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[...] tiefere Gründe in den immer elen<strong>der</strong>en Bedingungen <strong>der</strong> Jugend liegen, ist von den<br />

Verantwortlichen <strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Ordnung und von den Medien aufgebauscht<br />

worden, bis sie mit <strong>der</strong> Wirklichkeit keinen Zusammenhang mehr haben.“). Es steht gemäss den<br />

Medien fest, dass <strong>der</strong> CIA während zehn Jahren eben diese gangs, um seine Aktivitäten in<br />

Nicaragua zu finanzieren, mit Crack versorgt hat. Der Gedanke ist nicht abwegig, dass <strong>der</strong><br />

erhoffte Gewinn aus dieser Operation nicht nur finanziell sein, son<strong>der</strong>n auch dazu dienen sollte,<br />

die schwarze Jugend in die Selbstvernichtung zu stürzen. Diese Teilwahrheiten dienen aber als<br />

Lügen, wenn damit nicht auch gesagt werden soll, dass die von den gangs rekrutierte und<br />

fanatisierte Jugend die Avant-Garde <strong>der</strong> Regression in eine Welt ist, in <strong>der</strong> die Verrottung aller<br />

alten Formen des gesellschaftlichen Lebens nur durch die Errichtung eines Regimes schlimmsten<br />

Zwanges aufgehalten werden kann. Nicht nur ist die offen nihilistische Gewalt dieser Sturmschar<br />

<strong>der</strong> Barbarei keine Gefahr für die Herrschaft, nicht nur dient sie als abschreckendes Beispiel, um<br />

ihre eigene Gewalt zu legitimieren, son<strong>der</strong>n sie gibt auch das Modell <strong>der</strong> Anpassung an die neuen<br />

Bedingungen ab, worin das Überleben zunehmend durch die Auslöschung hindurch geht und<br />

worin eine prekäre Sicherheit nur zum Preis des Verzichtes auf jede persönliche Autonomie<br />

erlangt werden kann.<br />

Ebenso ist es, was die den Islamisten zugesprochenen Attentate in Frankreich betrifft, für<br />

eine schöne humanistische Seele leicht, das zerstörerische Chaos aufzuzeigen, worin eine Jugend<br />

ohne Zukunft in den Städten lebt, und den Vorwand für eine verstärkte Repression zu<br />

denunzieren. Etwas anspruchsvoller ist die Behauptung, da es gemäss „Paris-Match“ für erwiesen<br />

gilt ist, dass Geheimagenten von Algier fähig sind, Verbrechen und Attentate unter <strong>der</strong> Signatur<br />

des G. I. A. zu provozieren, dass es sich bei den besagten Attentaten um eine Episode geheimer<br />

Machenschaften zwischen den Staaten Frankreich und Algerien, um ein Erpressungsmittel von<br />

Seiten von Algier handle, um eine festere Unterstützung im Kampf gegen die Islamisten zu<br />

erhalten. (Man weiss, dass die französischen Autoritäten eine Zeit lang auf letztere gesetzt haben,<br />

um die Jungen <strong>der</strong> Städte zu rekrutieren, wie früher die Stalinisten.) Doch diese Anprangerungen<br />

<strong>der</strong> Repression und <strong>der</strong> staatlichen Manipulationen hören dort auf, wo sich das wirkliche<br />

historische Problem zu stellen beginnt: die schreckliche Verfügbarkeit <strong>der</strong> Jugend des Abgrunds<br />

für alle Manipulationen; ihre Geilheit, es den Modellen gleichzutun, die von ihren Feinden<br />

konzipiert werden. Man spricht von <strong>der</strong> Repression, um nicht von <strong>der</strong> Zersetzung sprechen zu<br />

müssen. Alles, was man durchaus zugeben kann, ist, wie es ein Flugblatt nach <strong>der</strong> Welle von<br />

Attentaten im Sommer 1995 sagte, dass die „lebenslang arbeitlosen Jugendlichen, eingesperrt in<br />

die enge Existenz <strong>der</strong> Mauern einer Cité, im Islam glaubten eine Identität finden zu können“ und<br />

dass „einige unter ihnen sich von Bombenlegern manipulieren liessen“. Man will vor allem nicht<br />

klar und deutlich erkennen, wie die übergrosse Mehrzahl dieser Jungen, unabhängig von je<strong>der</strong><br />

beson<strong>der</strong>en Manipulation, sich irgendwie selbst manipuliert, konditioniert und gepolt hat, indem<br />

sie begeistert die Identitäten aufnahm, die man für sie zurechtgeschnei<strong>der</strong>t hatte. Dazu müsste<br />

man sehen wollen, wie Individuen durch ihre Atomisierung gezwungen sind, sich von Tag zu Tag<br />

anzupassen, hin und hergeworfen zwischen plötzlichem Schock und plötzlichem Vergessen. Mit<br />

dem Verlust <strong>der</strong> Fähigkeit, die Zeit als etwas Durchgängiges zu erfahren, verlieren sie auch die<br />

Fähigkeit, irgendetwas den Mechanismen <strong>der</strong> Entpersönlichung entgegenzusetzen, die sie<br />

überfahren. In dieser Hinsicht spielt es eine geringe Rolle, dass die Vorstellungen, an die sie sich<br />

hängen, um sich eine Leih-Identität zu geben, diejenigen <strong>der</strong> rebellischen Jugend <strong>der</strong> Ghettos<br />

sind.<br />

Der Linksextremismus zieht es vor, von an<strong>der</strong>em zu sprechen, was verständlich ist. Hier<br />

ein Beispiel, wie in einem anonymen Vorwort für eine Neuherausgabe von „Das Elend <strong>der</strong><br />

Studenten“ 14 ganz magistral den letzten Illusionen <strong>der</strong>jenigen, welche hoffen, durch ein Studium<br />

dem Ausrangiertwerden zu entgehen, die Hellsicht <strong>der</strong> Rowdys <strong>der</strong> Cité entgegengesetzt wird:<br />

„Die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Cités, diese Palästinenser des triumphierenden Spektakels, wissen, dass sie nichts<br />

14 „La misère en milieu étudiant“, von Raoul Vaneigem, 1966. Edition Nautilus 1976.<br />

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