Aufgabenanalyse
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Kapitel 11<br />
User Interface Engineering: Einleitung<br />
In diesem kurzen Kapitel wird der Prozess der Entwicklung von Benutzungsschnittstellen<br />
auf einer hohen Ebene charakterisiert. Ziel dieses Prozesses ist es systematisch,<br />
zuverlässig und in einer reproduzierbaren Form gut nutzbare, attraktive Benutzungsschnittstellen<br />
zu entwickeln. Dabei werden wesentliche Phasen der Entwicklung<br />
und typische Ergebnisse dieser Phasen beschrieben. Vergleiche mit der klassischen<br />
Softwareentwicklung dienen dazu, die Besonderheiten des User Interface<br />
Engineerings zu verdeutlichen und sollen Orientierung geben für eine integrierte<br />
Entwicklung, die die Benutzungsschnittstelle und die anderen Teile einer Computerunterstützung<br />
umfasst. So umfasst das User Interface Engineering auch Aktivitäten,<br />
die für das Softwareengineering charakteristisch sind, wie die Analyse, die<br />
Sammlung und Strukturierung von Anforderungen, die Erstellung von Spezifikationen<br />
und in späten Phasen die Bewertung von Prototypen (Evaluierung). Im Unterschied<br />
zum klassischen Softwareengineering sind diese Aktivitäten hier konsequent<br />
auf die Benutzersicht fokussiert und nicht auf die technische Sicht (Daten, Bandbreite,<br />
Performance, Funktionalität, . . . ). Am Beispiel der Evaluierung lässt sich<br />
dieser Unterschied gut erklären. Während im klassischen Softwareengineering die<br />
korrekte Funktionalität, die Performance und die Zuverlässigkeit im Vordergrund<br />
stehen, werden im User Interface Engineering vor allem die Usability Faktoren Erlernbarkeit,<br />
Behaltensleistung, Effizienz und Fehlerrate (der Benutzer) betrachtet.<br />
Der in diesem Teil beschriebenen Methoden können auf verschiedene Weise zu<br />
einem Prozess kombiniert werden. Auf diese Weise ist eine Anpassung an konkrete<br />
Projektsituationen möglich. Nicht zuletzt aus Kostengründen ist es oft nötig, den<br />
Umfang einzelner Phasen zu begrenzen bzw. Methoden einzusetzen, die mit geringerem<br />
Aufwand verbunden sind. Insofern wird bei der Vorstellung der Methoden<br />
das Aufwand-Nutzen-Verhältnis konsequent betrachtet. Die Gegenüberstellung von<br />
Aufwand und Nutzen ist eine wichtige Argumentation und ist bereits 1994 durch<br />
das Buch Bias and Mayhew [1994] populär geworden. Einige Methoden des User<br />
Interface Engineering sind in verschiedenen Phasen oder sogar in allen Phasen anwendbar.<br />
Diese werden in diesem übergreifenden Kapitel kurz vorgestellt. Beispielhaft<br />
skizzieren wir zwei etablierte Prozesse, die szenariobasierte Entwicklung und<br />
die kontextbasierte Entwicklung.<br />
451
Das Ziel, Benutzer und ihre Arbeit kennenzulernen, ist schwer umzusetzen, da<br />
Entwickler häufig zunächst Kontakt zu den Auftraggebern haben. Diese sind aber in<br />
der Regel nicht die Benutzer der zu entwickelnden Systeme, sondern deren Vorgesetzte.<br />
Die Kunden eines Systems sind also vielfach nicht die Benutzer. Deswegen<br />
wird teilweise von Endbenutzern gesprochen, um zu verdeutlichen, dass es sich um<br />
diejenigen handelt, die unmittelbar mit einem System interagieren.<br />
In vielen Fällen ist es schwierig, Vorgesetzte davon zu überzeugen, dass ein direkter<br />
Kontakt mit den betroffenen Mitarbeitern erforderlich ist, denn die „Chefs“<br />
sind oft der Meinung, selbst die Probleme zu kennen. Thimbleby [1990] beschreibt<br />
in Kapitel 7, inwiefern Manager nicht imstande sind, die Arbeitsaufgaben ihrer Mitarbeiter<br />
in vollem Umfang korrekt einzuschätzen. Zwar können die meisten Manager<br />
gut einschätzen, welche Aufgaben ihre Mitarbeiter haben und welche Arbeitsergebnisse<br />
sie von diesen bekommen, aber sie kennen oft die Schwierigkeiten auf<br />
dem Weg zu diesen Ergebnissen nicht. Probleme und Schwierigkeiten, die umschifft<br />
werden müssen, werden häufig Vorgesetzten nicht mitgeteilt („man spricht nur über<br />
seine Erfolge“) oder von diesen verdrängt. Diese Unkenntnis der praktischen Probleme<br />
ist eine entscheidende Ursache dafür, dass die alleinige Beteiligung der Vorgesetzten<br />
auf der Seite der Benutzer nicht ausreichend ist.<br />
Geis and Hartwig [1998] beschreiben einen derartigen Fall, wo bei der Entwicklung<br />
einer Software die Benutzer durch einen Abteilungsleiter „repräsentiert“ wurden.<br />
Dieser ging davon aus, dass das, was für ihn gut ist, für seine Mitarbeiter nicht<br />
falsch sein kann. Im Ergebnis entstand ein gutes Management-Informationssystem,<br />
das zwar auf ihn selbst zugeschnitten war, aber mit dem seine Mitarbeiter – zu seiner<br />
Verwunderung – wenig anfangen konnten.<br />
11.1 Historische Entwicklung: Vom Usability Engineering zum<br />
User Interface Engineering<br />
Zu den Gebieten, die das User Interface Engineering maßgeblich beeinflusst haben,<br />
gehört die Luftfahrt, speziell die Entwicklung des Cockpits. Dass diese Entwicklung<br />
auf die kognitiven und motorischen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Piloten<br />
zugeschnitten sein muss und dass diese Eigenschaft nur durch enge Zusammenarbeit<br />
mit Piloten erreichbar ist, war frühzeitig klar. Butler [1996] erläutern dies unter<br />
dem passenden Stichwort pilot-centered design.<br />
11.2 Der Kontext der Softwareentwicklung<br />
In diesem Abschnitt, werden einige typische Situationen betrachtet, in denen Benutzungsschnittstellen<br />
entwickelt werden. Diese Betrachtung hilft zu verstehen, warum<br />
selbst elementare Erkenntnisse der Mensch-Computer-Interaktion oft kaum umgesetzt<br />
werden. Die Entwicklungskontexte bieten in unterschiedlichem Umfang Mög-<br />
452
lichkeiten, User Interface Engineering systematisch zu betreiben. Das User Interface<br />
Engineering ordnet sich in größere Softwareentwicklungsprozesse ein. Sie ist dabei<br />
von einem organisatorischen Rahmen geprägt, der ein modernes User Interface Engineering<br />
unterstützt oder eher behindert.<br />
In vielen Organisationen, die heutzutage in erheblichem Umfang Benutzungsschnittstellen<br />
entwickeln, spielte die User Interface-Entwicklung zuvor lange nur<br />
eine geringe Rolle und dementsprechend sind die Abläufe oft nur unzureichend auf<br />
das User Interface Engineering zugeschnitten. Die Softwareentwicklung ist oft von<br />
Vorgehensmodellen geprägt, die nicht auf die Entwicklung von benutzergerechten<br />
Systemen zugeschnitten sind. Auch die Strukturierung von Entwicklungsabteilungen<br />
beeinflusst häufig die Entwicklung interaktiver Systeme – meist eher negativ als<br />
positiv.<br />
In vielen Organisationen wird die gesamte Softwareentwicklung nach dem traditionellen<br />
Wasserfallmodell durchgeführt, das verschiedene Phasen enthält, wobei<br />
allenfalls ein Zyklus von einer Phase zu der direkt davor liegenden Phase „zulässig“<br />
ist. Das Wasserfallmodell und seine Realisierung entsprechend der Strukturierten<br />
Analyse [DeMarco, 1978]. werden den Spezifika von interaktiven Systemen, insbesondere<br />
der Notwendigkeit von häufigen Veränderungen, nicht gerecht. Tests der<br />
Akzeptanz einer Bedienoberfläche und Auswertungen hinsichtlich der Effizienz der<br />
Interaktion haben in diesem Modell keinen Platz.<br />
GRUDIN hat drei unterschiedliche Szenarien der Softwareentwicklung identifiziert<br />
und analysiert, wie in diesen unterschiedlichen Situationen benutzergerechte<br />
Systeme entwickelt werden können [Grudin, 1991] (siehe Abb. 11.1):<br />
1. Vertragsentwicklung nach einer Ausschreibung. Dieses Szenario tritt besonders<br />
häufig in Zusammenhang mit öffentlichen Einrichtungen, z.B. Behörden oder<br />
Krankenhäusern, auf: Ein Projekt wird in der öffentlichen Einrichtung spezifiziert.<br />
Daraufhin wird in einer Ausschreibung eine Firma gesucht, die dieses<br />
Projekt realisiert. Während die Benutzer in der Regel von Anfang an bekannt<br />
sind, werden die Entwickler später bestimmt. Diese Vorgehensweise ist auch<br />
in Firmen üblich und hat im Vergleich zu dem dritten Szenario durch Outsourcing-Aktivitäten<br />
an Bedeutung gewonnen. 1<br />
2. Produktentwicklung. Dieses Szenario tritt mittlerweile am häufigsten auf. Eine<br />
Firma entwickelt ein Produkt und bringt es auf den Markt. Wer das Produkt<br />
tatsächlich benutzt, stellt sich erst später heraus. Hier existiert also ein größeres<br />
Maß an Unsicherheit über die Benutzer. Im Consumerbereich ist dies praktisch<br />
das einzige Softwareentwicklungsszenario. Aber auch im professionellen<br />
Umfeld wächst die Bedeutung dieses Szenarios – Software wird auf dem freien<br />
Markt eingekauft. Teilweise wird dieses Szenario mit dem ersten so kombiniert,<br />
dass die eingekaufte Standardsoftware durch entsprechende Berater so<br />
konfiguriert und ggf. in Details erweitert wird, dass sie auf firmenspezifische<br />
Besonderheiten bestmöglich eingestellt ist – dieses Szenario betrifft vor allem<br />
betriebliche Standardsoftware.<br />
1 Unter dem Stichwort Outsourcing werden die Aktivitäten zusammengefasst, die eine Auslagerung<br />
von DV-Abteilungen zum Ziel haben.<br />
453
3. Entwicklung in der eigenen Firma. Viele Projekte werden in Rechenzentren<br />
oder Datenverarbeitungsabteilungen für andere Abteilungen einer Firma realisiert.<br />
Bei diesen Projekten stehen die Entwickler und die Anwender von vornherein<br />
fest. Dies ist oft in Banken und Versicherungen der Fall, die häufig über<br />
Entwicklungsabteilungen von der Größe mittelgroßer Softwarehäuser verfügen.<br />
Man konnte in den 90er Jahren teilweise den Eindruck gewinnen, dass dieses<br />
Szenario rapide an Bedeutung verliert, weil verstärkt versucht wurde, Kosten<br />
durch Auslagerungen, speziell ins Ausland, zu sparen. Dieser Trend hat sich<br />
abgeschwächt, teilweise sogar umgekehrt und allein aus Gründen von Datenschutz<br />
und Sicherheitsüberlegungen ist zu erwarten, dass dieses Szenario weiterhin<br />
relevant bleibt.<br />
Diese schematische Darstellung ist am ehesten anwendbar bei Projekten, die einen<br />
konkreten Startpunkt haben, z.B. in Form einer Entscheidung, ein System zu modifizieren,<br />
zu ersetzen oder gänzlich neu zu entwickeln, und ein konkretes Auslieferungsdatum.<br />
Abb. 11.1: Verbreitete Szenarien der Software- und User Interface-Entwicklung.<br />
Der Beginn der Balken (links) markiert, in welchem Stadium des Projekts Benutzer<br />
bzw. Entwickler bekannt sind. Das (rechte) Ende der Balken symbolisiert das<br />
Projektende, das zeitlich hinter der Systemauslieferung liegt. Dadurch wird berücksichtigt,<br />
dass auf Benutzerreaktionen nach der Auslieferung reagiert wird. (Nach<br />
[Grudin, 1991]).<br />
Zwischen diesen drei Szenarien sind verschiedene Mischformen üblich. So kann<br />
nach einer Vertragsentwicklung eines Systems eine Erweiterung in Richtung eines<br />
Produktes entstehen, das auf den Erfahrungen (auch der Benutzer) mit dem ursprünglichen<br />
System aufbaut. Eine Vertragsentwicklung kann auch ohne Ausschreibung<br />
in einer sehr frühen Phase erfolgen.<br />
Jede dieser drei Entwicklungssituationen hat die gegenwärtige Praxis der Entwicklung<br />
interaktiver Systeme beeinflusst. Viele Firmen haben sich speziell auf eines<br />
dieser Szenarien eingestellt.<br />
454
11.2.1 Vertragsentwicklung<br />
Die Vertragsentwicklung mit dem Fokus auf Methoden des Softwareengineerings<br />
spielt insbesondere in den USA eine herausragende Rolle. Die bedeutenden Modelle<br />
des Softwareengineerings, das Phasenmodell und das Wasserfallmodell, sind unter<br />
maßgeblicher Mitwirkung der US-Behörden entstanden. Das Wasserfallmodell<br />
ist teilweise noch heute die Grundlage für Ausschreibungen. Nachdem die Benutzerorganisation,<br />
die Machbarkeit und den Nutzen eines Projekts überprüft und eine<br />
Anforderungsanalyse erstellt hat, erfolgen separate Ausschreibungen für die Spezifikationsphase,<br />
die Implementierung und die Wartung. Ein direkter Kontakt zwischen<br />
Entwicklern und Benutzern ist so kaum möglich. Das Wasserfallmodell ist<br />
von großen Softwareherstellern akzeptiert worden und bildet die Grundlage für die<br />
Strukturierung der Entwicklungsabteilungen und für die Konzeption von Schulungen.<br />
Diese Situation ist für ein modernes User Interface Engineering problematisch.<br />
Die Entwickler von Benutzungsschnittstellen sind an Spezifikationsdokumente gebunden.<br />
Ein direkter Kontakt zu den Benutzern kommt nicht zustande bzw. bleibt<br />
ohne angemessene Konsequenzen, da in erster Linie ein Vertrag zu erfüllen ist. „Die<br />
Spezifikationsdokumente stellen eine Wand zwischen Benutzern und Entwicklern<br />
dar.“ [Grudin, 1991]. Die Einhaltung der Spezifikation hat die höchste Priorität.<br />
11.2.2 Produktentwicklung<br />
Die Produktentwicklung mit dem Fokus auf der Benutzungsschnittstelle hat an Bedeutung<br />
gewonnen, da durch die geringen Hardwarekosten ein Massenmarkt entstanden<br />
ist. Dennoch wird der größte Teil des Umsatzes mit Software nicht durch<br />
den Verkauf an Privatkunden, sondern durch den Verkauf an Firmen erzielt. Beim<br />
Verkauf an Firmen ist es in der Regel so, dass die „Entscheidungsträger“, die als<br />
Kunden in Erscheinung treten, nicht die Benutzer sind. Falls ein System nur mühsam<br />
zu bedienen ist, können interne Schulungen durchgeführt und Administratoren<br />
mit der Konfiguration beauftragt werden. Schließlich kann ein Vorgesetzter seine<br />
Mitarbeiter sogar dazu verpflichten, ein System zu benutzen. Von all diesen internen<br />
Schwierigkeiten erfahren die Entwickler höchstens über Umwege.<br />
Obwohl bei der Produktentwicklung, insbesondere für Privatkunden, der Benutzungsschnittstelle<br />
mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist der direkte Kontakt<br />
zwischen Entwicklern und Benutzern eher die Ausnahme. Die Entwicklungsfirmen<br />
holen sich Rat bei Marktforschern und Beratern, die zumindest ein gutes Gefühl<br />
für die Absetzbarkeit eines Produktes haben sollten. Bei der Absetzbarkeit spielen<br />
zwar auch Aspekte der Benutzbarkeit eine Rolle. Diese indirekte Methode führt aber<br />
kaum dazu, dass die Entwickler ein detailliertes Verständnis von Benutzbarkeitsproblemen<br />
bekommen. Die grundsätzlichen Probleme mit diesem Vorgehen werden in<br />
Abschn. 11.2.4 erläutert.<br />
455
In den 80er Jahren ist das Bewusstsein gewachsen, dass bestimmte, generische<br />
Aspekte die Benutzbarkeit fast aller Systeme beeinflussen: ein einheitliches Lookand-Feel<br />
und die Einhaltung von Standards mindern den Lernaufwand. Untersuchungen<br />
zur Strukturierung von Menüs (Zahl der Einträge und Hierarchieebenen)<br />
und zur Benutzung von Farben, die sich auf die kognitiven Fähigkeiten der Benutzer<br />
stützen, wurden in diesem Szenario mehr und mehr berücksichtigt. Allerdings<br />
spielen die spezifischen Aspekte, die die Benutzbarkeit konkreter Systeme für spezifische<br />
Aufgaben und bestimmte Benutzergruppen beeinflussen, nach wie vor eine<br />
geringere Rolle.<br />
Dennoch ist die Beachtung von Usability- und User Experience-Aspekten bei<br />
dieser Form der Softwareentwicklung am stärksten ausgeprägt. Große Firmen, wie<br />
APPLE, IBM, MICROSOFT und SUN, haben spezielle Gruppen gebildet, die sich<br />
aus ausgewiesenen Experten zusammensetzen, um eine hohe Qualität ihrer Benutzungsschnittstellen<br />
sicherzustellen.<br />
Weiterentwicklung eines existierenden Produkts.<br />
Die Entwicklung eines gänzlichen neuen Produkts ist eher die Ausnahme. Die meisten<br />
Projekte zielen darauf ab, eine neue Version eines existierenden Produkts zu<br />
entwickeln. In Bezug auf das User Interface Engineering ist dies oft eine schwierige<br />
Situation, weil Kompatibilität zu der im Markt existierenden Software ein wesentlicher<br />
Faktor ist – tendenziell ist der Spielraum für Verbesserungen in Bezug<br />
auf Erlernbarkeit, Effizienz und Attraktivität stärker eingeschränkt. Allerdings zeigt<br />
sich mittlerweile bei vielen Produkten, dass die mehr oder weniger inkrementelle<br />
Weiterentwicklung, primär durch Hinzufügen weiterer Features, an Grenzen stößt.<br />
Radikal neue Konzepte, wie die Ribbons in MICROSOFT OFFICE WORD, sind teilweise<br />
nötig – trotz des damit verbundenen Lern- und Umstellungsaufwandes. Insofern<br />
sollten Entwickler und User Interface-Spezialisten nach Gelegenheiten suchen,<br />
echte Innovationen in neue Versionen zu integrieren.<br />
11.2.3 Entwicklung innerhalb einer Firma<br />
Die Softwareentwicklung innerhalb einer Firma mit dem Fokus auf der Beteiligung<br />
der Benutzer ist die älteste überhaupt. Die Entwickler der „ersten Stunde“ waren<br />
die Benutzer ihrer eigenen Systeme. Später entwickelten sie Software für ihre Kollegen<br />
in anderen Abteilungen. In DV-Abteilungen und Rechenzentren großer Banken,<br />
Versicherungen und anderer Konzerne entsteht immer noch ein Großteil der<br />
in diesen Unternehmen angewendeten Software. Forschungs- und Entwicklungsabteilungen<br />
entwickeln Software für andere Unternehmensbereiche, wobei ein kommerzieller<br />
Vorteil angestrebt wird. Beispiele dafür finden sich unter anderem in der<br />
Automobilindustrie. So werden in Autokonzernen zunächst neue Formen der computergestützten<br />
Wartungs- und Montageunterstützung erprobt, die auf die Typen<br />
456
des jeweiligen Konzerns zugeschnitten sind. Diese Form der Softwareentwicklung<br />
kommt auch Geheimhaltungsaspekten zugute. Die Firmen müssen externen Personen<br />
gegenüber keine Details von organisatorischen und logistischen Abläufen preisgeben.<br />
Es gibt auch aktuell gute Gründe dafür, betriebliche Software in der eigenen<br />
Firma entwickeln zu lassen. Nur diese Form der Softwareentwicklung ermöglicht<br />
es, dass detailliert auf die Bedürfnisse und Besonderheiten der Benutzer und ihrer<br />
organisatorischen Einbettung, speziell auch die Firmenkultur eingegangen wird.<br />
Insbesondere ein vertieftes Verständnis der aktuellen Prozesse, der Probleme und<br />
„Workarounds“, ist nur bei einer Entwicklung in der eigenen Firma zu erwarten [?].<br />
Die Vertragsenwicklung (Abschn. 11.2.1) ist dagegen darauf angelegt, relativ generische<br />
Softwaresysteme in Details anzupassen; tendenziell gelingt die Anpassung<br />
aber nur teilweise. Daher fehlt auf der einen Seite häufig benötigte Funktionalität;<br />
andererseits wird oft vieles angeboten, was nicht benötigt wird, so dass die Systemnutzung<br />
unnötig kompliziert wird.<br />
In Bezug auf die Beteiligung von Benutzern ist die Entwicklung in der eigenen<br />
Firma ideal: Benutzer und Entwickler stehen von Anfang an fest. Die Entwickler<br />
sind – im Gegensatz zur Entwicklung für den Massenmarkt – darauf angewiesen,<br />
dass ihre Software in einem definierten Anwenderkreis akzeptiert wird. Dadurch<br />
sind Entwickler in dieser Situation auch oft erstmalig mit Benutzbarkeitsproblemen<br />
konfrontiert worden, die in anderen Softwareentwicklungsszenarien den Benutzern<br />
in der Regel verborgen bleiben. Eine partizipatorische Entwicklung (vgl.<br />
Abschn. 11.6) ist in diesem Szenario am leichtesten zu verwirklichen. Dazu wird ein<br />
Mitarbeiter innerhalb der eigenen Firma zeitweilig in eine andere Abteilung versetzt<br />
oder arbeitet dort auf Teilzeitbasis. Dennoch wird auch hier häufig eine „Wand“ in<br />
Form von starren Spezifikationen errichtet.<br />
Interessanterweise wird allgemein anerkannt, dass diese Form der Softwareentwicklung<br />
in Europa besser funktioniert als in Amerika [Grudin, 1991]). Die frühe<br />
und intensive Beteiligung von Benutzern wird hier also als eine Form der betrieblichen<br />
Mitbestimmung, als eine Frage nach Demokratie auf Betriebsebene angesehen.<br />
Die skandinavischen Länder, in denen ein hohes Maß an Konsens über innerbetriebliche<br />
Softwareentwicklung angestrebt wird, werden hier als Vorbild angesehen.<br />
Die gründliche Analyse von Poltrock and Grudin [1994] ist zwar bereits relativ<br />
alt; aktuelle Gespräche bestätigen aber, dass in vielen Organisationen nach wie vor,<br />
direkte Kontakte zwischen Benutzern und Entwicklern rar sind und sogar durch<br />
organisatorische Vorgaben verhindert werden.<br />
11.2.4 Wo sind die Usability und die User Experience angesiedelt?<br />
Idealererweise wird das User Interface Engineering in speziellen Abteilungen durchgeführt,<br />
die sich ganz auf die damit verbundenen komplexen Prozesse konzentrieren.<br />
Die Realität in vielen Organisationen sieht allerdings anders aus. Für die Anforderungen<br />
an Neuentwicklungen sind oft Marketingexperten oder Produktmanager<br />
verantwortlich. Inwiefern Marketingexperten regelmäßig mit dieser Aufgabe über-<br />
457
fordert sind, wird in [Poltrock and Grudin, 1994] eindrucksvoll beschrieben. Die<br />
Kernkompetenz von Marketingexperten ist es, etwas zu bewerben und zu verkaufen,<br />
ggf. clevere Strategien der Bündelung von Hard- und Software zu konzipieren. Die<br />
eher von Psychologen zu erwartende Kompetenz, Benutzer effizient zu befragen,<br />
Bedürfnisse zu erahnen, durch gezielte Nachfragen zu verifizieren oder zu falsifizieren<br />
und diese Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass die User Interface Entwicklung<br />
davon profitiert, ist bei Marketingexperten nicht zu erwarten. Produktmanager<br />
haben eine weitreichende und übergreifende Verantwortung für ein Produkt, wobei<br />
Features und Aspekte der Zuverlässigkeit und Performance dabei als mindestens<br />
genau so wichtig gelten wie die Qualität des User Interface. Auch Produktmanager<br />
sind also in der Regel nicht die optimalen Führungskräfte für das User Interface Engineering;<br />
insbesondere fehlt ihnen meist eine Ausbildung, die sie dazu befähigen<br />
würde.<br />
In den späteren Phasen der Entwicklung werden Prototypen getestet, verfeinert,<br />
„abgerundet“ und schließlich fertig gestellt. Die Verantwortung dafür liegt meist<br />
in Qualitätssicherungsgruppen und -abteilungen. Deren Kernkompetenz liegt in der<br />
Regel darin, das korrekte Funktionieren der Software sicherzustellen, die Einhaltung<br />
der Spezifikation zu prüfen, ggf. die Performance zu bewerten und zu verbessern.<br />
In speziellen Anwendungsbereichen ist mittlerweile eine formale Prüfung und<br />
Zertifizierung von Software erforderlich, etwa nach ISO 9001 oder nach dem Medizinproduktegesetzt.<br />
In diesen Fällen ist die Vorbereitung und Durchführung dieser<br />
Zertifizierung die wichtigste Aufgabe der Qualitätssicherung. Erwartet wird dabei,<br />
dass durch diese Qualitätssicherung auch die Usability gesichert wird – dies ist aber<br />
im Allgemeinen nicht der Fall, weil die Kompetenzen, die z.B. nötig sind, um Usability<br />
Tests zu konzipieren, durchzuführen und auszuwerten, sich erheblich von den<br />
anderen Anforderungen an die Qualitätssicherung unterscheiden.<br />
11.2.5 Zusammenfassung<br />
Dieser Abschnitt hat verschiedene Szenarien der Softwareentwicklung beleuchtet.<br />
Alle drei Szenarien sind vor allem in größeren Firmen zu finden. Organisatorische<br />
Rahmenbedingungen fördern oder unterdrücken den frühzeitigen und intensiven<br />
Kontakt zu Benutzern, der für die Entwicklung interaktiver Systeme wesentlich ist.<br />
Kleinere Firmen sind wesentlich flexibler und weniger stark durch traditionelle Organisationsstrukturen<br />
eingeschränkt. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge und das<br />
Bewusstsein für organisatorische Probleme macht es teilweise möglich, Auswege<br />
zu finden.<br />
Poltrock and Grudin [1994] fassen ihre Analyse in zwei repräsentativ ausgewählten<br />
professionellen Softwareentwicklungsorganisationen so zusammen: die Erfordernisse<br />
des User Interface Engineering und die Organisation der Softwareentwicklung<br />
passen häufig nicht zusammen. Erfolgreiches User Interface Engineering erfordert<br />
häufige und intensive Kommunikation. Die Häufigkeit und Qualität der Kommunikation<br />
hängt aber stark von organisatorischen Strukturen ab. Organisatorische<br />
458
Veränderungen wären die Voraussetzung für erfolgreiches User Interface Engineering.<br />
Für jüngere Firmen, die auf die User Interface-Entwicklung spezialisiert sind,<br />
gilt diese Aussage sicher nicht – in anderen Firmen, teilweise auch jüngeren Firmen<br />
ohne Fokus auf User Interface-Entwicklung, sind die genannten Probleme immer<br />
noch verbreitet.<br />
11.3 Phasen der Entwicklung<br />
Jede User Interface-Entwicklung sollte mit einer gründlichen Analysephase beginnen,<br />
in der<br />
• Benutzer und ihre Ziele, Wünsche und Präferenzen,<br />
• Aufgaben sowie<br />
• typische Nutzungskontexte<br />
sorgfältig analysiert werden. Benutzer und andere für die Entwicklung wesentliche<br />
Personen müssen dazu identifiziert, kontaktiert, beobachtet bzw. befragt werden.<br />
Dabei gibt es zahlreiche Varianten, wie z.B. Gruppeninterviews, in denen eine<br />
kleine Gruppe von Benutzern befragt wird und erhofft wird, dass durch das entstehende<br />
Gespräch tiefer gehende Informationen erlangt werden als in Einzelgesprächen.<br />
Gespräche aufzuzeichnen bzw. Beobachtungen zu filmen, führt zu konkreten<br />
und umfassenden Informationen; ist allerdings mit Datenschutz- und Sicherheitsproblemen<br />
verbunden.<br />
Welche Methoden konkret zum Einsatz kommen, wie sie ggf. kombiniert werden,<br />
welche Vorbereitung erforderlich ist und wie die Ergebnisse ausgewertet werden,<br />
wird in Kapitel 12 erläutert. Hier sei lediglich gesagt, dass für diese Phase relativ<br />
viel Zeit eingeplant werden muss, weil eine gründliche inhaltliche und organisatorische<br />
Vorbereitung nötig ist, damit diese Maßnahmen zu nützlichen Ergebnissen<br />
führen. Zudem ist es wichtig, Experten mit einschlägiger Erfahrung an diesem Prozess<br />
zu beteiligen.<br />
Die zu lösenden Aufgaben müssen identifiziert und abgegrenzt werden. Dabei<br />
darf nicht nur die Standardvorgehensweise erfasst werden, sondern auch der Umgang<br />
mit Problemen und Sonderfällen, die einer Spezialbehandlung bedürfen. Zunächst<br />
wird so viel wie möglich Information gesammelt werden. Strukturiert, fokussiert<br />
und priorisiert, wird in einer späteren Phase. Im Ergebnis dieser Phase sollte<br />
festgehalten werden,<br />
• welche Ziele aus Anwendersicht im Vordergrund stehen,<br />
• welche Aufgaben dabei erledigt werden müssen,<br />
• in welchem Zusammenhang diese Aufgaben stehen,<br />
• welche Aufgaben Priorität haben, z.B. weil sie besonders häufig sind oder besonders<br />
kritisch,<br />
• welche Nutzungskontexte relevant sind und<br />
• welche Rahmenbedingungen sich daraus ergeben.<br />
459
Bezüglich der Aufgaben muss verstanden werden,<br />
• wie diese Aufgaben bisher gelöst wurden,<br />
• was daran als gut wahrgenommen wird und<br />
• welche Schwachstellen existieren<br />
Während Schwachstellen als Ansätze möglicher Verbesserungen oft sehr gut analysiert<br />
werden, wird oft vernachlässigt, was sich aus Sicht der Benutzer bewährt hat.<br />
Dies ist sehr kritisch, denn wenn dieses Wissen nicht in die Entwicklung einfließt,<br />
ist es wahrscheinlich, dass zwar existierende Schwachstellen durch die Entwicklung<br />
behoben werden, aber dafür – aus Sicht der Benutzer – neue Schwachstellen entstehen,<br />
weil Bewährtes durch wenig ausgereifte Funktionen ersetzt werden, die zudem<br />
neu erlernt werden müssen. Mögliche grafische Repräsentationen der abgeschlossenen<br />
<strong>Aufgabenanalyse</strong> sind:<br />
• Workflowdiagramme (Schemazeichnungen, die verdeutlichen, wie einzelne Aktivitäten<br />
zusammenhängen, insbesondere auch welche Varianten existieren und<br />
wovon die Auswahl dieser Varianten abhängt),<br />
• Aufgabenmodelle (Beschreibungen der hierarchischen Zerlegung von Aufgaben<br />
in Teilaufgaben) und<br />
• Performance-Modelle (Aufgabenmodelle, die um Zeiten angereichert sind, die<br />
erfahrene Benutzer dafür benötigen).<br />
Die Analysephase ist besonders herausfordernd, wenn grundsätzlich verschiedene<br />
Benutzergruppen zu beachten sind und insofern auch unterschiedliche Mengen<br />
von Aufgaben und Aktivitäten zu beachten sind. Beim Nachdenken über das zu<br />
lösende Problem entstehen naturgemäß auch Ideen, wie das Problem zu lösen ist.<br />
Diese sollten stichpunktartig festgehalten werden. Der Versuchung, einzelne Lösungsideen<br />
in dieser Phase auszuarbeiten, muss man widerstehen. Ehe Anforderungen<br />
präzise festgelegt sind, ist eine Konzeptentwicklung nicht sinnvoll und außerdem<br />
sollte über Lösungsmöglichkeiten breit und offen diskutiert werden – eine<br />
vorschnelle Konzeptentwicklung für einen Ansatz ist dabei kontraproduktiv.<br />
Anforderungen.<br />
Aus der Analyse ergeben sich Anforderungen an das zu entwickelnde System. Diese<br />
sind nach Prioritäten zu ordnen, so dass für alle an der Entwicklung beteiligten<br />
deutlich wird,<br />
• welche Anforderungen das Minimum eines sinnvollen und nutzbaren Systems<br />
darstellen,<br />
• was darüber hinaus dringend erwünscht wird und<br />
• was schließlich nützlich ist, aber doch von geringerer Bedeutung und damit evtl.<br />
eher in den Fokus eines Folgeprojektes rücken könnte.<br />
Selbst wenn eine solche Anforderungsliste auf einer sorgfältigen Analyse beruht,<br />
ist nicht zu erwarten, dass die Anforderungsliste in einem größeren Projekt konstant<br />
460
leibt. Sowohl die Anforderungen an sich ändern sich (typischerweise kommen weitere<br />
hinzu) als auch Prioritäten verschieben sich. Anforderungen durch skizzenhafte<br />
Lösungen zu veranschaulichen, ist sehr hilfreich, um möglichst früh eine weitgehend<br />
vollständige Anforderungsliste zu erzeugen.<br />
Um die Bedeutung der Analysephase und der Anforderungsdefinition zu verdeutlichen,<br />
ist ein Vergleich mit einem Hausbau hilfreich. Dabei ist den allermeisten<br />
Bauherren klar, dass Anforderungen an die Raumaufteilung, an die Materialien,<br />
an die Heizung bis hin zu Details wie benötigten Steckdosen und Internetanschlüssen<br />
frühzeitig und präzise geklärt werden müssen. Spätere Veränderungen sind sehr<br />
zeit- und kostenaufwändig.<br />
In Kapitel 12 wird die Definition von Anforderungen präziser beschrieben. Es<br />
zeigt sich dabei, dass der Schritt von der Analyse zu einer Anforderungsdefinition<br />
nicht unbedingt naheliegend ist – die Anforderungen müssen also nicht nur gesammelt<br />
werden, sondern in einem kreativen Prozess synthetisiert werden, wobei neben<br />
den Wünschen von Auftraggebern bzw. Kunden und den Bedürfnissen von Benutzern<br />
technische Realisierungsmöglichkeiten angemessen zu berücksichtigen sind.<br />
Spezifikation und Design.<br />
Eine abgestimmte Anforderungsliste ist Ausgangspunkt für den Entwurf geeigneter<br />
Lösungen. Diese Phase erfordert in besonderer Weise Kreativität – idealerweise<br />
werden hier Personen aktiv, die einen Background (eine Ausbildung oder substanzielle<br />
Erfahrungen) im Bereich Design aufweisen, z.B. Interaction Designer.<br />
Vergleicht man die Softwareentwicklung wiederum mit dem Hausbau, dann ist<br />
hier vor allem der Architekt gefragt – ein Experte, der Techniken beherrscht, wie<br />
Entwürfe erstellt, visualisiert und damit diskutiert werden können, der viele Umsetzungsvarianten<br />
kennt und auch grob abschätzen kann, mit welchem Aufwand die<br />
Umsetzung der Varianten verbunden wäre.<br />
Wichtig ist, dass mehrere Entwürfe für wichtige Aspekte eines Systems vorliegen<br />
und somit Vor- und Nachteile dieser Entwürfe diskutiert werden können, oft mit<br />
dem Ergebnis dass Teile verschiedener Entwürfe neu kombiniert werden sollten.<br />
Der Entwurf betrifft insbesondere:<br />
• die Strukturierung von Informationen, z.B. beim Entwurf von Websites,<br />
• die Navigation innerhalb dieses Informationsraums,<br />
• die Layoutgestaltung,<br />
• die visuelle Gestaltung, in Bezug auf den Einsatz von Fonts, Farben und häufig<br />
benötigten Symbolen<br />
Für den Entwurf sind sowohl textuelle Beschreibungen als auch semi-formale<br />
grafische Notationen geeignet. Darüber hinaus spielen auch traditionelle Skizzen<br />
eine wichtige Rolle. Wesentlich ist in dieser Phase, dass sich die Entwickler nicht<br />
zu früh, auf eine (bekannte, traditionelle) Variante festlegen, sondern tatsächlich den<br />
Gestaltungsspielraum explorieren. Wenn Entscheidungen über Designvarianten fallen,<br />
ist es wichtig, diese Entscheidungen und die Begründungen dafür sorgfältig zu<br />
461
dokumentieren. Entwurfsentscheidungen müssen zunächst in Bezug auf die übergeordneten<br />
Aspekte eines Systems fallen; ein späterer Detailentwurf betrifft z.B.<br />
Dialoge, Formulare, Toolboxen und andere Bestandteile. Ob jeder einzelne Dialog<br />
komplett spezifiziert wird, ehe die Entwicklung beginnt, oder ob beispielhaft einzelne<br />
Elemente spezifiziert werden und für die anderen Bestandteile lediglich Guidelines<br />
festgelegt werden, ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich und natürlich auch<br />
von den Kompetenzen der Entwickler abhängig.<br />
Die Methoden, mit denen ein derartiger Entwurf durchgeführt werden kann, einschließlich<br />
der dabei möglichen und sinnvollen Computerunterstützung werden in<br />
Kapitel ?? detailliert vorgestellt und an Beispielen erläutert.<br />
Ähnlich wie in der traditionellen Softwareentwicklung muss auch im User Interface-<br />
Engineering eine Spezifikation erfolgen, die für die Entwickler möglichst präzise<br />
festlegt, welche Funktionalität und welche Benutzungsschnittstelle realisiert werden<br />
soll. Spezifikation und Design entstehen oft parallel. Im User Interface Engineering<br />
werden häufig informelle Spezifikationsmethoden genutzt, z.B. Skizzen von Dialogen<br />
und Formularen, die das Layout grob charakterisieren. Formale Spezifikationsmethoden<br />
sind z.B. Zustandsübergangsdiagramme, die in einer festgelegten Notation<br />
das Verhalten einer Benutzungsschnittstelle beschreiben. Die Eindeutigkeit der<br />
formalen Spezifikation ist ein wichtiger Vorteil; allerdings erfordert die Nutzung<br />
dieser Methode sowohl bei der Erstellung durch den Autor als auch bei der Nutzung<br />
durch Entwickler viel Erfahrung, insbesondere weil häufig sehr umfangreiche<br />
Diagramme entstehen.<br />
Umsetzung der entworfenen Lösungen.<br />
Die Umsetzung von Lösungen erfolgt in verschiedenen Schritten. Zunächst werden<br />
Prototyping-Methoden genutzt, um für wichtige Teilprobleme detaillierte Lösungsvorschläge<br />
zu erarbeiten, die zunächst im Entwicklerteam und später mit Kunden<br />
bzw. Benutzern diskutiert werden können. Visuelle Aspekte, z.B. das Layout einer<br />
Webseite aber auch dynamische Aspekte, wie das Verhalten bei bestimmten Aktionen<br />
sind dabei von Interesse.<br />
Das Feedback der Benutzer dient dabei dazu, festzustellen, welche Aspekte der<br />
Lösung als gut eingeschätzt werden und was als unbefriedigend eingeschätzt wird.<br />
Konkrete Verbesserungsvorschläge werden Benutzer in der Regel nicht präsentieren<br />
können, aber Anhaltspunkte für die Notwendigkeit von Verbesserungen. Die<br />
eigentliche Produktentwicklung erfolgt dann mit professionellen Softwarewerkzeugen,<br />
wobei hier die User Interface-Tools bedeutsam sind. Diese unterstützen in der<br />
Regel die Erstellung von Menüs, Dialogen, Formularen und Icons und geben auch<br />
gezielte Unterstützung dabei, das gewünschte Verhalten zu spezifizieren.<br />
Die Erfahrung mit Prototypen kann auch für die Überarbeitung und Konkretisierung<br />
einer Spezifikation genutzt werden. Ein Prototyp kann sogar wesentlicher<br />
Bestandteil einer Spezifikation sein – die mit dem Prototyp definierte Benutzungsschnittstelle<br />
soll effizient realisiert werden.<br />
462
Evaluierung von Lösungen.<br />
Evaluierung bedeutet, dass existierende Lösungen systematisch erprobt werden und<br />
das Feedback von Experten oder Benutzern eingeholt wird. Systematisch bedeutet<br />
dabei, dass es bei weitem nicht ausreicht, Benutzer mit einem neuen System zu konfrontieren<br />
und nach ihrer Meinung zu fragen. Statt dessen muss sorgfältig überlegt<br />
werden,<br />
• welche Teile des Prototypen bewertet werden,<br />
• nach welchen Kriterien die Bewertung vorgenommen wird,<br />
• wieviel Testpersonen benötigt werden und<br />
• und wie diese ausgewählt werden.<br />
Bei der Evaluierung spielen die allgemeinen Usability-Kriterien wie Aufgabenangemessenheit,<br />
Erlernbarkeit und Effizienz sowie User Experience-Kriterien eine wichtige<br />
Rolle. Diese müssen aber auf spezielle Testaufgaben zugeschnitten und konkretisiert<br />
werden. Zudem müssen sie ausgehend von den Projektzielen und den Ergebnissen<br />
der Analyse geeignet gewichtet werden. Grundsätzlich sollte die Phase des<br />
Requirement Engineering Ergebnisse generieren, die für die Bewertung (Wie gut ist<br />
eine bestimmte Anforderung erfüllt?) unmittelbar relevant sind. Evaluierung sollte<br />
in verschiedenen Stadien erfolgen:<br />
• Die formative Evaluierung dient während der Entwicklung dazu, Verbesserungsvorschläge<br />
zu generieren, um das Produkt entsprechend zu optimieren.<br />
• Die summative Evaluierung am Ende einer Entwicklung dient dazu, den erreichten<br />
Stand aus Benutzersicht zu dokumentieren.<br />
Wie in den anderen Phasen kommen auch hier zahlreiche Methoden zum Einsatz;<br />
insbesondere Methoden, die sehr ähnlich sind zu denen, die in der Analysephase<br />
eingesetzt werden. Benutzer werden also wiederum befragt und beobachtet,<br />
um z.B. zu verstehen, wie schnell und mit welchem Erfolg sie die Bedienung des<br />
Programms erlernen, wie schnell sie Informationen auf Webseiten lokalisieren können,<br />
wie effizient sie wichtige Bedienhandlungen durchführen können und welche<br />
Fehler ihnen unterlaufen.<br />
Je nach Projektziel kann es wichtig sein, auch die User Experience im Rahmen<br />
einer Evaluierung zu erfassen. Häufig werden dabei auch quantitative Daten erhoben<br />
und Methoden der Statistik müssen eingesetzt werden, um die Daten auszuwerten<br />
und die Aussagekraft der Auswertung einzuschätzen. Langfristige Studien mit<br />
einzelnen Benutzern, die eine Art Tagebuch führen, sind oft hilfreich, um Nutzungskontexte<br />
gut zu verstehen. Mit Fragebögen, die über das Internet versandt werden,<br />
erreicht man oft relativ schnell eine größere Zahl an Benutzern. Neben der empirischen<br />
Evaluierung mit Benutzern werden dabei auch heuristische Evaluierungen<br />
mit Experten betrachtet, die aufgrund ihrer Erfahrung Probleme präzise beschreiben,<br />
klassifizieren und priorisieren können. Beide Arten der Evaluierung ergänzen<br />
sich und werden daher oft in Projekten kombiniert [Butler, 1996].<br />
Methoden der Evaluierung und ihre Anwendung werden in Kapitel ?? vorgestellt<br />
und erläutert. Dabei werden auch viele praktische Aspekte, wie die Auswahl und<br />
Motivation von Testpersonen und Fragen der statistischen Auswertung behandelt.<br />
463
Iterative Entwicklung.<br />
Die bisherige Beschreibung in diesem Abschnitt könnte den Eindruck eines strikt<br />
linearen Prozesses vermitteln, in dem die Ergebnisse einer Phase (endgültig) vorliegen<br />
müssen, ehe die nächste Phase beginnt. Dieser Eindruck ist unzutreffend; die<br />
Entwicklung vollzieht sich iterativ und es ist nicht selten nötig, nach einer Evaluierung<br />
die Anforderungsliste zu überarbeiten und nach neuen Lösungsmölichkeiten<br />
für einzelne Aspekte zu suchen. Insbesondere sollte frühzeitig evaluiert werden, so<br />
dass ausreichend Zeit verbleibt, um die Ergebnisse der Evaluierung in der weiteren<br />
Entwicklung zu berücksichtigen.<br />
Skalierbare Entwicklungsmethoden.<br />
Jedes Projekt ist in Bezug auf seine Laufzeit und seine Kosten begrenzt. Die Einhaltung<br />
dieser Rahmenbedingungen ist entscheidend und daher muss bei dem beschriebenen<br />
Entwicklungsprozess auch bedacht werden, wie die einzelnen Phasen<br />
ggf. abgekürzt werden können, welche ressourcensparenden Methoden zum Einsatz<br />
kommen sollten. Die einzelnen Kapitel dieses Teils tragen diesem Aspekt Rechnung<br />
und diskutieren mögliche Kompromisse zwischen Qualität und Aufwand. Tendenziell<br />
sollten auch knappe Ressourcen nicht dazu führen, dass eine Phase komplett<br />
übersprungen wird und tendenziell ist es nicht zu empfehlen, die Analysephase zu<br />
stark zu begrenzen. Die Erfahrungen mit gescheiterten Projekten zeigen zu oft, dass<br />
eine nur rudimentäre und unzureichende Analyse Hauptursache dafür ist, dass ein<br />
Softwaresystem praktisch kaum einsetzbar ist.<br />
11.4 Szenariobasierte Entwicklung<br />
Die szenariobasierte Entwicklung ist eine Methode, bei der in allen Phasen durchgängig<br />
und konsequent Szenarien natürlichsprachige Texte als Beschreibungsmethode<br />
eingesetzt werden. Die Beschreibungen fokussieren auf Handlungen und Aktivitäten<br />
in ihrem Kontext. Obwohl diese Methode bereits seit langem bekannt ist,<br />
ist sie erst in den letzten Jahren stark verbreitet worden. Dazu haben unter anderem<br />
die detaillierten Beschreibungen konkreter Anwendungen beigetragen [Carroll<br />
and Rosson, 2002]. Neuere MCI-Lehrbücher behandeln die szenario-basierte Entwicklung<br />
ebenfalls. Die sehr praxisorientierte Beschreibung in [Benyon et al., 2005]<br />
ist besonders zu empfehlen. Die Popularität von Szenario-basierten Entwicklungen<br />
ergibt sich auch dadurch, dass sie sich gut mit modernen Softwareentwicklungsprozessen,<br />
insbesondere der agilen Softwareentwicklung kombinieren lässt [Obendorf<br />
and Finck, 2007].<br />
Szenarien charakterisieren typische Benutzer in ihrem jeweiligen Nutzungskontext<br />
und ihre Motive bei der Durchführung von Bedienhandlungen. Neben den unmittelbaren<br />
Benutzern werden oft auch andere Personengruppen charakterisiert, die<br />
464
an der genutzten Technologie ein Interesse haben, wie z.B. Eltern und Lehrer bei<br />
einem Lernprogramm für Schulkinder. Die Charakterisierung betrifft sowohl die<br />
Analyse der aktuell eingesetzten Technologie (Ist-Szenarien) als auch die avisierte<br />
Nutzung der neu zu entwickelnden Technologie (Soll-Szenarien).<br />
Beispiel 1. Eine Bauleiterin betrachtet auf ihrem Laptop Skizzen und Zeitpläne<br />
eines umfassenden Bauprojekts. Sie arbeitet dabei im Freien und bei relativ hoher<br />
Lärmbelastung. Mit ihrem Handy macht sie Fotos, um den aktuellen Stand zu<br />
dokumentieren. Die schnelle Nutzung dieser Fotos am Laptop ist für sie wichtig.<br />
Die Funktion zum Fotografieren hat sie zunächst nur schwer gefunden. Am Anfang<br />
fiel es ihr auch schwer, die erstellten Bilder auf dem Handy zu finden. Außerdem<br />
braucht sie eine schnelle Internetanbindung, um mit ihrem Büro zu kommunizieren.<br />
Beispiel 2. Ein Fußballfan möchte auf einer Zugreise die gerade laufenden Spiele<br />
verfolgen. Er möchte über den Stand auf allen Plätzen informiert sein, aber auch<br />
kurze Videosequenzen von spannenden Szenen betrachten. Da die Saison fast zu<br />
Ende ist, interessiert er sich auch für die jeweils aktuelle Tabelle und will auch<br />
das Restprogramm der Spitzenmannschaften betrachten, um zu spekulieren, wie die<br />
Saison zu Ende gehen könnte.<br />
Die informelle natürlichsprachige Form unterstützt den Dialog mit Anwendern<br />
sehr gut. Mit dieser Beschreibungsmethode ist eine Analyse und Spezifikation in<br />
verschiedenen Detaillierungsgraden möglich. Die Szenarioautoren können also an<br />
wichtigen Stellen bewusst ins Detail gehen, z.B. hinsichtlich möglicher Lösungsvarianten<br />
und an anderen Stellen bewusst abstrakter formulieren. Szenarien dienen<br />
auch der Evaluierung, in dem Sinne, dass die Testaufgaben dabei entsprechend der<br />
Szenarien gewählt werden.<br />
Wie alle Entwicklungsprozesse hat diese Methode Vor- und Nachteile. Offensichtlich<br />
ist sie auf gut verbalisierbare Aspekte der User Interface-Entwicklung fokussiert;<br />
ggf. müssen die Szenarien durch Screenshots, Storyboards oder andere<br />
visuelle Komponenten ergänzt werden. Diese Ergänzung ist sowohl in der Analysephase<br />
sinnvoll, z.B. um Fotos von einem Arbeitsplatz und wichtigen Artefakten zu<br />
integrieren als auch in der Spezifikations- und Entwurfsphase.<br />
Der informelle Charakter ermöglicht insbesondere bei Szenarien auf einer hohen<br />
Ebene breiten Interpretationsspielraum. Das ist bei der Implementierung teilweise<br />
hinderlich. Zudem sind Softwareentwickler geschult darin, formale Notationen zu<br />
interpretieren – Szenariobeschreibungen enthalten Informationen, die für die Implementierung<br />
redundant sind. Insofern sind für die Kommunikation der Entwickler oft<br />
Ergänzungen durch andere Beschreibungsformen sinnvoll.<br />
Schließlich erfordert die szenariobasierte Entwicklung eine sehr sorgfältige Verwaltung<br />
der entstehenden Dokumente, ihrer Entstehungsgeschichte und -zusammenhänge.<br />
Entsprechend des durchgehenden Charakters wird in den folgenden Kapiteln immer<br />
wieder darauf Bezug genommen, wie Szenarien in den unterschiedlichen Phasen<br />
zweckmäßig eingesetzt werden können.<br />
465
11.5 Contextual Design<br />
Contextual Design ist eine weitere benutzerzentrierte Entwicklungsmethode, die<br />
ebenfalls alle genannten Phasen umfasst. Sie wurde von Holtzblatt and Beyer [1998]<br />
vorgestellt und basiert auf den langjährigen Erfahrungen der Autoren als Usability-<br />
Consultants. Aufgrund der Flexibilität der Methode ist sie breit anwendbar und wird<br />
tatsächlich auch häufig genutzt.<br />
Die besondere Betonung liegt auf dem Kontext. Es wird also sorgfältig durch entsprechende<br />
Beobachtungen und Befragungen der organisatorische und soziale Kontext<br />
analysiert, in den ein technisches System eingebettet werden soll. Die Arbeitsumgebung<br />
und die Kooperation mit anderen Benutzern spielen dabei eine wichtige<br />
Rolle. Die besonderen Anforderungen an die Unterstützung der Kooperation von<br />
Benutzern hat zu einer Reihe spezieller Entwicklungen unter dem Stichwort computer<br />
supported cooperative work geführt (siehe [Gross and Koch, 2007] für eine<br />
aktuelle Übersicht).<br />
Die Analysephase ist dabei besonders stark ausgeprägt. Dabei werden u.a. auch<br />
Artefakte hinsichtlich ihrer Nutzung analysiert. Beispiele dafür sind Kalender, Notizbücher<br />
und Arbeitspläne. Einige Analyseergebnisse wurden speziell auf diese<br />
Methode zugeschnitten. Interessant ist die Haltung der Autoren in Bezug auf die<br />
Analysephase: sie betrachten die Benutzer als Meister und die Usability-Experten<br />
als Lehrlinge, die sich von den Meistern ihre Domäne erklären lassen (ohne dabei<br />
das Niveau der Meister zu erreichen). Der große Respekt vor Benutzern ist dabei<br />
spürbar und sollte tatsächlich das Verhältnis zu ihnen prägen.<br />
In den folgenden Kapiteln wird es immer wieder Verweise auf das contextual<br />
design geben, um Empfehlungen von HOLTZBLATT und BEYER zur Nutzung einzelner<br />
Methoden des User Interface-Engineerings zu integrieren.<br />
11.6 Partizipative Entwicklung<br />
Partizipatorisches Design 2 ist eine Entwicklungsmethode, bei der das Einbeziehen<br />
von Benutzern einen besonderen Schwerpunkt einnimmt [Suchman, 1988]. Im Unterschied<br />
zu anderen User Interface-Engineering-Prozessen werden hier einzelne<br />
Benutzer als aktive Beteiligte, als Mitentwickler, der Entwicklung angesehen und<br />
nicht nur als passive Informationsquellen, die zu gegebener Zeit gewisse Fragen beantworten.<br />
Die „Mitsprache“ der Anwender hat aber einen für die Akzeptanz und<br />
den Erfolg eines Systems wesentlichen Grund: Sie fühlen sich einbezogen, an der<br />
Entwicklung beteiligt; ihnen wird nicht einfach ein System aufgedrängt, sondern sie<br />
können aktiv mitgestalten. Umgekehrt kann die Nichteinbeziehung von Benutzern<br />
im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie ein System regelrecht boykottieren, weil<br />
sie eventuell befürchten, dass das System sie ersetzen soll [Shneiderman, 1997a].<br />
Das Einbeziehen von Benutzern ermöglicht es also auch, Ängste abzubauen. Was<br />
2 Diese Methode wird teilweise auch kooperatives Design genannt.<br />
466
im Detail unter Partizipatorischem Design verstanden wird, ist unterschiedlich und<br />
reicht bis zur aktiven (Software-)Entwicklung durch Benutzer.<br />
Partizipatorisches Design betont ein frühes gemeinsames Erarbeiten von Entwürfen<br />
zwischen Entwickler und Anwender. Dabei wird (mindestens) ein Benutzer<br />
in das Entwicklungsteam integriert. Die Benutzer im Entwicklungsteam sind dabei<br />
weitestgehend gleichberechtigt und können jederzeit Einfluss auf die Entwicklung<br />
nehmen. Der ungehinderte Zugang zu Entwicklungsdokumenten, wie Anforderungsdefinitionen,<br />
Spezifikationen und Entwürfen, ist dabei wesentlich. Benutzerinteressen<br />
haben dadurch einen hohen Stellenwert. Mit der partizipatorischen Entwicklung<br />
ist auch eine grundsätzliche Haltung zu demokratischer Mitbestimmung<br />
in Firmen und Organisationen verbunden [Grudin, 1991]. Besonders deutlich wird<br />
dies in dem Buch „Computers and Democracy“ [abdPelle Ehn and Kyng, 1987].<br />
Good [1992]beschreiben das Partizipatorische Design sehr ausgewogen anhand<br />
von mehreren Fallstudien aus dem Bereich Virtual Reality. So wird ein Projekt beschrieben,<br />
bei dem unter Mitwirkung eines Chemikers ein VR-Werkzeug zum Entwurf<br />
von molekularen Modellen erstellt wurde, das in der Pharmaindustrie eingesetzt<br />
wird. GOOD argumentiert, dass gerade bei immersiven 3 VR-Anwendungen eine<br />
derart benutzerorientierte Methode erforderlich ist, damit die Akzeptanz bei den<br />
Benutzern zustande kommt.<br />
Allerdings kann die partizipatorische Entwicklung den Entwicklungsprozess verlängern<br />
und damit verteuern, weil es zu vielen Diskussionen kommen kann, die<br />
aufgrund eines eventuell nur eingeschränkten Verständnisses der Sichtweise der jeweils<br />
anderen Partner ineffizient verlaufen können. Entscheidend ist daher, dass der<br />
ins Entwicklerteam zu integrierende Benutzer gut in die Gruppe passt, ein gewisses<br />
Verständnis für die technische Seite der Entwicklung hat und gegenseitige Akzeptanz<br />
vorhanden ist. Ein breit diskutiertes und erfolgreiches Beispiel dieser Variante<br />
ist die Entwicklung eines Informationssystems für die Olympischen Spiele in Los<br />
Angeles, in die ein ehemaliger Olympionike intensiv eingebunden wurde [Boies<br />
et al., 1985, Gould et al., 1987] Relativ verbreitet ist diese Entwicklungsmethode bei<br />
Entwicklungen innerhalb einer Firma, bei der ein Mitarbeiter einer Entwicklungsabteilung<br />
zeitweise – meist in Teilzeit – in eine IT-Abteilung dieser Firma integriert<br />
wird.<br />
Die partizipative Entwicklung hat ein besonders großes Potenzial im neuen Bereich<br />
der Web2.0-Entwicklungen, bei denen die Grenze zwischen Nutzern und denjenigen,<br />
die inhaltlich beitragen, unscharf ist. Benutzer an der Entwicklung einer<br />
Web2.0-Plattform möglichst konkret zu beteiligen, die später Content entwickeln<br />
und bereitstellen sollen, ist eine naheliegende und viel versprechende Idee.<br />
Ein aktuelles, relevantes und umfassend dokumentiertes Fallbeispiel ist die Entwicklung<br />
einer Sekretariatsplattform [Zorn et al., 2008], bei der deutlich wird, wie<br />
sehr die Teilnahme der Sekretärinnen an der Technikentwicklung sowohl zur Weiterentwicklung<br />
der Sekretärinnen (Einstellung zur Computertechnologie) als auch<br />
zur Akzeptanz der Technik beigetragen hat.<br />
3 Immersive Systeme sind VR-Systeme, bei denen der Benutzer in die Virtuelle Welt „eintaucht“<br />
und auf Basis realistischer 3D-Darstellungen und spezieller Ein- und Ausgabegeräte natürlich mit<br />
ihr interagiert.<br />
467
Bei größeren und komplexeren Projekten, z.B. der Einführung von Software in<br />
Firmen, die die Arbeit in mehreren Abteilungen betrifft, ist es die Mitarbeit eines<br />
Vertreters der Anwender oft nicht ausreichend. In diesen Fällen werden verstärkt auf<br />
Anwenderseite Teams gebildet, die verschiedene Kompetenzen bündeln und insgesamt<br />
die Anwenderinteressen vertreten [?].<br />
11.7 Beobachtungen, Befragungen und Workshops<br />
Wesentliche Aktivitäten des User Interface Engineerings sind darauf gerichtet,<br />
im Dialog mit Anwendern und anderen Interessenten an einer User Interface-<br />
Entwicklung Informationen einzuholen, zu bewerten und zu strukturieren. Derartige<br />
Aktivitäten sind in allen Phasen der Entwicklung bedeutsam. In den frühen Phasen<br />
dienen sie dazu, aktuelle Lösungen in ihrem Kontext zu verstehen. In späteren Phasen<br />
dienen sie der Festlegung und Priorisierung von Anforderungen und schließlich<br />
wenn prototypische Lösungen vorliegen, dazu diese zu bewerten und Empfehlungen<br />
für die weitere Entwicklung abzuleiten. Die wichtigsten Varianten dieser Dialogführung<br />
sind:<br />
• Beobachtungen,<br />
• Befragungen und<br />
• Workshops<br />
Diese Methoden werden im Folgenden kurz vorgestellt und in den späteren Kapiteln<br />
beispielhaft gezeigt, wie diese effektiv eingesetzt werden.<br />
11.7.1 Beobachtungen<br />
Beobachtungen dienen dazu, die Nutzung von Software durch repräsentative Anwender<br />
in einem realistischen Kontext kennenzulernen und zu analysieren. Realistischer<br />
Kontext bedeutet z.B. am Arbeitsplatz der Benutzer oder bei Freizeitaktivitäten<br />
in einer typischen Situation, z.B. bei mobilen Geräten im Freien oder in<br />
einem Verkehrsmittel. In frühen Phasen dienen Beobachtungen dazu, Arbeitsplätze<br />
bzw. Orte, an denen Software zum Einsatz kommt, dahingehend zu verstehen, dass<br />
Rahmenbedingungen für die Entwicklung verstanden werden. In späteren Phasen<br />
helfen Beobachtungen einzuschätzen, ob prototypische Lösungen prinzipiell akzeptabel<br />
sind. Beobachtungen sind generell sehr wichtig. Unverzichtbar sind sie, wenn<br />
Software nicht in typischen – den Benutzern vertrauten – Büroanwendungen zum<br />
Einsatz kommen soll, z.B. in einem Museum, auf einem Bahnhof, in einem Krankenhaus<br />
oder in anderen speziellen professionellen Anwendungsfeldern.<br />
Der Begriff Beobachtung impliziert, dass die User Interface-Spezialisten zunächst<br />
passiv sind. Sie nehmen wahr und protokollieren, welche Aktivitäten die<br />
Anwender ausführen – steuern das Geschehen aber nicht. Eine komplett passive<br />
468
Vorgehensweise wird aber nicht ausreichen, um komplexe Anwendungssituationen<br />
hinreichend zu verstehen. Insofern sind Nachfragen wichtig, insbesondere solche,<br />
die helfen, das Beobachtete einzuordnen und die Relevanz zu verstehen. Beobachtungen<br />
in der Evaluierungsphase werden stärker von User Interface-Spezialisten gesteuert<br />
– sie geben zumindest einige Testaufgaben vor und erfassen, ob und wie diese<br />
bearbeitet werden können.<br />
Es ist extrem schwierig, komplexe Sachverhalte erstmals zu beobachten und zu<br />
analysieren und gleichzeitig umfassend zu dokumentieren. Daher sollten Beobachtungen<br />
durch kleine Teams (zwei bis drei Mitarbeiter) durchgeführt werden. Diese<br />
Teams können die Beobachtungsergebnisse auch besser interpretieren als ein einzelner<br />
Mitarbeiter, weil es häufig einer Diskussion bedarf, um bestimmte Beobachtungen<br />
richtig einzuordnen.<br />
Lautes Denken.<br />
Die Effektivität von Beobachtungen kann oft wesentlich gesteigert werden, wenn<br />
Benutzer gebeten werden, „laut“ zu denken, also jeweils zu kommentieren, welche<br />
Absichten sie verfolgen und wie sie diese Absichten umsetzen wollen. Auf diese<br />
Weise „verraten“ Benutzer ihr mentales Modell, was für die Entwicklung eine wichtige<br />
Orientierung darstellt (Abschn. 3.2). Allerdings sind nicht alle potenziellen Benutzer<br />
imstande, zügig und umfassend ihre Aktivitäten zu kommentieren. Zudem interferiert<br />
die Lösung einer evtl. komplexen Arbeitsaufgabe mit der Kommentierung<br />
dieser Aufgabe (beide Aktivitäten benötigen Aufmerksamkeit, vgl. Abschn. 2.5).<br />
Daraus folgt auch, dass diese Methode bei Aufgaben, die höchste Konzentration erfordern,<br />
z.B. bei einem neurochirurgischen Eingriff, nicht möglich ist.<br />
11.7.2 Befragungen<br />
Im Unterschied zu Beobachtungen liegt bei Befragungen die Steuerung vorrangig<br />
bei den User Interface-Spezialisten, die durch mehr oder weniger präzise Fragen<br />
gezielt Informationen einholen wollen. Befragungen können in Form von Interviews<br />
mündlich oder mittels Fragebögen schriftlich durchgeführt werden.<br />
11.7.3 Workshops in der Analyse und Evaluierung<br />
Der Begriff Workshop ist weit verbreitet und bezeichnet sehr unterschiedliche Dinge.<br />
Hier ist eine intensive fokussierte Diskussion gemeint, an der mehrere UI-<br />
Spezialisten und mehrere Anwender teilnehmen, um ausgehend von einer intensiven<br />
Diskussion die Entwicklung der Benutzungsschnittstelle voranzutreiben. Ein<br />
Workshop ist sowohl in der Analysephase sinnvoll, um gemeinsam Anforderun-<br />
469
Methoden Varianten Vor- und Nachteile<br />
Beobachtung „Über die Schulter Persönlicher Kontakt,<br />
schauen“, Videoauf- keine große Vorbereizeichnung,<br />
akustische tung erforderlich<br />
Aufzeichnung<br />
les Protokoll)<br />
(verba-<br />
Interview mehr oder weniger<br />
stark strukturiert<br />
Fragebogen Integration von relativ<br />
allgemeinen Fragen<br />
persönlicher Kontakt,<br />
geringer Vorbereitungsaufwand,<br />
organisatorisch und<br />
zeitlich aufwändige<br />
Durchführung<br />
geeignet, um relativ<br />
viele Daten zu<br />
sammeln und eine statistische<br />
Auswertung<br />
zu realisieren, hoher<br />
Vorbereitungsaufwand,<br />
Daten oft erst nach<br />
längerer Zeit verfügbar<br />
Tabelle 11.1: Methoden der Dialogführung beim User Interface Engineering<br />
gen festzulegen und zu priorisieren als auch in der Evaluierung, bei dem das Ziel<br />
dann darin bestehen würde, den Dialog mehrerer Anwender mit den Entwicklern zu<br />
nutzen, um realistische Verbesserungsvorschläge zu entwickeln. Im Unterschied zu<br />
Gruppeninterviews, in denen mehr oder weniger strikte Fragen abgearbeitet werden,<br />
haben die Anwender hier eine aktivere Rolle, u.a. kann ein Vertreter der Anwender<br />
derartige Workshops moderieren. Kreativitätstechniken, wie Brainstorming, können<br />
vor allem bei Requirements Workshops unterstützen, um Vorschläge zu sammeln<br />
und später zu bewerten und zu sortieren. Bei Evaluierungsworkshops steht im Vordergrund<br />
eine gemeinsame Sicht auf aufgetretene Probleme zu entwickeln, die vor<br />
allem dazu Stellung nimmt, welche Probleme mit welcher Priorität gelöst werden<br />
sollten und ggf. welche alternativen Lösungswege verfolgt werden.<br />
11.8 Werkzeuge für das User Interface Engineering<br />
Das User Interface Engineering basiert nicht nur auf konzeptuellen Methoden und<br />
Vorgehensweisen sondern auch auf praktischen (Software-)Werkzeugen, die in den<br />
einzelnen Phasen unterstützen. Dies betrifft nicht nur die Implementierung, die offensichtlich<br />
geeignete Bibliotheken mit vordefinierten Bedienelementen erfordert,<br />
sondern auch die frühen Phasen des User Interface Engineering. Die vielen Dokumente,<br />
die in der Analysephase entstehen, die oft in verschiedenen Versionen<br />
vorliegen und zahlreiche Querbezüge aufweisen, müssen durch geeignete Werkzeu-<br />
470
ge verwaltet werden. Für die Erstellung spezieller Diagrammformen ist eine Unterstützung<br />
hilfreich, die idealererweise ein geeignetes Layout erzeugt und evtl.<br />
auch gewisse Überprüfungen auf Plausibilität vornimmt. Die Auswertung von größeren<br />
Evaluierungen erfordert geeignete Statistiksoftware. Die Prototyperstellung<br />
kann durch Werkzeuge unterstützt werden; im günstigsten Fall so, dass keine Programmierung<br />
erforderlich ist und der Entwurf auf das Design konzentriert werden<br />
kann. Sogenannte Interface Builder unterstützen die visuelle Spezifikation einer<br />
Benutzungsschnittstelle oft bereits abgestimmt auf eine Zielplattform. Eine etwas<br />
ältere Übersicht über derartige Werkzeuge findet sich in [Myers et al., 2000].<br />
Neuere Werkzeuge sind oft spezialisierter und z.B. auf die Erstellung (Authoring)<br />
von Multimedia-Präsentationen, auf die Erstellung von Applikationen für mobile<br />
Geräte, auf die Erstellung von interaktiven Websites oder auf interaktive 3D-<br />
Benutzungsschnittstellen zugeschnitten.<br />
Da sich diese Werkzeuge relativ schnell verändern, liegt in diesem Buch darauf<br />
nicht der Fokus.<br />
11.9 Zusammenfassung<br />
471
Kapitel 12<br />
Analyse von Aufgaben und Benutzern<br />
In diesem Kapitel werden die frühen Phasen der Entwicklung interaktiver Systeme<br />
erläutert. Diese Phasen umfassen die Analyse von Aufgaben Benutzern und des<br />
Kontextes einschließlich organisatorischer und ökonomischer Rahmenbedingungen<br />
mit dem Ziel Anforderungen an die Entwicklung abzuleiten. Die Analysephase basiert<br />
darauf, dass eine Vielzahl von Daten gesammelt, strukturiert und bewertet wird,<br />
wobei die Ergebnisse in prägnanter Form dargestellt werden müssen. Insbesondere<br />
werden Modelle genutzt, um die aus der Analyse gewonnenen Annahmen über<br />
den relevanten Ausschnitt der Realität darzustellen. Möglichst gute (ausreichend<br />
genaue) Modelle der aktuellen Situation sind wesentlich für den Entwurf, der auf<br />
einem Modell der zukünftigen Nutzung von Technologie basiert [Diaper and Stanton,<br />
2003]. Eine Orientierung für diese Analysephase bieten das Vorgehen von Ingenieuren<br />
in der Industrie, die neue Anlagen und Fabriken planen und dabei präzise<br />
Arbeitsschritte, Ereignisse und Abhängigkeiten durchdenken müssen. Insbesondere<br />
eine hierarchische Zerlegung von Aktivitäten in Teilaufgaben ist auch für die Analysephase<br />
des User Interface Engineering relevant [Butler, 1996]. Neben Aufgaben,<br />
die relativ präzise beschrieben werden können, sind auch Prozesse zu beachten, die<br />
weniger klar definiert sind und sich durch viele optionale Aktivitäten auszeichnen.<br />
Die Analyse von Benutzern und ihren Aufgaben ist die Voraussetzung für die<br />
benutzergerechte Entwicklung interaktiver Systeme. Nahezu alle der im Kapitel 6<br />
aufgeführten Prinzipien basieren auf konkreten Vorstellungen über Benutzer und<br />
ihre Aufgaben. Benutzer mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten, Aufgaben, die bestimmte<br />
Handlungen erfordern und an deren Erledigung gewisse Voraussetzungen<br />
geknüpft sind, bilden zusammen mit einem interaktiven Computersystem das Dreieck<br />
der Softwareergonomie. So wichtig eine tiefgründige Analyse ist, so schwierig<br />
ist es, eine solche Analyse durchzuführen. Informatikkenntnisse sind nützlich,<br />
aber bei weitem nicht ausreichend. Kenntnisse und Erfahrungen in der Psychologie,<br />
Soziologie und Arbeitswissenschaft sind besonders hilfreich, um komplexe Nutzungskontexte<br />
in der Freizeit und an Arbeitsplätzen zu verstehen. Die Bezeichnung<br />
User Researcher, die viele auf die Analysephase spezialisierte Usability-Experten<br />
verwenden, ist angemessen: die solide Kenntnis von Methoden und ihre sorgfältige<br />
und kreative Anwendung ist Voraussetzung, um zu belastbaren und klaren Aussagen<br />
473
über Aufgaben und Benutzer zu kommen. Besonders wichtig ist es, Aufgaben und<br />
Benutzer in einer realen Umgebung kennenzulernen, z.B. durch Besuche „vor Ort“.<br />
Eine Analyse ausschließlich auf Basis von Akten, Unterlagen oder Befragungen an<br />
nicht-typischen Orten aufzubauen, ist nicht empfehlenswert.<br />
Eine systematische und vertiefte Analyse von Aufgaben und Benutzern wird<br />
noch lange nicht bei allen Entwicklungen durchgeführt. Oft wird auf Basis der Aufgabenstellung<br />
mit der Realisierung der Schnittstelle begonnen. Die fehlerfreie Umsetzung<br />
der Funktionalität und die Einhaltung der von den Auftraggebern definierten<br />
(harten) Rahmenbedingungen haben dabei Priorität. Geis and Hartwig [1998]<br />
erwähnen, dass 60 Prozent der Probleme bei der Benutzung auf die unzureichende<br />
Anpassung der Schnittstelle an die Aufgabe herrühren, also auf Probleme, deren<br />
Ursache in diesen frühen Phasen liegt.<br />
Die Vorgehensweise bei der Analyse von Aufgaben, Benutzern und Nutzungskontexten<br />
unterscheidet sich grundlegend von der Art und Weise, wie Theorien über<br />
das Lernen, über motorische Fertigkeiten oder Phänomene der Aufmerksamkeitslenkung<br />
(Kapitel 2) gewonnen werden. Während diese Erkenntnisse auf Laborexperimenten<br />
basieren, spielen hier Beobachtungen und Befragungen an Arbeitsplätzen<br />
eine entscheidende Rolle, um Arbeits- und Nutzungskontexte realistisch in ihrer<br />
Komplexität zu erfassen. Der Kontext, die räumliche und organisatorische Einbettung<br />
von Aktivitäten, wird hier gezielt studiert, während in psychologischen Experimenten<br />
dieser Kontext als Störfaktor gelten würde, der bewusst vermieden wird.<br />
Gliederung.<br />
In Abschn. 12.1 wird eine initiale <strong>Aufgabenanalyse</strong> erläutert. Im Ergebnis dieser<br />
Phase soll das zu lösende Problem (engl. situation of concern) klar beschrieben sein<br />
und eine kurze Beschreibung der Aufgabe (engl. problem statement) vorliegen. Diese<br />
Ergebnisse sind Ausgangspunkt für eine vertiefte Analyse der Aufgaben. Diese<br />
wird in Abschn. 12.2 erläutert, wobei Methoden der Analyse, wie Beobachtungen,<br />
Interviews und schriftliche Befragungen, vertiefend behandelt werden.<br />
Szenarien, Workflowdiagramme, Aufgaben- und Performance-Modelle sind mögliche<br />
Ergebnisse dieser Phase (Abschn. 12.3). Die Benutzer werden in einer weiteren<br />
Analysephase hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Vorkenntnisse und Fertigkeiten<br />
charakterisiert (Abschn. 12.4), wobei z.B. Persona-Beschreibungen genutzt werden.<br />
Bei der User Interface-Entwicklung sind oft Rahmenbedingungen zu beachten (Abschn.<br />
12.5).<br />
Die Analyseergebnisse werden genutzt, um Anforderungen festzulegen, wobei<br />
sowohl funktionale als auch nicht-funktionale Anforderungen betrachtet werden<br />
und Aspekte der Akzeptanz eine wichtige Rolle spielen (Abschn. 12.6). Es wird<br />
dabei auch diskutiert, wie Anforderungen priorisiert und strukturiert werden.<br />
474
12.1 Initiale <strong>Aufgabenanalyse</strong><br />
In der ersten Phase der <strong>Aufgabenanalyse</strong> geht es darum, die Situation zu charakterisieren,<br />
die eine Neu- bzw. Weiterentwicklung eines Systems erforderlich macht.<br />
Entscheidend ist, dass in Erfahrung gebracht wird, wie das Problem bisher gelöst<br />
wird. Wird eine automatische Lösung für ein bisher manuell bearbeitetes Problem<br />
angestrebt? Wird eine automatische Lösung angestrebt, die Nachteile einer bisher<br />
genutzten Software umgehen soll? Was empfinden die Benutzer selbst als problematisch<br />
an der bisherigen Art, ein Problem zu lösen, und was erscheint ihnen als<br />
bewährt? Die Antworten auf diese Fragen sind für die weitere Entwicklung entscheidend.<br />
In dieser Phase werden die Hauptziele eines Auftraggebers (im Falle der Vertragsentwicklung)<br />
oder die wahrscheinlichen Ziele großer Benutzergruppen (im Falle<br />
der Entwicklung für einen großen Markt) erläutert und analysiert. Dabei ist es wichtig,<br />
typische Ziele zu verstehen, weil im konkreten Fall meist eines dieser typischen<br />
Ziele im Vordergrund steht.<br />
Kostenreduktion.<br />
Ein kommerzieller Auftraggeber, z.B. eine mittelständische Firma oder eine Bank<br />
will durch Einführung/Ausbau einer Softwarelösung sehr häufig Kosten reduzieren.<br />
Dies kann erreicht werden, wenn Mitarbeiter Aufgaben zügiger erledigen können<br />
oder gar Aufgaben automatisch durchgeführt werden, so dass Mitarbeiter an anderen<br />
Stellen eingesetzt werden können. Die Mitarbeiter haben oft ganz andere Ziele,<br />
fühlen sich evtl. sogar vom Jobverlust bedroht. Einsparziele waren z.B. wesentlich<br />
bei der Einführung von Geldautomaten, electronic Banking-Lösungen oder Fahrkartenautomaten.<br />
Die meisten IT-Projekte in Krankenhäusern dienen dazu, Verwaltungsabläufe<br />
zu optimieren und dadurch zu beschleunigen. In diesen Fällen muss<br />
die Softwareentwicklung konsequent auf diese Einsparziele ausgerichtet werden.<br />
Hohe Zuverlässigkeit der Soft- und Hardware, stark integrierte Abläufe, bei denen<br />
jegliche Mehrfacherfassung von Daten vermieden wird, sind dabei wesentlich. In radiologischen<br />
Kliniken hat man die Erfassung und Archivierung von Bilddaten, z.B.<br />
der Kernspintomographie, oft konsequent digitalisiert, um die Kosten der analogen<br />
Filme zu sparen, sowie die Kosten, diese physisch zu archivieren. Außerdem sollten<br />
die Suchzeiten in diesen Archiven verringert werden. Wer Kosten sparen will,<br />
muss potenzielle Einspareffekte mit den dafür nötigen Investitionen in Hard- und<br />
Software sowie Schulungen und andere organisatorische Maßnahmen vergleichen.<br />
Eventuell ergibt diese Diskussion, dass eine Computertunterstützung zunächst auf<br />
besonders häufige Aufgaben/Kernbereiche konzentriert werden muss, weil der hohe<br />
Aufwand diverser Speziallösungen dem Kosteneinsparziel im Wege steht.<br />
475
Qualitätsverbesserungen.<br />
Qualitätsverbesserungen sind ein weiteres typisches Ziel von Firmen. Bankautomaten<br />
sind rund um die Uhr „geöffnet“, ähnlich wie andere Verkaufsautomaten. Damit<br />
ist ein potenziell besserer Service und ein höherer Umsatz verbunden. Webbasierte<br />
Help-Desk-Systeme sollen Benutzern von Hard- und Software zeitaufwändige und<br />
teure Anrufe in einer Hotline ersparen, in dem zumindest für relativ einfache und<br />
häufige Probleme Lösungen übersichtlich dargestellt werden.<br />
Für die radiologische Befundung wird Software entwickelt, um zuverlässiger zu<br />
richtigen Diagnosen zu kommen, den Schweregrad von Erkrankungen besser einzuschätzen<br />
und präzisere Informationen für die Planung operativer Eingriffe zu geben.<br />
Wichtige Nebenbedingungen.<br />
Mit einer Neu- oder Weiterentwicklung sind auch Risiken verbunden, die einerseits<br />
darin liegen, dass die angestrebten Effekte nicht erreicht werden, andererseits darin,<br />
dass Verschlechterungen bei anderen Aspekte eines Prozesses eintreten. Wichtig in<br />
der Analysephase ist es also zu verstehen, in welchen Bereichen keine (wesentlichen)<br />
Verschlechterungen eintreten dürfen.<br />
Bankautomaten, electronic Banking und e-Commerce-Lösungen müssen so realisiert<br />
werden, dass die Daten der Kunden und ihr Geld sicher sind. Der potenziell<br />
höhere Umsatz wird nur erreicht, wenn Benutzer den Systemen vertrauen. Sicherheit<br />
ist also in derartigen Fällen die wichtigste Nebenbedingung.<br />
Software für die radiologische Befundung dient primär der Qualitätsverbesserung<br />
darf aber die Effizienz der Ärzte nicht (wesentlich) verringern. Lange Ladeund<br />
Setupzeiten, langsame Verbindungen zu einem Server mit den großen Mengen<br />
an Bilddaten oder langwierige Berechnungen auf den Bilddaten sind also nicht akzeptabel,<br />
weil sie letztlich zu Mehrbelastungen und Mehrkosten führen, die in der<br />
Regel nicht gedeckt werden können. Es gibt Erfahrungswerte, wie lange Radiologen<br />
im Durchschnitt für die Befundung ohne Softwareeinsatz bestimmter Bilddaten<br />
brauchen – diese Werte müssen erfasst und während der gesamten Entwicklung<br />
berücksichtigt werden, damit bei allen Diskussionen über mögliche Merkmale der<br />
Software diese Performance beachtet wird.<br />
Das Hauptziel und die wichtigsten Nebenbedingungen kennzeichnen zusammen<br />
die Situation of concern – ein prägnanter Begriff, der auf [Newman and Lamming,<br />
1995] zurückgeht. Diese lässt sich normalerweise in ein bis zwei Sätzen beschreiben<br />
und sollte im Falle der Auftragsentwicklung gründlich mit den Auftraggebern<br />
bzw. den Endanwendern geklärt werden. Bei einer Entwicklung für den freien Markt<br />
sollten mehrere erfahrene Mitarbeiter mit substanziellen Markt- und Kundenerfahrungen<br />
daran beteiligt sein, diese Beschreibung vorzunehmen.<br />
476
Abb. 12.1: Die Ausgangssituation, die Anlass für eine Neu- oder Weiterentwicklung<br />
eines Systems gibt, ist Ausgangspunkt der weiteren Analyse (Nach [Newman and<br />
Lamming, 1995]).<br />
Abb. 12.2: Ausgehend von den Aktivitäts- und Performance-Daten sowie dem Problemstatement<br />
wird in einem Syntheseprozess ein erstes Dokument mit Anforderungen<br />
erstellt, dass in mehreren Iterationen zu verfeinern ist. (Nach [Newman and<br />
Lamming, 1995]).<br />
Situation of Concern: Beispiel 1.<br />
Studierende in einem noch relativ neuen Studiengang sind oft unsicher in Bezug auf<br />
die Auswahl von Wahlpflichtfächern und Nebenfächern. Sie sind an Erfahrungen<br />
älterer Studierender interessiert und haben generell einen hohen Beratungsbedarf.<br />
Situation of Concern: Beispiel 2.<br />
In einem großen Krankenhaus sind radiologische Bilddaten teilweise nicht auffindbar,<br />
so dass es zu unnötigen Mehrfachuntersuchungen kommt. Die an der Behandlung<br />
beteiligten Ärzte beklagen oft, dass Bilddaten und Befunde nicht an ihren Ar-<br />
477
eitsplätzen verfügbar sind.<br />
Ausgehend von der Situation of concern, z.B. den genannten Beispielen, soll ein<br />
ebenso prägnantes auf die zu entwickelnde Lösung zugeschnittenes Statement entstehen<br />
– das Problem Statement [Newman and Lamming, 1995]. Dieses Statement<br />
hat eine gewisse Struktur; es soll Angaben zur Lösungsform, zur Art der Unterstützung,<br />
zur unterstützen Aktivität enthalten und die Benutzer charakterisieren. Ein erster<br />
Entwurf dieses Statements sollte nach der Diskussion der Situation of Concern<br />
erfolgen. Nach der vertieften <strong>Aufgabenanalyse</strong> sollte das Statement noch einmal<br />
verifiziert werden. Der in Abb. 12.3 dargestellte Prozess veranschaulicht dies. Wir<br />
wollen unsere beiden Beispiele kurz aufgreifen und passende Problem Statements<br />
diskutieren:<br />
Problem Statement: Beispiel 1.<br />
Ein übersichtlich gestaltetes Webbasiertes System mit einem moderierten Forum<br />
soll Empfehlungen und Hinweise von älteren Studierenden und Lehrkräften für jüngere<br />
Studierende des Studiengangs präsentieren.<br />
Problem Statement: Beispiel 2.<br />
Ein webbasiertes radiologisches Informationssystem soll die Archivierung digitaler<br />
Bilddaten übernehmen. Alle an der Behandlung beteiligten Ärzte erhalten an ihrem<br />
Schreibtisch Zugriff auf die Daten eines Patienten und die Befunde des Radiologen,<br />
um zügig die nötigen therapeutische Entscheidungen zu treffen.<br />
Beide Problem Statements beschreiben, wer unterstützt wird (hervorgehoben),<br />
wie die Unterstützung erfolgt (webbasiertes System mit Forum bzw. webbasiertes<br />
System) und welche Aktivität unterstützt wird. Mit Problem Statements sind auch<br />
Abgrenzungen verbunden; das erste Statement macht deutlich, dass die eingeschriebenen<br />
Studierenden adressiert werden und nicht Schüler oder Eltern, die sich grob<br />
über Studienangebote informieren. Das zweite Statement impliziert, dass die Daten<br />
nur Ärzten zur Verfügung stehen und genauer, dass es eine Autorisierung der an der<br />
Behandlung beteiligten Ärzte geben muss.<br />
12.2 Vertiefte Analyse von Aufgaben<br />
In diesem Abschnitt wird erläutert, wie die in Abb. 12.1 genannten Aktivitätsdaten<br />
erhoben werden. Eine Analyse von Aufgaben, Betriebsabläufen und organisatorischen<br />
Zusammenhängen zeigt zunächst formale Strukturen und Verantwortlichkeiten,<br />
die unter anderem in Tätigkeitsbeschreibungen, Verwaltungshandbüchern und<br />
478
Dienstanweisungen festgelegt sein können. Ob es möglich ist, Zugang zu diesen<br />
Dokumenten zu bekommen, muss erfragt werden. In der öffentlichen Verwaltung,<br />
z.B. in Finanz- und Sozialämtern, orientieren sich die Abläufe stark an gesetzlichen<br />
Vorgaben – dies betrifft insbesondere die Verantwortung und ggf. gerichtlich Überprüfung<br />
von Entscheidungen.<br />
Neben dieser formalen Ebene gibt es eine informelle Ebene, auf der „ungeschriebene“<br />
Regeln existieren, wie mit Problemen umgegangen wird, wie Informationen<br />
weitergeleitet werden. Teilweise wird auf der informellen Ebene sogar die formale<br />
Vorgehensweise („Dienstweg“) regelmäßig umgangen. So beschreiben Poltrock<br />
and Grudin [1994], dass User Interface-Entwickler inoffiziell den Kontakt zu ausgewählten<br />
Benutzern pflegen, um direkt Probleme und Bedürfnisse kennenzulernen.<br />
Die Entwickler umgehen so den offiziellen Weg, bei dem der direkte Kontakt dem<br />
Marketing vorbehalten ist, welches eine Design-Abteilung informiert und erst über<br />
diesen Weg würden (mehrfach grob vereinfachte) Informationen in die Entwicklungsabteilung<br />
gelangen.<br />
Für das Funktionieren von Organisationen ist also die informelle Ebene genau so<br />
wichtig wie die formelle. Ihre Analyse ist besonders schwierig und erfordert Erfahrung,<br />
soziale Kompetenz und „Zugewandtheit“. Auf der offiziellen Ebene wird vorwiegend<br />
erklärt, wie Aufgaben erfolgreich bewältigt werden. Für die Analyse (und<br />
Vermeidung von Problemsituationen) ist oft die informelle Ebene entscheidend. Das<br />
ist auch einleuchtend – es gibt in jedem anspruchsvollen beruflichen Umfeld viele<br />
mögliche Problemfälle und diese sind in der Regel nicht offiziell „geregelt“. Ausnahmen<br />
sind Arbeitsplätze in sicherheitskritischen Bereichen, die oft penible Vorschriften<br />
für alle bisher bekannten Probleme haben.<br />
Was soll analysiert werden?<br />
Die konkreten Fragen, die eine Analyse leiten, sind naturgemäß sehr spezifisch.<br />
Orientierung geben die folgenden allgemeinen Fragen:<br />
1. Welche (Arbeits-)prozesse sind relevant?<br />
2. Welche Ergebnisse entstehen dabei?<br />
3. Aus welchen Schritten bestehen die (Arbeits-)prozesse?<br />
4. Welche Entscheidungen werden dabei gefällt, wodurch werden sie unterstützt?<br />
5. Welche Anwender sind mit welchen Verantwortlichkeiten daran beteiligt?<br />
6. Welche Schnittstellen zu anderen Prozessen existieren?<br />
7. Welche Datenmengen aus welchen Datenbeständen werden in einem bestimmten<br />
Zeitraum bearbeitet?<br />
8. Welche Arbeitsschritte rufen bei den Anwendern Unzufriedenheit hervor?<br />
9. Welche Fehler treten wie häufig auf?<br />
10. Wie werden Fehler entdeckt und behoben?<br />
Aus Antworten auf diese Fragen ergeben sich Aussagen<br />
1. zur zeitlichen Reihenfolge von Teilschritten,<br />
479
2. zur Dauer einzelner Teilschritte,<br />
3. zur Häufigkeit einzelner Aufgaben,<br />
4. zur Einteilung in häufige und seltenere Aufgaben und<br />
5. zu kritischen und unkritischen Aufgaben.<br />
Diese und weitere Aspekte werden als <strong>Aufgabenanalyse</strong> (task analysis) bezeichnet.<br />
Im Ergebnis dieser Analyse werden Aufgaben auf einer hohen Ebene identifiziert<br />
(z.B. Reiseroute bestimmen, Fahrzeiten ermitteln, Reservierung veranlassen)<br />
und es kann beschrieben werden, wie Aufgaben in Teilaufgaben zerlegt werden,<br />
welche Entscheidungen bei der Erledigung von Aufgaben gefällt werden und ähnliches.<br />
Vorbemerkungen.<br />
Einen Experten zu bitten, seine Vorgehensweise bei der Lösung eines komplexen<br />
Problems zu beschreiben, ist oft bemerkenswert ineffektiv, selbst wenn die Sprache<br />
des Experten gut verstanden wird und durch präzise Nachfragen versucht wird,<br />
offene Punkte zu klären. Dafür gibt es u.a. folgende Gründe:<br />
• Der Experte hat die Vorgänge verinnerlicht (automatisiert) und kann sie kaum<br />
erklären (dies wurde in Band 1, Abschn. 2.7 mit der ACT-Theorie erklärt).<br />
• Expertenwissen ist oft implizit und schwer zu verbalisieren.<br />
• Experten verbergen ihr Expertenwissen oft selbst vor Kollegen, weil sie darin<br />
einen persönlichen Vorteil sehen.<br />
Trotz dieser grundsätzlichen Schwierigkeiten ist die Beobachtung und Befragung<br />
von Experten eine wichtige Methode der <strong>Aufgabenanalyse</strong>. Das erste Problem kann<br />
gelindert werden, wenn man den Experten bei der Lösung eines Problems beobachten<br />
kann. Er ist dann in einer realistischen Situation, die es mental einfacher macht,<br />
die Vorgänge zu beschreiben und zudem wird durch intensive Beobachtung einiges<br />
offensichtlich, was allein verbal nicht vermittelt werden kann. Auch das zweite Problem<br />
wird gelindert, wenn der Experte etwas demonstriert und dabei erklärt, ggf.<br />
sind auch Skizzen hilfreich. Dennoch bleibt einiges auch bei sorgfältiger Befragung<br />
und Beobachtung offen. Wenn man z.B. einen erfahrenen Chirurgen fragt, nach welchen<br />
Kriterien er die Operabilität von Patienten mit komplexem Krankheitsbild beurteilt,<br />
wird er neben einigen präzisen Kriterien und dem Verweis auf Leitlinien<br />
der Fachgesellschaften auch auf sein Bauchgefühl verweisen, die Intuition, die ihm<br />
sagt, ob die Operation mit vertretbarem Risiko und ausreichenden Erfolgschancen<br />
durchführbar ist.<br />
Das dritte Problem – mangelnde Offenheit – ist kritisch und kann nur gelindert<br />
werden, wenn ein Vertrauen zwischen einem UI-Spezialisten und einem Anwendungsexperten<br />
vorhanden ist. Vertrauen stellt sich nicht im allerersten Treffen nach<br />
kurzer Zeit ein – insofern ist es nicht verwunderlich, wenn ein zweites oder drittes<br />
Treffen evtl. substanziell neue Erkenntnisse mit sich bringt. Unter Umständen ist der<br />
erste Ansprechpartner auch nicht der richtige; wer nicht mal den Kollegen vertraut,<br />
wird einem Außenstehenden gegenüber wahrscheinlich auch nicht vertrauen.<br />
480
Um nach dem Projektstart Benutzer, Aufgaben und Nutzungskontexte zu verstehen,<br />
sind Beobachtungen an Arbeitsplätzen bzw. in entsprechenden Freizeitsituationen<br />
und nachfolgende (mündliche) Befragungen sehr hilfreich. Beobachtungen<br />
und Interviews können dabei kombiniert werden oder separat (an zwei Terminen)<br />
durchgeführt werden.<br />
12.2.1 Beobachtungen<br />
Eine wichtige Rolle in der Analysephase spielt der Besuch bei den Benutzern vor<br />
Ort an ihrem Arbeitsplatz, um diesen bei ihrer Arbeit „über die Schulter“ zu schauen<br />
und um einen möglichst realistischen Eindruck von den Arbeitsaufgaben und vom<br />
Umfeld zu gewinnen. Derartige „day in the life“-Beobachtungen können für die<br />
Entwickler eine enorme Motivation darstellen und Einsichten vermitteln, die allein<br />
durch ein Interview nicht möglich sind. Wer eine Software für die Navigation von<br />
Blinden entwickelt, sollte Blinden zuschauen, wie sie sich mit ihren bisherigen Hilfen<br />
orientieren, wer Operatoren von großen Telekommunikationsnetzwerken bei der<br />
Fehlersuche unterstützen will, muss deren Arbeit vor vielen Kontrollmonitoren beobachten,<br />
und wer schließlich medizinische Aufgaben vereinfachen will, der muss<br />
ein Bild von dem hektischen Arbeitsalltag von Ärzten haben. Beobachtungen ermöglichen<br />
oft das Verständnis von Zusammenhängen, die Benutzer selbst nicht explizit<br />
äußern würden. Oft tragen Beobachtungen dazu bei, dass die UI-Spezialisten<br />
erkennen, welche Fragen in späteren Interviews überhaupt zu stellen sind. Wie ergiebig<br />
Beobachtungen sind, hängt von mehreren Faktoren und Voraussetzungen ab:<br />
• Die UI-Spezialisten müssen sich schon vor einer Beobachtung kundig gemacht<br />
haben und zumindest grob wissen, „was sie erwartet“.<br />
• Die Beobachtung muss gut geplant werden, so dass sich tatsächlich etwas Interessantes<br />
und Relevantes beobachten lässt.<br />
• Die beobachteten Benutzer sind unterschiedlich gut imstande, zu erklären, was<br />
sie tun, warum sie dies tun und wie sich die in übergeordnete Prozesse einordnet.<br />
• UI-Spezialisten können durch gezieltes und geschicktes Nachfragen evtl. wesentliche<br />
Informationen erfassen.<br />
• Beobachtungen, die akustisch oder per Video aufgezeichnet werden, sind in der<br />
Regel ergiebiger in der Auswertung.<br />
• Zwei UI-Spezialisten, die das Beobachtete diskutieren können, werden im Ergebnis<br />
mehr Zusammenhänge erkennen und mehr Fragen generieren als einer.<br />
Als Konsequenz sollte versucht werden, die Beobachtung so zu gestalten, dass<br />
möglichst viele der genannten Faktoren die Beobachtung positiv beeinflussen.<br />
481
Protokollierung von Beobachtungen.<br />
Eine wichtige Frage betrifft die Art der Protokollierung: handgeschriebene Notizen<br />
und Skizzen, evtl. ergänzt durch Fotos sind der Standard. Tonband- oder Videoaufnahmen<br />
sind umfassender und exakter. Allerdings ist die Auswertung von derartigen<br />
Aufnahmen sehr aufwändig – wenn dieser Aufwand nicht geleistet werden kann,<br />
lohnt sich die Erhebung der Daten kaum.<br />
Zu einem benutzerzentrierten Entwicklungsprozess gehört natürlich, dass diese<br />
Frage auch aus Benutzersicht betrachtet wird. Videoaufnahmen von Benutzern und<br />
ihrer Arbeitsplätze, aber auch Fotos werfen massive Fragen nach dem Datenschutz<br />
auf. Die Tatsache, dass Bilder und Videos heutzutage digital aufgenommen und fast<br />
ohne Aufwand beliebig verbreitet werden, verschärft die Datenschutzproblematik<br />
erheblich. Insofern muss im Vorfeld mit Benutzern und ggf. deren Vorgesetzten geklärt<br />
werden, ob derartige Aufnahmen gestattet sind und es muss sorgfältig erklärt<br />
werden, wie die Daten verwendet werden sollen und wie sichergestellt wird, dass sie<br />
nicht für andere Zwecke verwendet können. Auch die Frage, wie lange die Daten<br />
aufbewahrt werden und wer dazu Zugang hat, ist wesentlich. Die Genehmigung zur<br />
Aufzeichnung sollte rechtzeitig geklärt und auch schriftlich festgehalten werden.<br />
Die Benutzer müssen dabei auch die Möglichkeit haben, die Aufzeichnung zu stoppen<br />
und ggf. zu überprüfen, was aufgezeichnet wurde. Selbst ohne eine derartige<br />
Aufzeichnung erlangen die UI-Spezialisten dabei meist Erkenntnisse, die vertraulich<br />
zu behandeln sind. Oft ist daher die Unterzeichnung eines Dokuments nötig, in<br />
dem die UI-Spezialisten versichern die Informationen nicht weiterzugeben.<br />
Praktisches Vorgehen.<br />
Benutzer zu bitten, „laut“ zu denken, also ihre Vorgehensweise zu kommentieren<br />
und zu erklären, ist oft sehr hilfreich. Das mentale Modell der Benutzer, einschließlich<br />
der wahrgenommenen Probleme, wird dadurch teilweise explizit, zumindest die<br />
Aspekte, die sich leicht verbalisieren lassen. Komplexere Prozesse lassen sich nicht<br />
ausreichend durch eine einmalige Beobachtung analysieren. Mehrere Termine, die<br />
etwas kürzer sind, sind günstiger als wenige sehr lange Beobachtungen. Sollten aus<br />
organisatorischen Gründen, z.B. längere Anreisen, nur sehr wenige längere Termine<br />
vorgesehen werden, sind ausreichende Pausen wichtig. Für die UI-Spezialisten ist<br />
dies eine Gelegenheit, die Notizen zu sichten, zu strukturieren und zu analysieren,<br />
was unklar geblieben ist bzw. welche Informationen noch bestätigt werden müssen.<br />
Beobachtungen mit Video- bzw. Tonbandaufzeichnungen sind meist erst bei einem<br />
zweiten oder dritten Besuch denkbar. Vor dem ersten Kontakt mit Benutzern bei der<br />
Vorbereitung einer Beobachtung auch nach der Möglichkeit einer Aufzeichnung zu<br />
fragen, ist schwer vorstellbar.<br />
482
Beispiel.<br />
Für die gründliche Weiterentwicklung einer kommerziellen radiologischen Workstation,<br />
also einer umfassenden Software, mit der Radiologen Computertomographieund<br />
Kenrspintomographiedaten befunden können, wurden die Abläufe in einer radiologischen<br />
Klinik beobachtet und analysiert. Die ausgewählte Klinik weist eine<br />
mittlere Größe auf (keine Universitätsklinik, aber auch keine sehr kleine Einrichtung).<br />
Die Beobachtung wurde von zwei Personen durchgeführt, darunter ein UI-<br />
Spezialist und der Geschäftsführer der Firma. Umfangreiche Vorkenntnisse waren<br />
vorhanden; diese stammten vor allem aus Erfahrungen mit dem Vorgängerprodukt<br />
und dabei vor allem von ersten Installationen und Messepräsentationen, die zu entsprechendem<br />
Feedback von Radiologen geführt haben. Die Beobachtung hatte folgende<br />
Ziele:<br />
• die einzelnen Arbeitsplätze in der Klinik sollten in Bezug auf dort typische<br />
diagnostische Fragen und Untersuchungsabläufe analysiert, werden,<br />
• Erfahrungen der Radiologen mit der dort eingesetzten Software sollte dokumentiert<br />
werden und<br />
• das Zusammenspiel zwischen Radiologen und den überweisenden Ärzten, z.B.<br />
Chirurgen beschrieben werden.<br />
Die Beobachtung wurde mit dem Chefarzt der Klinik gründlich besprochen. Alle<br />
Mitarbeiter der Klinik wurden darüber informiert. Die Beobachtung erfolgt an<br />
vier aufeinanderfolgenden Tagen, so dass tatsächlich alle Arbeitsplätze beobachtet<br />
werden konnten. Die Beobachtungen dauerten pro Tag etwa vier Stunden, wobei<br />
nach ein bis zwei Stunden eine Pause erfolgte, um die Beobachtungsergebnisse<br />
zu strukturieren und zu konsolidieren. Die Beobachtungen wurden ausschließlich<br />
handschriftlich dokumentiert. Offene Fragen wurden zum großen Teil sofort geklärt;<br />
einige Fragen wurden in einem abschließenden Gespräch mit dem Chefarzt<br />
diskutiert. Alle Fragen, die Ausgangspunkt der Beobachtungen waren, ließen sich<br />
umfassend klären. Zudem wurde eine Vielzahl weiterer nicht-antizipierter Beobachtungen<br />
gemacht. So wurde deutlich, wie stark die radiologische Befundung als<br />
Kooperation zwischen Radiologen und Medizinisch-technischer radiologischer Assistentin<br />
(MTRA) zu verstehen ist. Nicht selten arbeitet dabei eine erfahrene MTRA,<br />
die die Geräte und die Software lange kennt, mit einer relativ jungen Assistenzärztin<br />
zusammen. Die Befunderstellung ist die originär ärztliche Aufgabe, aber bzgl.<br />
der Einstellung des Gerätes und der Nutzung der Software kann die MTRA sehr<br />
weitreichend unterstützen. Die bisherige Zusammenarbeit mit Benutzern hatte sich<br />
zu stark auf die Radiologen konzentriert und den Kooperationsaspekt vernachlässigt.<br />
Bzgl. der Zusammenarbeit mit den überweisenden Ärzten wurde deutlich, dass<br />
nicht nur schriftliche Befunde übermittelt wurden, sondern häufig in sogenannten<br />
Röntgendemonstrationen die Ergebnisse diesen Ärzten präsentiert und das weitere<br />
therapeutische Vorgehen diskutiert werden konnte. Diese Röntgendemonstrationen<br />
sind ein wichtiger Nutzungskontext, der andere Anforderungen an die Software (Art<br />
der Darstellung, Einstellmöglichkeiten) stellt als die individuelle Befundung. Ein<br />
besseres Verständnis ist auch dafür entstanden, an welchen Arbeitsplätzen Spezial-<br />
483
software mit zugeschnittenen Algorithmen und Darstellungsmöglichkeiten benötigt<br />
wird und welche Befunde mit einer relativ allgemeinen radiologischen Workstation<br />
erstellt werden können. Die Beobachtungsergebnisse waren Ausgangspunkt für<br />
Überlegungen, wie die Befundung stärker standardisiert werden kann, um sie zu beschleunigen,<br />
ohne die Flexibilität einzuschränken, die in einem Einzelfall nötig ist,<br />
um dafür gezielte Sichten darzustellen. Standardisierung bezieht sich dabei immer<br />
auf spezielle diagnostische Aufgaben, z.B. die Befundung Computertomographiedaten<br />
der Lunge bei Verdacht auf Lungenkrebs. Für derartige Aufgaben können z.B.<br />
vordefinierte Sichten, Detaileinstellungen, wie Kontrast und Helligkeit, ggf. Synchronisationen<br />
zwischen mehreren Sichten voreingestellt sein. Abb. ?? zeigt ein<br />
Beispiel einer typischen Anordnung befundrelevanter Ansichten.<br />
Abb. 12.3: Für die Planung eines neurochirurgischen Eingriffs sind CT-Daten des<br />
Kopfes dargestellt. Gleichzeitig ist der Schädel als 3D-Darstellung und in orthogonalen<br />
Querschnitten aus drei Richtungen dargestellt. Alle Darstellungsparameter<br />
entsprechen den Standardwerten für diese Untersuchung.<br />
Schließlich wurde auch deutlich, welche Informationen bei der Befundung erhoben<br />
werden müssen, um die korrekte Abrechnung der Leistungen bei der Krankenkasse<br />
zu ermöglichen. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen wurden in einem<br />
zwölfseitigen Dokument festgehalten, dass dem Produktmanager und den Entwicklern<br />
zur Verfügung gestellt wurde. Zusätzlich wurden die Ergebnisse den Entwicklern<br />
in einem Vortrag vorgestellt und diskutiert. Das Feedback der Entwickler machte<br />
deutlich, dass diese Information als sehr wertvoll angesehen wurde.<br />
484
Analyse von zeitlichen Aspekten und Varianten.<br />
Häufig spielt die Erfassung zeitlicher Aspekte eine wichtige Rolle, vor allem dann,<br />
wenn die Situation of Concern primär darin besteht, dass Vorgänge beschleunigt<br />
werden sollen. In solchen Situationen ist es sehr hilfreich, zu messen, wie lange einzelne<br />
Schritte dauern. Aussagen von Benutzern zu derartigen Zeiten sind oft sehr ungenau.<br />
Valide Ergebnisse sind nur zu erwarten, wenn eine größere Zahl an Messungen<br />
durchgeführt wird, verschiedene Benutzer und Varianten der Aufgabe betrachtet<br />
werden. Ob solche Messungen möglich sind, bedarf einer gründlichen Diskussion.<br />
ein externer Experte, der mit der Stoppuhr die Arbeit von Mitarbeitern analysiert,<br />
ist natürlich nicht immer gern gesehen. Prinzipiell können Zeiten auch anhand von<br />
Videoaufnahmen nach der eigentlichen Beobachtung gemessen werden – das unschöne<br />
Bild mit der Stoppuhr ist so vermeidbar. Die Erfassung zeitlicher Aspekte<br />
ist insbesondere Voraussetzung für die Erstellung eines deskriptiven Performance-<br />
Modells (Abschn. 12.3.2).<br />
Um ein valides Aufgaben- bzw. Prozessmodell zu erstellen, ist es auch wichtig,<br />
Varianten von Abläufen zu erfassen. Dadurch kann beschrieben werden, wie wahrscheinlich<br />
bestimmte Abläufe sind, so dass sich die Entwicklung auf die häufiger<br />
auftretenden Varianten fokussieren kann. Abläufe, die seltener auftreten, können<br />
auf ihre praktische Relevanz hinterfragt werden.<br />
Eine ausgefeilte Beobachtung mit dem Ziel die ablaufenden Prozesse mit ihren<br />
Aktivitäten, Abhängigkeiten und Ereignissen detailliert zu erfassen, bedarf einer<br />
guten Organisation und evtl. auch technischer Unterstützung. Der beobachtende<br />
User Interface-Experte benötigt eine definierte Menge an Symbolen und Zeichen,<br />
mit denen er zügig und eindeutig, die beobachteten Ereignisse festhalten kann. In<br />
Usability Labors (Abschn. ??) wird spezielle Software eingesetzt, die diese Art der<br />
Protokollierung unterstützt. Die Eignung derartiger Editoren ist teilweise stark vom<br />
konkreten Anwendungsgebiet abhängig. ? haben einen Editor entwickelt, mit dem<br />
Prozesse und relevante Aktivitäten während eines chirurgischen Eingriffs erfasst<br />
werden können. Tablet-PCs sind in diesen und anderen Anwendungsgebieten für<br />
diese Erfassung besonders gut geeignet. Relevant ist dabei unter anderem, welche<br />
chirurgischen Instrumente benutzt werden, welche anderen technischen Hilfsmittel,<br />
wie Monitore bei endoskopischen Eingriffen („Schlüssellochchirurgie“) zum Einsatz<br />
kommen, inwiefern die Patientenlagerung, die OP-Beleuchtung oder anderes<br />
verändert wird. Die detaillierte Erfassung derartiger Aktivitäten liefert eine gute<br />
Grundlage, um abzuschätzen, ob ein ausreichender Bedarf für eine Teilautomatisierung,<br />
z.B. eine automatische Kameranachführung, besteht.<br />
Diskussion.<br />
Beobachtungen sind integrale Bestandteile der etablierte Prozesse, wie Contextual<br />
Design und Scenario-Based Design. Beim Contextual Design [Holtzblatt and Beyer,<br />
1998] liegt der Fokus darauf, den Kontext der Aktivitäten zu verstehen. Dies<br />
betrifft vorgeschaltete, nachgelagerte oder übergeordnete Prozesse sowie den räum-<br />
485
lichen und organisatorischen Kontext, in dem diese Aktivitäten stattfinden. Bzgl.<br />
des räumlichen Kontextes sind z.B. Situationen besonders relevant, in denen mit<br />
Lärm, Feuchtigkeit oder Staub zu rechnen ist, weil davon u. a. die Eignung von Einund<br />
Ausgabegeräten abhängt. In ihrem Buch beschreiben sie so z.B. die Analyse<br />
der Buchungs- und Bezahlungsvorgänge in Hotels und dazugehörigen Restaurants.<br />
Eine schwer zu beantwortende Frage ist, wann Beobachtungen beendet werden sollten.<br />
Die UI-Spezialisten sollten gründlich überlegen, was sie bisher nicht beobachtet<br />
haben, um zu verstehen, auf welchen Gebieten weitere Beobachtungen eventuell zu<br />
neuen Erkenntnissen führen würden.<br />
Dass UI-Spezialisten in einem für sie neuen komplexen Anwendungsfeld alle<br />
Beobachtungen richtig einordnen und interpretieren können, ist nicht zu erwarten.<br />
Daher wird empfohlen, die wesentlichen Beobachtungsergebnisse schriftlich zusammenzufassen<br />
und die Gesprächspartner zu bitten, die Ergebnisse zu überprüfen.<br />
12.2.2 Interviews<br />
Interviews sind gezielte Befragungen von potenziellen Benutzer oder anderen Stakeholdern<br />
in Bezug auf ihre Aufgaben, Ansichten und Bedürfnisse. Die Ziele von<br />
Interviews sind ähnlich zu denen einer Beobachtung. Oft werden Interviews nach<br />
Beobachtungen durchgeführt und dienen dann in der Regel (auch) dazu, Fragen zu<br />
diskutieren, die sich aus Beobachtungen ergeben haben. In der Regel ist man nicht<br />
an Einzelmeinungen interessiert, sondern führt eine Serie von Interviews durch, um<br />
ein möglichst repräsentatives Bild von Ansichten und Einschätzungen zu erhalten.<br />
Dies führt teilweise auch dazu, dass kontroverse Ansichten zu einzelnen Fragen<br />
deutlich werden.<br />
Auch Interviews bedürfen einer sorgfältigen Planung. Dabei muss festgelegt werden,<br />
was im Rahmen des Interviews diskutiert werden soll, wie das Interview ablaufen<br />
soll, wie lange es dauern soll (günstig sind: 30 bis 60 Minuten). Bei längeren<br />
Interviews sollten Pausen vorgesehen werden. Allzu großer Zeitdruck ist ausgesprochen<br />
ungünstig. Die Terminplanung muss also darauf gerichtet sein, dass sowohl die<br />
UI-Spezialisten als auch die Gesprächspartner einen kleinen zeitlichen Puffer haben.<br />
Offene und geschlossene Fragen.<br />
Die Detailplanung betrifft die konkreten Formulierungen der Fragen. Grundsätzlich<br />
gibt es offene Fragen, die dem Gesprächspartner breite, quasi unbegrenzte Antwortmöglichkeiten<br />
geben und geschlossene Fragen, bei denen die Antwortmöglichkeiten<br />
stark begrenzt sind, z.B. Ja-Nein-Fragen. Beide Typen von Fragen sind in einem Interview<br />
relevant. Mit geschlossenen Fragen lassen sich oft sehr effektiv relativ viele<br />
Aspekte betrachten. Allerdings gewinnt man auf diese Weise keine tieferen Einsichten.<br />
Offene Fragen geben dem Gesprächspartner mehr Möglichkeiten; führen<br />
aber auch dazu, dass dieser gründlicher nachdenken muss. Oft ist es günstig, beide<br />
486
Fragetypen gezielt zu kombinieren, z.B. indem zunächst erfragt wird, ob der Gesprächspartner<br />
generell mit einer bisherigen technischen Lösung zufrieden ist und<br />
dann nachgefragt wird, womit er speziell zufrieden oder unzufrieden ist.<br />
Strukturierte, semi-strukturierte und offene Interviews.<br />
Eng verknüpft mit der Art der Fragen ist die Art des Interviews. An einem Ende des<br />
Spektrums stehen strukturierte Interviews. Dabei sind alle Fragen geschlossene Fragen<br />
– sie sind wörtlich exakt vorformuliert. Mit derart fixierten Fragebögen arbeitet<br />
man vor allem in der Markt- und Meinungsforschung.<br />
Am anderen Ende des Spektrums ist ein offenes Interview lediglich durch eine<br />
kurze Checkliste von Themen vorbereitet, die angesprochen werden sollen. Diese<br />
Form des Interviews ist sehr anspruchsvoll für den UI-Spezialisten, da auf viele<br />
Antworten spontan und flexibel reagiert werden muss. Semi-strukturierte Interviews<br />
enthalten offene und geschlossene Fragen und nutzen vor allem bei offenen Fragen<br />
gezielte Nachfragen. In der Praxis ist dieser Typ des Interviews am weitesten verbreitet<br />
und am ergiebigsten.<br />
Gesprächsführung.<br />
Die Gesprächsführung bei derartigen Interviews ist nicht einfach, besonders in Situationen,<br />
in denen sich die Beteiligten nicht kennen. Schwierig sind auch Situationen,<br />
in denen sich die Partner in einem solchen Interview nicht als ebenbürtig empfinden,<br />
z.B. wenn ein hochangesehener ärztlicher Direktor interviewt werden soll,<br />
der evtl. erkennbar viel Wert auf seinen Status legt. Wichtig ist es auch, Benutzer und<br />
deren Ängste zu berücksichtigen – diese sind oft von einer neuen technologischen<br />
Unterstützung wenig begeistert. Sie fragen sich z.B, ob schwierige Anforderungen<br />
(Angst vor Überforderung) auf sie zukommen, ob ihr Arbeitsplatz „wegrationalisiert“<br />
werden soll.<br />
Wichtig ist also, Vertrauen zu schaffen, Klarheit über die Ziele des Interviews<br />
herzustellen und das Gespräch mit relativ einfachen Fragen zu eröffnen. Ein Interview<br />
bietet im Unterschied zu schriftlichen Befragungen die Gelegenheit spontan<br />
zu reagieren, bei interessanten Informationen nachzufragen oder sogar „nachzuhaken“.<br />
Abhängig vom Temperament des Gesprächspartners und dessen Vertrautheit<br />
mit den Fragen kann es teilweise schwierig sein, den Partner „zum Reden zu bringen“.<br />
In anderen Fällen muss man eher abbremsen, damit in der vorgesehenen Zeit<br />
auch tatsächlich alle wesentlichen Fragen angesprochen werden können. Für die ersten<br />
Interviews muss generell mehr Zeit eingeplant werden; in späteren Interviews<br />
ist mit weniger neuen Einsichten zu rechnen.<br />
487
Erfassen von Problemfällen.<br />
Ähnlich wie bei Beobachtungen ermöglichen Interviews auch wichtige Ausnahmesituationen<br />
und Problemfälle zu verstehen, in denen von einem Standardvorgehen<br />
abgewichen wird. Die Gesprächsführung sollte darauf abzielen, solche Problemfälle<br />
zu antizipieren und gezielt nachzufragen. Diese Nachfragen können z.B. darauf<br />
gerichtet sein, wie unter besonderem Zeitdruck gearbeitet und entschieden wird<br />
(Was macht die Notaufnahme eines Krankenhauses wenn alle Operationsäle belegt<br />
sind?), wie wird vorgegangen, wenn eine Person im Team nicht verfügbar ist oder<br />
eine benötigte technische Unterstützung versagt. Professionelle Softwareentwickler<br />
integrieren ein umfangreiches Exception handling, also die Reaktion auf Ausnahmen,<br />
in ihre Quelltexte. In ähnlicher Weise sollen Ausnahmen beim Vorgehen der<br />
Gesprächspartner in ihrer Domäne erkannt werden.<br />
Flexibilität.<br />
Prinzipiell muss in einem Interview nicht unbedingt eine feste Zahl an vordefinierten<br />
Fragen „abgearbeitet“ werden, zumal der Ablauf eines solchen Gesprächs ja nur<br />
in Grenzen vorhersehbar ist und das Nachfragen bei unerwarteten Antworten oft<br />
besonders ergiebig ist. Daraus sollte man aber nicht schließen, dass die Mühe gezielt<br />
konkrete Fragen vorzubereiten, nicht lohnenswert ist. Gerade Gesprächspartner,<br />
die wenig Zeit haben und sehr effektives Arbeiten gewohnt sind, schätzen es<br />
nicht, wenn der UI-Spezialist offenbar mühselig Fragen formuliert, die offensichtlich<br />
nicht durchdacht waren und ein Gespräch führen, dass eher den Charakter einer<br />
unverbindlichen Plauderei hat. Flexibilität in der Gesprächsführung ist also wichtig;<br />
das Interview sollte nicht zu starr festgelegt sein, aber die Ziele des Interviews und<br />
die daraus abgeleiteten Fragen müssen im Vorfeld durchdacht werden.<br />
Praktisches Vorgehen.<br />
Wie bei Beobachtungen stellt sich die Frage, ob das Gespräch aufgezeichnet werden<br />
kann. Wenn eine akustische Aufzeichnung möglich ist, sollte auch angeboten<br />
werden, die Aufnahme jederzeit auf Wunsch zu unterbrechen oder abzubrechen.<br />
Falls das nicht angemessen erscheint oder nicht möglich ist, ist es günstig, wenn<br />
das Interview von zwei Personen durchgeführt wird, wobei sich jeweils eine sich auf<br />
die Notizen konzentriert und die andere auf die Gesprächsführung. Auch bei aufgezeichneten<br />
Interviews ist es von Vorteil, wenn zwei Personen das Interview durchführen,<br />
weil dadurch mit größerer Wahrscheinlichkeit relevante Nachfragen erfolgen.<br />
Ähnlich wie bei Beobachtungen ermöglicht die Befragung im Team Beobachtungen<br />
während des Interviews und die Interpretation des Interviews zu diskutieren.<br />
Gerade, wenn Haltungen und Einstellungen zu bestimmten Fragen, im Mittelpunkt<br />
stehen, kann es wichtig sein, gut zu beobachten, wie etwas gesagt wurde. Dabei ist<br />
auch zu berücksichtigen, dass derartige Interviews einen offiziellen Charakter haben<br />
488
– es ist also nicht verwunderlich, wenn Gesprächspartner dabei so antworten, wie<br />
sie glauben, dass dies von ihnen erwartet wird und nicht unbedingt so, wie sie das<br />
völlig unbefangen tun würden. Die akustische Aufzeichnung verstärkt tendenziell<br />
bei Gesprächspartnern den Eindruck eines offiziellen Vorgangs, bei dem vor allem<br />
korrekt (im Sinne der Erwartungen anderer) geantwortet werden sollte.<br />
Ähnlich wie bei Beobachtungen ist auch bei Interviews die Frage, wann diese<br />
Aktivität beendet werden sollte. Eine plausible und häufige Empfehlung lautet, dass<br />
zwei bis drei Gesprächspartner jeder Stakeholder-Gruppe interviewt werden sollten.<br />
Bei der Gestaltung eines e-Learning-Systems für Automonteure wären dies mindestens<br />
die Gruppe der Automonteure, Mitarbeiter aus der Qualitätssicherung und Mitarbeiter<br />
mit Leitungsverantwortung, die generell an der Einführung neuer Technologien<br />
in ihrem Bereich beteiligt werden müssen. Im Contextual Design [Holtzblatt<br />
and Beyer, 1998] spielen Interviews eine wichtige Rolle. Dort wird vorgeschlagen,<br />
je zwei bis drei Stakeholder aus vier bis sechs repräsentativen Einrichtungen zu befragen.<br />
Dies würde z.B. bedeuten, dass etwa 15 Assistenzärzte und 15 Fach- bzw.<br />
Oberärzte aus fünf Krankenhäusern befragt werden müssten, um neue Software in<br />
einem medizinischen Spezialbereich zu entwickeln. Die Verfügbarkeit dieser möglichen<br />
Gesprächspartner schränkt diese Zahl normalerweise auf kleinere Werte ein.<br />
Eine weitere Parallele zu Interviews besteht darin, dass es nicht selten zu Missverständnissen<br />
kommt. Insofern sollte Zeit eingeplant werden, um die wesentlichen<br />
Ergebnisse eines (semi-strukturierten oder offenen) Interviews zusammenzufassen,<br />
um dem Gesprächspartner Gelegenheit zu geben, auf etwaige Missverständnisse<br />
hinzuweisen.<br />
12.2.3 Schriftliche Befragungen<br />
Schriftliche Befragungen ermöglichen es, Meinungen und Bedürfnisse einer größeren<br />
Gruppe von Benutzern zu erfassen. Dies ist teilweise sehr hilfreich, um die<br />
Relevanz bestimmter Features für eine Software verlässlich einschätzen zu können<br />
bzw. um zu erkennen, für welche Benutzergruppen bestimmte Features besonders<br />
wichtig sind. Die erfolgreiche Gestaltung schriftlicher Befragungen ist allerdings<br />
komplex und schwierig. Die Schwierigkeiten betreffen:<br />
• die organisatorische Vorbereitung der Befragung,<br />
• die Gestaltung von Fragebögen, sowie<br />
• die Auswertung und Interpretation.<br />
Diese Situation ist ähnlich wie bei der Vorbereitung von Interviews. Speziell<br />
stark strukturierte Interviews müssen ähnlich vorbereitet werden wie schriftliche<br />
Befragungen. Allerdings kommt hinzu, dass ungünstige Entscheidungen, die bei einem<br />
Interview leicht korrigiert werden können, hier schwerwiegendere Folgen haben.<br />
In der Vorbereitung sollte auch durchdacht werden, wie die Analyse und der<br />
Entwurf von Lösungsvarianten parallel dazu durchgeführt werden kann, ehe alle Ergebnisse<br />
vorliegen.<br />
489
12.2.3.1 Organisatorische Vorbereitung der Befragung<br />
Die organisatorische Vorbereitung dient vor allem zwei Zielen:<br />
• Identifikation einer ausreichend großen Anzahl repräsentativer Benutzer inklusive<br />
von Adressen bzw. Kontaktdaten,<br />
• Motivation der Benutzer zur Teilnahme an der Befragung, damit eine ausreichend<br />
hohe Rücklaufquote erreicht wird.<br />
Was eine „ausreichend große Zahl“ an repräsentativen Benutzern ist, hängt vor<br />
allem davon ab, wie die Daten ausgewertet werden sollen. Grundlegende Überlegungen<br />
der Statistik machen klar, dass Ergebnisse statistisch sehr unsicher ist, wenn<br />
die Stichprobe klein ist. Es muss berücksichtigt werden, dass selbst in günstigen<br />
Fällen, die Rücklaufquote bei schriftlichen Befragungen weit unter 100% liegt –<br />
die Stichprobe also wesentlich kleiner sein wird als die Anzahl der angeschriebenen<br />
Personen.<br />
Eine Firma wird über ihren Außendienst versuchen, möglichst viele Kundendaten<br />
zu pflegen. Eventuell können Berufsverbände angesprochen werden, ob es Mitglieder<br />
gibt, die der Weitergabe ihrer Daten für derartige Befragungen zustimmen.<br />
Wichtig ist bei der Auswahl von Testpersonen der Grundsatz „Masse statt Klasse“.<br />
Benötigt werden also Testpersonen, die tatsächlich als Benutzer in Frage kommen<br />
– nicht andere, leichter zugängliche Personen, die in ihren Merkmalen nur entfernte<br />
Ähnlichkeit mit den „echten“ Benutzern haben. Studenten eines Fachs sind z.B.<br />
kein adäquater Ersatz für ausgebildete Spezialisten mit langjähriger Erfahrung (weder<br />
persönliche Merkmale wie Alter, Familienstand und persönliche Werte noch Bedürfnisse<br />
in Bezug auf technologische Unterstützung sind ähnlich). Die Motivation<br />
der Benutzer zur Teilnahme zu erreichen, ist aus zwei Gründen wichtig:<br />
• von der Motivation hängt die absolute Zahl an auszuwertenden Fragebögen ab<br />
und<br />
• die Rücklaufquote beeinflusst die Aussagekraft der Ergebnisse.<br />
Der erste Aspekt ist offensichtlich: die statistische Aussagekraft einer Stichprobe<br />
hängt von der Größe der Stichprobe ab. Der zweite Aspekt bedarf einer Erläuterung.<br />
Die Aussagekraft von Befragungen steht und fällt damit, ob die Ergebnisse repräsentativ<br />
sind, die Aussagen, die sich anhand der Stichprobe machen lassen also auf<br />
die viel größere Gruppe der potenziellen Benutzer übertragen lassen. Eine Auswertung,<br />
die sich auf 80 Personen bezieht, wobei 100 Personen angeschrieben wurden,<br />
ist deutlich aussagekräftiger als eine Auswertung, bei der 80 von 500 angeschriebenen<br />
Personen antworten. In vielen Fällen muss man annehmen, dass die Antworten<br />
der an der Umfrage teilnehmenden Personen anders ausfallen als die Antworten<br />
derjenigen, die die Befragung ignorieren. Personen, die glauben, dass sie von der zu<br />
entwickelnden technischen Entwicklung keine Vorteile haben oder die dieser Entwicklung<br />
gegenüber gleichgültig sind, werden an der Befragung tendenziell nicht<br />
teilnehmen – diese Meinungen sind bei niedriger Rücklaufquote also unterrepräsentiert.<br />
Technologiebegeisterte Personen, die den Eindruck gewinnen, hier auch ihre<br />
Zukunft ein Stück mitzugestalten, werden eher überrepräsentiert sein.<br />
490
Wie kann die Motivation nun beeinflusst werden? Grundsätzlich muss die Teilnahme<br />
so einfach wie möglich sein; sie darf keinesfalls für den Befragten mit Kosten<br />
verbunden sein und die Befragten müssen die Befragung als wichtig empfinden.<br />
Erfahrungen zufolge hängt die Motivation von folgenden Faktoren ab:<br />
• von der Unterstützung durch das eigene Management bzw. durch die Leitung<br />
der Kundenorganisation (Amtsleiter, Geschäftsführer) signalisiert durch Inhalt<br />
und Formulierung des Anschreibens,<br />
• von der Leichtigkeit, den Fragebogen zurückzuschicken (adressierte und frankierte<br />
Briefumschläge beilegen),<br />
• vom Umfang des Fragebogens,<br />
• von der Einfachheit den Fragebogen auszufüllen, insbesondere von Hinweisen<br />
zum Ausfüllen,<br />
• von der Nennung konkreter Ansprechpartnern mit Kontaktdaten und<br />
• von der möglichen Kenntnis der Ergebnisse der Befragung.<br />
Darüber hinaus werden Personen oft durch kleine Geschenke, z.B. Gutscheine<br />
oder Teilnahme an Verlosungen zur Teilnahme, motiviert. Die zu erwartenden<br />
Rücklaufquoten sind – selbst bei Berücksichtigung aller Aspekte – eher gering. Insbesondere,<br />
wenn die Befragten keinen engen persönlichen Kontakt zu einer Firma<br />
bzw. dem genannten Ansprechpartner haben, ist mit einer geringen Rücklaufquote<br />
zu rechnen (oft unter 10 %, [Benyon et al., 2005]). Bei einer Befragung von Mitarbeitern<br />
der gleichen Firma, z.B. einer Abteilung einer Bank oder Versicherung, sind<br />
höhere Rücklaufquoten von etwa 30 % realistischerweise erreichbar. Wenn die Unterstützung<br />
des Managements sehr ausgeprägt ist, sind auch deutlich höhere Werte<br />
möglich.<br />
12.2.3.2 Gestaltung von Fragebögen<br />
Bei der Gestaltung von Fragebögen muss durchdacht werden:<br />
• was erfragt wird,<br />
• wie die Fragen formuliert sind,<br />
• wie der Fragebogen gestaltet wird,<br />
• welche Antworten möglich bzw. wahrscheinlich sind und<br />
• wie die Auswertung der Antworten erfolgen soll.<br />
Hinsichtlich der ersten Frage muss auch bedacht werden, welche persönlichen<br />
Angaben erforderlich sind. Oft sind dies Angaben zu Alter und Geschlecht sowie<br />
zur Qualifikation und Erfahrung mit ähnlichen Systemen und Technologien. Den<br />
Kern der Befragung bilden Fragen, die Präferenzen, Einstellungen und Bedürfnisse<br />
charakterisieren. Verständnisfragen der Entwickler hinsichtlich von Fakten und Zusammenhängen<br />
im Anwendungsgebiet sollten nicht durch eine Befragung geklärt<br />
werden. Wesentlich ist bei der Gestaltung, den Umfang der Befragung im Blick zu<br />
behalten. Der Umfang muss dabei sowohl in Bezug auf<br />
• die Zahl der Fragen (möglichst nicht mehr als 30),<br />
491
• den physischen Umfang des Fragebogens (möglichst nicht mehr als eine Doppelseite)<br />
und<br />
• die Zeit, die Benutzer für das Ausfüllen benötigen (möglichst nicht mehr als 20<br />
Minuten)<br />
durchdacht werden. Die genannten Zahlen sind als Richtwerte zu verstehen.<br />
Aus diesen Gründen wird es bei der Vorbereitung darum gehen, wichtige Fragen<br />
zu sammeln, zu strukturieren und dann streng auszuwählen, damit der Umfang in<br />
den genannten Grenzen bleibt. Bei dieser „Verdichtung“ ist es ideal, einen oder zwei<br />
Benutzer zu Rate zu ziehen. Benutzer werden für einige Fragen eine eindeutige und<br />
klare Antwort haben, bei der sich zeigt, dass diese Frage nicht von vielen Benutzern<br />
im Rahmen einer Befragung beantwortet werden muss.<br />
Formulierung der Fragen.<br />
Die konkreten Fragestellungen müssen für Benutzer verständlich, eindeutig und<br />
möglichst einfach sein. Ob dieses Ziel erreicht ist, kann meist nur durch einen Test<br />
mit wenigen Benutzern eingeschätzt werden. Einfachheit ist sehr wichtig: Benutzer<br />
füllen Fragebögen – wenn überhaupt – in der Regel ohne größere Aufmerksamkeit<br />
aus. Wenn sie intensiv nachdenken müssten, brechen sie oft die Beantwortung der<br />
Fragen ab oder geben eine Antwort, die nicht intensiv durchdacht und evtl. nicht<br />
aussagekräftig ist.<br />
Gestaltung des Fragebogens.<br />
Bei der Gestaltung eines Fragebogens gibt es Parallelen zur Dialog- und Formulargestaltung.<br />
Ein Fragebogen muss übersichtlich sein, er muss optisch gut strukturiert<br />
sein und die Fragen müssen in einer sinnvollen Reihenfolge gestellt werden,<br />
so dass man den Fragebogen günstig sequenziell abarbeiten kann. Bei Fragen, die<br />
eine freie textuelle Antwort erfordern, muss sorgfältig durchdacht werden, wieviel<br />
Platz zur Verfügung steht. Fragebögen können als Faltblatt gestaltet sein, so dass die<br />
Zeilen relativ kurz sind. Details der Gestaltung und mögliche Varianten zu diskutieren,<br />
führt hier zu weit. Besonders ausführlich werden diese Fragen in [Oppenheim,<br />
2000] behandelt.<br />
Auswertung von Befragungen.<br />
Antwortmöglichkeiten müssen gründlich durchdacht werden, damit die Beantwortung<br />
und die Auswertung möglichst einfach ist. In der Regel sollten Fragen so gestellt<br />
sein, dass es einige Standardantworten gibt, die der Benutzer durch Ankreuzen<br />
bequem markieren kann. Ob eine oder mehrere Antworten angekreuzt werden können,<br />
muss deutlich formuliert werden („Mehrere Antworten sind möglich.“).<br />
492
Oft werden Fragen so formuliert, dass eine Aussage gemacht wird, z.B. „Handies<br />
machen das Leben leichter.“ oder „Die Software zur Lohnbuchhaltung deckt<br />
alle wesentlichen Anforderungen ab“ und Testpersonen gebeten werden, ihre Haltung<br />
(Zustimmung oder Ablehnung) zu dieser Aussage anzugeben. Dafür sind Skalen<br />
notwendig, bei der starke Zustimmung und starke Ablehnung die jeweiligen Extrempunkte<br />
definieren. Zu überlegen ist, wieviel Zwischenstufen betrachtet werden<br />
sollen. Üblich ist es, fünf, sieben oder neun Möglichkeiten zu betrachten, so dass in<br />
jedem Fall ein mittlerer Wert existiert, mit dem eine Testperson angeben kann, dass<br />
sie nicht zustimmt und nicht ablehnt. Die Eingabe einer Testperson könnte durch<br />
Ankreuzen erfolgen (nicht so günstig bei mehr als fünf Antwortmöglichkeiten) oder<br />
durch Angabe einer Zahl. Vorbereitete Fragebögen für die Bewertung der Zufriedenheit<br />
von Benutzern haben die University of Maryland 1 und die University of<br />
Cork 2 vorbereitet, wobei beide Angebote kommerziell sind.<br />
12.2.3.3 Beispiel: Befragung von Chirurgen<br />
Am Anfang eines größeren öffentlich geförderten Forschungsprojektes im Bereich<br />
„Computergestützte Chirurgie“ wurde eine schriftliche Befragung von Chirurgen<br />
durchgeführt, um Bedürfnisse, Präferenzen und bisherige Erfahrungen von Chirurgen<br />
zu verstehen. Zuvor wurden bereits einzelne Chirurgen befragt, Operationen<br />
beobachtet und analysiert, so dass ein grundlegendes Verständnis auf Seiten der Entwickler<br />
vorhanden war. Teilweise gingen Meinungen bzgl. der Relevanz bestimmter<br />
Features aber stark auseinander, so dass eine breitere Basis für Entscheidungen notwendig<br />
wurde.<br />
Der an dem Projekt beteiligte Chirurgieprofessor hat dazu beim Bundesverband<br />
der Deutschen Chirurgen ein Adressverzeichnis erfragt und – aufgrund der öffentlichen<br />
Förderung des Projektes – auch erhalten. Dieses wurde daraufhin durchsucht,<br />
welche Chirurgen auf den in diesem Projekt relevanten Bereich der Chirurgie (Chirurgie<br />
im Bauchraum) spezialisiert sind. Dies traf auf 501 Chirurgen zu.<br />
Es wurde ein Fragebogen entwickelt und gestaltet, wobei fünf persönliche Fragen<br />
(Alter, Geschlecht, abgeschlossene Facharztweiterbildung, zusätzliche Spezialisierung,<br />
Erfahrungen mit Computerunterstützung) gestellt wurden. Zusätzlich wurden<br />
zunächst 19 weitere Fragen vorbereitet. Nach Diskussionen mit dem beteiligten<br />
Chirurgieprofessor konnte diese Liste auf 16 verringert werden, wobei zusätzlich<br />
Formulierungen der Fragen und die Antwortmöglichkeiten angepasst wurden. In einem<br />
Vortest wurde der resultierende Fragebogen an 14 Chirurgen geschickt, die den<br />
Projektbeteiligten gut bekannt waren, so dass 13 der 14 Fragebögen zügig ausgefüllt<br />
und zurück geschickt wurden. Daraufhin wurde der Fragebogen erneut überarbeitet.<br />
Die Fragen nach persönlichen Angaben wurden nicht verändert. Die Liste der<br />
anderen Fragen wurde auf 14 reduziert. Dieser Fragebogen wurde an 487 Chirurgen<br />
(501 abzüglich der 14 aus dem Vortest) verschickt, wobei adressierte und frankierte<br />
1 http://lap.umd.edu/quis/, Zugriff: 22. April 2009<br />
2 http://www.ucc.ie/hfrg/questionnaires/sumi/index.html, Zugriff: 22. April 2009<br />
493
Rückumschläge beigefügt wurden. Der Fragebogen wurde als dreispaltiges Faltblatt<br />
von einem technischen Redakteur gestaltet; die 14 Fragen in drei Gruppen strukturiert,<br />
wobei Zwischenüberschriften diese Strukturierung explizit machten.<br />
Im Anschreiben wurde darauf hingewiesen, dass auf Wunsch die Ergebnisse der<br />
Befragung zugeschickt werden. Von 105 zurückgesendeten Fragebögen waren 102<br />
vollständig ausgefüllt und konnten ausgewertet werden (Rücklaufquote: 21 %). Die<br />
102 Personen waren repräsentativ in Bezug auf die Alters- und Geschlechtsverteilung<br />
(Frauenanteil: 5 % – Chirurgie ist eine männliche Domäne).<br />
Wesentliche Ergebnisse waren Bedürfnisse in Bezug auf eine Computerunterstützung<br />
bei Tumoroperationen. Als wesentliche wünschenswerte Merkmale wurden<br />
besonders häufig genannt: von 60 % der Testpersonen die (semi-)automatische<br />
Dokumentation der computergestützten Planung auf Basis geeigneter Logging-<br />
Funktion, von 62 % die Vermessung von 3D-Modellen der Patientenanatomie hinsichtlich<br />
Größe von Tumoren und Abständen zu Risikostrukturen, von 64 % die<br />
Möglichkeit einen geplanten Eingriff, präoperativ am 3D-Modell sozusagen virtuell<br />
zu erproben. Sogar 92 % waren daran interessiert, anhand eines (frei drehbaren)<br />
3D-Modells die Lage von Tumoren und Blutgefäßen einschätzen zu können. Der<br />
Aufwand, der mit dieser Befragung verbunden war, war erheblich. Die Ergebnisse<br />
haben sich allerdings als zuverlässig erwiesen und waren auch für verwandte Projekte<br />
relevant, so dass sich der Aufwand letztlich gelohnt hat. Die Befragung und<br />
ihre Ergebnisse sind in [Oldhafer et al., 2002] dokumentiert.<br />
12.2.3.4 Befragung mittels e-Mail oder mittels webbasiertem Formular<br />
Befragungen mittels e-Mail oder mittels Webbasiertem Formular sind auch möglich<br />
und gewinnen an Bedeutung nicht zuletzt weil der Aufwand dafür wesentlich<br />
geringer ist als für eine Befragung auf dem Postweg. Die zuvor für schriftliche Befragungen<br />
genannten Aspekte sind hierbei im Wesentlichen auch gültig. Dem deutlich<br />
geringeren Aufwand stehen allerdings auch Nachteile gegenüber. Tendenziell<br />
sind Benutzer, die ohnehin viele Mails bekommen, noch weniger motiviert an einer<br />
Befragung teilzunehmen als bei schriftlichen Befragungen. Wenn ein Fragebogen<br />
offen auf einer Webseite zur Verfügung steht, besteht durchaus Aussicht auf eine<br />
größere Anzahl an Testpersonen, die den Test ausfüllen. Allerdings besteht dann<br />
keinerlei Kontrolle über die Auswahl der Testpersonen. Dies ist kritisch, weil damit<br />
die Repräsentativität der Befragung nicht gegeben ist. Das Beispiel der Befragung<br />
von Chirurgen zeigt auch, dass elektronische Befragungen noch nicht überall<br />
möglich sind. Bei weitem nicht alle Chirurgen haben eine e-Mail-Adresse und von<br />
denen, die eine Mail-Adresse haben, liest ein großer Teil die Mails extrem selten.<br />
Befragungen, bei denen in einer Mail im ASCII-Text etwas anzukreuzen sind,<br />
sind besonders einfach in der Vorbereitung. Allerdings sind die Möglichkeiten, ein<br />
Layout zu gestalten, damit sehr begrenzt. Generell sollten Fragebögen, die elektronisch<br />
beantwortet werden, möglichst kurz sein – die Arbeit am Bildschirm ist immer<br />
noch unangenehmer als die Nutzung von Papier. Spezielle Vorkehrungen sind nötig,<br />
damit Benutzer bei e-Mail-Befragungen anonym antworten können.<br />
494
12.3 Repräsentation der Ergebnisse<br />
Für die weitere Entwicklung, speziell die Definition von Anforderungen und die Arbeit<br />
an den ersten Prototypen ist es wichtig, die Analyseergebnisse prägnant darzustellen.<br />
Verbale Beschreibungen, z.B. Ist-Szenarien, und grafische Methoden, kommen<br />
dafür in Frage, wobei naturgemäß jede Methode Stärken und Schwächen aufweist.<br />
12.3.1 Repräsentation mittels Szenarien<br />
Eine Variante der Repräsentation von Ergebnissen einer <strong>Aufgabenanalyse</strong> sind Szenarien,<br />
speziell Ist-Szenarien, die die aktuelle Sicht aus Benutzersicht in natürlicher<br />
Sprache beschreiben. Diese Repräsentation ist besonders gut für Diskussionen mit<br />
den Benutzern geeignet, um sich zu vergewissern, dass die Situation korrekt dargestellt<br />
wird und dass tatsächlich die relevanten Aspekte adressiert werden. Eine klare<br />
Sprache mit einfachen Sätzen, Begriffen aus der Anwenderwelt und eine logische<br />
Reihenfolge der Beschreibungen sind wichtig, um dieses Potenzial auszunutzen.<br />
Zwei Beispiele sollen die Bedeutung von Szenarien in der Analysephase verdeutlichen.<br />
Das erste Beispiel ist in ähnlicher Form in einem Workshop auf der<br />
Mensch-und-Computer-Tagung 2007 vorgestellt worden und war Ausgangspunkt<br />
für die Diskussion von Anforderungen. 3 Es bezieht sich auf die scheinbar leichte<br />
Aufgabe der Gehaltsabrechnung, die sich aber doch als erstaunlich kompliziert herausgestellt<br />
hat. Ein Ausschnitt eines solchen Szenarios lautet:<br />
„Ich will das Gehalt für die neue Mitarbeiterin Frau Steden überweisen. Sie hatte<br />
im letzten Monat einen Vorschuss bekommen, der mit der neuen Zahlung verrechnet<br />
werden soll. Sie ist zwei Tage wegen Krankheit ihres Kindes zu Hause geblieben.<br />
Wegen eines Einsatzes am Sonnabend fallen Wochenendarbeitszuschläge an.<br />
Mit dem bisherigen System muss ich Rückzahlungen selbst errechnen und manuell<br />
eingeben.“<br />
Das zweite Beispiel ist noch komplizierter. Es betrifft den möglichen Einsatz<br />
einer Computerunterstützung bei der Behandlung von Krebserkrankungen im Halsbereich.<br />
Durch Teilnahme an Operationen, Operationsvorbesprechungen, Studium<br />
von Krankenakten, Operationsprotokollen und die Teilnahme an Tumorboardbesprechungen<br />
wurden viele Fakten erhoben und in Interviews geklärt. Die wesentlichen<br />
Erkenntnisse wurden in einem 11-seitigen Szenario zusammengefasst, wobei<br />
ein Patient mit fortgeschrittener Tumorerkrankung, die Rolle der an der Behandlung<br />
beteiligten Ärzte, der Informationsfluss und die Behandlungsentscheidungen<br />
im Mittelpunkt standen. Zur Illustration dient der Anfang dieses Szenarios:<br />
3 Workshoptitel: Identifikation und Strukturierung von Benutzeranforderungen, Workshopleiter:<br />
Cornelia Nees, Kostanija Petrovic, Chris Peters (alle SAP)<br />
495
„Ein Patient kommt wegen Heiserkeit und Schluckbeschwerden in die Klinik.<br />
Klinische HNO-Untersuchung. Zunächst wird der Mund- und Rachenraum inspiziert.<br />
Es entsteht der Verdacht auf ein Stimmlippenkarzinom. Die Stimmlippenbeweglichkeit<br />
rechts ist eingeschränkt. Anschließend werden die Halsweichteile des<br />
Patienten nach auffälligen Lymphknoten abgetastet. Es besteht der Verdacht auf<br />
rechtsseitige Lymphknotenmetastasierung. Zur weiteren Diagnostik und zur Beurteilung<br />
der Lymphknoten wird der Patient zur Computertomographie geschickt. Ein<br />
Termin hierfür ist innerhalb von 7-10 Tagen verfügbar. Am Tag nach dem CT soll<br />
eine Panendoskopie (Einführung eines Endoskops in den Rachen.) zur Entnahme<br />
einer Gewebeprobe durchgeführt werden. Computertomographie. Zur weiteren<br />
Abklärung der Lymphknotensituation und der Tumorausdehnung wird ein CT des<br />
Patienten aufgenommen. Zusammen mit den CT-Schichtbildern erhält der Chirurg<br />
einen textuellen Befund des Radiologen, welcher die Art des Tumors, die Ausdehnung<br />
des Tumors im CT sowie das Vorhandensein großer Halsmetastasen angibt.<br />
Ein CT wird gegenüber der Kernspintomographie bevorzugt, weil der Verdacht auf<br />
Knochen- oder Kehlkopfinfiltration besteht.“<br />
Dieses Beispiel ist eines von mehreren Beispielen, szenariobasiert chirurgische<br />
Planungs- und Trainingssysteme zu entwickeln. Die Szenarien haben intensive Diskussionen<br />
über das aktuelle Vorgehen sowie über Möglichkeiten und Grenzen einer<br />
Computerunterstützung ermöglicht. Die Szenarien sind dabei jeweils im Vorfeld der<br />
Treffen verschickt worden, quasi als Hausaufgabe für die beteiligten Ärzte. Es wurden<br />
mehrere Treffen vereinbart, die ausschließlich dem Ziel dienten, Szenarien zu<br />
diskutieren, zu verfeinern und Anregungen für die Entwicklung zu sammeln.<br />
Diese Erfahrungen sind in [Cordes et al.] zusammengefasst. Das konkrete Beispielszenario<br />
war Bestandteil der Entwicklung des NeckSurgeryPlanners [Janke<br />
et al., 2006], der zunächst als Forschungsprototyp konzipiert wurde und nach längerer<br />
klinischer Erprobung mittlerweile zu einem Produkt weiterentwickelt wird.<br />
12.3.2 Hierarchische <strong>Aufgabenanalyse</strong><br />
- Objektorientierte Analyse (HTA ist prozessorientiert und damit keine direkte Unterstützung<br />
für einen objektorientierten Entwurf [Booch et al., 2007, Jacobson,<br />
1992]. Da grafische Benutzungsschnittstellen in der Regel objektorientiert realisiert<br />
werden, ist eine direktere Unterstützuung dafür in der Analysephase sinnvoll.<br />
- die Hierarchie ist teilweise nur eine grobe Annäherung an die Realität. Diaper<br />
and Stanton [2003] schlagen eine systemische <strong>Aufgabenanalyse</strong> vor, die unter<br />
anderem den Zwang zu strikten Hierarchien vermeidet.<br />
496
Performance-Modelle.<br />
12.3.3 Prozessmodellierung und Workflow-Manangement<br />
Die Beschreibung des Ist-Zustandes mittels Prozessmodellen ist weit verbreitet,<br />
insbesondere für die Unterstützung organisatorischer Prozesse (Geschäftsprozessmodellierung),<br />
in der Fabrikautomatisierung, aber auch in der computergestützten<br />
Chirurgie. Die Modellierung von (Geschäfts-)prozessen ist oft Ausgangspunkt für<br />
eine Reorganisation oder Optimierung, wobei eine Computerunterstützung oft einen<br />
wesentlichen Aspekt darstellt. Die Prozessmodellierung ist nicht nur für eine Softwareentwicklung<br />
relevant, sondern kann beispielsweise auch für Zertifizierungen<br />
verwendet werden. Insofern sind gerade im betrieblichen Umfeld evtl. bereits Prozessmodelle<br />
vorhanden, die zumindest partiell notwendige Informationen für die<br />
User Interface-Entwicklung beinhalten. Neben der Charakterisierung von Aktivitäten<br />
und Abhängigkeiten werden dabei häufig auch die Verantwortlichkeiten festgehalten.<br />
Verbreitete Prozessmodelle sind<br />
• zeitlich oder<br />
• hierarchisch<br />
organisiert.<br />
Die zeitliche Organisation stellt Prozesse als Menge von Aktivitäten dar, die<br />
zeitlich überlappen können. Eine grafische Darstellung mit horizontalen Aktivitäten<br />
ist dafür üblich (auch „Schwimmbahndarstellung“ genannt). Ähnlich wie bei<br />
einer performance-orientierten Aufgabenmodellierung dient die Erfassung der zeitlichen<br />
Aspekte ggf. auch dazu, Potenzial für eine Beschleunigung zu identifizieren.<br />
Setup- oder Rüstzeiten, Arbeitszeiten, Liege- und Ausfallzeiten sind daher typische<br />
Begriffe einer Prozessmodellierung.<br />
Eine logik-orientierte Darstellung betont dagegen logische Zusammenhänge zwischen<br />
den Aktivitäten, wie z.B. das Verschmelzen von Aktivitäten oder Aufzweigungen<br />
abhängig von bestimmten Entscheidungen bzw. Bedingungen.<br />
Eine Gegenüberstellung beider Prozessmodelle anhand eines Beispiels aus der<br />
Herzchirurgie ist in Abb. 12.4 dargestellt. Prozesse können mit einander verknüpft<br />
sein, z.B. indem ein Prozess einen anderen initiiert. Bei der Modellierung derartiger<br />
Verkettungen werden auch die Prozessschnittstellen beschrieben, so dass deutlich<br />
ist, welche Daten, Materialien oder Informationen „übergeben“ werden. Auch eine<br />
Vielzahl anderer Notationen und graphischer Darstellungen ist verbreitet, unter<br />
anderem aus der Informatik bekannte Darstellungen, wie Programmablaufpläne.<br />
Granularität.<br />
Eine wichtige Frage bei der Prozessmodellierung betrifft die Granularität der Modelle.<br />
Wie in anderen Bereichen auch kann die Detaillierung auf einem hohen Niveau<br />
erfolgen und beinhaltet dann Aktivitäten, die relativ lange dauern oder auf einem<br />
detaillierten Niveau, beispielsweise im Sekundenbereich. Der User Research-<br />
497
Abb. 12.4: Als Ausgangspunkt für die Entwicklung chirurgischer Assistenzsysteme<br />
wurden Prozessmodelle der Bypasschirurgie erstellt. Links die zeitlich orientierte<br />
Darstellung, rechts die logikorientierte-Darstellung. (Mit freundlicher Genehmigung<br />
von Oliver Burgert und Thomas Neumuth, ICCAS Leipzig).<br />
Spezialist muss also bewusst entscheiden, welche Prozesse bzw. Teile von Prozessen<br />
sehr detailliert beschrieben werden und welche stärker abstrahiert werden. Eine<br />
Kombination verschiedener Granularitäten ist oft angemessen.<br />
Die Geschäftsprozessmodellierung ist in typischen betrieblichen Kontexten weit<br />
verbreitet. Dies gilt auch für Krankenhäuser, wo – mittels Softwareunterstützung<br />
– komplexe Verwaltungs- und Abrechnungsprozesse durchlaufen werden (Verwaltung<br />
von Untersuchungsterminen und -ergebnissen, Abrechnung mit Kostenträgern).<br />
Erst in jüngster Zeit ist auch versucht worden, komplexe chirurgische Eingriffe<br />
zu modellieren und zu optimieren. Eine Arbeitsgruppe an der Universität Leipzig<br />
hat in 20 klinischen Projekten mit Partnern aus dem In- und Ausland auf Basis<br />
von etwa 700 Beobachtungen Prozessmodelle für chirurgische Abläufe erstellt.<br />
Diese Modelle sind hochkomplex, weil an Operationen neben den Chirurgen auch<br />
Anästhesisten und andere Spezialisten beteiligt sind. Die gewählten Beispiele sind<br />
besonders aufwändige und damit auch teure Eingriffe, wie z.B. Herzklappenoperationen<br />
oder neurochirurgische Eingriffe. Es wird dabei nicht nur erfasst, welche<br />
Handgriffe durchgeführt werden, sondern auch welche chirurgischen Strategien auf<br />
Basis welcher Informationen ausgewählt werden.<br />
Ähnlich wie in der traditionellen Geschäftsprozessmodellierung dienen diese<br />
Modelle einerseits dazu, die bestehenden Prozesse optimal zu unterstützen, andererseits<br />
aber auch dazu, die Prozesse zu hinterfragen und ggf. Verbesserungen anzuregen.<br />
[?] und [?] geben einen guten Überblick über diese Arbeiten, die große<br />
Beachtung gefunden haben.<br />
Workflow-Management.<br />
Basierend auf einer Modellierung von Abläufen ist eine spezielle technologische<br />
oder informationstechnische Unterstützung dieser Abläufe möglich. Dafür ist der<br />
Begriff Workflow-Management üblich. Für die Spezifikation dieser Systeme werden<br />
ähnliche Notationen genutzt, wie für die Prozessmodellierung. Eine weitreichende<br />
technologische oder informationstechnischer Workflowunterstützung ist nicht unproblematisch,<br />
weil sie unter Umständen nicht flexibel genug ist, um auf notwendige<br />
Änderungen reagieren zu können. Starre Prozesse laden außerdem nicht dazu<br />
ein, kreativ über Verbesserungen nachzudenken.<br />
498
12.4 Analyse von Benutzern<br />
Neben der Aufgabe ist es wichtig, Benutzer kennen zu lernen und zu verstehen. Dabei<br />
steht im Vordergrund zu eruieren, welche Vorkenntnisse, Erfahrungen und Erwartungen<br />
typische Benutzer haben, welche kulturellen Hintergründe zu beachten<br />
sind. Die Verteilung der Benutzer auf Altersgruppen und Geschlechter und ihre typische<br />
Ausbildung sind weitere Aspekte dieser Analyse. Ziel ist es typische Klassen<br />
von Benutzern mit ähnlichen Eigenschaften zu identifizieren, so dass die Entwicklung<br />
gezielt auf diese Benutzer zugeschnitten werden kann.<br />
Die Analyse von Benutzern bietet nicht nur eine wichtige Orientierung für den<br />
Systementwurf, sondern gibt auch Hinweise auf einen möglichen Schulungsbedarf.<br />
Der Erfolg einer Software, mit der komplexe Probleme gelöst werden, hängt auch<br />
davon ab, dass der Bedarf an Schulungs- und Trainingsmaßnahmen korrekt eingeschätzt<br />
wird.<br />
12.4.1 Gruppen von Benutzern<br />
Auf verschiedenen Ebenen muss verstanden werden, welche Arten von Benutzern<br />
relevant sind (vgl. [Herczeg, 2009a]). Eine Ebene betrifft die Erfahrung der Benutzer<br />
mit dem System.<br />
Klassifikation von Benutzern nach Erfahrung.<br />
Bezüglich der Erfahrung wird unterschieden zwischen:<br />
• Anfängern,<br />
• Gelegenheitsbenutzern,<br />
• routinierten Benutzern und<br />
• Experten<br />
Anfänger beginnen ein System zu nutzen und versuchen, aufgrund von Erfahrungen<br />
mit anderen, als ähnlich wahrgenommenen Systemen zum Erfolg zu kommen.<br />
Gelegenheitsbenutzer nutzen ein System relativ selten, so dass sich kaum ausgeprägte<br />
Gewohnheiten entwickeln und Besonderheiten leicht vergessen werden.<br />
Routinierte Benutzer arbeiten häufig und lange mit einem System und kennen es<br />
dementsprechend gut. Die effiziente Nutzung der Funktionen wird für diese Gruppe<br />
wichtiger als unmittelbar verständliche Bedienelemente. Experten sind routinierte<br />
Benutzer, die ein System „ausreizen“, also bis an die Grenzen gehen wollen,<br />
möglichst stark automatisieren und häufig intensiv individualisieren. Benutzer unterscheiden<br />
sich in ihren Bedürfnissen an die Benutzungsschnittstelle erheblich abhängig<br />
von dieser Einteilung.<br />
Für eine konkrete Systementwicklung ist wichtig abzuschätzen, welche dieser<br />
Benutzergruppen tatsächlich vorkommt und wie sich etwa das zahlenmäßige Ver-<br />
499
hältnis darstellt. Bei einem Bankautomaten oder einem Fahrscheinautomat wird es<br />
vor allem Gelegenheitsbenutzer geben. Bei einem öffentlichen Informationsservice<br />
z.B. über Sehenswürdigkeiten oder Quartiere wird dies ähnlich sein – dauerhafte<br />
tägliche Benutzung ist nicht zu erwarten. Bei professionellen Systemen, die den<br />
Kern einer spezialisierten Berufstätigkeit unterstützen sollen, spielen routinierte Benutzer<br />
und Experten dagegen eine entscheidende Rolle.<br />
Klassifikation von Benutzern nach organisatorischen Rollen.<br />
In der Regel müssen verschiedene Klassen von Benutzern betrachtet werden. An<br />
Hochschulen wird z.B. Software genutzt, um Informationen über Studienpläne verfügbar<br />
zu machen, z.B. auf der Basis des World Wide Web. Diese Software wird<br />
von Studenten benutzt, die sich einen Stundenplan zusammenstellen wollen. Lehrende<br />
können sich auf diese Weise darüber informieren, wann ihre eigenen Veranstaltungen<br />
bzw. die ihrer Kollegen stattfinden. Im Prüfungsamt und in den Sekretariaten<br />
wird die Software genutzt, um Statistiken zu erstellen und Berichte vorzubereiten.<br />
Jede Benutzergruppe hat andere Ziele, sucht nach anderen Kriterien, hat unterschiedliche<br />
Vorkenntnisse und eine unterschiedliche Einstellung zu Computern.<br />
So sind Studenten in der Regel jung, haben sehr gute Augen und können auch relativ<br />
viele Details bzw. kleine Schrift gut wahrnehmen. Dies könnte genutzt werden,<br />
um möglichst viele Informationen auf einen Blick verfügbar zu machen. Für die<br />
60jährige Sachbearbeiterin im Prüfungsamt mit evtl. deutlich reduzierter visueller<br />
Wahrnehmung stellt die gleiche Darstellung von Informationen unter Umständen eine<br />
Überforderung dar. Bei der Analyse von Benutzern muss festgestellt werden, wie<br />
viele Benutzer den Gruppen angehören, wie häufig sie die Software nutzen und welche<br />
Bedürfnisse bzw. Merkmale besonders relevant sind. Da aus Kapazitätsgründen<br />
nicht alle Bedürfnisse aller Gruppen berücksichtigt werden können, müssen Prioritäten<br />
gesetzt werden – im geschilderten Beispiel hoffentlich in der Weise, dass die<br />
Bedürfnisse der Studenten die höchste Priorität besitzen.<br />
Bei betrieblicher Software sind organisatorische Rollen der Benutzer oft sehr<br />
klar definiert. Stellenbeschreibungen geben Hinweise auf das Niveau der Tätigkeiten<br />
und die Qualifikation der Mitarbeiter. Allerdings reicht die Analyse der Benutzergruppen<br />
„nach Aktenlage“ keinesfalls aus, um ein Verständnis aller relevanten<br />
Aspekte zu gewinnen.<br />
12.4.2 Aspekte der Analyse<br />
Folgende Aspekte der Anwender sollten erfasst werden:<br />
1. Alter, Geschlecht<br />
2. Körperliche Fähigkeiten, Behinderungen<br />
3. Ausbildung (allgemeines Ausbildungsniveau und spezifische Schulungen)<br />
500
4. Motivation<br />
5. Computervertrautheit<br />
6. Vertrautheit mit dem Problem bzw. Anwendungsgebiet<br />
7. Intensität der Anwendung (Wie oft und wie intensiv wurden vergleichbare Aufgaben<br />
mit anderen Systemen oder manuell erledigt?)<br />
8. Kulturkreis (z.B. unterschiedliche Semantik von Farben und Icons)<br />
Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen bzgl. dieser Aspekte kann unterschiedliche<br />
kognitive und motorische Fähigkeiten bedingen. Dies kann z.B. folgende<br />
Eigenschaften betreffen:<br />
1. Lernen und Problemlösung (eher systematische Herangehensweise oder Ausprobieren)<br />
2. Entscheidungsfähigkeit<br />
3. Strategien für das Suchen und Auswählen<br />
Diese wiederum werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie:<br />
1. Ablenkung (Wodurch werden Benutzer häufig abgelenkt?, Wie lange arbeiten<br />
sie durchschnittlich hintereinander?)<br />
2. Menge der zu merkenden Informationen<br />
3. Kenntnis von Ergebnissen<br />
4. Monotonie, Langeweile<br />
5. Angst, Furcht, Isolierung<br />
Die Diskrepanz zwischen denjenigen, die eine Benutzungsschnittstelle entwerfen<br />
und entwickeln und den späteren Benutzern ist häufig sehr groß in Bezug auf die<br />
obigen Kriterien. Daher ist es für Entwickler schwierig, Bedienung und Dokumentation<br />
auf dem „richtigen“ Niveau zu realisieren und zu erklären. Ein konkretes Beispiel:<br />
wenn eine Benutzergruppe überwiegend geschult darin ist, „blind“ und sehr<br />
schnell mit der Tastatur zu arbeiten, ist eine Benutzungsschnittstelle, bei der alle<br />
wesentlichen Aktionen über Mausklicks realisiert sind, nicht passend.<br />
12.4.3 Ethnografische Studien<br />
Die oben genannten Aspekte bzw. Fragen werden in den meisten Fällen in Interviews<br />
geklärt. Konkrete Fragestellungen und passende Antwortmöglichkeiten sind<br />
einigen Usability Engineering-Büchern dargestellt, z.B. in [Mayhew, 1999]. Teilweise<br />
reicht eine derartige Vorgehensweise nicht aus, um das Verhalten von Benutzern<br />
tiefgründig zu verstehen. In solchen Fällen sind ethnografische Studien, bei denen<br />
einzelne Benutzer über einen längeren Zeitraum beobachtet und befragt werden,<br />
um ihren Lebensstil zu verstehen. Derartige Studien werden auch als Milieustudien<br />
bezeichnet. Diese aufwändige Vorgehensweise ist z.B. notwendig, wenn interaktive<br />
Systeme für eine gänzlich unvertraute Region bzw. Bevölkerungsgruppe entwickelt<br />
wird, z.B. mobile Gesundheitsdienste für afrikanische Länder [White, 2008, Marsden,<br />
2008] oder Spiele für relativ kleine Kinder.<br />
501
12.4.4 Personas: Fiktive Benutzer<br />
Eine besonders intensive Benutzeranalyse wurde 1999 von Cooper [1999] vorgeschlagen.<br />
COOPER empfiehlt fiktive Benutzer umfassend zu charakterisieren, um<br />
auf dieser Basis Entwurfsentscheidungen zu diskutieren. Diese umfassenden Beschreibungen<br />
beinhalten auch das Freizeitverhalten, Haltungen dieser fiktiven Benutzer,<br />
die nicht unmittelbar für das zu entwerfende System relevant sind. Sie werden<br />
Persona’s genannt. Pruitt and Grudin [2003] nennen u.a. das Leseverhalten und<br />
Lernstile als wichtige Bestandteile von Persona-Beschreibungen. Herczeg [2009a]<br />
erwähnt die Familienverhältnisse, Sprachkenntnisse, Nationalität, Ausbildung und<br />
Beruf. Persona’s beinhalten Zitate, die die Haltung der fiktiven Person deutlich<br />
machen. Diskussionen über Auswirkungen von Design-Entscheidungen werden dadurch<br />
sehr konkret, auch etwas emotionaler als wenn es um mutmaßliche prozentuale<br />
Anteile einer Zielgruppe geht.<br />
Persona’s werden hier erwähnt, weil sie in der Industrie mittlerweile relativ verbreitet<br />
sind, weil umfassende Erfahrungen und Erfahrungsberichte existieren, die<br />
deutlich machen, dass es sich um eine praktikable und praxisrelevante Methode handelt.<br />
Ähnlich wie Aufgabenmodelle und Workflowdiagramme auf Daten der <strong>Aufgabenanalyse</strong><br />
basieren, steht und fällt der Wert von Personas mit ihrer Zuverlässigkeit<br />
und Valididität und damit mit den Daten, auf denen sie aufbauen. Negative Erfahrungen<br />
in der Nutzung von Persona’s beziehen sich vor allem auf Beschreibungen,<br />
bei denen kein ausreichender und klarer Bezug zu Daten vorhanden ist.<br />
Pruitt and Grudin [2003] schlagen vor, Daten aus der Marktforschung, Daten<br />
von Beobachtungen und Befragungen der Benutzer dafür zu nutzen. Persona’s charakterisieren<br />
vorrangig die Benutzer, während Szenarien vorrangig die Aktivitäten<br />
charakterisieren, ohne Benutzer mehr als dafür notwendig zu beschreiben. Um Persona’s<br />
effektiv für die weitere Entwicklung zu nutzen, empfiehlt es sich, diese nicht<br />
nur verbal zu beschreiben, sondern mittels Postern und Flyer auch visuell auf diese<br />
Beschreibungen aufmerksam zu machen, wobei Fotos der repräsentierten Benutzer<br />
eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Offensichtlich ist, dass Persona’s genutzt<br />
werden, um die typischen Benutzergruppen zu charakterisieren. Im Sinne einer Abgrenzung,<br />
die für Design-Entscheidungen auch wichtig ist, wird auch vorgeschlagen<br />
Anti-Persona’s zu entwickeln – Benutzer, auf die die Entwicklung nicht zugeschnitten<br />
ist [Cooper et al., 2007, Pruitt and Grudin, 2003].<br />
Wie bei jeder Methode ist die Frage nach Aufwand und Nutzen zu stellen. In der<br />
Regel sollten nicht mehr als vier bis sechs Personas entwickelt werden, da sonst der<br />
Aufwand sehr groß wird, ohne dass dem ein vergleichbarer Nutzen gegenüber steht.<br />
Wer hier zum ersten Mal von Persona’s liest, ist möglicherweise befremdet von<br />
einer derartigen Vorgehensweise. Die Frage, inwiefern fiktive Personenbeschreibungen,<br />
einen Softwareentwurf signifikant verbessern können, ist nicht von der Hand<br />
zu weisen. Pruitt and Grudin [2003] weisen darauf hin, dass Menschen schon in<br />
der frühen Kindheit erlernen, die Reaktion anderer Menschen auf ihr Verhalten vorherzusagen<br />
und diese Fähigkeit intensiv nutzen und im Laufe des Lebens ständig<br />
weiterentwickeln. Wenn man sich diesbezüglich grob verschätzt, bleibt dies als kri-<br />
502
tische Situation in der Erinnerung haften und wir sind bestrebt, daraus zu lernen.<br />
Die Nutzung von Persona’s nutzt diese ausgeprägte menschliche Fähigkeit.<br />
Beispiel.<br />
Pruitt and Grudin [2003] beschreiben ihre Erfahrungen anhand von zwei Projekten,<br />
wobei die Entwicklung von Persona’s in einem Projekt erst spät begann und ohne<br />
nennenswerte Ressourcen durchgeführt wurde, während in dem anderen Projekt dafür<br />
Ressourcen in nennenswertem Umfang bereit gestellt wurden. Insofern diente<br />
das erste Projekt eher dazu, die Methode kennenzulernen und es gelang noch nicht<br />
in großem Umfang die Entwicklung dadurch zu prägen.<br />
Die zweite größere Entwicklung soll kurz beschrieben werden, obwohl sie hinsichtlich<br />
ihrer Größe nicht repräsentativ ist. Für die Weiterentwicklung von MICRO-<br />
SOFT WINDOWS wurde ein Team von 22 Personen gebildet, das – neben anderen<br />
Aktivitäten – Persona-Beschreibungen erstellt und verbreitet hat. Diese Personenn<br />
hatten substanzielle Erfahrungen mit anderen Analyseaktivitäten. Die Arbeit an den<br />
Persona’s diente nicht dazu, andere Analyseaktivitäten zu ersetzen, sondern war als<br />
Ergänzung gedacht, die z.B. mit entsprechenden Szenarien „verlinkt“ wurde.<br />
Sehr sorgfältig wurden eine Reihe essenzieller Fragen diskutiert. Dies betrifft<br />
insbesondere:<br />
• das Verhältnis von fiktiven Bestandteilen zu datenbasierten Informationen,<br />
• den Inhalt der Persona-Beschreibungen,<br />
• die Auswahl der Persona’s,<br />
• die Validierung der Persona’s und<br />
• die Beurteilung des durch die Persona’s erreichten Ergebnisse.<br />
Speziell die Auswahl der Persona’s ist eine schwierige Entscheidung. Bei einem<br />
Produkt für einen Weltmarkt mit sehr heterogener Verteilung der Benutzer sind<br />
viele Aspekte zu beachten: Persona’s könnten so gewählt werden, dass sie regionale<br />
Unterschiede, Altersunterschiede, Geschlechtsunterschiede oder Unterschiede in<br />
kognitiven und motorischen Fähigkeiten veranschaulichen. Um die Anzahl der Persona’s<br />
auf ein sinnvolles und übersichtliches Maß zu begrenzen, konnte nicht eine<br />
Persona für jede Ausprägung dieser Merkmale definiert werden.<br />
Interviews, Workshops mit Fokusgruppen, Feldstudien und Marktanalysen waren<br />
die wesentlichsten Quellen für die Persona-Beschreibungen. Diese Rohdaten<br />
wurden für jede Persona in einem sogenannten „Foundation“-Dokument festgehalten.<br />
Fotos von Microsoft-Mitarbeitern wurden erstellt, um die Persona’s visuell anzureichern.<br />
Sechs Persona’s wurden definiert, wobei jeweils zwei Teammitglieder<br />
für eine Persona verantwortlich waren. Die Persona’s wurden mit den Rohdaten auf<br />
vielfältige Weise verlinkt, um die Bezüge deutlich zu machen.<br />
Die Erfahrungen wurden als sehr positiv beschrieben, wobei folgende Aspekte<br />
als wesentlich angesehen wurden. Persona’s helfen:<br />
• die Entwurfsentscheidungen zu diskutieren,<br />
• die Entwurfsaktivitäten auf relevante Aspekte zu fokussieren,<br />
503
• das Bewusstsein aller Beteiligten für Benutzer zu schärfen,<br />
• reichhaltige Informationen über Benutzer an alle an der Entwicklung Beteiligten<br />
(Entwickler, technische Redakteure, Manager, Tester, Marketingexperten)<br />
zu kommunizieren und<br />
• Marketinganalysen und andere Daten aus der Analyse, prägnant zusammenzufassen.<br />
Insbesondere der erste Aspekt wurde bereits von Cooper [1999] betont. Diskussionen<br />
der Art „Würde Alan dieses Feature benutzen?“ sind typisch. Um diese Diskussionen<br />
konstruktiv zu gestalten, wurden für wichtige Features auf Basis der unterschiedlichen<br />
Persona’s Punkte für die Relevanz vergeben, so dass eine prioritätsgewichtete<br />
Tabelle von Features entsteht. Für den praktischen Nutzen spricht, dass<br />
viele Entwurfsdokumente, u.a. die Spezifikationen, die Storyboards und Entwurfsentscheidungen<br />
explizit auf die Persona’s Bezug genommen haben.<br />
Diskussion.<br />
Persona’s können und sollten mit anderen Methoden kombiniert werden. Insbesondere<br />
reicht eine Persona-fokussierte Diskussion nicht aus, um komplexe Abhängigkeiten<br />
von Aufgaben und Teilaufgaben zu verstehen. Persona’s können sowohl in<br />
die szenariobasierte Entwicklung als auch in die kontext-basierte Entwicklung integriert<br />
werden. Die Nutzung von Persona’s in einer partizipativen Entwicklung wird<br />
in [Grudin and Pruitt, 2002] beschrieben. Weitere Beispiele und eine weiterführende<br />
Diskussion zu Persona’s findet sich auch in [Herczeg, 2009a]. Cooper et al.<br />
[2007] diskutiert ausführlich, welche Persona’s benötigt werden. Neben den Repräsentanten<br />
der wichtigsten Benutzergruppen (primary persona’s) werden z.B. auch<br />
Persona’s erwähnt, die solche Benutzer charakterisieren, die von einem System profitieren,<br />
ohne es direkt zu nutzen (served persona’s).<br />
12.5 Rahmenbedingungen<br />
Gutes User Interface Engineering bedeutet, die Aspekte einer „guten“ Benutzungsschnittstelle<br />
zu identifizieren, die von den Entwicklern direkt beeinflusst werden<br />
können. Außerdem müssen andere Einflüsse oder Vorgaben identifiziert werden, die<br />
als Rahmenbedingungen, zu beachten sind.<br />
12.5.1 Direkte Vorgaben<br />
Folgende Vorgaben werden häufig gemacht:<br />
504
1. Hardware. Die Hardware-Plattform wird oft vorgegeben. Entweder aus Kostengründen<br />
oder um die Kompatibilität mit der existierenden Umgebung zu erreichen,<br />
ist der „Spielraum“ für die Entwicklung zumeist stark eingeschränkt.<br />
2. Ein-/Ausgabegeräte. Nicht alle üblichen Ein- und Ausgabegeräte können in allen<br />
Umgebungen benutzt werden. Beispielsweise gibt es Leitwarten, in denen<br />
keine Tastaturen vorhanden sein dürfen, und Arbeitsplätze, an denen „keine<br />
Hand frei“ ist. So müssen Navigationssysteme im Auto auch ohne Tastatureingabe<br />
funktionieren.<br />
3. Software-Plattform/Entwicklungsplattform. Beide können häufig nicht selbst<br />
gewählt werden, da eine strategische Entscheidung für bestimmte Plattformen<br />
entweder beim Auftraggeber oder auch bei der eigenen Firma die Auswahl bestimmt.<br />
Der erforderliche Funktionsumfang bestimmt auch die Wahl der Werkzeuge<br />
mit.<br />
4. Preis/Implementierungsaufwand. Harte Kostenvorgaben lassen die Diskrepanz<br />
zwischen möglichen, guten Lösungsideen und real umsetzbaren Lösungen wachsen.<br />
5. Zeitvorgaben. Ähnliches gilt für Zeitvorgaben, die insbesondere die Experimentiermöglichkeiten<br />
einschränken und dazu führen, dass sich die Entwickler auf<br />
eher Bewährtes oder Bekanntes beschränken.<br />
Ob die Erfüllung dieser Vorgaben möglich ist, kann bei Vertragsverhandlungen<br />
mit Ja/Nein-Fragen leicht geprüft werden. Oft haben sie k.o.-Bedeutung, d.h. eine<br />
mit „Nein“ beantwortete Frage (z.B. die Preis- oder Zeitvorgaben können nicht eingehalten<br />
werden) beendet das gesamte Projekt.<br />
Um sich gegen unliebsame Überraschungen abzusichern, müssen die Rahmenbedingungen<br />
frühzeitig und vollständig eruiert und schriftlich fixiert werden. Dies<br />
kann schwierig sein, da die Auftraggeber diese Vorgaben oft nicht rechtzeitig oder<br />
vollständig machen können oder sie sogar während der Entwicklung ändern wollen.<br />
Oft haben die Entwickler durchaus Möglichkeiten, diese Vorgaben zu hinterfragen<br />
oder zu beeinflussen. Der Funktionsumfang ist oft variabler als angenommen, ebenso<br />
Software- oder auch Hardware-Vorgaben.<br />
Eine intensive Diskussions- und Konzeptphase sollte daher am Anfang jeder<br />
Entwicklung stehen. Sie sollte nicht nur mit den Auftraggebern, sondern auch mit<br />
den späteren Kunden/Benutzern geführt werden. Häufig sind Missverständnisse und<br />
Konflikte auf ungenügende Kommunikation in diesen frühen Projektphasen zurückzuführen.<br />
12.5.2 Unscharfe Vorgaben<br />
Während die zuvor besprochene Gruppe von Vorgaben direkte und einfach überprüfbare<br />
Konsequenzen hat, führt ein zweiter Typ von Vorgaben zu solchen Anforderungen<br />
an die Benutzungsschnittstelle, deren Einhaltung nur graduell bewertet<br />
werden können. Diese Bewertungen sind noch dazu oft vom subjektiven Empfinden<br />
des Benutzers oder Auftraggebers abhängig. Zu diesen Kriterien gehören:<br />
505
1. Portabilität. Oft sollen Implementierung und Schnittstellen derart realisiert werden,<br />
dass sie leicht auf andere Plattformen portierbar sind, auch wenn diese<br />
Portierung momentan noch nicht realisiert wird. Portierbarkeit ist bei Benutzungsschnittstellen<br />
häufig schwieriger als bei Anwendungssoftware in einer<br />
Standardsprache.<br />
2. Veränderbarkeit. Es sollten Vorkehrungen für eine schnelle, unkomplizierte und<br />
gut abgrenzbare Variation der Benutzungsschnittstelle getroffen werden. Dies<br />
kann in einer absehbaren Änderung des Funktionsumfangs, aber auch in besseren<br />
Anpassungsmöglichkeiten an Benutzerwünsche begründet sein.<br />
3. Internationalisierbarkeit. Die Option, Texte und Schriften verschiedenen Sprachen<br />
anzupassen, kann beim Entwurf wesentlich unterstützt werden. Ein variables<br />
Geometriemanagement bei dem die Ausrichtung der Bedienelementein<br />
Dialogenund Formularennicht durch fixe Positionen vorgegeben ist, spielt ein<br />
wichtige Rolle, um diese Dialoge in einer anderen Sprache (mit einer anderen<br />
Größe für Beschriftungen) nicht völlig neu entwickeln zu müssen. Zu diesem<br />
Zweck unterstützen viele Werkzeuge relative Angaben (Widget1 ist links<br />
an Widget2 und oben an Widget3 ausgerichtet), die erst zur Laufzeit in exakte<br />
Koordinaten umgerechnet werden.<br />
4. Sicherheit. Für sicherheitskritische Anwendungen (Luft- und Raumfahrt, Kraftwerke<br />
usw.) ist fehlerfreie Bedienung, häufiges Rückversichern und Prüfen ungleich<br />
wichtiger als für andere unkritische Anwendungsbereiche.<br />
5. Künstlerische Gestaltung, Medieneinsatz. Vorgaben der Gestaltungsmittel, bzw.<br />
hinsichtlich Umfang und Art in der die vorhandenen Medien eingesetzt werden.<br />
Diese Vorgaben betreffen auch die Zusammenarbeit mit Designern sowie den<br />
Gebrauch von Farbe und Fonts (siehe auch Styleguides).<br />
6. Das Einhalten von Standardisierungund Styleguidesumfasst die Vorgabe von<br />
Bedienelementenals Typ (z.B. Menüauswahl) oder das zu verwendende ToolkitindexWindow-<br />
Manager!Motif, firmen- oder projektbezogene Richtlinien, Ergonomie- und andere<br />
Normen Eine besondere Verbreitung hat der SAA/CUA-Standard(Systems<br />
Applications Architecture/Common User Access) von IBM erfahren (IBM [1991]),<br />
der die Grundlage für die Systeme von IBM und MICROSOFT bildete.<br />
7. Die Möglichkeit, firmeninterne Styleguidesin das Werkzeug zu integrieren.<br />
Diese Anforderungen an die Benutzungsschnittstelle werden meist vom Auftraggeber<br />
direkt vorgegeben. Bleiben obige Punkte offen, sollten sie trotzdem von den<br />
Entwicklern berücksichtigt und auf ihre Bedeutung im konkreten Projekt hin untersucht<br />
werden. Einige der oben genannten Punkte, z.B. die Sicherheitsaspekte, sind<br />
insbesondere als Zielvorgaben für Tests bedeutsam.<br />
12.6 Anforderungsanalyse<br />
Die Ergebnisse der <strong>Aufgabenanalyse</strong> sollten intensiv und kreativ ausgewertet werden.<br />
Die bisherige Art und Weise, Aufgaben zu erledigen, muss nicht optimal sein.<br />
506
Es muss nach Ergänzungen, Alternativen und Verbesserungsmöglichkeiten gesucht<br />
werden. Benutzer können erklären, wie etwas bisher erledigt wird, was ihnen wichtig<br />
erscheint, und lokale Verbesserungen vorschlagen – eine grundlegende Optimierung<br />
von Prozessen kann dagegen nicht von den Benutzern erwartet werden.<br />
Wenn diesbezügliche Ideen auftauchen, werden diese mit Benutzern und Auftraggebern<br />
diskutiert. Die Gelegenheit einer Softwareentwicklung sollte genutzt<br />
werden, um den Prozess der Aufgabenabarbeitung zu überdenken und gegebenenfalls<br />
zu optimieren. Es versteht sich von selbst, dass dieser Vorgang von den Auftraggebern<br />
und Benutzern geführt werden sollte, denn sie sind die Experten auf ihrem<br />
Gebiet. Der unbefangene Blick eines Außenstehenden kann allerdings helfen,<br />
die eine oder andere Schwachstelle zu identifizieren.<br />
Insbesondere, wenn eine qualitativ neue Lösung angestrebt wird, z.B. Ersatz einer<br />
manuellen Lösung, können viele Aufgaben erledigt werden, die in der bisherigen<br />
Arbeit gar nicht denkbar waren und somit auch nicht Bestandteil von Aufgabenbeschreibungen<br />
sein können. Wenn man sich in solchen Situationen zu stark<br />
auf die bisherige Art der Erledigung von Aufgaben stützt, „zementiert“ man unter<br />
Umständen nicht mehr zeitgemäße Strukturen.<br />
12.6.1 Funktionale und nicht-funktionale Anforderungen<br />
12.6.2 Szenariobasierte Beschreibung von Anforderungen<br />
Die szenariobasierte Methode ist auch in der Beschreibung von Anforderungen von<br />
großem Wert, weil sie eine Diskussion mit den Anwendern sehr gut unterstützt und<br />
für Entwickler die nötigen Hintergrundinformationen liefert. Die in der Anforderungsanalyse<br />
aufgestellten Szenarien sind dann Grundlage für die Entwicklung und<br />
die Evaluierung, die sich auf die Bewertung der Realisierung dieser Szenarien konzentriert.<br />
Die szenariobasierte Beschreibung von Anforderungen wird sehr präzise<br />
und praxisorientiert in [Benyon et al., 2005] beschrieben, wobei eine schrittweise<br />
Verfeinerung und Konkretisierung erfolgt. Benyon et al. [2005] unterscheiden vier<br />
Typen von Szenarien, die in verschiedenen Stadien im Designprozess Anwendung<br />
finden:<br />
1. User Stories werden genutzt, um auf hoher Ebene zu beschreiben, wie die Benutzer<br />
mit dem geplanten System arbeiten, einschließlich der Einbettung des<br />
Systems in den Kontext. Insbesondere enthalten sie Begründungen und Motive<br />
der Handelnden („Um die Auswahl geeigneter Fahrzeuge weiter einzuschränken,<br />
wird bei der Suche noch der Kilometerstand angegeben und die Suche auf<br />
Händler im Umkreis von 20 km eingeschränkt.“).<br />
2. Die User Stories werden durch einen Prozess der Abstraktion und Zusammenfassung<br />
zu Conceptual Scenarios erweitert. Diese werden genutzt, um die Anforderungen<br />
des Systems klarer zu definieren. So werden in dieser Phase die<br />
genutzten Eingabegeräte, Bestandteile<br />
507
3. Für die Umsetzung der Designideen, für das Prototyping sowie für die Evaluierung<br />
eines Systems können aus einem Conceptual Scenario mehrere Concrete<br />
Scenarios generiert werden, die notwendig sind, um einen bestimmten Sachverhalt<br />
bzw. eine spezielle Funktion genau zu erklären. Sie erfassen für das jeweilige<br />
Teilproblem spezifische Besonderheiten und die Umstände, unter denen sie<br />
auftreten.<br />
4. Mehrere Concrete Scenarios werden wiederum zu Use Cases zusammengefasst,<br />
welche die Interaktion zwischen den Anwendern und dem Programm präzise<br />
beschreiben. Die erstellten Use Cases sollten die komplette Funktionalität des<br />
Systems sowie alle notwendigen Interaktionen einschließen.<br />
Abb. 12.5: Abhängigkeiten und Verwaltung der Szenarien. Gegenüber dem Vorschlag<br />
von Benyon et al. haben wir bildhafte Komponenten integriert, Abhängigkeiten<br />
explizit erfasst und eine redundanzarme Struktur (durch die Nutzung von Core<br />
und Common Components) entwickelt<br />
Konkrete Beispiele für den Einsatz von Szenarien in dieser Phase beziehen sich<br />
wiederum auf die Gestaltung chirurgischer Trainingssysteme. Dabei müssen neben<br />
dem Verständnis komplexer Anwendungsprobleme die Lerninhalte und Lernziele<br />
definiert, strukturiert und angemessen vermittelt werden. Das Verständnis des oft<br />
impliziten Expertenwissens und die Bewertung des Lernerfolgs sind besondere Herausforderungen.<br />
Die Szenarien erwiesen sich für das Design der Trainingsschritte<br />
und bei der Auswahl und Beschreibung der Trainingsfälle als hilfreich<br />
„Ein Facharzt möchte für seine Subspezialisierung Abdominalchirurgie die Vorgehensweise<br />
für die Planung onkologischer Eingriffe (Krebsoperationen) an der Leber<br />
vertiefen. Weil er sich mit diesem Gebiet lange nicht intensiver beschäftigt hat,<br />
wählt er im LIVERSURGERYTRAINER zunächst einen einfachen Fall: die Resektion<br />
eines Tumors in peripherer Lage. Er macht sich mit den Patientendaten und der<br />
Anamnese des Patienten vertraut. Er erfährt, dass der Patient an mehreren Tumorerkrankungen<br />
litt, die chirurgisch und durch Chemotherapien behandelt wurden.“<br />
(Aus [Cordes et al., 2007])<br />
508