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Die politische Dimension einer gemeinsamen Erinnerungskultur

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<strong>Die</strong> <strong>politische</strong> <strong>Dimension</strong><br />

<strong>einer</strong> <strong>gemeinsamen</strong> <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

Vortrag von Staatssekretär Michael Mertes<br />

beim deutsch-belarussischen Studientag des IBB Dortmund<br />

„Brücken <strong>einer</strong> <strong>gemeinsamen</strong> <strong>Erinnerungskultur</strong>“<br />

am 30. August 2008 in Dortmund<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

ich freue mich sehr, heute bei Ihnen sein zu dürfen. Ihnen allen, besonders unseren<br />

Gästen aus Belarus, überbringe ich die besten Grüße der nordrhein-westfälischen<br />

Landesregierung.<br />

Liebe belarussische Freunde,<br />

seien Sie herzlich hier in Nordrhein-Westfalen willkommen. Ich hoffe, dass Sie sich<br />

bei uns wohl fühlen! Es bewegt mich ganz besonders, dass über zwanzig Zeitzeugen<br />

– Überlebende von Zwangsarbeit, von Konzentrationslagern und des Minsker<br />

Ghettos – unter uns sind.<br />

I. Was bedeutet „<strong>Erinnerungskultur</strong>“?<br />

<strong>Die</strong> heutige Tagung befasst sich mit den „Brücken <strong>einer</strong> <strong>gemeinsamen</strong><br />

<strong>Erinnerungskultur</strong>“. <strong>Die</strong>se Brücke soll ja nicht nur Länder und Menschen miteinander<br />

verbinden, sondern auch Generationen.<br />

Wir stehen heute an <strong>einer</strong> entscheidenden Wegmarke in der Geschichte des<br />

Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg und an die Ermordung der europäischen<br />

Juden. Noch können wir Jüngeren (und dazu darf ich mich als Angehöriger des<br />

Nachkriegsjahrgangs 1953 ausnahmsweise einmal zählen) den Vertretern jener<br />

Generation persönlich begegnen, die diese Zeit selbst erlebt und erlitten haben – und<br />

oft erst nach langen Jahren des Schweigens darüber zu sprechen vermochten.<br />

Keine historische Studie kann solche Zeitzeugen-Berichte ersetzen. Wir sind darauf<br />

angewiesen, wenn wir eine lebendige <strong>Erinnerungskultur</strong> für die Zukunft wollen.


Gleichzeitig brauchen wir neue Formen der Weitergabe dieses Zeugnisses von<br />

Generation zu Generation. Dazu zähle ich eine Gestaltung von Gedenkorten, wie sie<br />

der Leanid Levin so beispielgebend vorgeführt hat.<br />

Dem Beitrag von Astrid Sahm möchte ich nicht vorgreifen, aber ich darf hier kurz<br />

Leanid Levin mit <strong>einer</strong> Äußerung aus einem Interview, das sie mit ihm geführt hat 1 ,<br />

selber zu Wort kommen lassen:<br />

„Ein gutes, modernes Denkmal sollte Information, Ausdruck und Sinn<br />

vermitteln. [. . .] Der Besucher <strong>einer</strong> Gedenkstätte soll das Gelände nicht<br />

niedergedrückt verlassen, erdrückt durch die Masse, den Block. [. . .] Ich<br />

möchte, dass der Besucher die Tragödie durchlebt, an deren Ort er<br />

gekommen ist. Wenn er die Gedenkstätte verlässt und vergisst, was er dort<br />

gesehen hat, habe ich mein Ziel verfehlt.“<br />

Letzten Endes kommt es gewissermaßen darauf an, aus unserem eigenen Herzen<br />

einen Gedenkort zu machen. Das scheint mir der tiefere Sinn des Wortes<br />

„<strong>Erinnerungskultur</strong>“ zu sein.<br />

„Kultur“ bezeichnet die Summe aller Selbstverständlichkeiten, die in <strong>einer</strong><br />

Gesellschaft gelten. Sie bezeichnen das, worüber man sich nicht erst einigen muss,<br />

weil es einfach zu den Fundamenten eines humanen, zivilisierten Miteinanders<br />

gehört. <strong>Die</strong> nationalsozialistische Gewaltherrschaft stellt die totale Negation von<br />

Kultur in diesem Sinne dar. <strong>Die</strong> Ermordung der europäischen Juden wird daher zu<br />

Recht als „Zivilisationsbruch“ bezeichnet. Sie ist – in den Worten des Historikers Dan<br />

Diner – „eine durch nichts zu versöhnende Verletzung aller tradierten Gewissheiten –<br />

die grundlose wie fundamentale Verletzung all dessen, was Menschenantlitz trägt“.<br />

II. Politik und Geschichte<br />

Gestatten Sie mir zunächst ein paar Worte der Erklärung, weshalb mich das Thema<br />

dieses Studientags sowohl beruflich als auch persönlich ganz besonders interessiert.<br />

1 Siehe IBB Dortmund, „Architektur als Gratwanderung. Leonid Lewin – ein Werk als Brücke von<br />

Gedächtnis und Gegenwart“, Minsk 2008.<br />

2


In der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei bin ich unter anderem für europäische<br />

und internationale Angelegenheiten zuständig. So kann ich beinahe täglich in der<br />

einen oder anderen Form erleben, wie nachhaltig sowohl die schlechten als auch die<br />

guten Erfahrungen der Vergangenheit in die <strong>politische</strong> Gegenwart hineinwirken. Sie<br />

prägen – um nur den wichtigsten Effekt zu nennen – die Bilder, die sich Völker<br />

voneinander machen. Solche Bilder wiederum beeinflussen die Erwartungen der<br />

Öffentlichkeit an die <strong>politische</strong>n Akteure und damit deren Handeln.<br />

Für Deutschland, das mehr Nachbarn hat als jeder andere europäische Staat und<br />

das zugleich für den bisher schlimmsten Eroberungs-, Versklavungs- und<br />

Vernichtungsfeldzug der Menschheitsgeschichte die Verantwortung trägt, bleibt das<br />

ein Thema von herausragender Bedeutung – auch wenn inzwischen mehr als ein<br />

halbes Jahrhundert seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen sind.<br />

Was kann in diesem Zusammenhang ein Land wie Nordrhein-Westfalen dazu<br />

beitragen, dass Deutschland s<strong>einer</strong> historischen Verantwortung gerecht wird? Bei<br />

näherem Hinsehen ist es eine ganze Menge!<br />

• Es kann, finanziell und ideell, Gedenkstätten und Dokumentationszentren<br />

fördern, die vielerorts an die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur<br />

und an das Leid der Opfer erinnern – und die zugleich darüber aufklären, wie<br />

es dazu kommen konnte. Letzteres ist eine Aufgabe, der sich vor allem auch<br />

unsere Landeszentrale für <strong>politische</strong> Bildung widmet.<br />

• Von herausragender Bedeutung ist die Tatsache, dass in unserem föderalen<br />

System die Länder für die Regelung des Schulwesens zuständig sind. Das<br />

heißt, Nordrhein-Westfalen hat die Möglichkeit – und damit auch die Aufgabe<br />

– festzulegen, dass den jungen Menschen an unseren Schulen die wichtigsten<br />

Tatsachen über die Jahre 1933 bis 1945, über Vorgeschichte dieser Zeit und<br />

über deren Nachwirkungen vermittelt werden.<br />

• Aber auch auf dem Feld der internationalen Beziehungen – das im<br />

Wesentlichen natürlich Revier des Bundes ist – können die Länder in<br />

3


Deutschland Einiges bewirken, um der guten Nachbarschaft, der<br />

Zusammenarbeit und damit letztlich dem Frieden in Europa zu dienen.<br />

Nordrhein-Westfalen zum Beispiel pflegt enge Beziehungen mit seinen unmittelbaren<br />

und mittelbaren Nachbarn Belgien, Niederlande, Luxemburg und Frankreich. Wichtig<br />

sind uns auch die vielfältigen Kontakte zu Ländern Mittel- und Osteuropas, unter<br />

denen Polen – und dort wiederum die Woiwodschaft Schlesien – einen<br />

herausragenden Platz einnimmt. Außerhalb Europas gehört Israel zu den Ländern,<br />

denen unsere besondere Aufmerksamkeit gilt. Unser Ministerpräsident Jürgen<br />

Rüttgers besucht regelmäßig den Staat Israel und auch die Palästinensischen<br />

Autonomiegebiete. Er setzt damit ganz bewusst eine Tradition fort, die sein<br />

Vorgänger Johannes Rau begründet hat.<br />

Ich weiß, dass gerade in Belarus das Andenken an unseren früheren<br />

Ministerpräsidenten Rau von vielen Menschen in hohen Ehren gehalten wird – und<br />

das sehr zu Recht! In seinem Geist führen wir diesen deutsch-belarussischen Dialog.<br />

Ohne das persönliche Engagement von Johannes Rau gäbe es unsere Begegnung<br />

heute hier in Dortmund gewiss nicht. Dafür sind und bleiben wir ihm dankbar.<br />

Meine Damen und Herren,<br />

im Westen Europas haben wir uns in den Jahrzehnten des Kalten Krieges<br />

angewöhnt, „Europa“ mit der Europäischen Union zu identifizieren. <strong>Die</strong>se enge<br />

Sichtweise habe ich nie geteilt. Wenn ich im Folgenden von „Europa“ spreche, dann<br />

meine ich den Raum, der aus den Mitgliedsländern des Straßburger Europarats<br />

gebildet wird.<br />

Mit 47 Staaten von Island bis Georgien, von Portugal bis zur Türkei, von Malta bis<br />

Russland steht diese Organisation wie keine zweite für die Idee der Einheit unseres<br />

Kontinents auf dem Fundament gemeinsamer Erfahrungen und Werte. Wie gefährdet<br />

diese Idee in der Wirklichkeit immer noch ist, zeigt gegenwärtig der russisch-<br />

georgische Konflikt.<br />

Ihr Land, liebe belarussische Freunde, gehört zur großen europäischen Familie. Zwar<br />

bin ich mir bewusst, dass Belarus noch nicht dem Europarat angehört – aber ich<br />

4


hoffe sehr, dass sich das eines nicht allzu fernen Tages ändern wird! In den letzten<br />

Tagen hat es positive Anzeichen dafür gegeben, dass der Dialog zwischen der<br />

Europäischen Union und Belarus wieder in Gang kommen könnte. Auch hier hoffe<br />

ich auf eine gute Entwicklung.<br />

An dieser Stelle noch zwei persönliche Bemerkungen, denen Sie, meine Damen und<br />

Herren, entnehmen mögen, dass die Teilnahme an Ihrem Studientag für mich<br />

weitaus mehr ist als die Erfüllung <strong>einer</strong> dienstlichen Pflicht.<br />

Meine erste Begegnung mit staatlicher Kontrolle des kollektiven Gedächtnisses hatte<br />

ich als Elfjähriger 1964 in der Sowjetunion. Mein Vater war damals an der Deutschen<br />

Botschaft Moskau tätig. Jeden Morgen auf dem Schulweg passierten mein Bruder<br />

Klaus und ich am Kutusowskij Prospekt eine lange Reihe überlebensgroßer Portraits<br />

der Mitglieder des ZK der KPdSU mit Nikita Chruschtschow an der Spitze. Am Tag<br />

nach dem Sturz Chruschtschows verschwand auch sein Bild aus der Öffentlichkeit –<br />

ein klarer Fall von „damnatio memoriae“, also der gezielten Auslöschung des<br />

Andenkens an eine Person.<br />

Im Zeitalter des Internet ist solche staatlich verordnete Amnesie heute<br />

glücklicherweise nicht mehr möglich. Man mag immer noch einen Namen oder ein<br />

Ereignis aus öffentlichen Annalen tilgen oder Standbilder von öffentlichen Plätzen<br />

entfernen können – aber im virtuellen Raum der elektronischen Kommunikation bleibt<br />

alles gespeichert und zugänglich. In dieser Hinsicht können wir also einen wichtigen<br />

Fortschritt verzeichnen.<br />

Meine zweite persönliche Bemerkung bezieht sich auf Erfahrungen, die ich als<br />

Mitarbeiter und Leiter der Planungs- und Kulturabteilung des Bundeskanzleramtes<br />

unter Helmut Kohl machen konnte. Dort habe ich in der Praxis viel über Umfang und<br />

Grenzen eines Handlungsfeldes gelernt, das man in Deutschland als<br />

„Geschichtspolitik“ bezeichnet.<br />

Konkret ging es damals um zwei Fragen: Darf der Staat Geschichtsmuseen gründen,<br />

wie es die Bundesrepublik 1986 mit dem „Haus der Geschichte“ in Bonn und 1987<br />

mit dem „Deutschen Historischen Museum“ in Berlin getan hat? Und: Welche<br />

5


Anforderungen muss eine nationale Mahn- und Gedenkstätte erfüllen, die nicht dem<br />

traditionellen Heldengedenken gewidmet ist, sondern den Opfern von Krieg und<br />

Gewalt – und zwar allen Opfern?<br />

Kritiker der beiden Geschichtsmuseen argumentierten, die Regierung Kohl verfolge<br />

den Plan, auf diese Weise ein „amtliches Geschichtsbild“ zu etablieren und zu<br />

zementieren. <strong>Die</strong>se Kritik ist mittlerweile verstummt – die Wirklichkeit hat sie<br />

widerlegt. Dass es so gekommen ist, hat gute Gründe. Beide Museen wurden von<br />

unabhängigen Wissenschaftlern konzipiert, in deren Arbeit sich die Bundesregierung<br />

zu keinem Zeitpunkt einmischte. Auch eine intensive Konsultation mit<br />

verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen sorgte dafür, dass<br />

die ganze Vielfalt der – einander oft widersprechenden – Interpretationen historischer<br />

Ereignisse und Entwicklungen zur Geltung kommen konnte. Das Resultat ist kein<br />

monolithisches, „von oben“ dekretiertes Geschichtsbild, sondern eine offene, zur<br />

lebendigen Debatte einladende Form der Geschichtsdarstellung.<br />

III. Möglichkeiten und Grenzen von „Geschichtspolitik“<br />

Trotz alledem klingt das Wort „Geschichtspolitik“ zunächst merkwürdig. Politik kann<br />

Gegenwart gestalten und Weichen für die Zukunft stellen – aber kann sie auch die<br />

Vergangenheit verändern?<br />

Natürlich geht das nicht. „Umstritten ist Geschichte heute weniger im Hinblick auf die<br />

Fakten als auf die unterschiedliche Interpretation dieser Fakten“, stellt die von Andrei<br />

Sacharow gegründete Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in einem vor wenigen<br />

Monaten veröffentlichten Dokument 2 zutreffend fest.<br />

Professionelle Historiker werden hier sicher einwenden, dass eine begriffliche<br />

Trennung zwischen Fakten und deren Interpretation unsinnig sei, weil vieles von<br />

dem, was wir unreflektiert als „Tatsache“ bezeichnen, in Wahrheit bereits eine<br />

Deutung bestimmter Informationen ist, die wir über Ereignisse der Vergangenheit<br />

2 Siehe www.memo.ru/2008/03/27/Memorial_obrazy_proshlogo_Eng.htm („On ‚National images of the<br />

past’. The twentieth century and the ‚war of memories’“); hier und im Folgenden zitiert nach der<br />

Übersetzung von Hartmut Schröder in: osteuropa, Juni 2008, S. 77 ff.<br />

6


haben. Dennoch glaube ich, dass der Alltagsverstand Recht hat, wenn er an der<br />

begrifflichen Trennung – oder besser: Trennbarkeit – von Faktum und Interpretation<br />

festhält. Sonst geraten wir schnell auf die Abwege eines postmodernen Relativismus,<br />

der es zum Beispiel für legitim hält, die Existenz von nationalsozialistischen<br />

Vernichtungslagern mit pseudowissenschaftlichen Begründungen in Zweifel zu<br />

ziehen.<br />

Immer wieder erleben wir Versuche, unliebsame historische Fakten in den<br />

Hintergrund zu drängen und der Öffentlichkeit politisch genehme<br />

Geschichtsinterpretationen aufzudrängen. Historiker, Journalisten und Bürger<br />

müssen daher die staatliche Einwirkung auf das kollektive Gedächtnis wachsam<br />

beobachten. Das soll nicht heißen, dass jede Form von „Geschichtspolitik“ zu<br />

verwerfen ist. Auf mindestens drei Feldern ist sie durchaus berechtigt:<br />

Erstens darf und soll der Staat für die finanziellen und institutionellen<br />

Rahmenbedingungen sorgen, unter denen eine freie Debatte über geschichtliche<br />

Fragen geführt werden kann. Dazu gehört nicht zuletzt der ungehinderte Zugang für<br />

Historiker und Journalisten zu staatlichen Geheimarchiven nach Ablauf gewisser<br />

Fristen.<br />

Jede Gesellschaft entwickelt ihr Selbstverständnis immer auch aus dem Nachdenken<br />

über die eigene Herkunft. Sie erkennt sich wieder in bestimmten Ereignissen,<br />

Personen und Orten, die zu Symbolen kollektiver Identität werden. Das führt mich<br />

zum zweiten Punkt, den ich als Frage formulieren will: Darf und soll der Staat<br />

historisch verankerte Symbole kollektiver Identität pflegen – etwa durch gesetzliche<br />

Gedenktage, durch öffentliche Gedenkstätten und durch öffentliche Gedenkrituale?<br />

Ich meine: Er darf und soll. <strong>Die</strong>ser Aspekt der Geschichtspolitik kann jedoch sehr<br />

problematisch werden:<br />

• Zwar ist es legitim, wenn der Staat symbolisch sichtbar macht, auf welchen<br />

Grundwerten er beruht – etwa dem Bekenntnis zur Würde des Menschen, zur<br />

Einheit der Nation oder zum Frieden in der Welt. (Ein spezielles und sehr<br />

schönes Beispiel hierfür findet sich in der deutschen Verfassung, dem<br />

Grundgesetz: Mit der deutschen Einheit im Jahr 1990 wurde der alte Artikel 23<br />

7


obsolet, der die Modalitäten <strong>einer</strong> Wiedervereinigung Deutschlands regelte.<br />

Wir haben ihn 1992 ersetzt durch einen neuen „Europaartikel“, der unser<br />

Bekenntnis zu einem freiheitlichen, demokratischen und föderalen Europa<br />

zum Ausdruck bringt und uns den Auftrag erteilt, an diesem Europa<br />

mitzuwirken.)<br />

• Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Besonderheiten der nationalen<br />

Erinnerung in eine feindselige Grenzziehung zwischen „uns“ und „den<br />

anderen“ umschlagen. „Memorial“ erwähnt in diesem Zusammenhang den<br />

zwischenstaatlichen „Krieg der Erinnerungen“ zwischen der Ukraine und<br />

Georgien auf der einen sowie Russland auf der anderen Seite. Auch<br />

innerstaatliche Konflikte zwischen ethnischen Gruppen können auf diese<br />

Weise geschürt werden. Ich erinnere hier nur an die extrem nationalistische<br />

Rede, die im Juni 1989 der damals international noch unbekannte<br />

jugoslawische Politiker Slobodan Milosevic bei <strong>einer</strong> Gedenkfeier zum 600.<br />

Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld hielt.<br />

Der dritte Punkt betrifft eine relativ neuartige Form staatlicher Geschichtspolitik –<br />

neuartig jedenfalls unter den Bedingungen der Demokratie, zu deren tragenden<br />

Säulen die Meinungsfreiheit gehört. Ich meine damit das strafbewehrte Verbot der<br />

Leugnung <strong>einer</strong> offenkundigen historischen Tatsache – nämlich des Faktums, dass<br />

unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sechs Millionen europäische<br />

Juden ermordet wurden.<br />

Seit Mitte der 1980er Jahre haben verschiedene europäische Länder – darunter,<br />

gleich zu Beginn dieser Entwicklung, auch Deutschland – die Leugnung des<br />

Holocaust unter Strafe gestellt. Widerspricht ein solches Verbot nicht dem<br />

Grundrecht auf Meinungsfreiheit? Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat diese<br />

Frage verneint. Seine Begründung: Dass Millionen europäischer Juden ermordet<br />

wurden, ist definitiv erwiesen. Ungezählte Augenzeugenberichte und Dokumente,<br />

gerichtliche Feststellungen in zahlreichen Strafverfahren und die Erkenntnisse der<br />

Geschichtswissenschaft schließen jeden vernünftigen Zweifel daran aus. Deshalb –<br />

so das Bundsverfassungsgericht – genießt die Behauptung, den Holocaust habe es<br />

nicht gegeben, nicht den Schutz der Meinungsfreiheit.<br />

8


Ein anderer Punkt scheint mir in diesem Zusammenhang ebenfalls bedeutsam. Zu<br />

den wichtigsten Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gehört die<br />

Erkenntnis, dass eine Demokratie nicht den Angriffen ihrer Feinde schutzlos<br />

ausgeliefert sein darf – wie in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre. <strong>Die</strong><br />

Leugnung des Holocaust ist heute in vielen europäischen Ländern eine<br />

propagandistische Waffe in der Hand neonazistischer Gruppen, die das <strong>politische</strong><br />

Ziel verfolgen, die freiheitliche Demokratie durch einen totalitären Führerstaat zu<br />

ersetzen. <strong>Die</strong> Strafbarkeit der Leugnung des Holocaust gehört deshalb auch zum<br />

Verteidigungsarsenal <strong>einer</strong> wehrhaften Demokratie.<br />

Kritiker wenden ein, dass es in <strong>einer</strong> aufgeklärten Welt keine Tabus mehr geben<br />

dürfe. Dem möchte ich widersprechen. Tabus – also Dinge, die man unter keinen<br />

Umständen tun oder sagen darf – gehören zu den Grundlagen der Kultur, und das<br />

nicht nur in jenen vormodernen Gemeinschaften, mit denen sich die Ethnologen<br />

befassen, sondern auch in modernen Gesellschaften. Tabus sind nicht von<br />

vornherein irrational. Viele von ihnen dienen dem inneren Frieden <strong>einer</strong> Gesellschaft.<br />

Viele können vernünftig begründet werden. Das gilt allemal für die Ächtung der Lüge,<br />

es habe keinen Holocaust gegeben.<br />

Zwar stellen nicht alle europäischen Staaten die Leugnung des Holocaust in ihrer<br />

nationalen Gesetzgebung unter Strafe, aber es gibt schon so etwas wie einen<br />

europäischen Konsens darüber, dass diese Propagandabehauptung auf jeden Fall<br />

bekämpft werden muss. Als Beispiel nenne ich hier das 2003 vom Europarat<br />

verabschiedete Ergänzungsprotokoll 3 zur Konvention über Internetkriminalität, das<br />

sich unter anderem mit „Leugnung, grober Verharmlosung, Zustimmung oder<br />

Rechtfertigung von Genoziden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ befasst.<br />

Es gibt gute Gründe dafür, die Strafbarkeit des Leugnens historischer Fakten auf die<br />

Leugnung des Holocaust zu beschränken. Von praktischer Bedeutung ist diese<br />

Frage im Blick auf die Massaker an den Armeniern in der Türkei 1915/16, die in den<br />

letzten Jahren von den Parlamenten mehrerer europäischer Staaten als „Völkermord“<br />

qualifiziert wurden. Wie Sie wissen, wehrt sich die Türkei immer noch vehement<br />

3 Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/189.htm.<br />

9


gegen diese Sicht der Ereignisse, und wer sie in der Türkei öffentlich vertritt, muss –<br />

oder musste bis vor Kurzem – damit rechnen, wegen „Beleidigung des Türkentums“<br />

oder „Beleidigung der türkischen Nation“ angeklagt zu werden.<br />

IV. Kann es ein gemeinsames europäisches Geschichtsbild geben?<br />

Von Friedrich Nietzsche stammt eine Beobachtung, die sich auf das individuelle<br />

Verdrängen unangenehmer Erinnerungen bezieht, aber auch sehr gut das<br />

Phänomen kollektiver Amnesie erklärt:<br />

„‚Das habe ich getan’, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben’<br />

– sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“<br />

Ich will hier nicht die ganze komplexe Geschichte des Umgangs der Deutschen mit<br />

der nationalsozialistischen Vergangenheit referieren – eine Geschichte, in der das<br />

Gedächtnis über den Stolz gesiegt hat. Lassen Sie mich nur einige Punkte<br />

hervorheben, die meines Erachtens auch wichtige Hinweise für die Gestaltung <strong>einer</strong><br />

<strong>gemeinsamen</strong> <strong>Erinnerungskultur</strong> enthalten.<br />

Erstens besteht, wenn ich es richtig sehe, in der deutschen Gesellschaft inzwischen<br />

große Übereinstimmung darüber, dass der Nationalsozialismus nicht einfach als eine<br />

Spielart des europäischen Faschismus zu betrachten ist. Sein programmatischer<br />

Kern war eine mörderische Rassenideologie, die ihn beispielsweise vom italienischen<br />

Faschismus unterschied. Marxistische und neomarxistische Interpretationen, die den<br />

Nationalsozialismus als Krisenprodukt des Kapitalismus auffassen, sind eine<br />

inakzeptable Verharmlosung.<br />

<strong>Die</strong> zweite Beobachtung bezieht sich auf die ehemalige DDR, die sich – jedenfalls<br />

nach dem offiziellen Verständnis ihrer kommunistischen Führung – als<br />

antifaschistische Alternative zur kapitalistischen und latent faschistischen<br />

Bundesrepublik verstand. <strong>Die</strong>se historisch-moralische Selbstlegitimierung diente dem<br />

DDR-Regime als Rechtfertigung für die planvolle Unterdrückung jeder Opposition<br />

und die systematische Verletzung der Menschenrechte. Sie gipfelte in der offiziellen<br />

10


Behauptung, alle Relikte nazistischer Gesinnung seien im Osten Deutschlands mit<br />

Stumpf und Stiel ausgerottet. <strong>Die</strong>se Behauptung hat sich mittlerweile als falsch<br />

erwiesen.<br />

Es hat – das ist mein dritter Punkt – lange gedauert, bis die Mehrheit der Deutschen<br />

bereit war zu akzeptieren, dass die Nazis nicht eine winzige Clique von Verbrechern<br />

waren, die Deutschland sozusagen von oben her besetzt hatten, sondern dass sie<br />

sich – vor allem nach den ersten innen- und außen<strong>politische</strong>n Erfolgen – allzu lange<br />

<strong>einer</strong> breiten Unterstützung in der Bevölkerung erfreuen durften. <strong>Die</strong>se Einsicht<br />

verwehrt es den Deutschen, sich gleichsam als kollektives Opfer Hitlers zu<br />

betrachten und damit der Frage nach dem eigenen Versagen und den daraus zu<br />

ziehenden Lehren auszuweichen.<br />

Besonders schmerzhaft war für viele Deutsche die Einsicht, dass die in der<br />

unmittelbaren Nachkriegszeit übliche klare Unterscheidung zwischen „sauberer<br />

Wehrmacht“ <strong>einer</strong>seits und der nationalsozialistischen Mordmaschinerie andererseits<br />

nicht durchzuhalten war. Auch all jene deutschen Soldaten, die sich persönlich k<strong>einer</strong><br />

Verbrechen schuldig machten, dienten objektiv einem System, dessen Kernziel die<br />

Versklavung und Vernichtung von Millionen Menschen war.<br />

Nun hatten die Deutschen allen Grund, sich vorrangig mit ihrer eigenen<br />

Vergangenheit zu beschäftigen und nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen.<br />

Bemerkenswert ist eine Entwicklung, die sich seit einigen Jahren in verschiedenen<br />

europäischen Ländern vollzieht. Nachdem staatliche Geschichtspolitik dort lange Zeit<br />

dazu tendierte, die eigene Nation als vereintes Volk von Widerstandskämpfern gegen<br />

Nazi-Deutschland zu portraitieren, ist man heute bereit, sich mit dem dunklen<br />

historischen Kapitel der Kollaboration vieler Landsleute mit der<br />

nationalsozialistischen Besatzungsmacht zu widmen 4 . Solche wachsende<br />

Bereitschaft zur nationalen Gewissenserforschung bezieht sich auch auf das<br />

Unrecht, das Europäer im Zeitalter des Kolonialismus Menschen und Völkern aus<br />

anderen Kontinenten zugefügt haben.<br />

4 Vgl. etwa www.dhm.de/ausstellungen/mythen-der-nationen/gemeinsam_widerstanden.htm.<br />

11


Mit dem Fall der Mauer, dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerbrechen der<br />

Sowjetunion vor bald zwanzig Jahren beschleunigte sich eine andere Entwicklung,<br />

die im Streit um das richtige Gedenken an den 8. und den 9. Mai 1945 zum Ausdruck<br />

kommt.<br />

Zweifellos war der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg auf unserem Kontinent endete,<br />

ein Tag der Befreiung – auch Deutschlands – vom Joch der nationalsozialistischen<br />

Gewaltherrschaft. Doch in vielen Ländern Mittel- und Osteuropas verbindet sich mit<br />

diesem Datum zugleich die Erinnerung an den Beginn der sowjetischen<br />

Vorherrschaft im Schatten der Konferenz von Jalta. Dan Diner hat für solche<br />

Ambivalenz den treffenden Begriff der „gegenläufigen Gedächtnisse“ geprägt. Aus<br />

„gegenläufigen Gedächtnissen“ kann sich schnell ein „Krieg der Erinnerungen“<br />

entwickeln, wie wir ihn 2005 beim erbitterten Streit zwischen Russland und den<br />

baltischen Republiken über die korrekte Interpretation des 8./9. Mai 1945 erlebt<br />

haben.<br />

Sie, liebe Gäste aus Belarus, sind mit der ganzen Thematik besser vertraut als ich –<br />

man braucht hier bloß an die Debatte in Ihrem Land über die Bedeutung der<br />

Verbrechen von Kurapaty zu erinnern. Lassen Sie mich dazu nur eine Überlegung<br />

vortragen, die mir im Blick auf die gemeinsame <strong>Erinnerungskultur</strong> wesentlich<br />

erscheint:<br />

• Wir müssen uns vor der Versuchung hüten, die Verbrechen der einen Seite<br />

durch Hinweis auf die Verbrechen der anderen zu relativieren. Natürlich ist es<br />

Aufgabe der Geschichtswissenschaft, Vorgänge zu vergleichen, zwischen<br />

ihnen Verbindungen herzustellen und dadurch auch historische Epochen zu<br />

erfassen. Aber dieses historische Vergleichen hat nichts mit moralischem<br />

Relativieren zu tun.<br />

• Umgekehrt müssen wir aber auch akzeptieren, dass jegliches Gedenken an<br />

Opfer von organisiertem Terror, so genannter „ethnischer Säuberung“ und<br />

planmäßiger Vernichtung in sich legitim ist und für sich genommen keinen<br />

Angriff auf die Legitimität anderer Gedächtnisse darstellt.<br />

12


Für mich stammt das Beste, was zu diesem Thema in letzter Zeit geschrieben wurde,<br />

aus dem bereits zitierten Dokument von „Memorial“:<br />

„Unserer Ansicht nach“, heißt es dort, „lässt sich die zunehmende<br />

Entfremdung zwischen den Völkern nur durch einen freien,<br />

unvoreingenommenen und zivilisierten Meinungsaustausch zu allen Fragen, in<br />

denen Differenzen über unsere gemeinsame Geschichte bestehen,<br />

überwinden. Das Ziel dieses Austauschs ist nicht, alle<br />

Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, sondern nur, die Positionen des<br />

jeweils anderen besser kennen und verstehen zu lernen. Wenn wir auf diesem<br />

Weg zu <strong>einer</strong> <strong>gemeinsamen</strong> Einschätzung eines bestimmten Problems<br />

unserer Geschichte gelangen, umso besser. Wenn nicht, so ist auch das kein<br />

Unglück: Jeder bleibt bei s<strong>einer</strong> Auffassung, aber wir entwickeln auch ein<br />

Verständnis für die Geschichtsbilder, die das Bewusstsein unserer Nachbarn<br />

prägen. Einzige Voraussetzung für einen solchen Dialog ist die Bereitschaft<br />

aller Beteiligten, den Standpunkt des anderen zu respektieren, wie ‚falsch’ er<br />

einem auf den ersten Blick auch erscheinen mag, [sowie] das aufrichtige<br />

Interesse und der aufrichtige Wunsch zu verstehen.“<br />

V. Menschenrechte als Manifestation historischer Erfahrung<br />

Wenn wir von <strong>einer</strong> <strong>gemeinsamen</strong> europäischen <strong>Erinnerungskultur</strong> sprechen, dann<br />

darf nach m<strong>einer</strong> Überzeugung ein Gedanke nicht fehlen, der nur auf den ersten<br />

Blick wenig mit unserem Thema zu tun hat. <strong>Die</strong>sen Gedanken möchte ich thesenartig<br />

so formulieren: Im <strong>gemeinsamen</strong> europäischen Bekenntnis zu den Menschenrechten<br />

manifestiert sich die gemeinsame Absage an den totalitären Kollektivismus.<br />

„Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ – so lautete eine der bekanntesten Nazi-<br />

Propagandaparolen. Sie drückt in kürzestmöglicher Form ein Wesensmerkmal jeder<br />

totalitären Ideologie aus: Das Individuum, der einzelne Mensch hat keine Würde an<br />

sich; unseren Wert erhalten wir allein durch die Zugehörigkeit zu <strong>einer</strong> größeren<br />

Gemeinschaft, deren so genanntem „Schicksal“ wir auf Gedeih und Verderb<br />

unterworfen sind.<br />

13


Der Wiener Philosoph Karl Popper, der vor dem drohenden „Anschluss“ Österreichs<br />

an das von den Nazis beherrschte Deutschland 1937 nach Neuseeland emigrierte,<br />

bezeichnet den Schicksalsglauben der kollektivistischen Geschichtsauffassung als<br />

„Historizismus“. Der Historizismus begegnet uns in verschiedenen Formen. Mal<br />

kommt er pseudoreligiös drapiert, mal pseudowissenschaftlich verbrämt daher. Allen<br />

Formen des Historizismus ist jedoch eines gemeinsam: die Geringschätzung des<br />

einfachen Menschen und der Kult um die große Führerpersönlichkeit.<br />

Was man gemeinhin „Geschichte“ nennt, ist – so Popper – in Wahrheit nur ein<br />

Ausschnitt aus der Vergangenheit, nämlich im Wesentlichen bloß eine Geschichte<br />

der Macht. Ich zitiere:<br />

„Das Leben des vergessenen, des unbekannten individuellen Menschen;<br />

seine Trauer, seine Freude, seine Leiden und sein Tod – sie sind der wirkliche<br />

Gehalt der menschlichen Erfahrung durch alle Zeiten. Könnte die Geschichte<br />

das erzählen, dann würde ich sicher nicht sagen, dass es Lästerung ist, den<br />

Finger Gottes in ihr zu sehen.“<br />

Eine Geschichte der Menschheit, die diesen Namen auch verdient, müsste – um<br />

noch einmal Popper zu Wort kommen zu lassen –<br />

„die Geschichte aller Menschen sein. Sie müsste die Geschichte aller<br />

menschlichen Hoffnungen, Streitigkeiten und Leiden sein. Denn kein Mensch<br />

ist wichtiger als irgendein anderer. <strong>Die</strong>se konkrete Geschichte kann nun<br />

offensichtlich nicht geschrieben werden. Wir müssen Abstraktionen machen,<br />

wir müssen vernachlässigen und auswählen.“ So gelangen wir schließlich „zu<br />

jener Geschichte internationaler Verbrechen und Massenmorde, die als die<br />

Geschichte der Menschheit, als die ‚Weltgeschichte’ angepriesen worden ist.“<br />

<strong>Die</strong> Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom<br />

10. Dezember 1948 bringt die noch ganz frische Erfahrung mit den Verbrechen der<br />

nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auf den Punkt, wenn sie feststellt, dass<br />

14


„die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der<br />

Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung<br />

erfüllen“.<br />

Indem die Europäische Menschenrechtskonvention sich zwei Jahre danach explizit<br />

auf dieses Dokument der Vereinten Nationen bezieht, macht sie sich auch die darin<br />

enthaltene Interpretation der jüngsten Geschichte zu eigen. Doch inwieweit lässt sich<br />

daraus schlussfolgern, dass damit eine gesamteuropäische Überzeugung kodifiziert<br />

ist? <strong>Die</strong> Antwort ergibt sich meines Erachtens ganz zwanglos aus der<br />

gesamteuropäischen Rolle des Europarats, unter dessen Ägide die Europäische<br />

Menschenrechtskonvention steht.<br />

Es wäre falsch, die Werte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention ihren<br />

völkerrechtlichen Niederschlag gefunden haben, einfach nur als abstrakte<br />

philosophische Prinzipien aufzufassen. Sie sind historisch gewachsen auf dem<br />

Boden des jüdisch-christlichen Erbes, des Humanismus und der Aufklärung – und sie<br />

reflektieren die leidvollen ebenso wie die positiven Erfahrungen europäischer<br />

Geschichte.<br />

VI. Elemente <strong>einer</strong> <strong>gemeinsamen</strong> europäischen <strong>Erinnerungskultur</strong><br />

Ob es auf absehbare Zeit eine gemeinsame europäische Geschichtsauffassung<br />

geben kann und wird, erscheint mir sehr zweifelhaft. Wir stellen fest, dass historisch<br />

verankerte Symbole kollektiver Identität Nationen eher voneinander trennen als<br />

miteinander verbinden. Niemand vermag die Geschichte unseres ganzen Kontinents<br />

so zu erzählen, dass jeder Europäer am Ende sagen könnte „Ja, das ist meine<br />

Geschichte!“ Noch fehlt der gemeinsame Fundus an Ereignissen, Personen und<br />

Orten, aus dem eine gesamteuropäische Identität schöpfen könnte. Das Teil-Europa<br />

der EU mag seine Gründungsväter haben, es muss jedoch ohne Gründungsmythos<br />

und ohne „heilige Stätten“ auskommen. Der Euro ist zwar ein wichtiges Zeichen der<br />

Gemeinsamkeit, aber eine Währung geht niemandem wirklich zu Herzen. Allenfalls<br />

die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs haben inzwischen eine Art eigene<br />

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Liturgie entwickelt – doch es ist offensichtlich, dass dieses Ritual sich mit dem<br />

erhabenen Zeremoniell eines Nationalfeiertags nicht messen kann.<br />

Wie dem auch sein – ohnehin ließe sich eine gemeinsame europäische Interpretation<br />

der Vergangenheit nicht „von oben“ dekretieren. Sie müsste in einem langen Prozess<br />

„von unten“, aus einem zwischengesellschaftlichen Dialog heraus, allmählich<br />

wachsen – zu einem Dialog übrigens, wie wir ihn hier in Dortmund führen.<br />

Sicher, Deutschland und Frankreich ist es vor zwei Jahren gelungen, ein<br />

gemeinsames Schulbuch für den Geschichtsunterricht an den Schulen zu entwickeln.<br />

<strong>Die</strong>ses Schulbuch lebt aber gerade nicht von dem Versuch, eine verbindliche<br />

gemeinsame Sicht der Geschichte zu entwickeln, sondern stattdessen von der<br />

Gegenüberstellung oft unterschiedlicher, ja sogar konträrer Sichtweisen. Und im<br />

Vergleich zu diesem bereits sehr anspruchsvollen Projekt wäre ein<br />

gesamteuropäisches Geschichtsbuch mindestens eine Jahrhundertaufgabe.<br />

Aber ist ein homogenes europäisches Geschichtsbild überhaupt wünschenswert?<br />

Auch da habe ich meine Zweifel – wenngleich ich nicht so weit gehen würde wie<br />

Leanid Levin, der im Gespräch mit Astrid Sahm warnt, die Folge von zu viel<br />

Übereinstimmung könnte „ein großes sowjetisches Europa“ sein. Es entspräche<br />

gewiss eher der für Europa kennzeichnenden Vielfalt, wenn verschiedene<br />

Geschichtsbilder friedlich neben- und miteinander existieren.<br />

Worauf wir uns gleichwohl einigen könnten und sollten, ist eine Reihe von Prinzipien,<br />

die vermeiden helfen, dass die Pluralität der Geschichtsbilder in Europa in einen<br />

„Krieg der Erinnerungen“ umschlägt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich<br />

mein Referat mit <strong>einer</strong> Aufzählung beenden – <strong>einer</strong> Liste von zehn Forderungen an<br />

eine gemeinsame europäische <strong>Erinnerungskultur</strong>:<br />

Erstens: Der Staat hat keine Hoheit über Deutung historischer Tatsachen. Staatliche<br />

Geschichtspolitik darf den gesellschaftlichen Dialog über die Interpretation der<br />

Vergangenheit nicht ersetzen, sie muss ihn fördern und ermutigen. Dazu gehört<br />

unabdingbar ein Klima der Freiheit und Offenheit.<br />

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Zweitens: Nationales Gedenken darf nicht zu <strong>einer</strong> „Ethnisierung“ der Erinnerung<br />

führen, die bestimmte Teile der eigenen Bevölkerung ausgrenzt und zu Fremden<br />

oder gar zu inneren Feinden stempelt.<br />

Drittens: Zum Klima der Freiheit und Offenheit gehört die Möglichkeit, sich mit den<br />

heroischen Mythen, tradierten Feindbildern und dunklen Kapiteln der Geschichte des<br />

eigenen Landes kritisch auseinanderzusetzen.<br />

Viertens: Der Dialog über die Interpretation der Vergangenheit darf nicht nur<br />

innerhalb der europäischen Nationen geführt werden, er muss zunehmend auch<br />

zwischen den Nationen stattfinden. Auch hier beschränkt sie die Rolle der Staaten im<br />

Wesentlichen darauf, die Bedingungen für einen möglichst freien und offenen<br />

Austausch von Historikern, Künstlern und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu<br />

schaffen.<br />

Fünftens: Jede Form von Aufrechnung ist intellektuell und moralisch unzulässig.<br />

Historische Verbrechen der einen Seite können und dürfen nicht unter Hinweis auf<br />

historische Verbrechen der anderen Seite relativiert oder gar legitimiert werden.<br />

Sechstens: Vergleiche gegenwärtiger mit vergangenen Ereignissen dürfen nicht für<br />

den Zweck <strong>politische</strong>r Agitation missbraucht werden. <strong>Die</strong>se Forderung richtet sich vor<br />

allem gegen die inflationäre Verwendung des Wortes „Genozid“.<br />

Siebtens: <strong>Die</strong> Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust ist tabu und muss daher<br />

geächtet bleiben.<br />

Achtens: Im Zentrum <strong>einer</strong> lebendigen <strong>Erinnerungskultur</strong> stehen die Berichte der<br />

Zeitzeugen und die Weitergabe ihres Zeugnisses an die junge Generation.<br />

Neuntens: Gedenkstätten, Denkmale, Museen, Dokumentationszentren und<br />

vergleichbare Orte müssen die Köpfe und Herzen der Besucher ansprechen und sie<br />

zu einem vertieften Nachdenken über das Gesehene anregen.<br />

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Zehntens: Eine gemeinsame Gedenkkultur dient nicht der Verehrung von Helden,<br />

sondern der Trauer um jedes einzelne Opfer, das wie jeder von uns Menschenantlitz<br />

trägt, und dem Willen, diese Trauer in eine produktive Kraft der Versöhnung und des<br />

Friedens zu verwandeln.<br />

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