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glaubten, sie könnten einen kleinen Erfolg verzeichnen. Drittens: die Ex-Linksradikalen aller<br />

Gattungen. Sie kennen nicht die oben erwähnten Motive, weisen aber vielfältige Affinitäten mit<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisation auf und überbieten sich in futuristischem Enthusiasmus aus Angst, für<br />

zurückgeblieben, nostalgisch o<strong>der</strong> gar für Krypto-Vichyisten zu gelten.<br />

Denn so viele Leute lassen sich von dieser jugendkultischen Orthodoxie beeindrucken,<br />

obwohl sie die Wirklichkeit kennengelernt haben, bevor sie liquidiert und verkehrt worden ist. Sie<br />

wären fähig, den Lauf in die Auflösung, die Champions und ihre jungen Supporter zu beurteilen.<br />

Doch sie unterschreiben in ihrem Innern die Verachtung, in <strong>der</strong> sie die Händler und Regisseure<br />

<strong>der</strong> Fälschung halten. Das alles beruht auf folgendem einfachen Mechanismus: In fünfzehn o<strong>der</strong><br />

zwanzig Jahren von heute an werden diejenigen, welche das frühere Leben gekannt haben, fast<br />

alle tot sein und diejenigen, die dann jung und erwachsen sein werden, werden nie etwas an<strong>der</strong>es<br />

kennengelernt haben, was ihnen zum Vergleich für den in allen Bereichen gebotenen Ersatz<br />

dienen könnte. Früher konnte man sagen, dass das, was eine Generation bildet, ein einzelnes<br />

geschichtliches Experiment war, woran man sich erinnern konnte, wie beispielsweise die Welt vor<br />

dem Zweiten Weltkrieg. Heute ist jede Generation (o<strong>der</strong> Halb- o<strong>der</strong> Viertelgeneration; <strong>der</strong><br />

Zyklus <strong>der</strong> Erneuerung <strong>der</strong> Dinge ist heute viel schneller als <strong>der</strong>jenige des Menschenmaterials)<br />

durch ein Moment des Konsums, ein Stadium <strong>der</strong> Technik o<strong>der</strong> durch eine idiotische, weltweite<br />

Mode gekennzeichnet. Mehr als durch irgend etwas an<strong>der</strong>es ist man Zeitgenosse gewisser<br />

Industrieprodukte und so kommt es, dass man sich in <strong>der</strong> Erinnerung an alte Fernseh-Sendungen<br />

einer gemeinsamen Jugend erinnert. Die letzte Generation im geschichtlich eigentlichen Sinne<br />

vereint folglich alle jene, welche in ihrer Jugend Zeugen des Sturzes <strong>der</strong> Welt in die Fälschung<br />

waren. In Frankreich fand das in den Sechzigerjahren statt. Diese Generation hat es vorgezogen,<br />

sich anzupassen, ja sogar, ihr fieberhaft zu folgen. Da sie aber etwas an<strong>der</strong>es kennengelernt hat,<br />

nämlich das, was <strong>der</strong> geschichtliche Einsatz dieser entscheidenden Epoche war, den sie feige<br />

vergessen und kaschieren will, ist diese (letzte) Generation ganz beson<strong>der</strong>s darauf aus, das<br />

Vergessen zu for<strong>der</strong>n, über-identifiziert sich mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung und findet sich im Hass auf<br />

die Kritik.<br />

III<br />

Wer erlebt hat, „wie sich die grosse Pforte in ihren Angeln drehte“ (in Erinnerung an<br />

„Fargue“ von Bernanos: “wir stehen auf <strong>der</strong> Schwelle dieser Welt, die Pforte hat sich hinter uns<br />

noch nicht geschlossen“) und den kommenden Einschluss in diese sterilisierte Welt <strong>der</strong><br />

technischen Simplifikation vorausgefühlt hat, hatte dennoch Schwierigkeiten, sich die<br />

Erniedrigung <strong>der</strong> Geister genau vorzustellen, welche die Folge daraus sein sollte. Einigen ist es<br />

dennoch gelungen, gewisse wesentliche Züge herauszuschälen. Bernanos zum Beispiel, o<strong>der</strong><br />

Lewis Mumford im Kapitel über den nachgeschichtlichen Menschen in seinem Buch „The<br />

Transformations of Man“ 6 o<strong>der</strong> Adorno, <strong>der</strong> ebenfalls feststellte, dass die Technisierung den<br />

„Erfahrungskern“ eines vor-utilitaristischen Verhaltens erodiert, d. h. die Grundlage überhaupt,<br />

zu urteilen: „Man wird dem mo<strong>der</strong>nen Menschen nicht gerecht, wenn man sich nicht alles dessen<br />

bewusst ist, was ihm unaufhörlich bis in die tiefsten Innervationen hinein die Dinge, die ihn<br />

umgeben, antun... In den Bewegungen, welche die Maschinen von denjenigen verlangen, die sie<br />

laufen lassen, findet man die Schroffheit, die abgehackte Eindringlichkeit und die Gewalt wie<strong>der</strong>,<br />

welche die faschistischen Brutalitäten kennzeichnen.“ 7 Diese Bemerkungen über die<br />

Ausweitung <strong>der</strong> Brutalität infolge <strong>der</strong> Erfor<strong>der</strong>nisse des mechanisierten Lebens gingen schon<br />

weit, und nun befinden wir uns darin. Es sind schon fünfzehn Jahre vergangen, als ein an<strong>der</strong>er<br />

Wahrheitszeuge von einer italienischen Stadt berichtet, die vom Automobilverkehr heimgesucht<br />

wurde: „Nichts verschafft einem besser das Gefühl für das kriminelle Milieu und die Verwüstung<br />

6<br />

„The Transformation of Man“ 1956, deutsch: „Hoffnung o<strong>der</strong> Barbarei – Die Verwandlung des Menschen“,<br />

Ffm 1981<br />

7<br />

Th. W. Adorno, „Minima Moralia“<br />

10

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