung ihres eigenen Verhaltens (hier: die Frau mit<br />
dem Leoparden verblüffenderweise nicht gesehen zu haben)<br />
auf ihre Einstellungen zu der beworbenen Entität zu schließen<br />
(hier paraphrasiert: „Da der VW Passat meine<br />
Aufmerksamkeit sogar von der ungewöhnlichen Szene mit<br />
dem Leoparden abgelenkt hat, muss er wohl sehr attraktiv<br />
für mich gewesen sein!“).<br />
4 Präattentive Kategorisierung<br />
Wie aber kann ein Reiz bzw. eine Reizklasse aktiv ausgeblendet<br />
werden, ohne zuvor als solche identifiziert und<br />
kategorisiert worden zu sein? Um eine bestimmte Reizklasse,<br />
wie z. B. Werbung, ausblenden zu können, muss<br />
diese Reizklasse prinzipiell in irgendeiner Form als solche<br />
klassifiziert werden, damit sie von der Wahrnehmung ausgeschlossen<br />
werden kann bzw. um ihre weitergehende<br />
Informationsverarbeitung zu hemmen. Diese Leistung ist<br />
zwar durchaus als passiver Vorgang konzipierbar, der als<br />
Nebeneffekt einer selektiven Sensibilisierung des Wahrnehmungsapparates<br />
für zielrelevante Reize zustande kommt<br />
und dadurch eben auch die Verarbeitung anderer, zielirrelevanter<br />
Reize pauschal hemmt. Goschke (1997; 2003) macht<br />
jedoch darauf aufmerksam, dass es nicht adaptiv wäre, eine<br />
einmal gefasste Absicht, ein Ziel o. Ä. gegen jedwede<br />
Ablenkung, situative Verlockung oder jeden anderen Reiz<br />
abzuschirmen, da es gleichzeitig ein biologisches Erfor dernis<br />
ist, möglichst flexibel zwischen verschiedenen<br />
Handlungen und Zielen wechseln zu können. Auch wenn es<br />
adaptiv ist, Absichten etc. zum Zweck der Erreichung langfristiger<br />
Ziele gegen Versuchungen und Ablenkungen aller<br />
Art abzuschirmen, so müssen gefasste Absichten und Ziele<br />
doch auch wieder aufgegeben werden können, wenn eine<br />
veränderte Situation dies erforderlich macht. Die für einen<br />
komplexen biologischen Organismus bestehende Notwendigkeit,<br />
seiner ebenso komplexen Umwelt mit permanenten<br />
KostenNutzenErwägungen zu begegnen, scheint somit<br />
wenig vereinbar mit einer durch einen gewissen Grad an<br />
Rigidität gekennzeichneten blinden Wahrnehmungs und<br />
Handlungssteuerung. Jeder „Zielrealisierungsmodus“ muss<br />
somit potenziell jederzeit von einem wichtigeren Orientierungsmodus<br />
substituiert werden können (z. B. bei auftretender<br />
Gefahr oder einer tatsächlich verlockenden Werbeinformation).<br />
Aus diesen Überlegungen kann geschlossen<br />
werden, dass die Verarbeitung motiv oder zielrelevanter<br />
Reize die Informationsverarbeitung anderer Reizgegebenheiten<br />
nicht völlig unterdrückt. Reize, die für die aktuellen<br />
Ziele einer Person irrelevant sind, werden somit zu einem<br />
gewissen Grad weiterhin parallel verarbeitet. Es erscheint<br />
plausibel, dass in der Regel kurze Attention Shifts stattfinden,<br />
um eine solche Identifizierung und Kategorisierung<br />
eines Reizes – z. B. als Werbung – vorzunehmen. Da<br />
Werbereize oft über spezielle Eigenschaften verfügen (z. B.<br />
hinsichtlich der Farbgestaltung, hinsichtlich des Textanteils<br />
oder ihrer Platzierung), können Reize vermutlich sehr<br />
schnell, d. h. bereits bei einer oberflächlichen Strukturanalyse,<br />
als Werbereize identifiziert werden (Friestad/<br />
Wright 1994). Die Attention Shifts können somit derart<br />
kurz sein, dass sie bei der sie ausführenden Person keinen<br />
bewussten Eindruck der Anzeige oder Anzeigeninhalte hinterlassen<br />
müssen.<br />
Die Identifikation bzw. Kategorisierung eines Reizes als<br />
Werbereiz ist sogar präattentiv, d. h. vollständig unterhalb<br />
der Aufmerksamkeitsschwelle, möglich. Diese präattentive<br />
Reizanalyse ist in der Tat zu weitreichenden Leistungen<br />
imstande: Sie ist auch nicht bloß auf die strukturellen<br />
Merkmale eines Reizes bezogen (z. B. Farbe, Form), sondern<br />
es wird darüber hinaus postuliert, dass ein Reiz sogar<br />
semantisch präattentiv weiterverarbeitet werden kann. So<br />
ist z. B. davon auszugehen, dass Reize präattentiv durchaus<br />
semantischen Kategorien zugeordnet werden können, wie<br />
z. B. den Kategorien Werbung vs. NichtWerbung. Für<br />
Annahmen dieser Art liegen zahlreiche empirische Belege<br />
aus den verschiedensten Bereichen der psychologischen<br />
Forschung vor (MacLeod 1992 oder auch Perrig et. al.<br />
1993; in Bezug auf Werbereize vgl. auch Ducoffe/Curlo<br />
2000). In den genannten Untersuchungen wird bspw. von<br />
einschlägigen Studien mit BlindsightPatienten berichtet,<br />
aus denen hervorgeht, dass diese Patienten sogar die Form<br />
ihrer Hand an ein in ihrem blinden Feld präsentes Objekt<br />
anpassen können, so dass sie es ggf. greifen könnten,<br />
obwohl sie es auf Grund einer neurologischen Störung nicht
charlie chaplin<br />
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bplusd
14<br />
transfer 04/<strong>2012</strong><br />
Werbeforschung & Praxis FORSCHUNG |<br />
bewusst erkennen können. Diese Patienten können Informationen,<br />
die in ihrem blinden Feld präsentiert werden<br />
(z. B. Wörter wie Bank), semantisch voneinander diskriminieren<br />
(z. B. Bank als Kreditinstitut bzw. als Parkbank), je<br />
nachdem, welche Bedeutung bei der Bearbeitung einer entsprechend<br />
konzipierten Aufgabe sinnvoller ist. Zudem wird<br />
in den erwähnten Arbeiten auf die umfangreichen Studien<br />
zum so genannten dichotischen Hören eingegangen, mit<br />
denen mehrfach demonstriert werden konnte, dass akustische<br />
Informationen, die nicht mit Aufmerksamkeit belegt<br />
werden, dennoch semantisch verarbeitet werden können.<br />
Um die beschriebenen Sachverhalte zu veranschaulichen,<br />
soll auf das so genannte CocktailPartyPhänomen eingegangen<br />
werden: Wenn eine Person (Person A) sich bspw.<br />
auf einer Cocktailparty mit einer anderen Person (Person B)<br />
unterhält, richtet sie ihre Aufmerksamkeit i. d. R. auf das<br />
Gespräch mit ihrem Gesprächspartner B. Währenddessen<br />
können andere Informationen, die aus Gesprächen anderer<br />
Personen auf der Party stammen, i. d. R. problemlos ausgeblendet<br />
werden – sie werden bestenfalls als „Hintergrundrauschen“<br />
wahrgenommen. Fällt jedoch in den Gesprächen<br />
dieser anderen Personen ein Wort von hoher Relevanz für<br />
Person A (z. B. ihr Name), dann wird diese Information von<br />
Person A i. d. R. doch bewusst wahrgenommen. Aus diesem<br />
Phänomen kann geschlossen werden, dass Informationen<br />
aus den Gesprächen der anderen Personen von Person A<br />
während ihres Gesprächs mit Person B zumindest soweit<br />
simultan analysiert werden, als semantisch bedeutsame<br />
Reize auch ohne vorhergehende Aufmerksamkeits zuwendung<br />
detektiert werden können. Dieses parallele „Hintergrundscannen“<br />
läuft somit offenbar präattentiv und unbewusst<br />
ab.Solche präattentiven Prozesse lassen sich durch<br />
EyeTrackingMethoden nicht unbedingt erfassen. Die<br />
Tatsache, dass auf <strong>Banner</strong>werbungen häufig keine einzige<br />
Fixation zu finden ist, schließt nicht aus, dass diese<br />
Werbung permanent präattentiv analysiert worden ist. Es ist<br />
durchaus möglich, dass eine Person direkt auf einen Reiz<br />
starrt, ohne diesen bewusst wahrzunehmen oder mit<br />
Aufmerksamkeit zu belegen. Gleichzeitig ist es vice versa<br />
eben auch möglich, dass ein Reiz zwar nicht direkt fixiert,<br />
aber doch registriert wird (LaBerge 1983; Posner et al.<br />
1980). Darüber hinaus geben Blickbewegungsdaten keine<br />
Auskunft darüber, welches „Feature“ eines Reizes von einer<br />
Person während einer Blickfixation auf welche Weise verarbeitet<br />
wird. Zwar zeigen die Ergebnisse einer Untersuchung<br />
unserer Forschergruppe, dass ein positiv signifikanter<br />
Zusammenhang (r = 0,52) zwischen der Anzahl der Blickfixationen<br />
auf präsentierten Werbeanzeigen und dem<br />
bewussten Wiedererkennen dieser Werbeanzeigen in einem<br />
späteren Erinnerungstest zu verzeichnen ist (Hsieh/Chen<br />
2011), allerdings sind die üblichen Erinnerungstests für<br />
Informationen, die präattentiv aufgenommen wurden, nicht<br />
sensibel genug. Um die Art und „Tiefe“ der Verarbeitung<br />
unbeachteter Werbeinformationen ermessen zu können,<br />
müsste stattdessen auf implizite Erinnerungstests rekurriert<br />
werden (Felser 2007).<br />
Die in diesem Kapitel beschriebenen präattentiven Prozesse<br />
können somit dazu führen, dass <strong>Banner</strong>werbung von<br />
Internetnutzern als solche kategorisiert und daraufhin ausgeblendet<br />
wird, ohne dass sie zuvor mit Aufmerksamkeit<br />
belegt oder bewusst als solche erkannt werden muss.<br />
Gleichzeitig können diese präattentiven Prozesse aber auch<br />
dazu führen, dass selbst ausgeblendete <strong>Banner</strong>werbung eine<br />
gewisse Art von Wirkung entfaltet – dies wird im nächsten<br />
Kapitel näher erläutert.<br />
5 Schlussfolgerungen<br />
Die Tatsache, dass <strong>Banner</strong>werbung im Internet häufig nicht<br />
beachtet wird (<strong>Banner</strong> Blindness), mag von Werbetreibenden<br />
bedauert werden, sie mag von Wissenschaftlern wegen<br />
der zugrunde liegenden komplexen psychologischen Prozes<br />
se bestaunt werden und sie mag von Internetnutzern und<br />
potenziellen Werberezipienten als effektive Abwehr maßnahme<br />
gegen ungewollte und aufdringliche Werbe appelle<br />
gefeiert werden. Doch ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen,<br />
dass die im letzten Kapitel beschriebene präattentive<br />
Reizanalyse, die für die Ausblendung erforderlich ist, ausreichen<br />
kann, um bestimmte Werbeeffekte zu erzielen.<br />
Einige psychologische Prozesse greifen nämlich schon<br />
unter solch „eingeschränkten“ Rezeptionsbedingungen. Im<br />
Folgenden werden vier Effekte beschrieben, die auch bei<br />
einer bloß präattentiven Werbereizanalyse bereits Wirkung<br />
entfalten können.<br />
(1) Konditionierung. Beim affektiven Konditionieren<br />
wird ein zunächst neutral bewerteter Stimulus (z. B.<br />
ein Produkt auf einer Werbeanzeige) gemeinsam mit<br />
einem unbedingten Reiz präsentiert, der eindeutig<br />
positiv (oder negativ) bewertet wird (z. B. eine schöne<br />
Landschaft im Hintergrund einer Werbeanzeige).<br />
Als Resultat einer intensiven oder mehrfachen<br />
Kopplung dieser Reize kann erwartet werden, dass<br />
der zuvor neutrale Stimulus ebenfalls positiv (bzw.<br />
negativ) bewertet wird. Reize können im Sinne dieses<br />
affektiven Konditionierens sogar dann miteinander<br />
verknüpft werden, wenn sie subliminal i. e. S. (d. h.<br />
unterhalb der absoluten Wahrnehmungsschwelle) präsentiert<br />
werden (Krosnick et al. 1992). Es ist somit<br />
plausibel, von der Annahme auszugehen, dass solche<br />
Konditionierungsprozesse auch mit Reizen möglich<br />
sind, die lediglich präattentiv (d. h. unterhalb der<br />
Aufmerksamkeitsschwelle) verarbeitet werden.<br />
(2) MereExposure. Auch der MereExposureEffekt<br />
kann unter den Bedingungen der lediglich präattentiven<br />
Werberezeption Wirkung entfalten. Die Mere<br />
ExposureHypothese besagt simplifiziert, dass ein
04/<strong>2012</strong> | FORSCHUNG<br />
Reiz (z. B. eine Werbeanzeige) für Personen umso<br />
sympathischer wird, je häufiger ihnen der Reiz<br />
begegnet (Zajonc 1968). Vertrautheit scheint Reize<br />
somit (zunächst) attraktiv zu machen. Dieses Phänomen<br />
ist vielen Personen insofern bekannt, als<br />
Musikstücke, zu denen sie ursprünglich eine neutrale<br />
Einstellung hatten, bei häufigerem Hören zunächst<br />
zunehmend beliebt werden. Ähnliches ist den Lesern<br />
möglicherweise auch in Bezug auf bestimmte<br />
Personen bekannt. Der MereExposureEffekt kann<br />
gleichermaßen bei aufmerksamer wie auch bei subliminaler<br />
Informationsverarbeitung auftreten (Kunst<br />
Wilson/Zajonc 1980). Es ist somit davon auszugehen,<br />
dass er auch bei einer rein präattentiven Reizanalyse<br />
Wirkung entfalten kann.<br />
(3) Priming. Vereinfacht dargestellt bestehen Priming<br />
Effekte darin, dass bei der Verarbeitung eines präsentierten<br />
Reizes auch semantisch mit diesem Reiz verwandte<br />
Konzepte aktiviert werden. Ein Priming<br />
Effekt kann sehr einfach illustriert werden: Wenn<br />
Personen gebeten werden, sich einen Eisbären,<br />
Schnee und ein Hochzeitskleid vorzustellen, und daraufhin<br />
die Frage beantworten sollen, was eine Kuh<br />
trinkt, dann neigen Personen dazu, die Antwort Milch<br />
zu geben. Offenbar werden durch die zuvor präsentierten<br />
Begriffe („primes“) bestimmte semantische –<br />
im Beispiel die Farbe Weiß verarbeitende – Netzwerke<br />
im Gehirn voraktiviert („priming“), was in dem<br />
Beispiel zur Nennung der falschen Lösung Milch<br />
führt (PrimingEffekt). PrimingEffekte könnten auch<br />
dann auftreten, wenn die entsprechenden primes nicht<br />
mit Aufmerksamkeit belegt wurden. Solche Effekte<br />
konnten sogar schon bei subliminal präsentierten<br />
Reizen nachgewiesen werden (Fitzsimons/Bargh 2003).<br />
Priming kann nach Bargh (2006) in diesem Sinne verstanden<br />
werden als die unbewusste Aktivierung komplexer<br />
konzeptueller Strukturen (z. B. Stereotype,<br />
Emotionen, Motive, Ziele, Normen) mithilfe interner<br />
oder externer, bewusst oder unbewusst registrierter<br />
Reize. Da also auch Motive unbewusst „geprimet“<br />
werden können, kann angenommen werden, dass<br />
auch präattentiv wahrgenommene Werbereize dazu<br />
imstande sind, Konsummotive oder die dazugehörigen<br />
Emotionen anzuregen.<br />
(4) Inzidentelles Lernen. Inzidentelles Lernen bezeichnet<br />
eine Form des Lernens, die ohne die Intention oder<br />
ohne den bewussten Willen einer Person zustande<br />
transfer<br />
Werbeforschung & Praxis<br />
kommt, eine Information in Erinnerung zu behalten<br />
(Hyde/Jenkins 1973). Es konnte mehrfach nachgewiesen<br />
werden, dass die Absicht, Informationen zu<br />
lernen, beinahe unerheblich für die Lern und<br />
Gedächtnisleistung ist. Entscheidend ist lediglich, ob<br />
bestimmte Reizmerkmale tief verarbeitet werden, wie<br />
dies z. B. bei einer emotionalen Bewertung peripherer<br />
Merkmale eines Reizes (etwa ein ästhetisches<br />
Gefallen der Farbgestaltung einer Werbung) der Fall<br />
ist – die eigentliche Werbebotschaft wird dann auch<br />
ohne Lernintention quasi mitgelernt. Das Phänomen<br />
des inzidentellen Lernens ist möglicherweise bekannt,<br />
weil sich Personen oft darüber beklagen, die Melodie<br />
eines ungeliebten Musikstücks (eines „Ohrwurms“)<br />
nicht mehr „aus dem Kopf“ bekommen zu können.<br />
Der entsprechenden Melodie als solcher muss dabei<br />
nie direkt vollständig fokussierte Aufmerksamkeit<br />
gewidmet worden sein.<br />
Die genannten psychologischen Effekte (1) bis (4) sind allerdings<br />
allesamt an bestimmte Bedingungen geknüpft, die in<br />
realen Situationen außerhalb des Labors (z. B. bei einer<br />
Internetrecherche) nicht immer erfüllt sind (z. B. neutrale<br />
Voreinstellung zu einem Produkt, Mehrfachbegegnung,<br />
Abwesenheit von Konkurrenzwerbungen, das Vorliegen entsprechender<br />
Motivdispositionen). Zudem können diese Effekte<br />
– ebenfalls auf Grund der präattentiven Reizanalyse – von<br />
Werberezipienten kontrolliert werden, z. B. durch die unbewusste<br />
Aktivierung konsumhemmender Motive oder konsumkritischer<br />
Kognitionen durch einen Werbereiz (z. B. nicht<br />
dick werden wollen, sparen wollen, sich nicht beeinflussen<br />
lassen wollen etc.; <strong>Sauerland</strong> et al. <strong>2012</strong>; <strong>Sauerland</strong>/Braun,<br />
2009). Verbraucher sind diesen Effekten somit nicht hilflos<br />
ausgeliefert, d. h., sie können nicht „ungewollt“ manipuliert<br />
werden. Die Wirkung, die von dieser präattentiven Art der<br />
Werberezeption ausgeht, bewegt sich daher oft auf dem<br />
Niveau der mit Aufmerksamkeit betrachteten Werbung.<br />
Der Terminus <strong>Banner</strong> Blindness artikuliert bzw. suggeriert ein<br />
Defizit. Das Phänomen, welches dieser Begriff be schreibt,<br />
stellt für Werberezipienten jedoch einen hochgradig funktionalen<br />
psychologischen Mechanismus dar: Auftretende<br />
Reizkonfigurationen im visuellen Feld, die für die aktuellen<br />
Ziele und Bedürfnisse der Rezipienten nicht von unmittelbarer<br />
Relevanz sind, können ausgeblendet werden. Auch für<br />
Werbetreibende besteht auf Grund der <strong>Banner</strong> Blindness kein<br />
Anlass zur Sorge oder Nachsorge, da die entsprechenden<br />
Hinweis: Beiträge in der Rubrik „Forschung“ sind in einer Doppelblind-Begutachtung jeweils von zwei Wissenschaftern und einem<br />
Praktiker bewertet und für die Veröffentlichung in transfer - Werbeforschung & Praxis empfohlen worden. Veröffentlichungen in der<br />
Rubrik „Praxis“ sind vom Herausgeber bewertet und zur Veröffentlichung empfohlen worden. Sie müssen zur Unterscheidung vom<br />
Autor in seinen Pub likationslisten mit dem Zusatz „im Praxisteil von transfer - Werbeforschung & Praxis publiziert“ geführt werden.<br />
Foto:© Kiyoshi Takahase Segundo - Fotolia.com<br />
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16<br />
transfer 04/<strong>2012</strong><br />
Werbeforschung & Praxis FORSCHUNG |<br />
Werbereize trotz der Ausblendung aus dem Bewusstsein der<br />
Rezipienten immer noch präattentiv verarbeitet werden und<br />
somit dennoch eine gewisse Wirkung erzielen können (vgl.<br />
die geschilderten psychologischen Effekte (1) bis (4)) und<br />
diese Effekte sich häufig auf dem Niveau von aufmerksam<br />
betrachteter Werbung bewegen.<br />
Der Wirkungsgrad von <strong>Banner</strong>werbung kann erhöht werden,<br />
wenn die <strong>Banner</strong>werbung nicht die typischen Merkmale<br />
einer Werbeanzeige enthält, da sie unter diesen<br />
Umständen nicht präattentiv als Werbung kategorisiert und<br />
somit von der weitergehenden Analyse ausgeschlossen werden<br />
kann. Eine weitere Möglichkeit zur Erhöhung des<br />
Wirkungsgrades von <strong>Banner</strong>werbung besteht darin, die<br />
Werbung derart zu gestalten, dass sie in die Klasse der zielrelevanten<br />
Reize fällt – in diesem Fall würden die<br />
Werbeinhalte durch die beschriebenen TopdownProzesse<br />
der Informationsverarbeitung sogar in den Fokus der<br />
Aufmerksamkeit gerückt werden können. Dieses Vorgehen<br />
liegt nahe, wenn die entsprechende Werbung auf zielgruppenspezifischen<br />
Internetseiten geschaltet werden kann.<br />
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