Blind und sehend in einer Person - Hans Strasburger
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lichkeitszustände konnte sich die Patient<strong>in</strong><br />
nur <strong>in</strong> Englisch verständigen, <strong>in</strong> anderen<br />
nur <strong>in</strong> Deutsch, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen war sie<br />
beider Sprachen mächtig. Sie hatte e<strong>in</strong>ige<br />
Jahre ihrer K<strong>in</strong>dheit <strong>und</strong> Jugend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
englischsprachigen Land verbracht <strong>und</strong><br />
dort nur Englisch gesprochen.<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser Beobachtungen, die<br />
auch mit fremdanamnestischen Angaben<br />
durch Fre<strong>und</strong>e der Patient<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />
mit den Beobachtungen <strong>in</strong> der psychiatrischen<br />
Kl<strong>in</strong>ik, <strong>in</strong> der sie unmittelbar<br />
vor Beg<strong>in</strong>n der Psychotherapie behandelt<br />
wurde, übere<strong>in</strong>stimmten, waren alle<br />
Kriterien des DSM-IV für die Diagnose<br />
e<strong>in</strong>er dissoziativen Identitätsstörung erfüllt.<br />
Die Bezeichnung „dissoziative Identitätsstörung“<br />
ist gegenüber dem noch <strong>in</strong><br />
der ICD-10 verwendeten Begriff „multiple<br />
Persönlichkeit(sstörung)“ def<strong>in</strong>itorisch<br />
treffender <strong>und</strong> hat sich <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>schlägigen<br />
Literatur auch seit vielen Jahren<br />
durchgesetzt [3]. Für e<strong>in</strong>e operationalisierte<br />
Diagnostik hat sich unter mehreren<br />
Screen<strong>in</strong>g<strong>in</strong>strumenten <strong>und</strong> Interviewverfahren<br />
das Structured Cl<strong>in</strong>ical Interview<br />
for DSM-IV Dissociative Disorders<br />
SCID-D [20] als besonders reliables<br />
<strong>und</strong> valides Diagnose<strong>in</strong>strument bewährt<br />
[21], das als Strukturiertes Kl<strong>in</strong>isches Interview<br />
für Dissoziative Störungen SKID-<br />
D auch <strong>in</strong> deutscher Übersetzung vorliegt<br />
[4]. Auch nach dieser Operationalisierung<br />
der DSM-IV-Kriterien durch das SCID-D<br />
war bei der Patient<strong>in</strong> die Diagnose e<strong>in</strong>er<br />
dissoziativen Identitätsstörung zu stellen.<br />
Therapie <strong>und</strong> Verlauf<br />
Im 4. Jahr der psychotherapeutischen Behandlung<br />
1 , zu der die Patient<strong>in</strong> stets mit<br />
ihrem <strong>Bl<strong>in</strong>d</strong>enführh<strong>und</strong> erschien, konnte<br />
die Patient<strong>in</strong> unmittelbar nach e<strong>in</strong>er Behandlungsst<strong>und</strong>e<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ihrer jugendlichen<br />
männlichen Identitätszustände<br />
plötzlich e<strong>in</strong>zelne Worte auf der Titelseite<br />
e<strong>in</strong>er Zeitschrift erkennen. Diese Wahrnehmungsfähigkeit<br />
beschränkte sich zunächst<br />
nur auf ganze Wörter (die das Wort<br />
bildenden Buchstaben konnten nicht e<strong>in</strong>zeln<br />
erkannt werden) <strong>und</strong> auf diesen e<strong>in</strong>en<br />
Persönlichkeitsanteil. In den folgenden<br />
Behandlungsst<strong>und</strong>en konnte diese Fähig-<br />
1 Zur Psychotherapie dissoziativer Identitätsstörungen<br />
s. [2, 16].<br />
2 | Der Nervenarzt 2007<br />
Kasuistiken<br />
keit zunächst auf besonders hell beleuchtete<br />
Objekte <strong>und</strong> dann relativ rasch auf die<br />
gesamte visuelle Wahrnehmungswelt generalisiert<br />
werden. Mittels hypnotherapeutischer<br />
Techniken konnte dieser Effekt<br />
sodann auch auf andere Persönlichkeitsanteile<br />
generalisiert werden.<br />
Über e<strong>in</strong>ige Monate h<strong>in</strong>weg existierten<br />
nun gleichzeitig zunehmend mehr<br />
Persönlichkeitsanteile, die vollständig<br />
sehen konnten, <strong>und</strong> zunehmend weniger<br />
Persönlichkeitsanteile, die weiterh<strong>in</strong> vollständig<br />
bl<strong>in</strong>d waren, wobei diese verschiedenen<br />
Zustände der Sehfähigkeit sek<strong>und</strong>enschnell<br />
alternieren konnten.<br />
Visuell evozierte Potenziale im<br />
<strong>sehend</strong>en <strong>und</strong> im bl<strong>in</strong>den Zustand<br />
In dieser Phase der gleichzeitigen Existenz<br />
<strong>sehend</strong>er <strong>und</strong> bl<strong>in</strong>der Persönlichkeitszustände<br />
wurde e<strong>in</strong>e Ableitung visuell evozierter<br />
Potenziale vorgenommen, um e<strong>in</strong>erseits<br />
e<strong>in</strong>e unabhängige Überprüfung<br />
der früher gewonnenen Resultate zu erlangen<br />
<strong>und</strong> andererseits zu prüfen, <strong>in</strong>wieweit<br />
die Angaben der Patient<strong>in</strong> mit physiologischen<br />
Korrelaten e<strong>in</strong>hergehen.<br />
Methoden<br />
Bei den Messungen kamen (wie auch zuvor)<br />
die <strong>in</strong> der neuroophthalmologischen<br />
Praxis zur Bef<strong>und</strong>ung der Intaktheit des<br />
primären Übertragungsweges gängigen<br />
Schachbrettmusterumkehr-VEP zum<br />
E<strong>in</strong>satz (vgl. etwa [9]). Die Reizdarbietung<br />
geschah an e<strong>in</strong>em 12-Zoll Schwarz-<br />
Weiß-Monitor (JVC TM-122), angesteuert<br />
durch e<strong>in</strong> VEP/EMG-Erfassungssystem<br />
(Neuropack 2, Hersteller Nihon<br />
Kohden). Die Reizung erfolgte b<strong>in</strong>okular<br />
mit Visuskorrektur. Bei dem verwendeten<br />
Betrachterabstand von 150 cm ergab<br />
sich e<strong>in</strong>e Reizfläche von 6,7°×9,3°<br />
Sehw<strong>in</strong>kel (17,5 cm×24,3 cm). Es wurden<br />
niedrige <strong>und</strong> hohe Ortsfrequenzen (große<br />
bzw. kle<strong>in</strong>e „Karos“) e<strong>in</strong>gesetzt (6×8 bzw.<br />
45×60 Musterelemente), mit e<strong>in</strong>er Elementgröße<br />
von 1,2° bzw. 0,15° Sehw<strong>in</strong>kel.<br />
Die Modulationsfrequenz betrug 1 Hz<br />
<strong>und</strong> 10 Hz, d.h. es wurden sowohl transiente<br />
wie stationäre („Steady-state-)Potenziale“<br />
erfasst. Die Signalerfassung (Vor-<br />
<strong>und</strong> Hauptverstärker, Signalanalyse) geschah<br />
an der gleichen Anlage (Bandpass<br />
0,5–100 Hz, 50-Hz-Sperrfilter, 32 Mitte-<br />
lungen). Die differente Elektrode wurde<br />
entsprechend Oz, die <strong>in</strong>differente entsprechend<br />
Fpz platziert (entsprechend <strong>in</strong>ternationalem<br />
10-20-System). Die Elektrodenimpedanzen<br />
lagen unter 5 kOhm.<br />
Die VEP-Ableitungen dauerten jeweils<br />
nicht länger als 2 m<strong>in</strong>, es wurden Pausen<br />
von 5 m<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gelegt. Die Reihenfolge der<br />
aktivierten Persönlichkeitszustände wurde<br />
teilbalanciert (Reihenfolge: <strong>sehend</strong>,<br />
bl<strong>in</strong>d, <strong>sehend</strong>), um auszuschließen, dass<br />
durch Ermüdung (trotz der Ruhepausen)<br />
Amplitudenabnahmen oder Fixationsunregelmäßigkeiten<br />
auftraten. Die VEP-Latenzen<br />
des transienten VEP s<strong>in</strong>d gegenüber<br />
Ermüdung ohneh<strong>in</strong> weitgehend <strong>in</strong>different.<br />
E<strong>in</strong> zusätzlicher Beobachter kontrollierte<br />
die Augenstellung der Patient<strong>in</strong><br />
während der gesamten Messdauer. Somit<br />
wurde sichergestellt, dass auch im bl<strong>in</strong>den<br />
Zustand (S−) unveränderte Vigilanz<br />
vorlag, die Augen geöffnet blieben, ke<strong>in</strong>e<br />
verstärkte Bl<strong>in</strong>zelreaktion auftrat <strong>und</strong><br />
gleicher Fixationsort (<strong>in</strong>nerhalb etwa 2°)<br />
vorlag. Ausgeschlossen wurde hierdurch<br />
<strong>in</strong>sbesondere auch Schielen oder Fixieren<br />
von Randbereichen des Monitors oder<br />
Punkten ganz außerhalb.<br />
Die Untersuchung wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em tageslichtlosen<br />
Raum mit abgedimmter,<br />
gleichbleibender Beleuchtung durchgeführt;<br />
sie geschah gegen 18 Uhr abends.<br />
Zum Zeitpunkt der Untersuchung war die<br />
Proband<strong>in</strong> wach, positiv motiviert <strong>und</strong><br />
entspannt. Die Untersuchungen wurden<br />
<strong>in</strong> Begleitung des Therapeuten durchgeführt.<br />
Ergebnisse<br />
Zunächst wurde die Proband<strong>in</strong> im Zustand<br />
der Normalsichtigkeit, d. h. mit den<br />
visuskompetenten Persönlichkeitsanteilen<br />
(S+) untersucht. Es fand sich bei niedriger<br />
<strong>und</strong> hoher Ortsfrequenz <strong>und</strong> bei Stimulationsfrequenzen<br />
von 1 Hz wie auch<br />
10 Hz e<strong>in</strong> gut reproduzierbares kortikales<br />
Antwortpotenzial mit Latenz von 104–<br />
106 ms <strong>und</strong> Amplitude über 10 μV. Die<br />
Ergebnisse waren jeweils reproduzierbar<br />
(. Abb. 1). Dann wurde e<strong>in</strong> „bl<strong>in</strong>der“<br />
Persönlichkeitszustand durch Aufrufen<br />
se<strong>in</strong>es Namens aktiviert. In diesem Zustand<br />
der fehlenden subjektiven Sehfähigkeit<br />
(S−) ließen sich weder bei transienter<br />
(1 Hz) noch stationärer (10 Hz) Reizung,