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Der goldene Kompass

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PHILIP PULLMAN<br />

DER GOLDENE KOMPASS


PHILIPP PULLMAN<br />

DER GOLDENE<br />

KOMPASS<br />

Aus dem Englischen<br />

von Wolfram Ströle und Andrea Kann<br />

CARLSEN


1. Auflage 1996<br />

Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 1996<br />

Originalcopyright © by Philip Pullman 1995<br />

Originalverlag: Scholastic Children’s Books Ltd., London 1995<br />

Originaltitel: HIS DARK MATERIALS 1 : Northern Lights.<br />

Einband: Dieter Wiesmüller<br />

Satz: H & G Herstellung GmbH, Hamburg<br />

Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb Pößneck GmbH, Pößneck<br />

ISBN 3-551-58008-1<br />

Printed in Germany


In dieser wilden Kluft<br />

Schoß der Natur, und wohl auch deren Grab,<br />

Nicht See, nicht Land, nicht Luft, nicht Feuer noch<br />

Doch angelegt in einem Urgemisch<br />

Auf alle diese hin, im Wirrwarr schwanger,<br />

Die so auf immer sich bekämpfen müssen,<br />

Wenn nicht des Schöpfers Allmacht sie bestimmt<br />

Zum dunklen Rohstoff neuerschaffner Welten —<br />

In diese Kluft hinaus am Höllenrand<br />

Stand der wachsame Feind und überlegte<br />

Ausschauend seine Reise eine Weile…<br />

John Milton, Das verlorene Paradies, Zweites Buch


DER GOLDENE KOMPASS ist der erste Teil einer<br />

Geschichte in drei Bänden. <strong>Der</strong> erste Band spielt in einer<br />

Welt, die der unseren sehr ähnlich und doch ganz anders<br />

ist. <strong>Der</strong> zweite Band spielt in der Welt, die wir kennen.<br />

<strong>Der</strong> dritte Band bewegt sich zwischen diesen Welten.


I<br />

Oxford


Eins<br />

Die Karaffe<br />

An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen,<br />

schlichen Lyra und ihr Dæmon durch den dämmrigen Speisesaal.<br />

Die drei großen Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen,<br />

waren bereits gedeckt, die langen Bänke für die Gäste<br />

aufgestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im letzten<br />

Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer<br />

Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur<br />

offenen Küchentür zurück, und als sie dort niemanden sah,<br />

stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf. Er war mit Gold<br />

statt mit Silber gedeckt, und statt der Eichenbänke standen dort<br />

samtgepolsterte Mahagonistühle.<br />

Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte vorsichtig<br />

mit dem Fingernagel an das größte Glas. <strong>Der</strong> helle Klang<br />

war im ganzen Saal zu hören.<br />

»Das ist nicht der Ort für solche Spaße«, flüsterte ihr Dæmon.<br />

»Reiß dich gefälligst zusammen.«<br />

Lyras Dæmon Pantalaimon hatte die Gestalt einer dunkelbraunen<br />

Motte angenommen, um in dem dämmrigen Saal<br />

nicht aufzufallen.<br />

»Die machen in der Küche so viel Krach, daß sie das gar nicht<br />

hören«, flüsterte Lyra zurück. »Und der Steward kommt erst<br />

beim ersten Klingeln. Mach keinen Aufstand.«<br />

9


Trotzdem legte sie die Hand auf das Glas, und Pantalaimon<br />

flatterte voraus und durch die angelehnte Tür am hinteren<br />

Ende des Podiums, die zum Ruhezimmer führte. Kurz darauf<br />

tauchte er wieder auf.<br />

»Das Zimmer ist leer«, flüsterte er. »Aber wir müssen uns<br />

beeilen.«<br />

Gebückt rannte Lyra um den Tisch und durch die Tür ins<br />

Ruhezimmer. Dort richtete sie sich auf und sah sich um. Das<br />

einzige Licht kam vorn offenen Kamin, in dem ein helles Feuer<br />

brannte; gerade in diesem Augenblick rutschte ein Scheit nach<br />

unten, und eine Fontäne von Funken stieg auf. Obwohl Lyra fast<br />

ihr ganzes Leben im College verbracht hatte, war sie noch nie<br />

im Ruhezimmer gewesen; nur Wissenschaftler und ihre Gäste<br />

durften es betreten, Frauen niemals. Nicht einmal die Putzfrauen<br />

durften hier saubermachen, sondern nur der Butler.<br />

Pantalaimon setzte sich auf ihre Schulter.<br />

»Zufrieden?« flüsterte er. »Können wir wieder gehen?«<br />

»Sei nicht albern! Ich will mich umsehen!«<br />

Das Zimmer war geräumig und enthielt einen ovalen Tisch<br />

aus poliertem Rosenholz, auf dem verschiedene Karaffen und<br />

Gläser und eine silberne Rauchmühle mit einem Pfeifenständer<br />

standen. Die Anrichte daneben war mit einer kleinen Warmhalteplatte<br />

und einem Korb mit Mohnkapseln gedeckt.<br />

»Die lassen es sich gutgehen, was, Pan?« sagte Lyra leise.<br />

Sie setzte sich in einen grünledernen Armsessel. Er war so<br />

tief, daß sie beinah darin lag. Sie setzte sich wieder auf, zog die<br />

Beine hoch und betrachtete die Porträts an den Wänden. Wahrscheinlich<br />

handelte es sich bei diesen düsteren Gestalten mit<br />

Roben und Bärten, die feierlich mißbilligend aus ihren Rahmen<br />

auf sie herunterstarrten, um frühere Wissenschaftler.<br />

»Worüber sie heute wohl reden werden?« sagte Lyra, oder<br />

vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die Frage beenden<br />

konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen.<br />

10


»Hinter den Sessel — schnell!« flüsterte Pantalaimon, und<br />

schon war Lyra aufgesprungen und kauerte hinter der Lehne.<br />

<strong>Der</strong> Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in der<br />

Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war…<br />

Die Tür ging auf, und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge<br />

trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra<br />

konnte seine Beine sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen<br />

und schwarz glänzenden Schuhen — ein Diener also.<br />

Dann sagte eine tiefe Stimme: »Ist Lord Asriel schon eingetroffen?«<br />

Das war der Rektor. Lyra hielt den Atem an. Sie sah, wie der<br />

Dæmon des Dieners hereintrottete — eine Hündin, wie bei<br />

Dienern üblich — und sich still zu seinen Füßen setzte. Dann<br />

kamen auch die Füße des Rektors in Sicht, in den abgenutzten<br />

schwarzen Schuhen, die er immer trug.<br />

»Nein, Herr«, sagte der Butler. »Wir haben auch vom Luftdock<br />

nichts gehört.«<br />

»Er wird Hunger haben, wenn er kommt. Führe ihn gleich in<br />

den Speisesaal.«<br />

»Sehr wohl, Herr.«<br />

»Und hast du den speziellen Tokaier für ihn bereitgestellt?«<br />

»Jawohl, Herr. Jahrgang 1898, wie Ihr befohlen habt. Seine<br />

Lordschaft schätzt ihn ganz besonders, wie ich mich erinnere.«<br />

»Gut, dann geh jetzt, bitte.«<br />

»Braucht Ihr die Lampe, Herr?«<br />

»Ja, laß sie hier. Sieh während des Essens herein und kürze<br />

den Docht.«<br />

<strong>Der</strong> Butler verbeugte sich leicht und ging, gehorsam gefolgt<br />

von seinem Dæmon. Von ihrem Versteck, das eigentlich gar keines<br />

war, sah Lyra, wie der Rektor zu einem großen eichenen<br />

Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers ging, seinen Talar von<br />

einem Bügel nahm und umständlich hineinschlüpfte. Einst ein<br />

kräftiger Mann, war er inzwischen weit über siebzig und<br />

11


ewegte sich steif und langsam. Sein Dæmon war ein weiblicher<br />

Rabe, der, sobald der Rektor den Talar angezogen hatte, vom<br />

Schrank herunterflog und sich auf seinem gewohnten Platz auf<br />

der rechten Schulter niederließ.<br />

Lyra spürte, wie Pantalaimon vor Aufregung zitterte, obwohl<br />

er keinen Laut von sich gab. Sie selbst war angenehm gespannt.<br />

<strong>Der</strong> vom Rektor erwähnte Besucher Lord Asriel war ihr Onkel,<br />

ein Mann, den sie über die Maßen bewunderte und zugleich<br />

fürchtete. Er hatte angeblich mit der hohen Politik, geheimen<br />

Forschungsreisen und fernen Kriegen zu tun, und sie wußte nie,<br />

wann er auftauchen würde. Er hatte ein heftiges Temperament:<br />

Wenn er sie hier erwischte, würde er sie schwer bestrafen, aber<br />

sie würde es schon überstehen.<br />

Was sie dann sah, änderte freilich alles.<br />

<strong>Der</strong> Rektor nahm aus seiner Tasche ein zusammengefaltetes<br />

Blatt Papier und legte es auf den Tisch. Dann entfernte er den<br />

Stöpsel einer Karaffe, die mit einem golden leuchtenden Wein<br />

gefüllt war, faltete das Papier auf und ließ ein dünnes Rinnsal<br />

eines weißen Pulvers hineinrieseln; anschließend zerknüllte er<br />

das Papier und warf es ins Feuer. Er nahm einen Stift aus der<br />

Tasche, rührte den Wein um, bis das Pulver sich aufgelöst hatte,<br />

und verschloß die Karaffe wieder.<br />

Sein Dæmon krächzte leise. <strong>Der</strong> Rektor antwortete mit<br />

gedämpfter Stimme und ließ seine trüben Augen unter den<br />

schweren Lidern durch das Zimmer wandern. Dann entfernte<br />

er sich durch die Tür, durch die er gekommen war.<br />

»Hast du das gesehen, Pan?« flüsterte Lyra.<br />

»Natürlich! Jetzt schnell raus, bevor der Steward kommt!«<br />

Aber noch während er sprach, ertönte eine Klingel vom<br />

anderen Ende des Saales.<br />

»Die Klingel des Stewards!« sagte Lyra. »Ich dachte, wir hätten<br />

noch Zeit.«<br />

Pantalaimon flatterte schnell zur Tür und wieder zurück.<br />

12


»Er kommt schon«, sagte er. »Und durch die andere Tür<br />

kannst du nicht raus…«<br />

Die andere Tür, durch die der Rektor gekommen und<br />

gegangen war, ging auf einen belebten Gang zwischen der<br />

Bibliothek und dem Gemeinschaftsraum der Wissenschaftler.<br />

Zu dieser Tageszeit drängten sich dort Männer, die schnell noch<br />

zum Abendessen einen Talar anziehen oder irgendwelche<br />

Papiere und Aktentaschen im Gemeinschaftsraum deponieren<br />

wollten, bevor sie sich in den Speisesaal begaben. Lyra hatte<br />

durch die Tür verschwinden wollen, durch die sie gekommen<br />

war, und sie hatte damit gerechnet, daß ihr bis zur Klingel des<br />

Stewards noch einige Minuten Zeit blieben.<br />

Wenn sie nicht gesehen hätte, wie der Rektor das Pulver in<br />

den Wein schüttete, hätte sie den Zorn des Stewards vielleicht in<br />

Kauf genommen oder gehofft, unbemerkt über den belebten<br />

Gang verschwinden zu können. Doch sie war verwirrt, und<br />

darum zögerte sie.<br />

Dann hörte sie vom Saal her schwere Schritte. <strong>Der</strong> Steward<br />

kam, um nachzusehen, ob im Ruhezimmer der Imbiß aus<br />

Mohnkapseln und Wein bereitstand, den die Wissenschaftler<br />

nach dem Essen immer zu sich nahmen. Lyra hastete zu dem<br />

eichenen Kleiderschrank, öffnete ihn, kroch hinein und konnte<br />

gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, bevor der Steward<br />

eintrat. Um Pantalaimon machte sie sich keine Sorgen; im Zimmer<br />

gab es viele dunkle Ecken, und er konnte immer unter<br />

einen Sessel schlüpfen.<br />

Sie hörte den pfeifenden Atem des Stewards und sah durch<br />

einen Spalt in der Schranktür, wie er die Pfeifen im Ständer<br />

neben der Rauchmühle ordnete und einen prüfenden Blick auf<br />

Karaffen und Gläser warf. Dann strich er sich mit beiden Händen<br />

die Haare über den Ohren glatt und sagte etwas zu seinem<br />

Dæmon. Als Diener hatte er eine Hündin; als Steward freilich<br />

eine Hündin von edler Rasse, einen rotbraunen Setter. Die<br />

13


Hündin schien mißtrauisch und sah sich um, als ob sie einen<br />

Eindringling spürte, doch sie kam zu Lyras großer Erleichterung<br />

nicht zum Schrank. Lyra hatte Angst vor dem Steward; er<br />

hatte sie zweimal geschlagen.<br />

Sie hörte ein leises Flüstern. Offenbar war Pantalaimon zu ihr<br />

hereingekrochen.<br />

»Jetzt sitzen wir hier fest. Warum hörst du auch nicht auf<br />

mich!«<br />

Sie antwortete erst, als der Steward gegangen war, um das<br />

Servieren der Speisen an dem Tisch auf dem Podium zu überwachen.<br />

Offenbar kamen jetzt die Wissenschaftler in den Saal.<br />

Lyra hörte Stimmengemurmel und das Schlurfen von Füßen.<br />

»Ein Glück, daß ich nicht auf dich gehört habe«, flüsterte sie<br />

zurück. »Sonst hätten wir nicht gesehen, wie der Rektor Gift in<br />

den Wein schüttet. Pan, das war doch der Tokaier, nach dem er<br />

den Butler fragte! Sie wollen Lord Asriel töten!«<br />

»Du weißt nicht, ob es Gift ist.«<br />

»Natürlich ist es Gift. Weißt du nicht mehr, daß er den Butler<br />

hinausschickte, bevor er es in die Karaffe schüttete? Wenn das<br />

Pulver ungefährlich wäre, hätte der Butler doch ruhig zusehen<br />

können. Außerdem weiß ich, daß etwas im Busch ist — etwas<br />

Politisches. Die Diener sprechen seit Tagen davon. Pan, wir<br />

können einen Mord verhindern!«<br />

»So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört«, sagte Pantalaimon<br />

kurz. »Wie willst du denn stundenlang in diesem engen<br />

Schrank sitzen, ohne dich zu bewegen? Ich sehe draußen im<br />

Gang nach, ob die Luft rein ist.«<br />

Er flog von ihrer Schulter auf, und sie sah seinen kleinen<br />

Schatten vor dem hellen Spalt der Schranktür auftauchen.<br />

»Gib dir keine Mühe, Pan, ich bleibe«, sagte sie. »Hier hängt<br />

noch ein Talar oder so etwas, den lege ich auf den Boden und<br />

mache es mir bequem. Ich muß sehen, was sie vorhaben.«<br />

Vorsichtig erhob sie sich aus ihrer hockenden Stellung und<br />

14


tastete nach Kleiderbügeln, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen.<br />

<strong>Der</strong> Schrank war größer, als sie angenommen hatte. Er<br />

enthielt verschiedene Talare und Überwürfe mit Kapuzen, von<br />

denen einige mit Pelz, die meisten aber mit Seide besetzt waren.<br />

»Ob die alle dem Rektor gehören?« flüsterte sie. »Vielleicht<br />

bekommt er solche komischen Kostüme, wenn ihm irgendwo<br />

ein Ehrendoktor verliehen wird, und bewahrt sie hier auf,<br />

damit er sich feinmachen kann… Pan, glaubst du wirklich, daß<br />

im Wein kein Gift ist?«<br />

»Nein«, sagte der Dæmon. »Ich glaube wie du, daß er vergiftet<br />

ist. Aber ich glaube auch, daß uns das nichts angeht. Und ich<br />

glaube, dich einzumischen wäre das dümmste aller dummen<br />

Dinge, die du in deinem Leben bisher angestellt hast. Es geht<br />

uns nichts an.«<br />

»Sei nicht blöd«, sagte Lyra. »Ich kann doch nicht hier sitzen<br />

und zusehen, wie sie ihn vergiften!«<br />

»Dann laß uns woanders hingehen.«<br />

»Du bist ein Feigling, Pan.«<br />

»Natürlich bin ich das. Darf ich fragen, was du tun willst?<br />

Willst du aus dem Schrank springen und seinen zitternden Fingern<br />

das Glas entreißen? Was hast du vor?«<br />

»Ich habe noch gar nichts vor, und du weißt das ganz genau«,<br />

schimpfte sie leise. »Aber ich habe gesehen, was der Rektor tat,<br />

und deshalb habe ich keine Wahl. Du weißt auch, was ein<br />

Gewissen ist. Wie kann ich ruhig in der Bibliothek oder<br />

sonstwo sitzen und Däumchen drehen, wenn ich weiß, was hier<br />

passiert? Däumchen drehe ich ganz bestimmt nicht, darauf<br />

kannst du dich verlassen.«<br />

»Du wolltest das von Anfang an«, sagte er nach einer Pause.<br />

»Du wolltest dich hier verstecken und sehen, was passiert.<br />

Warum habe ich das nicht gleich gemerkt!«<br />

»Also gut, zugegeben«, sagte sie. »Alle wissen, daß hier ein<br />

geheimes Treffen stattfinden soll, daß sie irgendein Ritual oder<br />

15


so was veranstalten. Und ich wollte einfach wissen, was es war.«<br />

»Das geht dich nichts an! Wenn sie ihre kleinen Geheimnisse<br />

brauchen, laß sie ihnen doch und fühle dich darüber erhaben.<br />

Nur dumme Kinder verstecken sich und spionieren.«<br />

»Ich wußte, daß du das sagen würdest. Jetzt hör auf zu mekkern.«<br />

Schweigend saßen sie eine Weile da, Lyra auf dem unbequemen<br />

harten Boden des Schrankes, Pantalaimon mit gekränkt<br />

zuckenden Fühlern auf einem Talar. In Lyras Kopf wirbelten<br />

die Gedanken wild durcheinander, und sie hätte sie nur zu gern<br />

ihrem Dæmon mitgeteilt, aber auch sie hatte ihren Stolz. Vielleicht<br />

sollte sie versuchen, ihre Gedanken ohne Pantalaimons<br />

Hilfe zu sortieren.<br />

Vor allem hatte sie Angst, allerdings nicht um sich selbst. Daß<br />

sie in der Klemme steckte, war nichts Neues, und sie war daran<br />

gewöhnt. Nein, diesmal hatte sie Angst um Lord Asriel und<br />

Angst vor dem, was hier vorging. Lord Asriel besuchte das College<br />

nicht oft, und daß er jetzt kam, in einer Zeit großer politischer<br />

Spannungen, bedeutete, daß er nicht nur mit einigen alten<br />

Freunden essen und trinken und rauchen wollte. Sie wußte, daß<br />

Lord Asriel und auch der Rektor Mitglieder des Kabinettsrates<br />

waren, der den Premierminister beriet, vielleicht hatte die<br />

Besprechung also damit etwas zu tun. Die Sitzungen des Rates<br />

fanden allerdings im Palast statt, nicht im Ruhezimmer von Jordan<br />

College.<br />

Eine andere Sache war das Gerücht, das die Dienerschaft des<br />

College seit Tagen in Atem hielt. Es hieß, die Tataren hätten das<br />

Moskowiterreich überfallen und seien auf dem Vormarsch nach<br />

St. Petersburg im Norden, von wo aus sie die Herrschaft über<br />

die Ostsee an sich reißen und schließlich ganz Westeuropa<br />

erobern konnten. Und Lord Asriel war im hohen Norden<br />

gewesen: Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er gerade<br />

eine Expedition nach Lappland vorbereitet…<br />

16


»Pan«, flüsterte sie.<br />

»Ja?«<br />

»Glaubst du, es wird Krieg geben?«<br />

»Jetzt noch nicht. Lord Asriel wäre nicht zum Abendessen<br />

hier, wenn in den nächsten Wochen ein Krieg ausbrechen<br />

würde.«<br />

»Stimmt. Aber später?«<br />

»Pst! Jemand kommt.«<br />

Lyra richtete sich auf und spähte durch den Türspalt. Es war<br />

der Butler, der den Docht der Lampe kürzen wollte, wie der<br />

Rektor ihm aufgetragen hatte. In Gemeinschaftsraum und<br />

Bibliothek hatte man anbarisches Licht installiert, aber im<br />

Ruhezimmer bevorzugten die Wissenschaftler die alten Naphthalampen<br />

mit ihrem weicheren Licht. Daran würde sich zu<br />

Lebzeiten des Rektors auch nichts ändern.<br />

<strong>Der</strong> Butler stutzte den Docht und legte im Kamin ein Scheit<br />

nach. Dann horchte er sorgfältig an der Tür zum Saal und nahm<br />

sich eine Handvoll Tabakblätter aus der Rauchmühle.<br />

Gerade hatte er den Deckel wieder geschlossen, als die<br />

Klinke der anderen Tür niedergedrückt wurde. Er fuhr zusammen,<br />

und Lyra mußte sich das Lachen verbeißen. Hastig stopfte<br />

sich der Butler die Blätter in die Tasche, dann wandte er sich<br />

dem Ankömmling zu.<br />

»Lord Asriel!« sagte er, und ein kalter Schauer der Überraschung<br />

lief Lyra über den Rücken. Sie konnte ihren Onkel von<br />

ihrem Platz aus nicht sehen und mußte gegen die Versuchung<br />

kämpfen, die Tür etwas weiter zu öffnen.<br />

»Guten Abend, Wren«, sagte Lord Asriel. Lyra hörte seine<br />

rauhe Stimme immer mit einer Mischung aus Furcht und<br />

Freude. »Ich bin zu spät zum Essen eingetroffen. Ich werde hier<br />

warten.«<br />

Dem Butler war sichtlich unbehaglich zumute. Gäste betraten<br />

den Ruheraum gewöhnlich nur auf Einladung des Rektors,<br />

17


und Lord Asriel wußte das. Doch der Butler sah auch, daß Lord<br />

Asriel betont auf die Ausbuchtung in seiner Hosentasche<br />

blickte, und entschied, nicht zu protestieren.<br />

»Soll ich den Rektor von Eurer Ankunft verständigen,<br />

Mylord?«<br />

»Tun Sie das ruhig. Und bringen Sie mir eine Tasse Kaffee.«<br />

»Sehr wohl, Mylord.«<br />

<strong>Der</strong> Butler verbeugte sich und eilte hinaus, und sein Dæmon<br />

trottete unterwürfig hinter ihm her. Lyras Onkel trat vor das<br />

Kaminfeuer, reckte die Arme und gähnte wie ein Löwe. Er trug<br />

Reisekleidung. In seiner Gegenwart spürte Lyra jedesmal, wie<br />

sehr er sie einschüchterte. Unbemerkt aus dem Zimmer zu<br />

schleichen kam jetzt nicht mehr in Frage: Sie konnte nur bewegungslos<br />

ausharren und hoffen.<br />

Lord Asriels Dæmon, eine Schneeleopardin, stand hinter<br />

ihm.<br />

»Willst du die Bilder hier zeigen?« fragte sie ruhig.<br />

»Ja, das erregt weniger Aufsehen als ein Umzug in den Vortragssaal.<br />

Sie werden auch die Beweise sehen wollen. Ich lasse<br />

sie<br />

gleich vom Portier holen. Wir leben in schwierigen Zeiten, Stelmaria.«<br />

»Du solltest ausruhen.«<br />

Er streckte sich in einem Sessel aus, und Lyra konnte sein<br />

Gesicht nicht mehr sehen.<br />

»Ja, natürlich. Und ich sollte mich umziehen. Wahrscheinlich<br />

gibt es irgendeine alte Vorschrift, nach der sie mich zu<br />

einem Dutzend Flaschen verurteilen können, weil ich hier in<br />

diesen Kleidern auftauche. Ich sollte drei Tage lang schlafen.<br />

Bleibt nur die Tatsache, daß…«<br />

Es klopfte, und der Butler trat mit einem silbernen Tablett<br />

ein, auf dem eine Kaffeekanne und eine Tasse standen.<br />

»Danke, Wren«, sagte Lord Asriel. »Ist das auf dem Tisch der<br />

Tokaier?«<br />

18


»<strong>Der</strong> Rektor ließ ihn speziell für Euch heraufbringen,<br />

Mylord«, sagte der Butler. »Vom Achtundneunziger sind nur<br />

noch drei Dutzend Flaschen übrig.«<br />

»Alle guten Dinge vergehen. Stellen Sie das Tablett hier<br />

neben mich. Ach so, sagen Sie bitte dem Portier, er soll die beiden<br />

Kisten heraufbringen lassen, die ich in seiner Loge abgestellt<br />

habe.«<br />

»Hierher, Mylord?«<br />

»Ja, hierher. Und ich brauche eine Leinwand und eine Projektionslampe,<br />

ebenfalls hierher und ebenfalls gleich.«<br />

Es fehlte nicht viel, und der Butler hätte vor Überraschung<br />

den Mund aufgerissen. Er konnte seine Frage oder seinen Protest<br />

kaum unterdrücken.<br />

»Wren, Sie vergessen sich«, sagte Lord Asriel. »Stellen Sie<br />

keine Fragen; tun Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe.«<br />

»Sehr wohl, Mylord«, sagte der Butler. »Wenn ich einen Vorschlag<br />

machen dürfte: Vielleicht sollte ich Mr. Cawson sagen,<br />

was Ihr vorhabt, Mylord, oder er wird etwas erstaunt sein, wenn<br />

Ihr versteht, was ich meine.«<br />

»Gut, tun Sie das meinetwegen.«<br />

Mr. Cawson war der Steward, und zwischen ihm und dem<br />

Butler bestand eine alte Rivalität. Zwar stand der Steward über<br />

dem Butler, doch hatte dieser mehr Gelegenheit, sich bei den<br />

Wissenschaftlern einzuschmeicheln, und nutzte das auch weidlich<br />

aus. Die Aussicht, dem Steward zeigen zu können, daß er<br />

über die Vorgänge im Ruhezimmer besser informiert war als<br />

dieser, erfüllte ihn mit Entzücken.<br />

Er verbeugte sich und ging. Lyra sah, wie ihr Onkel sich eine<br />

Tasse Kaffee eingoß, sie in einem Zug leerte und sich noch eine<br />

Tasse einschenkte, die er langsamer trank. Gespannt überlegte<br />

sie, was in den Kisten sein mochte. Und eine Projektionslampe?<br />

Was hatte ihr Onkel den Wissenschaftlern zu zeigen, das so<br />

dringend und wichtig war?<br />

19


Lord Asriel stand auf und wandte dem Feuer den Rücken zu.<br />

Sie konnte ihn jetzt von vorn sehen. Wie sehr er sich doch von<br />

dem feisten Butler oder den Wissenschaftlern mit ihren kraftlos<br />

hängenden Schultern unterschied. Lord Asriel war hochgewachsen<br />

und breitschultrig, er hatte ein wildes, dunkles Gesicht<br />

und Augen, die wie in ausgelassenem Gelächter blitzten und<br />

funkelten. Es war ein Gesicht, dem man gehorchte oder gegen<br />

das man kämpfte, doch kein Gesicht, dem man mit Herablassung<br />

oder Mitleid begegnen konnte. Seine Bewegungen waren<br />

kraftvoll und vollkommen beherrscht; wenn er ein Zimmer wie<br />

dieses betrat, glich er einem wilden Tier in einem zu kleinen<br />

Käfig.<br />

In diesem Augenblick lag ein abwesender und besorgter Ausdruck<br />

auf seinem Gesicht. Sein Dæmon kam und lehnte den<br />

Kopf an seine Hüfte, und er sah sie mit seinen unergründlichen<br />

Augen an und wandte sich dann ab und ging zum Tisch. Lyra<br />

spürte, wie ihr Magen einen Satz machte, denn Lord Asriel hatte<br />

den Stöpsel aus der mit Tokaier gefüllten Karaffe gezogen und<br />

schenkte sich ein.<br />

»Nein!«<br />

<strong>Der</strong> leise Schrei war ihr entwischt, bevor sie ihn zurückhalten<br />

konnte. Lord Asriel fuhr herum.<br />

»Wer ist da?«<br />

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie stolperte aus dem Schrank,<br />

rannte zu ihrem Onkel und schlug ihm das Glas aus der Hand.<br />

<strong>Der</strong> Wein schwappte über und spritzte auf die Tischkante und<br />

den Teppich, dann fiel das Glas auf den Boden und zersprang.<br />

Lord Asriel packte sie grob am Handgelenk.<br />

»Lyra! Was zum Teufel machst du hier?«<br />

»Laß mich los, und ich sage es dir!«<br />

»Zuerst breche ich dir den Arm. Wie kannst du es wagen, hier<br />

einzudringen?«<br />

»Ich hab dir gerade das Leben gerettet.«<br />

20


Einen Augenblick lang schwiegen beide, das Mädchen mit<br />

schmerzverzerrtem Gesicht, aber wild entschlossen, nicht zu<br />

schreien, ihr Onkel über sie gebeugt und mit finster gerunzelter<br />

Stirn.<br />

»Was sagst du da?« fragte er etwas ruhiger.<br />

»<strong>Der</strong> Wein ist vergiftet«, stieß sie zwischen zusammengebissenen<br />

Zähnen hervor. »Ich habe gesehen, wie der Rektor ein<br />

Pulver hineingeschüttet hat.«<br />

Er ließ sie los. Sie sank zu Boden, und Pantalaimon flatterte<br />

aufgeregt auf ihre Schulter. Ihr Onkel starrte mit unterdrückter<br />

Wut auf sie herunter, und sie wagte nicht, ihm in die Augen zu<br />

schauen.<br />

»Ich wollte nur wissen, wie es hier aussieht«, sagte sie. »Ich<br />

weiß, ich hätte das Zimmer nicht betreten dürfen. Aber ich<br />

wollte wieder weg sein, bevor jemand kam, nur hörte ich dann<br />

den Rektor kommen und saß in der Falle. <strong>Der</strong> Kleiderschrank<br />

war das einzige Versteck. Und ich sah, wie er das Pulver in den<br />

Wein schüttete. Wenn ich nicht…«<br />

An der Tür klopfte es.<br />

»Das wird der Portier sein«, sagte Lord Asriel. »Zurück in den<br />

Schrank! Wenn ich das kleinste Geräusch höre, sorge ich dafür,<br />

daß du dir wünschst, tot zu sein.«<br />

Sie rannte zum Schrank zurück, und sobald sie die Tür hinter<br />

sich zugezogen hatte, rief Lord Asriel: »Herein!«<br />

Es war der Portier, wie er gesagt hatte.<br />

»Hierher, Mylord?«<br />

Lyra sah den alten Mann zögernd auf der Schwelle stehen,<br />

und hinter ihm war die Ecke einer großen Holzkiste.<br />

»Ganz recht, Shuter«, sagte Lord Asriel. »Bringen Sie beide<br />

Kisten herein, und stellen Sie sie neben den Tisch.«<br />

Lyra entspannte sich ein wenig und spürte nun die Schmerzen<br />

in Schulter und Handgelenk. Sie waren so stark, daß sie<br />

hätte losheulen können, wenn sie zu den Mädchen gehört hätte,<br />

21


die heulten. Statt dessen biß sie die Zähne zusammen und<br />

bewegte den Arm vorsichtig, bis die Schmerzen etwas nachließen.<br />

Plötzlich klirrte Glas, und sie hörte das Gluckern auslaufender<br />

Flüssigkeit.<br />

»Verdammt, Shuter, Sie alter Schussel! Sehen Sie, was Sie<br />

angestellt haben!«<br />

Lyra preßte das Auge an den Türspalt. Ihr Onkel hatte die<br />

Tokaierkaraffe vom Tisch gestoßen und tat jetzt so, als habe der<br />

Portier sie gestreift. <strong>Der</strong> Alte setzte die Kiste sorgfältig ab und<br />

wollte sich entschuldigen.<br />

»Es tut mir aufrichtig leid, Mylord — ich muß dem Tisch<br />

näher gekommen sein, als ich dachte…«<br />

»Holen Sie etwas zum Aufwischen. Schnell, ehe der Wein in<br />

den Teppich sickert.«<br />

<strong>Der</strong> Portier eilte hinaus. Lord Asriel trat zum Schrank und<br />

sagte mit gedämpfter Stimme: »Wenn du schon da drin bist,<br />

kannst du dich auch nützlich machen. Beobachte den Rektor<br />

genau, wenn er hereinkommt. Wenn du mir hinterher etwas<br />

Interessantes über ihn sagen kannst, sorge ich dafür, daß du<br />

nicht noch tiefer in den Schlamassel gerätst, in dem du steckst.<br />

Verstanden?«<br />

»Jawohl, Onkel Asriel.«<br />

»Sobald du ein einziges Geräusch machst, helfe ich dir nicht<br />

mehr. Du hast die Wahl.«<br />

Er entfernte sich wieder und stand mit dem Rücken zum<br />

Feuer, als der Portier mit Besen und Schaufel für die Scherben,<br />

einer Schüssel und einem Wischlappen zurückkehrte.<br />

»Ich kann nur noch einmal sagen, daß ich Euch aufrichtig um<br />

Verzeihung bitte, Mylord. Ich weiß nicht, wie…«<br />

»Wischen Sie einfach nur auf.«<br />

Als der Portier begann, den Teppich trockenzureiben,<br />

klopfte es wieder. Diesmal waren es der Butler und Lord Asriels<br />

22


Diener, ein Mann namens Thorold. Zwischen sich trugen sie<br />

eine schwere Kiste aus poliertem Holz mit Messinggriffen. Als<br />

sie den Portier auf dem Boden knien sahen, blieben sie wie<br />

angewurzelt stehen.<br />

»Ja, es war der Tokaier«, sagte Lord Asriel. »Jammerschade. Ist<br />

das die Projektionslampe? Baue sie doch bitte neben dem<br />

Schrank auf, Thorold. Die Leinwand kommt dann an die<br />

gegenüberliegende Wand.«<br />

Lyra stellte fest, daß sie die Leinwand und alles, was auf ihr<br />

abgebildet war, durch den Spalt in der Schranktür sehen<br />

konnte, und sie überlegte, ob ihr Onkel die Stellung des Projektors<br />

absichtlich so gewählt hatte.<br />

Während der Diener geräuschvoll die steife Leinwand ausrollte<br />

und in den Rahmen spannte, flüsterte sie: »Siehst du? Es<br />

hat sich doch gelohnt zu kommen.«<br />

»Vielleicht«, sagte Pantalaimon mit seiner piepsigen Nachtfalterstimme<br />

unnachgiebig. »Und vielleicht auch nicht.«<br />

Am Feuer stehend, schlürfte Lord Asriel den letzten Kaffee<br />

und sah düster zu, wie Thorold den Kasten mit dem Projektor<br />

öffnete, den Deckel von der Linse nahm und dann in den Ölbehälter<br />

sah.<br />

»Es ist noch genug da, Mylord«, sagte er. »Soll ich einen Techniker<br />

kommen lassen, der das Gerät bedient?«<br />

»Nein, das mache ich selbst. Danke, Thorold. Wren, ist man<br />

mit dem Abendessen schon fertig?«<br />

»Ich glaube fast, Mylord«, erwiderte der Butler. »Wenn ich<br />

Mr. Cawson richtig verstanden habe, werden der Rektor und<br />

seine Gäste sich jetzt, da sie wissen, daß Ihr hier seid, beeilen.<br />

Soll ich das Kaffeetablett mitnehmen?«<br />

»Ja.«<br />

»Sehr wohl, Mylord.«<br />

Mit einer leichten Verbeugung nahm der Butler das Tablett<br />

und ging, gefolgt von Thorold, hinaus. Sobald sich die Tür hin­<br />

23


ter den beiden geschlossen hatte, sah Lord Asriel zum Schrank.<br />

Lyra spürte die Macht seines Blickes beinahe körperlich, wie<br />

einen Pfeil oder einen Speer. Dann sah er wieder weg und<br />

sprach leise mit seinem Dæmon.<br />

Lautlos glitt die Leopardin an seine Seite und setzte sich,<br />

wachsam, elegant und gefährlich. Sie ließ ihre grünen Augen<br />

durch den Raum schweifen, bevor sie sie, wie Lord Asriel seine<br />

schwarzen, auf die Tür zum Saal richtete, deren Klinke niedergedrückt<br />

wurde. Lyra konnte die Tür nicht sehen, hörte aber ein<br />

überraschtes Luftholen, als der erste Ankömmling eintrat.<br />

»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ja, hier bin ich wieder. Bringen<br />

Sie Ihre Gäste herein, ich habe Ihnen etwas sehr Interessantes zu<br />

zeigen.«<br />

24


Zwei<br />

<strong>Der</strong> Norden<br />

»Lord Asriel«, sagte der Rektor schwerfällig und trat vor, um<br />

ihm die Hand zu geben. Aus ihrem Versteck beobachtete Lyra<br />

seine Augen, und tatsächlich, für den Bruchteil einer Sekunde<br />

zuckten sie zum Tisch, auf dem der Tokaier gestanden hatte.<br />

»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ich kam zu spät und wollte nicht<br />

mehr beim Abendessen stören, deshalb habe ich es mir hier<br />

bequem gemacht. Guten Abend, Prorektor. Es freut mich, daß<br />

Sie so gesund aussehen. Entschuldigen Sie meine ungepflegte<br />

Erscheinung, ich bin soeben erst gelandet. Ja, Rektor, der<br />

Tokaier ist weg; ich glaube, Sie stehen mitten drin. <strong>Der</strong> Portier<br />

hat ihn vom Tisch gestoßen, aber es war meine Schuld. Guten<br />

Abend, Kaplan. Ich habe Ihren letzten Artikel mit großem<br />

Interesse gelesen…«<br />

Er trat mit dem Kaplan zur Seite, und Lyra sah das Gesicht<br />

des Rektors wieder unverdeckt. Es zeigte keine Bewegung, doch<br />

der Dæmon auf seiner Schulter schüttelte sein Gefieder und trat<br />

ruhelos von einem Fuß auf den anderen. Lord Asriel<br />

beherrschte den Raum mit seiner Gegenwart, und obwohl er<br />

dem Rektor als dem Hausherrn mit ausgesuchter Höflichkeit<br />

begegnete, war klar, wer hier das Sagen hatte.<br />

Die Wissenschaftler begrüßten den Besucher und verteilten<br />

sich im Zimmer. Einige setzten sich an den Tisch, andere in die<br />

25


Sessel, und bald erfüllte Stimmengewirr den Raum. Lyra beobachtete,<br />

wie sie immer wieder neugierig zu dem hölzernen<br />

Kasten, der Leinwand und der Projektionslampe sahen. Das<br />

Mädchen kannte die Wissenschaftler gut: den Bibliothekar, den<br />

Prorektor, den Examinator und die anderen. Diese Männer<br />

waren ihr ganzes Leben lang in ihrer Nähe gewesen, hatten sie<br />

unterrichtet, bestraft und getröstet, ihr kleine Geschenke<br />

gemacht und sie von den Obstbäumen im Garten ferngehalten.<br />

Sie waren ihre Familie; eine andere hatte sie nicht. Vielleicht<br />

hätte Lyra für sie dieselben Gefühle empfunden wie für eine<br />

Familie, wenn sie gewußt hätte, was das war. Allerdings hätte sie<br />

dann wohl doch eher das Collegepersonal für ihre Familie<br />

gehalten; die Wissenschaftler hatten meist Wichtigeres zu tun,<br />

als auf die Bedürfnisse eines halbwilden Mädchens einzugehen,<br />

das durch Zufall in ihrer Mitte gelandet war.<br />

<strong>Der</strong> Rektor zündete die Spirituslampe unter der kleinen silbernen<br />

Warmhalteplatte an, erhitzte etwas Butter und schnitt<br />

dann ein halbes Dutzend Mohnkapseln auf und legte sie auf die<br />

Platte. Nach einem Festessen gab es immer Mohn: Er läuterte<br />

den Geist, regte die Zunge an und belebte das Gespräch. Und es<br />

war ein alter Brauch, daß der Rektor ihn selbst zubereitete.<br />

Als die Butter zischte und das Gespräch in Gang war, verlagerte<br />

Lyra ganz langsam ihr Gewicht, um eine bequemere Stellung<br />

zu finden. Mit größter Vorsicht zog sie einen von oben bis<br />

unten mit Pelz besetzten Talar vom Bügel und breitete ihn auf<br />

dem Boden des Schrankes aus.<br />

»Du hättest dafür einen alten, kratzigen nehmen sollen«, flüsterte<br />

Pantalaimon. »Wenn du es dir zu bequem machst, schläfst<br />

du ein.«<br />

»Wenn ich einschlafe, ist es deine Aufgabe, mich wieder aufzuwecken«,<br />

erwiderte sie.<br />

Sie setzte sich zurecht und lauschte wieder dem Gespräch. Es<br />

war sterbenslangweilig und drehte sich fast nur um Politik,<br />

26


allerdings Politik, die London betraf, nichts Aufregendes über<br />

die Tataren. <strong>Der</strong> Geruch des brutzelnden Mohns und der<br />

Tabakblätter kam einladend durch die Schranktür, und mehr<br />

als einmal nickte Lyra beinahe ein. Doch schließlich hörte sie,<br />

wie jemand auf den Tisch klopfte. Die Stimmen verstummten,<br />

dann sprach der Rektor.<br />

»Meine Herren«, sagte er, »ich bin sicher, daß ich für alle<br />

spreche, wenn ich Lord Asriel bei uns willkommen heiße. Seine<br />

Besuche sind selten, aber immer höchst aufschlußreich, und<br />

soviel ich weiß, will er uns heute abend etwas ganz besonders<br />

Interessantes zeigen. Wie wir alle wissen, leben wir in einer Zeit<br />

großer politischer Spannungen. Lord Asriel wird morgen in<br />

aller Frühe in White Hall erwartet; am Bahnhof steht bereits<br />

der Zug unter Dampf, der ihn nach London bringen wird,<br />

sobald wir unser Gespräch hier beendet haben. Lassen sie uns<br />

also die Zeit nützen. Wenn Lord Asriel mit dem fertig ist, was er<br />

uns zu sagen hat, wird es wahrscheinlich Fragen geben. Ich bitte,<br />

diese kurz und präzise zu halten. Lord Asriel, Sie haben das<br />

Wort.«<br />

»Danke, Rektor«, sagte Lord Asriel. »Zunächst möchte ich<br />

Ihnen einige Lichtbilder zeigen. Prorektor, ich glaube, von hier<br />

sehen Sie am besten. Und Rektor, vielleicht nehmen Sie hier am<br />

Schrank Platz.«<br />

<strong>Der</strong> alte Prorektor war fast blind, es war deshalb nur höflich,<br />

ihm einen Platz nahe der Leinwand anzubieten, und wenn er<br />

nach vorn rückte, kam der Rektor neben dem Bibliothekar zu<br />

sitzen, nur etwa einen Meter von Lyras Versteck im Schrank<br />

entfernt.<br />

Als der Rektor sich setzte, hörte Lyra ihn murmeln: »<strong>Der</strong><br />

Teufel! Ich bin sicher, er wußte von dem Wein.«<br />

»Er wird uns um finanzielle Unterstützung bitten«, murmelte<br />

der Bibliothekar. »Wenn er eine Abstimmung<br />

erzwingt…«<br />

27


»Wenn er das tut, müssen wir mit all unserer Beredsamkeit<br />

dagegen argumentieren.«<br />

Die Lampe begann zu zischen, als Lord Asriel heftig pumpte.<br />

Lyra bewegte den Kopf etwas zur Seite, um die Leinwand sehen<br />

zu können, auf der jetzt ein heller weißer Kreis leuchtete.<br />

»Kann jemand das Licht ausmachen?« fragte Lord Asriel.<br />

Einer der Wissenschaftler stand auf, und im Zimmer wurde<br />

es dunkel.<br />

Lord Asriel begann.<br />

»Wie einige von Ihnen wissen, reiste ich vor zwölf Monaten<br />

in diplomatischer Mission nach Norden zum König von Lappland.<br />

Das war zumindest die offizielle Version. In Wirklichkeit<br />

wollte ich noch weiter in den Norden bis zum Eis vordringen,<br />

um herauszufinden, was der Expedition Grummans zugestoßen<br />

ist. Grumman sprach in einer seiner letzten Nachrichten an die<br />

Berliner Akademie von einer Naturerscheinung, die nur im<br />

hohen Norden zu sehen ist. Ich war entschlossen, dieser Naturerscheinung<br />

und Grummans Schicksal nachzuspüren. Das erste<br />

Bild, das ich Ihnen jetzt zeigen werde, hat mit beidem allerdings<br />

nicht direkt zu tun.«<br />

Er steckte das erste Lichtbild in die Halterung und schob es<br />

vor die Linse. Auf der Leinwand erschien ein rundes Photogramm<br />

in gestochenem Schwarzweiß. In einer Vollmondnacht<br />

aufgenommen, zeigte es in mittlerer Entfernung eine Holzhütte;<br />

dunkel hoben sich die Wände von dem umgebenden<br />

Schnee ab, der auch das Dach mit einer dicken Schicht bedeckte.<br />

Neben der Hütte waren einige philosophische Instrumente<br />

aufgebaut, die Lyra an die Installationen im Anbarischen Park<br />

an der Straße nach Yarnton erinnerten: Antennen, Drähte und<br />

Isolatoren aus Porzellan, alle dick mit Eis bedeckt, das im<br />

Mondlicht glitzerte. Im Vordergrund stand ein in Pelze vermummter<br />

Mann, die Hand wie zum Gruß erhoben und das<br />

Gesicht unter einer tiefen Kapuze fast unsichtbar. Neben ihm<br />

28


stand eine kleinere Gestalt. <strong>Der</strong> Mond tauchte die ganze Szenerie<br />

in fahles Licht.<br />

»Dieses Photogramm wurde mit der üblichen Silbernitratemulsion<br />

aufgenommen«, sagte Lord Asriel. »Bitte sehen Sie<br />

sich jetzt ein weiteres Bild an, das nur eine Minute später von<br />

derselben Stelle aufgenommen wurde, allerdings mit einer<br />

neuen Spezialemulsion.«<br />

Er zog das erste Lichtbild heraus und steckte ein zweites in<br />

die Halterung. Es war viel dunkler, als ob das Mondlicht herausgefiltert<br />

worden sei. <strong>Der</strong> Horizont war immer noch sichtbar,<br />

und auch der dunkle Schatten der Hütte und deren helles,<br />

schneebedecktes Dach hoben sich ab, aber die Instrumente<br />

waren im Dunkel verborgen. <strong>Der</strong> Mann dagegen hatte sich<br />

vollkommen verwandelt: Er war in Licht gebadet, und seiner<br />

erhobenen Hand schien ein Strahl leuchtender Teilchen zu entströmen.<br />

»Kommt dieses Licht von unten oder von oben?« fragte der<br />

Kaplan.<br />

»Von oben«, sagte Lord Asriel, »aber das ist kein Licht. Es ist<br />

Staub.«<br />

Etwas an der Art, wie er das sagte, ließ Lyra unwillkürlich an<br />

STAUB in Großbuchstaben denken, als ob es sich nicht um<br />

gewöhnlichen Staub handelte. Die Reaktion der Wissenschaftler<br />

verstärkte diesen Eindruck. Auf Lord Asriels Worte folgte<br />

ein plötzliches Schweigen, gefolgt von ungläubigen Ausrufen.<br />

»Aber wie…«<br />

»Das kann doch…«<br />

»Unmöglich…«<br />

»Meine Herren!« ertönte die Stimme des Kaplans. »Lassen Sie<br />

Lord Asriel fortfahren.«<br />

»Es ist Staub«, wiederholte Lord Asriel. »Er wird auf der<br />

Platte als Licht abgebildet, weil die Staubpartikel auf die Spezialemulsion<br />

dieselbe Wirkung haben wie Photonen auf eine Sil­<br />

29


ernitratemulsion. Dies zu testen war eines der eigentlichen<br />

Ziele meiner Expedition in den Norden. Wie Sie sehen, ist die<br />

Gestalt des Mannes deutlich sichtbar. Betrachten Sie jetzt bitte<br />

die Gestalt links von ihm.«<br />

Er zeigte auf die verschwommenen Umrisse der kleineren<br />

Gestalt.<br />

»Ich dachte, das sei der Dæmon des Mannes«, sagte der Examinator.<br />

»Nein. Sein Dæmon lag zu diesem Zeitpunkt in Gestalt einer<br />

Schlange um seinen Hals. Was Sie hier so unscharf sehen, ist ein<br />

Kind.«<br />

»Ein abgeschnittenes Kind…?« fragte jemand und brach<br />

abrupt ab. Offenbar ging es hier um etwas, das besser ungesagt<br />

blieb.<br />

Es wurde totenstill.<br />

Dann sagte Lord Asriel ruhig: »Ein ganzes Kind. Was angesichts<br />

der Natur des Staubes natürlich der springende Punkt<br />

ist.«<br />

Einige Sekunden lang sagte niemand etwas. Dann war wieder<br />

die Stimme des Kaplans zu vernehmen.<br />

»Ah«, sagte er wie ein Verdurstender, der nach einem tiefen<br />

Schluck das Glas abstellt und den Atem, den er beim Trinken<br />

angehalten hat, herausströmen läßt. »Und die Staubfontäne…«<br />

»…kommt vom Himmel und badet den Mann wie in Licht.<br />

Sie können sich das Bild später noch genauer ansehen, ich lasse<br />

es hier, wenn ich gehe. Ich zeige es Ihnen jetzt nur, um die Wirkung<br />

der neuen Emulsion vorzuführen. Nun möchte ich Ihnen<br />

eine weitere Aufnahme zeigen.«<br />

Er wechselte das Bild. Das nächste war ebenfalls eine Nachtaufnahme,<br />

diesmal allerdings ohne Mondlicht. Es zeigte im<br />

Vordergrund eine kleine Gruppe von Zelten, die sich schwach<br />

gegen den tiefen Horizont abhoben, und daneben einen Haufen<br />

Kisten und einen Schlitten. Das eigentlich Interessante war<br />

30


allerdings der Himmel. Ströme und Schleier von Licht hingen<br />

daran wie Vorhänge herunter, befestigt und drapiert an<br />

unsichtbaren Haken in Hunderten von Kilometern Höhe oder<br />

auseinandergeweht vom Strom eines kosmischen Windes.<br />

»Was ist das?« sagte die Stimme des Prorektors.<br />

»Das ist ein Bild der Aurora.«<br />

»Ein sehr schönes Photogramm«, sagte der Inhaber der Palmer-Professur.<br />

»Eines der besten, die ich kenne.«<br />

»Entschuldigen Sie meine Ignoranz«, sagte die zittrige<br />

Stimme des alten Kantors, »aber wenn ich je wußte, was die<br />

Aurora ist, habe ich es vergessen. Handelt es sich dabei um das<br />

sogenannte Nordlicht?«<br />

»Ja. Die Erscheinung hat viele Namen. Sie besteht aus Stürmen<br />

geladener Teilchen und Sonnenstrahlen außergewöhnlicher<br />

Stärke — die selbst unsichtbar sind, aber dieses Leuchten<br />

verursachen, wenn sie mit der Atmosphäre reagieren. Wenn<br />

genug Zeit gewesen wäre, hätte ich das Bild tönen lassen, um<br />

Ihnen die Farben vorzuführen, überwiegend blasse Grün- und<br />

Rosatöne mit einem Saum von Karmesin am unteren Rand des<br />

vorhangartigen Gebildes. Das Bild wurde mit der herkömmlichen<br />

Emulsion aufgenommen. Jetzt möchte ich Ihnen ein Bild<br />

zeigen, das mit der Spezialemulsion aufgenommen wurde.«<br />

Er zog das Bild heraus, und Lyra hörte, wie der Rektor leise<br />

sagte: »Wenn er abstimmen lassen will, könnten wir sagen, daß<br />

er dazu gar nicht berechtigt ist, weil er nicht im College wohnt.<br />

Er hat von den letzten zweiundfünfzig Wochen nicht die für<br />

Bewohner vorgeschriebenen dreißig im College verbracht.«<br />

»Den Kaplan hat er schon auf seiner Seite…«, murmelte der<br />

Bibliothekar.<br />

Lord Asriel steckte ein neues Lichtbild in die Halterung. Es<br />

zeigte dieselbe Szene. Wie bei den beiden Bildern davor waren<br />

die bei normaler Beleuchtung sichtbaren Konturen und die<br />

leuchtenden Vorhänge am Himmel auch hier viel schwächer.<br />

31


Doch in der Mitte der Aurora, hoch über der öden Landschaft,<br />

erblickte Lyra dafür etwas ganz anderes. Sie drückte ihr<br />

Gesicht an den Spalt, um besser sehen zu können, und sie<br />

bemerkte, daß auch die Wissenschaftler in der Nähe der Leinwand<br />

sich vorbeugten. Je länger Lyra das Bild anstarrte, desto<br />

mehr wuchs ihr Staunen, denn was sich dort im Himmel<br />

abzeichnete, waren eindeutig die Umrisse einer Stadt mit Türmen,<br />

Kuppeln, Mauern, Gebäuden und Straßen — und alles<br />

schwebte in der Luft! Sie unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens.<br />

<strong>Der</strong> Cassington-Stipendiat sagte: »Das sieht ja aus wie… eine<br />

Stadt.«<br />

»Exakt«, sagte Lord Asriel.<br />

»Doch sicher eine Stadt in einer anderen Welt?« sagte der<br />

Dekan, und in seiner Stimme schwang Spott.<br />

Lord Asriel beachtete ihn nicht. Einige Wissenschaftler<br />

blickten ungläubig auf die Leinwand, als hätten sie bisher<br />

Abhandlungen über die Existenz des Einhorns geschrieben,<br />

ohne je eines gesehen zu haben, und als würde ihnen nun ein<br />

eben erst gefangenes, lebendes Exemplar vorgeführt.<br />

»Ist das die Sache, der Barnard und Stokes auf der Spur<br />

waren?« fragte der Palmer-Professor. »Das ist sie doch, oder?«<br />

»Genau das möchte ich herausfinden«, sagte Lord Asriel.<br />

Er stand neben der beleuchteten Leinwand, und Lyra sah, wie<br />

seine dunklen Augen suchend über die Wissenschaftler glitten.<br />

Neben ihm leuchteten grün die Augen seines Dæmons. Die<br />

ehrwürdigen Häupter der Wissenschaftler waren nach vorn<br />

gereckt, in ihren Brillen spiegelte sich das Licht; nur der Rektor<br />

und der Bibliothekar lehnten sich in ihren Sesseln zurück und<br />

steckten die Köpfe zusammen.<br />

<strong>Der</strong> Kaplan sagte gerade: »Sie sagten vorhin, Sie suchten nach<br />

Nachricht von der Expedition Grummans, Lord Asriel. Untersuchte<br />

auch Dr. Grumman dieses Phänomen?«<br />

32


»Ich glaube ja, und ich glaube, daß er bereits einiges darüber<br />

wußte. Allerdings wird er uns nichts darüber sagen können,<br />

denn er ist tot.«<br />

»Nein!« rief der Kaplan.<br />

»Ich fürchte doch, und den Beweis habe ich mitgebracht.«<br />

Im Zimmer entstand Unruhe. Zwei oder drei jüngere Wissenschaftler<br />

brachten, dirigiert von Lord Asriel, die hölzerne<br />

Kiste nach vorn. Lord Asriel nahm das letzte Bild heraus, ließ<br />

die Projektionslampe allerdings an. Von ihrem grellen Lichtkegel<br />

dramatisch beleuchtet, bückte er sich, um die Kiste zu öffnen.<br />

Lyra hörte das Knirschen, als er die Nägel aus dem feuchten<br />

Holz zog. <strong>Der</strong> Rektor stand auf und verstellte ihr die Sicht.<br />

Dann sprach ihr Onkel wieder.<br />

»Grummans Expedition verschwand, wie Sie sich vielleicht<br />

erinnern, vor anderthalb Jahren. Die Deutsche Akademie hatte<br />

ihn nach Norden zum Magnetischen Pol geschickt, wo er verschiedene<br />

Himmelsbeobachtungen anstellen sollte. Im Verlauf<br />

dieser Reise beobachtete er die seltsame Erscheinung, die wir<br />

uns soeben angesehen haben. Kurz danach verschwand er. Man<br />

nahm an, daß er einen Unfall hatte und seine Leiche in irgendeiner<br />

Gletscherspalte lag. Doch es gab keinen solchen Unfall.«<br />

»Was haben Sie da?« fragte der Dekan. »Ist das ein Vakuumbehälter?«<br />

Lord Asriel antwortete nicht gleich. Lyra hörte, daß Metallschlösser<br />

aufschnappten und zischend Luft in einen Behälter<br />

strömte, dann herrschte Schweigen. Allerdings nicht lange. Nur<br />

wenige Augenblicke später brach ein Chaos aus. Lyra hörte entsetzte<br />

Schreie, lauten Protest und vor Empörung und Angst<br />

erhobene Stimmen.<br />

»Aber was…«<br />

»…gar nicht menschlich…«<br />

»…das ist ja…«<br />

»…wie ist denn das passiert?«<br />

33


Die Stimme des Rektors schnitt durch den Lärm.<br />

»Lord Asriel, was in Gottes Namen ist das hier?«<br />

»Das ist der Kopf von Stanislaus Grumman«, sagte Lord<br />

Asriel.<br />

Durch das Stimmengewirr hörte Lyra, wie jemand mit würgenden<br />

Lauten zur Tür hastete. Sie wünschte, sie hätte sehen<br />

können, was die anderen sahen.<br />

»Ich fand seine Leiche vor Svalbard, im Eis konserviert«, sagte<br />

Lord Asriel. »<strong>Der</strong> Kopf wurde von seinen Mördern so zugerichtet.<br />

Sie sehen, daß er nach einer bestimmten Technik skalpiert<br />

wurde. Sie dürfte Ihnen bekannt sein, Prorektor.«<br />

Die Stimme des alten Mannes zitterte nicht, als er antwortete:<br />

»Ich kenne sie von den Tataren. Man findet sie bei den Völkern<br />

Sibiriens und am Tunguska. Von dort breitete sie sich<br />

natürlich zu den Skrälingen aus, obwohl sie in Neudänemark<br />

meines Wissens inzwischen verboten ist. Darf ich mir den Kopf<br />

genauer ansehen, Lord Asriel?«<br />

Nach kurzem Schweigen sprach er wieder.<br />

»Ich sehe nicht mehr so gut, und das Eis ist schmutzig, aber<br />

wie mir scheint, hat die Schädeldecke ein Loch. Stimmt das?«<br />

»Ja.«<br />

»Eine Trepanation?«<br />

»Richtig.«<br />

Erregtes Gemurmel erhob sich. <strong>Der</strong> Rektor trat aus dem<br />

Weg, und Lyra konnte wieder etwas sehen. Im Kegel der Lampe<br />

stand der alte Prorektor und hielt sich einen schweren Eisblock<br />

dicht vor die Augen, in dem ein Gegenstand eingeschlossen war,<br />

eine blutige Masse, die nur noch wenig mit einem menschlichen<br />

Kopf gemein hatte. Pantalaimon flatterte unglücklich um<br />

Lyra herum.<br />

»Pst!« flüsterte sie. »Hör zu.«<br />

»Dr. Grumman war einst Mitglied dieses College«, sagte der<br />

Dekan heftig.<br />

34


»In die Hände der Tataren zu fallen…«<br />

»Aber so hoch im Norden?«<br />

»Sie müssen weiter vorgestoßen sein, als irgend jemand für<br />

möglich gehalten hätte!«<br />

»Sagten Sie nicht, Sie hätten ihn in der Nähe von Svalbard<br />

gefunden?« fragte der Dekan.<br />

»Richtig.«<br />

»Heißt das, die Panserbjørne haben etwas damit zu tun?«<br />

Lyra kannte das Wort nicht, aber die anderen Wissenschaftler<br />

wußten offensichtlich, was gemeint war.<br />

»Unmöglich«, sagte der Cassington-Stipendiat entschieden.<br />

»So etwas würden sie nie tun.«<br />

»Dann kennen Sie Iofur Raknison nicht«, sagte der Palmer-<br />

Professor, der selbst einige Expeditionen in die Arktis unternommen<br />

hatte. »Es würde mich nicht überraschen zu hören,<br />

daß er seine Opfer jetzt wie die Tataren skalpiert.«<br />

Lyra sah wieder zu ihrem Onkel, der die anderen mit einem<br />

boshaften Funkeln in den Augen beobachtete und nichts sagte.<br />

»Wer ist Iofur Raknison?« fragte jemand.<br />

»<strong>Der</strong> König von Svalbard«, sagte der Palmer-Professor. »Es<br />

stimmt schon, er ist ein Panserbjørne und nur ein Usurpator; er<br />

hat den Thron durch Intrigen an sich gerissen, soviel ich weiß.<br />

Aber er ist mächtig und keineswegs ein Narr, trotz seiner<br />

lächerlichen Angeberei — er läßt sich einen Palast aus importiertem<br />

Marmor bauen und will eine Universität gründen, wie<br />

er es nennt…«<br />

»Für wen? Für die Bären?« sagte jemand, und alle lachten.<br />

»So lächerlich das klingt«, fuhr der Professor fort, »ich sage<br />

Ihnen, daß er imstande wäre, Grumman so zuzurichten. Dabei<br />

kann er, wenn man ihm aus irgendeinem Grunde schmeichelt,<br />

auch ganz anders sein.«<br />

»Und Sie wissen natürlich, wie man das macht, Trelawney,<br />

nicht?« sagte der Dekan spöttisch.<br />

35


»Ich weiß es tatsächlich. Wissen Sie, was er sich am meisten<br />

wünscht? Noch mehr als einen akademischen Ehrengrad?<br />

Einen Dæmon! Verhelfen Sie ihm zu einem Dæmon, und er<br />

wird alles für Sie tun.«<br />

Die Wissenschaftler lachten herzhaft.<br />

Lyra hörte verwirrt zu. Was der Professor sagte, ergab für sie<br />

überhaupt keinen Sinn. Außerdem wollte sie lieber mehr über<br />

das Skalpieren, das Nordlicht und den geheimnisvollen Staub<br />

wissen. Zu ihrer Enttäuschung war Lord Asriel mit seinen Bildern<br />

und anderen Mitbringseln fertig, und aus dem Gespräch<br />

wurde bald ein Streit der Wissenschaftler untereinander, ob sie<br />

Lord Asriel Geld für eine neue Expedition geben sollten oder<br />

nicht. Die Argumente gingen hin und her, und Lyra merkte,<br />

wie ihr die Augen zufielen. Bald schlief sie fest, um den Hals<br />

Pantalaimon in Gestalt eines Hermelins, die er zum Schlafen<br />

bevorzugte.<br />

Lyra fuhr hoch, als jemand sie an der Schulter schüttelte.<br />

»Pst! Kein Laut«, sagte ihr Onkel. Die Schranktür war offen,<br />

und er stand gebückt im Gegenlicht vor ihr. »Sie sind alle weg,<br />

aber ein paar Diener sind noch auf den Beinen. Geh jetzt in dein<br />

Schlafzimmer, aber erzähle niemandem von heute abend.«<br />

»Haben sie dir das Geld gegeben?« fragte sie schläfrig.<br />

»Ja.«<br />

»Was ist dieser Staub?« Das Aufstehen nach so langer Zeit<br />

beengt im Schrank bereitete ihr Schwierigkeiten.<br />

»Das geht dich nichts an.«<br />

»Das geht mich sehr wohl etwas an«, sagte sie. »Wenn ich im<br />

Schrank für dich spionieren soll, mußt du mir auch sagen,<br />

wofür ich spioniere. Kann ich den Kopf sehen?«<br />

Pantalaimons weißes Hermelinfell sträubte sich; Lyra spürte,<br />

wie es sie am Hals kitzelte. Lord Asriel lachte kurz.<br />

»Sei nicht aufsässig«, sagte er und begann, die Lichtbilder und<br />

36


die Kiste zusammenzupacken. »Hast du den Rektor beobachtet?«<br />

»Ja. Er hat zuerst nach dem Wein gesehen.«<br />

»Gut. Aber diesmal habe ich ihm einen Strich durch die<br />

Rechnung gemacht. Jetzt tu, was ich dir sage, und geh ins Bett.«<br />

»Aber wohin gehst du?«<br />

»Wieder in den Norden. Ich fahre in zehn Minuten.«<br />

»Kann ich mitkommen?«<br />

Er hielt beim Packen inne und sah sie an, als sehe er sie zum<br />

ersten Mal. Auch sein Dæmon sah sie mit großen, grünen Leopardenaugen<br />

an, und von beiden so angestarrt, wurde Lyra rot.<br />

Aber sie starrte grimmig zurück.<br />

»Dein Platz ist hier«, sagte ihr Onkel schließlich.<br />

»Aber warum? Warum ist mein Platz hier? Warum kann ich<br />

nicht mit dir in den Norden kommen? Ich will das Nordlicht<br />

sehen und Bären und Eisberge und alles. Ich will wissen, was<br />

Staub ist. Und diese Stadt in der Luft. Ist das eine andere Welt?«<br />

»Du kommst nicht mit, Kind. Schlag dir das aus dem Kopf,<br />

die Zeiten sind zu gefährlich. Tu, was dir gesagt wird, und geh<br />

ins Bett, und wenn du brav bist, bringe ich dir einen Walroßzahn<br />

mit einer Eskimoschnitzerei mit. Widersprich mir nicht,<br />

sonst werde ich sehr ärgerlich.«<br />

Sein Dæmon ließ ein tiefes, wildes Knurren ertönen, und<br />

Lyra stellte sich plötzlich vor, wie die Zähne der Leopardin sich<br />

in ihren Hals gruben.<br />

Sie preßte die Lippen aufeinander und starrte ihren Onkel<br />

finster an. Er pumpte die Luft aus dem Vakuumbehälter und<br />

beachtete sie nicht; es war, als hätte er sie bereits vergessen.<br />

Wortlos, aber mit dünnen Lippen und zusammengekniffenen<br />

Augen, ging das Mädchen in Begleitung seines Dæmons aus<br />

dem Zimmer.<br />

37


<strong>Der</strong> Rektor und der Bibliothekar waren alte Freunde und<br />

Verbündete, und nach schwierigen Gesprächen pflegten sie<br />

zusammen ein Glas Branntwein zu trinken und einander Mut<br />

zuzusprechen. Nachdem sie nun Lord Asriel verabschiedet hatten,<br />

schlenderten sie zur Wohnung des Rektors und machten es<br />

sich in seinem Arbeitszimmer bequem. Sie zogen die Vorhänge<br />

zu und legten Holz für das Feuer nach, und ihre Dæmonen setzten<br />

sich auf ihre angestammten Plätze auf dem Knie und der<br />

Schulter. Dann sprachen sie über das, was geschehen war.<br />

»Glaubst du wirklich, er wußte von dem Wein?« fragte der<br />

Bibliothekar.<br />

»Ganz sicher. Ich habe zwar keine Ahnung woher, aber er<br />

wußte davon und hat die Karaffe selbst umgekippt. Ganz sicher<br />

wußte er davon.«<br />

»Tut mir leid, Rektor, aber ich bin froh darüber. Ich war nie<br />

glücklich über die Vorstellung, ihn zu…«<br />

»Zu vergiften?«<br />

»Ja. Zu ermorden.«<br />

»Über so etwas ist niemand glücklich, Charles. Die Frage war<br />

nur, was schlimmer war: die Tat oder die Folgen der Unterlassung.<br />

Gut, das Schicksal hat entschieden, und es ist nicht soweit<br />

gekommen. Es tut mir nur leid, daß ich dich mit dem Wissen<br />

belastet habe.«<br />

»Überhaupt nicht«, protestierte der Bibliothekar. »Ich<br />

wünschte nur, du hättest mir mehr gesagt.«<br />

<strong>Der</strong> Rektor schwieg, dann sagte er: »Ja, vielleicht hätte ich das<br />

tun sollen. Das Alethiometer warnt vor schrecklichen Folgen,<br />

wenn Lord Asriel seine Suche fortsetzt. Außerdem wird das<br />

Mädchen in die ganze Sache hineingezogen werden, und ich<br />

möchte sie so lange wie möglich vor Gefahren schützen.«<br />

»Hat Lord Asriels Unternehmen etwas mit der neuen Initiative<br />

des Geistlichen Disziplinargerichts zu tun? Mit der — wie<br />

heißt sie doch gleich — der Oblations-Behörde?«<br />

38


»Lord Asriel — nein, gar nicht. Ganz im Gegenteil. Die Oblations-Behörde<br />

ist übrigens auch nicht ausschließlich dem<br />

Geistlichen Disziplinargericht unterstellt. Sie ist eine halbprivate<br />

Initiative unter Leitung einer Person, die keinerlei Sympathien<br />

für Lord Asriel hegt. Ich fürchte beide, Charles.«<br />

<strong>Der</strong> Bibliothekar blieb stumm. Seit Papst Johannes Calvin<br />

den Sitz des Papsttums nach Genf verlegt und das Geistliche<br />

Disziplinargericht eingerichtet hatte, hatte die Kirche absolute<br />

Macht über sämtliche Bereiche des Lebens erlangt. Das<br />

Papsttum selbst war nach Calvins Tod abgeschafft worden, und<br />

an seine Stelle war ein undurchsichtiges System von Gerichten,<br />

Kollegien und Räten getreten, das zusammenfassend Magisterium<br />

genannt wurde. Diese Behörden arbeiteten nicht immer<br />

friedlich zusammen, manchmal waren sie bittere Rivalen. Am<br />

mächtigsten war den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts<br />

das Bischofskollegium gewesen, doch hatte in jüngeren<br />

Jahren das Geistliche Disziplinargericht seinen Platz als aktivstes<br />

und gefürchtetstes kirchliches Organ eingenommen.<br />

Allerdings konnte es jederzeit geschehen, daß unter dem<br />

Schutz einer anderen Abteilung des Magisteriums eine unabhängige<br />

Behörde entstand, und eine solche war die Oblations-<br />

Behörde, von der der Bibliothekar gesprochen hatte. Er wußte<br />

nicht viel von ihr, aber was er gehört hatte, mißfiel ihm und<br />

machte ihm angst, deshalb hatte er volles Verständnis für die<br />

Besorgnis des Rektors.<br />

»<strong>Der</strong> Palmer-Professor erwähnte zwei Namen«, sagte er nach<br />

einer Weile. »Barnard und Stokes. Worum geht es dabei?«<br />

»Ach das — das geht uns nichts an, Charles. Die Heilige Kirche<br />

lehrt, soweit ich es verstehe, daß es zwei Welten gibt: die<br />

Welt der Dinge, die wir sehen, hören und anfassen können, und<br />

eine zweite Welt, die geistige Welt des Himmels und der Hölle.<br />

Barnard und Stokes waren — wie soll ich sagen — abtrünnige<br />

Theologen, die an die Existenz zahlreicher anderer Welten<br />

39


glaubten, Welten wie unsere, die weder Himmel noch Hölle<br />

sind, sondern materiell und sündig. Diese Welten existieren<br />

angeblich neben und um uns, sie sind aber unsichtbar und<br />

unerreichbar. Die Heilige Kirche verurteilte das natürlich als<br />

Ketzerei und brachte die beiden zum Schweigen. Zum Unglück<br />

für das Magisterium scheint es tatsächlich handfeste mathematische<br />

Beweise für diese Theorie anderer Welten zu geben. Ich<br />

habe das nicht genauer verfolgt, aber der Cassington-Stipendiat<br />

hat es mir gesagt.«<br />

»Und jetzt hat Lord Asriel ein Bild einer solchen anderen<br />

Welt aufgenommen«, sagte der Bibliothekar. »Und wir haben<br />

ihm Geld gegeben, damit er sie findet. Ich verstehe.«<br />

»Genau so ist es. Die Oblations-Behörde und ihre mächtigen<br />

Beschützer werden glauben, Jordan College sei eine Brutstätte<br />

der Ketzerei. Und ich muß zwischen Disziplinargericht und<br />

Oblations-Behörde vermitteln, Charles. Inzwischen wächst das<br />

Mädchen heran; man wird sie nicht vergessen haben. Früher<br />

oder später wäre sie natürlich sowieso in die Sache hineingezogen<br />

worden, aber jetzt wird sie es, ohne daß ich sie schützen<br />

kann.«<br />

»Aber woher weißt du das, um Gottes willen? Wieder durch<br />

das Alethiometer?«<br />

»Ja. Lyra wird bei alldem eine Rolle spielen, und zwar eine<br />

entscheidende. Die Ironie ist nur, daß sie diese Rolle spielen<br />

muß, ohne daß sie weiß, was sie tut. Natürlich kann man versuchen<br />

ihr zu helfen, und wenn mein Plan mit dem Tokaier aufgegangen<br />

wäre, wäre sie noch ein wenig länger sicher gewesen.<br />

Ich hätte ihr eine Reise in den Norden gern erspart. Vor allem<br />

wünschte ich mir, ich könnte ihr erklären…«<br />

»Sie würde dir nicht zuhören«, sagte der Bibliothekar. »Ich<br />

kenne sie nur zu gut. Wenn du ihr etwas Ernsthaftes erklären<br />

willst, hört sie dir fünf Minuten lang halbherzig zu und fängt<br />

dann an zu zappeln. Und wenn du sie beim nächsten Mal<br />

40


danach fragst, hat sie es schon wieder vollkommen vergessen.«<br />

»Und wenn ich mit ihr über Staub rede? Glaubst du nicht, sie<br />

würde dann zuhören?«<br />

<strong>Der</strong> Bibliothekar gab durch ein Schnalzen der Zunge zu verstehen,<br />

für wie unwahrscheinlich er das hielt.<br />

»Warum um alles in der Welt sollte sie?« sagte er. »Warum<br />

sollte ein abstraktes theologisches Problem ein gesundes,<br />

gedankenloses Kind interessieren?«<br />

»Wegen ihres künftigen Schicksals. Dabei spielt auch ein großer<br />

Betrug eine Rolle…«<br />

»Wer wird sie betrügen?«<br />

»Niemand, das ist ja das Traurige: Sie selbst wird die Betrügerin<br />

sein, für sie eine schreckliche Erfahrung. Davon darf sie<br />

natürlich nichts wissen, aber es gibt keinen Grund, warum sie<br />

vom Problem des Staubes nichts wissen sollte. Und vielleicht<br />

hast du unrecht, Charles; vielleicht interessiert sie sich ja doch<br />

dafür, wenn man es ihr auf einfache Weise erklärt. Es könnte ihr<br />

später weiterhelfen. Und ich würde nicht soviel Angst um sie<br />

haben.«<br />

»Das ist die Aufgabe der Alten«, sagte der Bibliothekar, »um<br />

die Jungen Angst zu haben. Und die Aufgabe der Jungen ist es,<br />

über die Angst der Alten zu lachen.«<br />

Sie saßen noch eine kurze Weile da, dann gingen sie auseinander,<br />

denn es war spät, und sie waren alt und ängstlich.<br />

41


Drei<br />

Lyras Jordan<br />

Jordan College war das imposanteste und reichste College in<br />

Oxford. Wahrscheinlich war es auch das größte, obwohl das<br />

keiner so genau wußte. Die Gebäude umschlossen drei unregelmäßige<br />

Innenhöfe und vereinten in sich sämtliche Stilrichtungen<br />

vom frühen Mittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts.<br />

Eine einheitliche Planung hatte es nie gebeben. Das College<br />

war nach und nach gewachsen, überall stießen Vergangenheit<br />

und Gegenwart aneinander, und dadurch entstand der Eindruck<br />

einer bizarren und schon etwas verblichenen Pracht.<br />

Irgendwo war immer eine Mauer kurz vor dem Einsturz, und<br />

seit fünf Generationen arbeitete dieselbe Familie von Steinmetzen<br />

und Gerüstbauern, die Parslows, ausschließlich für das College.<br />

<strong>Der</strong> gegenwärtige Mr. Parslow gab sein Wissen an seinen<br />

Sohn weiter, und zusammen mit ihren drei Arbeitern kletterten<br />

sie unermüdlich wie Termiten über die Gerüste, die sie an<br />

der Ecke der Bibliothek oder über dem Dach der Kapelle<br />

errichtet hatten, und hievten hellbraune neue Steinquader,<br />

glänzende Bleirollen oder Holzbalken hinauf.<br />

Dem College gehörten Höfe und Ländereien in ganz Brytannien.<br />

Es hieß, man könne von Oxford nach Bristol in der<br />

einen und nach London in der anderen Richtung gehen, ohne<br />

das Gebiet des College zu verlassen. Überall im Königreich<br />

42


zählten Färbereien und Ziegeleien, Wälder und Atomkraftwerke<br />

Pacht an das College, und einmal im Quartal rechneten<br />

der Finanzverwalter und seine Buchhalter alles zusammen,<br />

gaben die Summe dem Konzil bekannt und bestellten zwei<br />

Schwäne für das Festessen. Ein Teil des Geldes wurde wieder<br />

investiert — das Konzil hatte soeben den Kaufeines Geschäftsgebäudes<br />

in Manchester genehmigt —, vom Rest bezahlte man<br />

die bescheidenen Gehälter der Wissenschaftler und die Löhne<br />

des Personals, darunter die Parslows und das runde Dutzend<br />

anderer Handwerker- und Händlerfamilien im Dienste des<br />

College, den Wein für den reich gefüllten Weinkeller, die<br />

Bücher und Anbarographen für die riesige Bibliothek, die eine<br />

ganze Seite des Melrose Quadrangle einnahm und sich höhlenartig<br />

über mehrere unterirdische Stockwerke erstreckte, und<br />

nicht zuletzt neue philosophische Instrumente für die Kapelle.<br />

Die Kapelle auf dem neuesten Stand zu halten war wichtig,<br />

weil Jordan College als Zentrum der Experimentaltheologie in<br />

Europa wie in Neufrankreich unumstritten an der Spitze stand.<br />

Das wußte auch Lyra. Sie war stolz auf die Bedeutung ihres College<br />

und gab damit gern bei ihren Kameraden an, wenn sie mit<br />

ihnen am Kanal oder in den Lehmgruben spielte. Für prominente<br />

externe Wissenschaftler und Professoren von auswärts<br />

hatte sie nur Verachtung übrig, weil sie nicht zu Jordan College<br />

gehörten und deshalb zwangsläufig weniger wußten, die<br />

Armen, als der letzte Hilfswissenschaftler von Jordan.<br />

Was Experimentaltheologie war, wußte Lyra genausowenig<br />

wie ihre Spielkameraden. Sie hatte zwar eine vage Vorstellung,<br />

daß es sich dabei um Zauberei handelte, um die Bahnen von<br />

Sternen und Planeten und um kleine Materieteilchen, aber das<br />

waren nur Vermutungen. Wahrscheinlich hatten Sterne<br />

Dæmonen wie die Menschen, und die Experimentaltheologen<br />

sprachen mit ihnen. Lyra stellte sich vor, wie der Kaplan mit seiner<br />

gesetzten Stimme etwas sagte, den Antworten der Stern­<br />

43


dæmonen lauschte und dann wissend nickte oder bedauernd<br />

den Kopf schüttelte. Was er allerdings mit den Sternen besprechen<br />

sollte, wußte sie nicht.<br />

Es interessierte sie auch nicht besonders. Lyra bevorzugte<br />

handfestere Dinge. Am liebsten kletterte sie mit ihrem besten<br />

Freund Roger, dem Küchenjungen, über die Collegedächer<br />

und spuckte Pflaumenkerne auf die Köpfe vorbeikommender<br />

Wissenschaftler oder schrie vor dem Fenster eines Seminarraumes<br />

wie eine Eule; bei anderen Gelegenheiten machten die<br />

Kinder Wettrennen durch die engen Gassen, stahlen auf dem<br />

Markt Äpfel oder führten Krieg. So wie Lyra nichts von den<br />

unter der Oberfläche des Collegealltags verborgenen politischen<br />

Strömungen ahnte, wußten die Wissenschaftler ihrerseits<br />

nichts von dem wunderbar aufregenden Durcheinander von<br />

Bündnissen, Feindschaften, Fehden und Verträgen, das das<br />

Leben der Kinder von Oxford bestimmte. Wie schön war es<br />

doch, Kindern beim Spielen zuzusehen; was könnte unschuldiger<br />

und rührender sein?<br />

Dabei bekämpften Lyra und die anderen Kinder einander in<br />

wechselnden Gruppierungen bis aufs Messer. So bekriegten die<br />

Kinder von Jordan College (darunter junge Diener, die Kinder<br />

von Dienern und Lyra) die Kinder eines anderen College. Dieser<br />

Krieg war allerdings vergessen, wenn die Kinder aus der<br />

Stadt ein Kind aus dem College angriffen: Dann rückten alle<br />

Collegekinder gemeinsam gegen die Stadtkinder vor. Diese<br />

Rivalität war viele hundert Jahre alt und rief verwurzelt und<br />

besonders befriedigend.<br />

Aber selbst sie war vergessen, wenn andere Feinde drohten.<br />

Ein solcher Dauerfeind waren die Kinder der Ziegelbrenner,<br />

die bei den Lehmgruben lebten und von College- und Stadtkindern<br />

gleichermaßen verachtet wurden. Im vergangenen Jahr<br />

hatten Lyra und einige Kinder aus der Stadt vorübergehend<br />

Waffenstillstand geschlossen und die Lehmgruben überfallen.<br />

44


Sie hatten die Ziegelbrennerkinder mit schweren Lehmklumpen<br />

bombardiert, ihre feuchte Lehmburg zerstört und die Kinder<br />

dann in der klebrigen Masse gewälzt, von der ihre Väter<br />

lebten, bis Sieger und Besiegte gleichermaßen einer Schar kreischender<br />

Golems glichen.<br />

<strong>Der</strong> andere Dauerfeind kam und ging mit den Jahreszeiten.<br />

Die gyptischen Familien, die in Flußbooten lebten und zu den<br />

Märkten im Frühjahr und Herbst in der Stadt auftauchten,<br />

waren immer für einen Kampf gut. Besonders gegen eine<br />

Familie, deren Boot an einem Liegeplatz im Stadtteil Jericho<br />

festmachte, führte Lyra eine Fehde, seit sie Steine werfen<br />

konnte. Als die Familie das letzte Mal in Oxford gewesen war,<br />

hatten Lyra, Roger und einige andere Küchenjungen aus Jordan<br />

und St. Michael sich in den Hinterhalt gelegt und das bunt<br />

bemalte Flußboot mit Matsch beworfen, bis die ganze Familie<br />

an Land sprang, um die Kinder zu verjagen — in diesem Augenblick<br />

hatte Lyra an der Spitze eines Reservekommandos das<br />

Boot geentert und es vom Ufer abgestoßen. Sie waren den<br />

Kanal entlanggetrieben, hatten den gesamten Bootsverkehr<br />

blockiert und das Boot von vorn bis hinten nach seinem Stöpsel<br />

durchsucht. Lyra glaubte fest an diesen Stöpsel. Wenn man ihn<br />

herauszog, so versicherte sie ihrer Truppe, würde das Boot<br />

sofort sinken. Doch sie fanden ihn nicht und mußten das Boot<br />

verlassen, als die Gypter sie einholten. Tropfnaß und mit Triumphgeheul<br />

waren sie durch die engen Gassen von Jericho<br />

geflohen.<br />

In dieser Welt war Lyra zu Hause. Sie war vor allem ein freches<br />

kleines Mädchen, das sich holte, was es brauchte. Daneben<br />

sagte ihr freilich ein vages Gefühl, daß ihre Welt nicht auf dieses<br />

Treiben beschränkt war, daß ein Teil von ihr auch der erhabenen,<br />

von Traditionen geprägten Welt von Jordan College angehörte<br />

und daß es irgendwo in ihrem Leben auch eine Verbindung<br />

zur Welt der hohen Politik gab, die Lord Asriel<br />

45


epräsentierte. Doch bewirkte dieses Gefühl nur, daß sie sich<br />

aufspielte und die anderen Kinder herumkommandierte. Es<br />

war ihr nie eingefallen, dem Gefühl nachzugehen.<br />

So hat sie ihre Kindheit wie eine halbwilde Katze verbracht.<br />

Die einzige Abwechslung stellten die unregelmäßigen Besuche<br />

von Lord Asriel im College dar. Mit einem reichen und mächtigen<br />

Onkel ließ sich zwar gut angeben, aber der Preis dafür war,<br />

daß Lyra sich von dem Wissenschaftler, der am schnellsten rennen<br />

konnte, einfangen und zur Haushälterin schleppen lassen<br />

mußte, die sie wusch und in ein sauberes Kleid steckte;<br />

anschließend wurde sie unter vielen Drohungen zum Dozentenzimmer<br />

geleitet, um mit Lord Asriel Tee zu trinken. Dazu<br />

wurden auch einige wichtige Wissenschaftler eingeladen. Lyra<br />

ließ sich dann rebellisch in einen Sessel fallen, bis der Rektor ihr<br />

scharf befahl, sich gerade hinzusetzen, worauf sie die anderen<br />

finster anstarrte, bis sogar der Kaplan lachen mußte.<br />

<strong>Der</strong> Ablauf dieser unangenehmen, steifen Besuche war<br />

immer derselbe. Nach dem Tee ließen der Rektor und die dazugeladenen<br />

Wissenschaftler Lyra und ihren Onkel allein, und er<br />

befahl ihr, sich vor ihn hinzustellen und zu berichten, was sie<br />

seit seinem letzten Besuch gelernt hatte. Sie kratzte dann<br />

zusammen, was ihr über Geometrie, Arabisch, Geschichte oder<br />

Anbarologie einfiel, und er lehnte sich mit übereinandergeschlagenen<br />

Beinen zurück und musterte sie mit unergründlichem<br />

Blick, bis sie verstummte.<br />

Im vergangenen Jahr, vor seiner Expedition in den Norden,<br />

hatte er anschließend gefragt: »Und was tust du, wenn du nicht<br />

fleißig lernst?«<br />

»Ich spiele«, hatte sie gemurmelt. »Im College und in der<br />

Umgebung. Ich… spiele einfach, ja.«<br />

»Laß deine Hände sehen, Kind.«<br />

Sie streckte die Hände aus, und er nahm sie, drehte sie um<br />

und sah sich die Fingernägel an. Neben ihm lag wie eine Sphinx<br />

46


sein Dæmon auf dem Teppich und starrte Lyra unverwandt an;<br />

nur der Schwanz zuckte gelegentlich.<br />

»Dreckig«, sagte Lord Asriel und schob die Hände weg.<br />

»Lernst du hier nicht, die Hände zu waschen?«<br />

»Doch«, sagte sie. »Aber die Nägel des Kaplans sind auch<br />

immer dreckig. Sie sind sogar noch dreckiger als meine.«<br />

»Er ist ein Gelehrter. Was ist deine Entschuldigung?«<br />

»Ich muß sie nach dem Waschen dreckig gemacht haben.«<br />

»Wo spielst du, daß du dich so dreckig machst?«<br />

Sie sah ihn mißtrauisch an. Ein Gefühl sagte ihr, daß über die<br />

Dächer zu klettern verboten war, auch wenn niemand ein solches<br />

Verbot ausgesprochen hatte. »In einigen der alten Räume«,<br />

sagte sie schließlich.<br />

»Und wo sonst noch?«<br />

»Manchmal in den Lehmgruben.«<br />

»Und?«<br />

»In Jericho und Port Meadow.«<br />

»Sonst nirgends?«<br />

»Nein.«<br />

»Du lügst. Ich habe dich gestern auf dem Dach gesehen.«<br />

Sie biß sich auf die Lippe und sagte nichts. Er musterte sie<br />

spöttisch.<br />

»Du spielst also auch auf dem Dach«, sagte er dann. »Gehst<br />

du auch manchmal in die Bibliothek?«<br />

»Nein. Aber auf dem Dach der Bibliothek habe ich einen<br />

Raben gesehen.«<br />

»So? Hast du ihn gefangen?«<br />

»Er hatte sich den Fuß verletzt. Ich wollte ihn töten und braten,<br />

aber Roger sagte, wir sollten ihm helfen, damit sein Fuß<br />

heilt. Also haben wir ihn gefüttert und ihm Wein zu trinken<br />

gegeben, und dann ging es ihm besser, und er flog weg.«<br />

»Wer ist Roger?«<br />

»Mein Freund. <strong>Der</strong> Küchenjunge.«<br />

47


»Aha. Du warst also auf allen Dächern…«<br />

»Nicht auf allen. Auf das Sheldon-Gebäude kommt man<br />

nicht, weil man vom Pilgerturm über einen Spalt hinüberspringen<br />

muß. Es gibt zwar ein Dachfenster zum Sheldon-Gebäude,<br />

aber ich bin zu klein, um hinaufzukommen.«<br />

»Du warst also auf allen Dächern außer einem. Und unter<br />

der Erde?«<br />

»Unter der Erde?«<br />

»<strong>Der</strong> unterirdische Teil des College ist genausogroß wie der<br />

oberirdische. Es überrascht mich, daß du das noch nicht entdeckt<br />

hast. Also, ich muß gleich gehen. Du siehst gesund aus.<br />

Hier.«<br />

Er suchte in seiner Tasche, holte eine Handvoll Münzen heraus<br />

und gab ihr fünf Golddollar.<br />

»Lernt man hier nicht, danke zu sagen?« sagte er.<br />

»Danke«, murmelte sie undeutlich.<br />

»Tust du, was der Rektor sagt?«<br />

»O ja.«<br />

»Und du bist brav zu den Wissenschaftlern?«<br />

»Ja.«<br />

Lord Asriels Dæmon, die Leopardin, lachte leise. Sie war bisher<br />

stumm gewesen, und Lyra wurde rot.<br />

»Dann geh jetzt spielen«, sagte Lord Asriel.<br />

Erleichtert wandte Lyra sich zur Tür. Im letzten Moment fiel<br />

ihr noch ein, auf Wiedersehen zu sagen, dann rannte sie hinaus.<br />

Dies war Lyras Leben gewesen, bis zu dem Tag, an dem sie<br />

beschlossen hatte, sich im Ruhezimmer zu verstecken, und an<br />

dem sie zum ersten Mal von Staub gehört hatte.<br />

Und natürlich hatte der Bibliothekar unrecht, wenn er zum<br />

Rektor sagte, Lyra würde ihm sowieso nicht zuhören. Sie hätte<br />

jetzt jedem, der ihr etwas über Staub sagen konnte, begierig<br />

zugehört. In den kommenden Monaten sollte sie einiges dar­<br />

48


über erfahren und zuletzt mehr darüber wissen als irgend<br />

jemand sonst auf der Welt. Doch noch war es nicht soweit.<br />

Außerdem waren ihre Gedanken noch mit etwas anderem<br />

beschäftigt. Seit einigen Wochen kursierte ein Gerücht auf den<br />

Straßen; einige Leute lachten, wenn sie es hörten, andere verstummten,<br />

so wie manche Menschen über Gespenster spotten<br />

und andere sich vor ihnen fürchten. Niemand kannte den<br />

Grund, doch seit einiger Zeit verschwanden Kinder.<br />

Das passierte etwa auf folgende Weise.<br />

Folgt man dem Fluß Isis, einer belebten Wasserstraße mit<br />

träge dahingleitenden, mit Ziegeln und Asphalt beladenen<br />

Kähnen und Getreidetankern, nach Osten, vorbei an Henley<br />

und Maidenhead bis nach Teddington, wohin die Gezeiten des<br />

Deutschen Ozeans reichen, und weiter nach Mortlake, vorbei<br />

am Haus des großen Magiers Dr. Dee und an Falkeshall mit seinen<br />

weitläufigen Lustgärten, in denen tags die Brunnen glitzern<br />

und die Fahnen leuchten und nachts Lampions in den<br />

Bäumen hängen und Feuerwerk aufsteigt, an White Hall, wo<br />

allwöchentlich der Staatsrat des Königs tagt, und am Schrotturm,<br />

von dem in endlosem Rinnsal geschmolzenes Blei in Bottiche<br />

mit trübem Wasser spritzt, und noch weiter bis dahin, wo<br />

der Strom, inzwischen breit und schmutzig, in einem weiten<br />

Bogen nach Süden schwingt — so gelangt man nach Limehouse,<br />

und hier lebt das Kind, das verschwinden wird.<br />

<strong>Der</strong> Junge heißt Tony Makarios. Seine Mutter glaubt, daß er<br />

neun Jahre alt ist, aber sie hat ein schlechtes, vom Alkohol zerfressenes<br />

Gedächtnis; er könnte genausogut acht oder auch<br />

zehn sein. Er hat einen griechischen Nachnamen, aber auch das<br />

ist, wie sein Alter, nur eine Vermutung der Mutter, denn er sieht<br />

mehr aus wie ein Chinese als ein Grieche und hat mütterlicherseits<br />

auch Iren, Skrälinge und Laskaren als Vorfahren. Tony ist<br />

nicht besonders intelligent, aber eine Art unbeholfener Zärt­<br />

49


lichkeit treibt ihn manchmal dazu, die Mutter grob zu umarmen<br />

und ihr einen klebrigen Kuß auf die Wange zu drücken.<br />

Die arme Frau ist meist zu betrunken, um von sich aus auf einen<br />

solchen Gedanken zu kommen, aber wenn sie merkt, was passiert,<br />

erwidert sie die Umarmung liebevoll.<br />

In diesem Augenblick treibt sich Tony auf dem Markt in der<br />

Pie Street herum. Er hat Hunger. Es ist früh am Abend, und zu<br />

Hause bekommt er nichts zu essen. Zwar hat er einen Schilling in<br />

der Tasche, den ein Soldat ihm für einen Botengang zu seinem<br />

Mädchen gegeben hat, aber den will Tony nicht für Essen verschwenden,<br />

das man sich doch meist auch ohne Geld beschaffen<br />

kann. Er wandert also über den Markt, zwischen den Ständen der<br />

Altkleiderhändler und Wahrsager, der Obstverkäufer und Fischhändler<br />

hindurch, seinen kleinen Dæmon, einen Spatzen, auf der<br />

Schulter, und blickt nach rechts und links. Wenn eine Marktfrau<br />

und ihr Dæmon wegsehen, ertönt ein helles Zwitschern, und<br />

Tonys Hand schnellt vor und verschwindet wieder unter seinem<br />

weiten Hemd, zunächst mit einem Apfel oder ein paar Nüssen,<br />

dann mit einer warmen Pastete.<br />

Die Händlerin sieht das und ruft, und ihr Katzendæmon<br />

macht einen Satz, aber schon flattert Tonys Spatz in der Luft,<br />

und Tony selbst ist schon fast bis zum Ende der Straße gerannt.<br />

Flüche und Geschrei folgen ihm, allerdings nicht weit. An der<br />

Treppe zum St.-Catherine-Bethaus setzt er sich und holt die<br />

dampfende, zerdrückte Beute, von der Bratensoße auf sein<br />

Hemd tropft, heraus.<br />

Er wird beobachtet. Eine Dame in einem langen Mantel aus<br />

rotbraunem Fuchspelz, eine schöne junge Dame mit dunkel<br />

glänzendem Haar unter einer pelzbesetzten Kapuze, steht am<br />

Eingang des Bethauses, ein halbes Dutzend Stufen über ihm.<br />

Vielleicht ist gerade ein Gottesdienst aus, denn aus der Tür hinter<br />

ihr dringt Licht, drinnen spielt eine Orgel, und die Dame<br />

hält ein edelsteinbesetztes Brevier in der Hand.<br />

50


Tony merkt davon nichts. Das Gesicht rief über die Pastete<br />

gesenkt, die Zehen einwärts gedreht und die nackten Sohlen<br />

aneinandergedrückt, sitzt er kauend und schluckend da, während<br />

sein Dæmon zu einer Maus wird und sich die Barthaare<br />

reinigt.<br />

Neben dem Fuchsmantel der jungen Dame erscheint ihr<br />

Dæmon in Gestalt eines Affen, allerdings keines gewöhnlichen<br />

Affen: Er hat ein langes und seidiges Fell, das tiefgolden schimmert.<br />

Geschmeidig und ganz langsam gleitet er die Treppe<br />

hinab auf den Jungen zu und bleibt eine Stufe über ihm sitzen.<br />

Dann spürt die Maus etwas. Sie verwandelt sich wieder in<br />

einen Spatzen, stellt den Kopf schräg und hüpft über die steinernen<br />

Stufen.<br />

<strong>Der</strong> Affe beobachtet den Spatzen, der Spatz beobachtet den<br />

Affen.<br />

<strong>Der</strong> Affe streckt ganz langsam den Arm aus. Seine kleine<br />

Hand ist schwarz, die Nägel vollkommen geformte Klauen aus<br />

Hörn, die Bewegung sanft und einladend. <strong>Der</strong> Spatz kann nicht<br />

widerstehen. Er hüpft auf den Affen zu, einen Zentimeter, dann<br />

noch einen, und dann, mit einem kurzen Flattern, hinauf auf<br />

die Hand des Affen.<br />

<strong>Der</strong> Affe hält ihn hoch, mustert ihn eingehend, erhebt sich<br />

und kehrt mit ihm in der Hand zu der Dame zurück. Die Dame<br />

neigt ihr duftendes Haupt und flüstert etwas.<br />

Und dann dreht Tony sich um. Er kann nicht anders.<br />

»Ratter!« sagt er alarmiert, mit vollem Mund.<br />

<strong>Der</strong> Spatz zwitschert. Also ist er sicher. Tony schluckt und<br />

starrt nach oben.<br />

»Guten Tag«, sagt die schöne Dame im Fuchsmantel. »Wie<br />

heißt du?«<br />

»Tony.«<br />

»Wo wohnst du, Tony?«<br />

»Clarice Walk.«<br />

51


»Was ist in dieser Pastete?«<br />

»Beefsteak.«<br />

»Trinkst du gern Chokolatl?«<br />

»Au ja!«<br />

»Zufällig habe ich gerade mehr davon, als ich selbst trinken<br />

kann. Willst du mitkommen und mir beim Trinken helfen?«<br />

Tony ist bereits verloren. Er war in dem Augenblick verloren,<br />

in dem sein Dæmon, der etwas langsam von Begriff ist, auf die<br />

Hand des Affen hüpfte. Er folgt der schönen jungen Dame und<br />

dem <strong>goldene</strong>n Affen die Denmark Street entlang zum Henkerskai<br />

und die King-George-Treppe hinunter zu einer kleinen<br />

grünen Tür an der Seite eines großen Lagerhauses. Die Dame<br />

klopft an, die Tür öffnet sich, sie gehen hinein, die Tür schließt<br />

sich wieder. Tony wird nie mehr herauskommen — zumindest<br />

nicht durch diesen Eingang —, und er wird seine Mutter nie<br />

mehr sehen. Seine Mutter, die arme Trinkerin, wird glauben, er<br />

sei weggelaufen, und wenn sie an ihn denkt, wird sie sich die<br />

Schuld geben und herzzerreißend schluchzen.<br />

<strong>Der</strong> kleine Tony Makarios war nicht das einzige Kind, das die<br />

Dame mit dem <strong>goldene</strong>n Affen einfing. Im Keller des Lagerhauses<br />

begegnete Tony einem Dutzend anderer Jungen und<br />

Mädchen. Kein Kind war älter als etwa zwölf, allerdings wußten<br />

die Kinder, die alle aus ähnlichen Verhältnissen wie Tony<br />

stammten, ihr genaues Alter meist nicht. Und noch etwas hatten<br />

alle gemein, auch wenn Tony das natürlich nicht auffiel:<br />

Keines der Kinder in jenem heißen und stickigen Keller hatte<br />

das Alter der Pubertät erreicht.<br />

Die freundliche Dame sorgte dafür, daß er einen Platz auf<br />

einer Bank an der Wand bekam und ein Dienstmädchen ihm<br />

wortlos einen Becher mit Chokolatl aus einem Topf auf dem<br />

eisernen Herd brachte. Tony aß den Rest seiner Pastete und<br />

trank das süße, heiße Getränk, ohne viel von seiner Umgebung<br />

52


wahrzunehmen, wie umgekehrt auch die anderen ihn kaum zu<br />

bemerken schienen. Er war zu klein, um eine Bedrohung zu<br />

sein, und zu gleichmütig, um als Opfer viel Befriedigung zu<br />

versprechen.<br />

Ein anderer Junge fragte schließlich, was alle beschäftigte.<br />

»Hey, Miss! Wozu haben Sie uns hierher gebracht?«<br />

Er war ein robust aussehender Kerl mit einem dunklen<br />

Schokoladenbart auf der Oberlippe und einer dürren schwarzen<br />

Ratte als Dæmon. Die Dame, die an der Tür stand und mit<br />

einem stämmigen Mann sprach, der wie ein Kapitän aussah,<br />

drehte sich um; sie sah in dem zischenden Naphthalicht so<br />

engelhaft aus, daß die Kinder verstummten.<br />

»Wir brauchen eure Hilfe«, sagte sie. »Ihr wollt uns doch helfen,<br />

oder?«<br />

Niemand sagte etwas. Alle starrten sie nur an, plötzlich scheu<br />

geworden. Eine solche Dame hatten die Kinder noch nie gesehen;<br />

sie war so anmutig und nett und freundlich, daß sie ihr<br />

Glück kaum fassen konnten, und sie hätten alles für sie getan,<br />

wenn sie damit nur etwas länger in ihrer Nähe bleiben konnten.<br />

Die Dame sagte den Kindern, daß sie auf Reisen gehen würden.<br />

Sie würden gut zu essen und warme Kleider bekommen,<br />

und wer wolle, könne seinen Eltern schreiben, damit sie wüßten,<br />

daß ihre Kinder in Sicherheit seien. Kapitän Magnusson<br />

würde sie bald an Bord seines Schiffes bringen, und dann müßten<br />

sie nur noch auf die Flut warten, um auszulaufen und Kurs<br />

nach Norden zu nehmen.<br />

Bald saßen die wenigen, die eine Nachricht nach Hause<br />

schicken wollten, um die schöne Dame, und diese schrieb nach<br />

ihrem Diktat einige Zeilen und steckte sie dann, nachdem die<br />

Absender unten auf das Blatt ein unbeholfenes Kreuz gekritzelt<br />

hatten, in einen parfümierten Umschlag, auf den sie die angegebene<br />

Adresse schrieb. Auch Tony hätte seiner Mutter gern<br />

etwas geschrieben, aber er befürchtete zu Recht, daß sie es nicht<br />

53


würde lesen können. Er zupfte die Dame deshalb am Ärmel<br />

ihres Fuchspelzes und flüsterte, sie solle seiner Mutter sagen,<br />

wohin er fahre, und die Dame hörte dem dreckigen kleinen<br />

Jungen mit anmutig geneigtem Kopf zu, strich ihm dann übers<br />

Haar und versprach, die Nachricht auszurichten.<br />

Die Kinder umringten sie, um sich zu verabschieden. <strong>Der</strong><br />

<strong>goldene</strong> Affe streichelte die Dæmonen der Kinder, und die<br />

Kinder berührten den Fuchspelz wie einen Glücksbringer, als<br />

ob dadurch Kraft, Hoffnung oder Güte von der Dame auf sie<br />

übergehen könnte, und auch die Dame sagte ihnen Lebewohl<br />

und übergab sie der Fürsorge des kühnen Kapitäns an der Anlegestelle.<br />

<strong>Der</strong> Himmel war jetzt dunkel, und auf dem Fluß tanzten<br />

zahllose Lichter. Die Dame blieb an der Anlegestelle stehen<br />

und winkte, bis sie die Gesichter der Kinder nicht mehr erkennen<br />

konnte.<br />

Dann kehrte sie, den <strong>goldene</strong>n Affen an die Brust<br />

geschmiegt, in das Lagerhaus zurück. Das kleine Bündel Briefe<br />

warf sie in den Ofen, dann verschwand sie durch die Tür, durch<br />

die sie gekommen war.<br />

Es war nicht schwer, die Kinder aus den Slums anzulocken, aber<br />

nach einiger Zeit fiel es doch auf, und die Polizei bequemte sich<br />

widerwillig dazu, tätig zu werden. Eine Zeitlang wurden keine<br />

Kinder mehr verhext. Doch das Gerücht war da, und es veränderte<br />

sich allmählich und wuchs und breitete sich aus, und als<br />

einige Zeit später einige Kinder in Norwich verschwanden und<br />

dann in Sheffield und dann in Manchester, ließen die Menschen<br />

dort, die von den anderswo verschwundenen Kindern<br />

gehört hatten, das Gerücht Wiederaufleben und gaben ihm<br />

neue Kraft.<br />

Und so wuchs die Legende von einer geheimnisvollen<br />

Gruppe von Zauberern, die Kinder weghexten. Einige sagten,<br />

ihr Anführer sei eine schöne Frau, anderen zufolge war er ein<br />

54


hochgewachsener Mann mit roten Augen, eine dritte Version<br />

sprach von einem jungen Mann, der seine Opfer durch Lachen<br />

und Singen dazu brachte, daß sie ihm wie Schafe folgten.<br />

Was den Ort betraf, an den die verschwundenen Kinder<br />

gebracht wurden, widersprachen die Geschichten einander.<br />

Einige sagten, es sei die Hölle, ein Ort unter der Erde oder ein<br />

Feenland, anderen zufolge war es ein Bauernhof, auf dem die<br />

Kinder für den Kochtopf gemästet wurden. Wieder andere<br />

meinten, die Kinder würden als Sklaven an reiche Tataren verkauft,<br />

und so weiter.<br />

In einem stimmten allerdings alle Geschichten überein: dem<br />

Namen der unsichtbaren Kidnapper. Man brauchte einen<br />

Namen, sonst konnte man nicht über sie sprechen, und über sie<br />

zu sprechen war — besonders wenn man behütet und beschützt<br />

zu Hause oder in Jordan College saß — ein wunderbares Vergnügen.<br />

<strong>Der</strong> Name also, der nach und nach an ihnen haften<br />

blieb, ohne daß jemand wußte warum, war Gobbler.<br />

»Komm vor Einbruch der Nacht wieder, sonst holen dich die<br />

Gobbler!«<br />

»Meine Cousine in Northampton kennt eine Frau, deren<br />

Junge von den Gobblern geholt wurde…«<br />

»Die Gobbler waren in Stratford. Es heißt, sie kommen nach<br />

Süden.«<br />

Und natürlich:<br />

»Laßt uns Kinder und Gobbler spielen.«<br />

Das sagte Lyra zu Roger, dem Küchenjungen von Jordan<br />

College. Er wäre ihr bis ans Ende der Welt gefolgt.<br />

»Wie spielt man das?«<br />

»Du versteckst dich, und ich suche dich und schlitze dich auf,<br />

wie es die Gobbler tun.«<br />

»Du weißt doch gar nicht, was sie tun. Vielleicht gibt es sie<br />

gar nicht.«<br />

55


»Du hast ja nur Angst vor ihnen«, sagte Lyra, »das weiß ich<br />

genau.«<br />

»Hab ich nicht. Aber ich glaube trotzdem nicht an sie.«<br />

»Ich schon«, sagte Lyra entschieden. »Aber ich hab auch keine<br />

Angst. Ich würde einfach tun, was mein Onkel getan hat, als er<br />

letztes Mal nach Jordan kam. Ich hab es selbst gesehen. Er war<br />

im Ruhezimmer, und da war dieser unhöfliche Gast, und mein<br />

Onkel starrt ihn nur böse an, und der fällt auf der Stelle tot um,<br />

mit lauter Schaum vor dem Mund.«<br />

»Glaub ich nicht«, sagte Roger zweifelnd. »Davon hab ich in<br />

der Küche nichts gehört. Und überhaupt, das Ruhezimmer darf<br />

man gar nicht betreten.«<br />

»Natürlich hast du nichts gehört. Dem Personal erzählt man<br />

doch so was nicht. Und ich war im Ruhezimmer, also bitte.<br />

Mein Onkel macht das immer so. Er hat es mit einigen Tataren<br />

gemacht, als er ihnen einmal in die Hände fiel. Sie fesselten ihn<br />

und wollten seine Eingeweide ausschneiden, aber als der erste<br />

mit ‘nem Messer kam, sah mein Onkel ihn nur an, und der fiel<br />

tot um. Dann kam der nächste, und mein Onkel tat dasselbe,<br />

und dann war nur noch einer übrig. Mein Onkel sagte, daß er<br />

ihm das Leben schenkt, wenn er ihn losbinden würde, also tat er<br />

das, und dann hat mein Onkel ihn trotzdem getötet, um ihm<br />

einen Denkzettel zu verpassen.«<br />

Roger war von dieser Geschichte nicht sehr überzeugt, aber<br />

die Geschichte war einfach zu gut, deshalb spielten sie abwechselnd<br />

Lord Asriel und die sterbenden Tataren. Für den Schaum<br />

verwendeten sie Brausepulver.<br />

Lyra vergaß ihre ursprüngliche Absicht allerdings nicht. Sie<br />

wollte immer noch Gobbler spielen und überredete Roger, mit<br />

ihr in den Weinkeller hinunterzusteigen, den sie mit dem<br />

Ersatzschlüssel des Butlers aufschloß. Zusammen schlichen sie<br />

durch die großen Gewölbe, in denen unter jahrhundertealten<br />

Spinnweben der Tokaier und Kanarienwein, der Burgunder<br />

56


und Branntwein des College lagerten. Über ihnen wölbten sich<br />

uralte steinerne Bögen, getragen von zehn Mann dicken Pfeilern,<br />

auf dem Boden lagen unregelmäßige Steinplatten, und an<br />

den Wänden lagerten in mehrstöckigen Gestellen die Flaschen<br />

und Fässer. Die beiden Kinder waren fasziniert, die Gobbler<br />

hatten sie vergessen. Eine Kerze in den zitternden Fingern,<br />

schlichen sie auf Zehenspitzen von einem Ende zum anderen<br />

und spähten in jede Ecke, bis Lyra schließlich nur noch eine<br />

einzige Frage beschäftigte: Wie schmeckte der Wein?<br />

Die Frage ließ sich leicht beantworten. Ohne auf Rogers<br />

stürmische Proteste einzugehen, zog Lyra die älteste, grünste<br />

und am seltsamsten geformte Flasche, die sie finden konnte, aus<br />

dem Regal und brach ihr, da sie keinen Korkenzieher dabeihatte,<br />

den Hals ab. Tief in einen dunklen Winkel gedrückt,<br />

nippten die beiden an der berauschenden, tiefroten Flüssigkeit<br />

und überlegten, wann sie betrunken sein würden und woran<br />

man das merkte. Lyra mochte den Geschmack nicht besonders,<br />

mußte aber zugeben, daß er irgendwie grandios und exotisch<br />

war. Am lustigsten war es, zuzusehen, wie die beiden Dæmonen<br />

immer beschwipster wurden; sie stolperten übereinander,<br />

kicherten sinnlos und wechselten die Gestalt, um häßlicher zu<br />

sein als der andere, bis sie wie Wasserspeier aussahen.<br />

Zum Schluß — und fast zu gleichen Zeit — entdeckten die<br />

Kinder, wie es war, betrunken zu sein.<br />

»Tun die das gern?« keuchte Roger, nachdem er sich heftig<br />

erbrochen hatte.<br />

»Ja«, sagte Lyra, der es nicht besser ging. »Und ich auch«,<br />

fügte sie trotzig hinzu.<br />

Lyra lernte aus diesem Erlebnis lediglich, daß das Gobbler-Spiel<br />

einen an interessante Orte führte. Die Worte ihres Onkels aus<br />

ihrem letzten Gespräch fielen ihr ein, und sie begann, ihre<br />

Streifzüge unter die Erde auszudehnen, denn was über der Erde<br />

57


lag, war nur ein Bruchteil des Ganzen. Jordan, das über der Erde<br />

mit St. Michael’s College auf der einen, Gabriel College auf der<br />

anderen und der Universitätsbibliothek auf der dritten Seite<br />

um Platz konkurrieren mußte, hatte irgendwann im Mittelalter<br />

angefangen, sich wie ein gewaltiger Pilz, dessen Wurzelsystem<br />

sich über Tausende von Quadratmetern erstreckte, unter der<br />

Erde auszudehnen. Unter dem College und im Umkreis von<br />

einigen hundert Metern höhlten Tunnel, Schächte, Gewölbe,<br />

Keller und Treppen die Erde so sehr aus, daß es fast so viel Luft<br />

gab wie über der Erde; Jordan College stand auf einer Art zu<br />

Schaum gewordenem Stein.<br />

Sobald Lyra Gefallen an der Erforschung dieser Welt gefunden<br />

hatte, gab sie ihre bisherigen Streifzüge über das Gebirge<br />

der Collegedächer auf und stürzte sich mit Roger in die Unterwelt.<br />

Statt Gobbler zu spielen, machte sie jetzt Jagd auf die<br />

Gobbler, denn was lag näher, als daß diese irgendwo außer Sicht<br />

unter der Erde lauerten?<br />

So gelangten sie und Roger eines Tages in die Krypta unter<br />

dem Bethaus. Hier waren in Nischen entlang der steinernen<br />

Wände Generationen von Rektoren in bleigefaßten Eichensärgen<br />

begraben. Unter den Nischen standen auf Steintafeln ihre<br />

Namen:<br />

Simon Le Clerc, Rektor 1765-1789 Cerebaton<br />

Requiescant in pace<br />

»Was heißt das?« fragte Roger.<br />

»Zuerst kommt der Name, und der letzte Teil ist Lateinisch.<br />

In der Mitte steht die Zeit, in der er Rektor war. Und der andere<br />

Name ist sicher der seines Dæmons.«<br />

Sie gingen durch das stille Kellergewölbe und entzifferten<br />

weitere Inschriften:<br />

58


Francis Lyall, Rektor 1748-1765 Zoharid<br />

Requiescant in pace<br />

Ignatius Cole, Rektor 1745-1748 Musca<br />

Requiescant in pace<br />

Interessiert sah Lyra, daß auf jedem Sarg eine Messingplakette<br />

mit dem Bild eines Lebewesens angebracht war: etwa ein Basilisk,<br />

eine Schlange oder ein Affe. Sie begriff, daß es sich um Bilder<br />

der Dæmonen der toten Männer handelte. Wenn Menschen<br />

erwachsen wurden, verloren ihre Dæmonen die<br />

Fähigkeit, sich zu verwandeln, und behielten immer dieselbe<br />

Gestalt bei.<br />

»In den Särgen liegen Skelette«, flüsterte Roger.<br />

»Vermoderndes Fleisch«, flüsterte Lyra. »Und Augenhöhlen,<br />

in denen es vor Maden und Würmern wimmelt.«<br />

»Hier gibt es sicher Gespenster«, sagte Roger, und ein angenehmer<br />

Schauer lief ihm über den Rücken.<br />

Auf der anderen Seite der ersten Krypta stießen sie auf einen<br />

von steinernen Regalen gesäumten Gang. Jede Etage war in<br />

viereckige Fächer unterteilt, und in jedem Fach lag ein Schädel.<br />

Rogers Dæmon zitterte, den Schwanz fest zwischen die<br />

Beine geklemmt, und wimmerte leise.<br />

»Pst!« sagte Roger.<br />

Lyra konnte Pantalaimon nicht sehen, wußte aber, daß er als<br />

Nachtfalter auf ihrer Schulter saß und wahrscheinlich auch zitterte.<br />

Sie langte hinauf und holte vorsichtig einen Schädel aus seinem<br />

Fach.<br />

»Was tust du da?« fragte Roger. »Du darfst ihn nicht anfassen!«<br />

Sie beachtete ihn nicht und drehte den Schädel in ihren Händen<br />

hin und her. Plötzlich fiel etwas durch das Loch in der<br />

Schädelbasis — es fiel durch ihre Finger und traf laut klirrend<br />

59


auf dem Boden auf. Vor Schreck hätte sie den Schädel beinahe<br />

fallen lassen.<br />

»Ein Münze!« rief Roger und tastete auf dem Boden danach.<br />

»Vielleicht ein Schatz!«<br />

Er hielt den Gegenstand ins Licht der Kerze, und sie starrten<br />

ihn mit aufgerissenen Augen an. Es handelte sich nicht um eine<br />

Münze, sondern um eine kleine Scheibe aus Bronze mit dem<br />

roh eingeritzten Bild einer Katze.<br />

»Wie die Bilder auf den Särgen«, sagte Lyra. »Das ist sein<br />

Dæmon. Ganz bestimmt.«<br />

»Stell ihn lieber wieder zurück«, sagte Roger ängstlich, und<br />

Lyra drehte den Schädel um, ließ die Scheibe wieder dorthin<br />

fallen, wo sie seit undenklichen Zeiten gelegen hatte, und stellte<br />

den Schädel ins Regal zurück. Sie erkundeten, daß auch die<br />

anderen Schädel Dæmonen-Münzen enthielten, so daß der<br />

lebenslange Gefährte des Verstorbenen diesem auch im Tod<br />

nahe war.<br />

»Wer mögen die Toten gewesen sein?« überlegte Lyra.<br />

»Wahrscheinlich Wissenschaftler. Nur die Rektoren bekommen<br />

Särge. Wahrscheinlich gab es über die Jahrhunderte so<br />

viele Wissenschaftler, daß nicht genug Platz war, sie alle zu<br />

begraben, deshalb schnitt man ihnen einfach die Köpfe ab und<br />

bewahrte sie hier auf. Das ist sowieso der wichtigste Teil von<br />

ihnen.«<br />

Zwar begegneten Lyra und Roger keinem Gobbler, aber die<br />

Katakomben unter dem Bethaus hielten sie tagelang in Atem.<br />

Eines Tages wollten sie einigen toten Wissenschaftlern einen<br />

Streich spielen und tauschten die Münzen in den Schädeln aus,<br />

so daß die falschen Dæmonen in den Schädeln lagen. Pantalaimon<br />

wurde daraufhin so aufgeregt, daß er sich in eine Fledermaus<br />

verwandelte, auf und ab flatterte, spitze Schreie ausstieß<br />

und Lyra mit den Flügeln ins Gesicht schlug, aber Lyra ging<br />

nicht weiter darauf ein. Dazu fand sie den Scherz zu gut. Später<br />

60


mußte sie allerdings dafür büßen. Nachts im Bett in ihrem<br />

engen Zimmer am oberen Ende der Treppe Nr. 12 wurde sie<br />

von Geistern heimgesucht. Sie fuhr schreiend hoch, als drei<br />

Gestalten in Talaren an ihrem Bett erschienen und mit knochigen<br />

Fingern auf sie zeigten; dann schlugen sie ihre Kapuzen<br />

zurück, und Lyra sah blutige Stümpfe, wo eigentlich die Köpfe<br />

hätten sein sollen. Erst als Pantalaimon sich in einen Löwen verwandelte<br />

und die Gestalten anbrüllte, wichen sie zurück und<br />

verschmolzen mit der Wand, bis nur noch ihre Arme sichtbar<br />

waren, dann die hornigen, graugelben Hände, dann die zukkenden<br />

Finger und schließlich nichts mehr. Sobald der Morgen<br />

graute, eilte Lyra in die Katakomben hinunter und legte die<br />

Münzen wieder an die richtigen Plätze. »Tut mir leid!« flüsterte<br />

sie.<br />

Die Katakomben waren viel größer als die Weinkeller, aber<br />

auch sie hatten ein Ende. Als Lyra und Roger jeden Winkel<br />

erkundet hatten und überzeugt waren, daß es hier keine Gobbler<br />

gab, wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen<br />

zu. Jedoch wurden sie, als sie das letzte Mal aus der Krypta<br />

stiegen und das Bethaus verlassen wollten, vom Fürsprecher<br />

gesehen. Er rief sie ins Bethaus zurück.<br />

<strong>Der</strong> Fürsprecher war ein rundlicher, älterer Herr namens<br />

Father Heyst. Seine Aufgabe war es, am College Gottesdienste<br />

durchzuführen, zu predigen, zu beten und die Beichte abzunehmen.<br />

Als Lyra kleiner gewesen war, hatte er sich für ihr<br />

geistliches Wohl interessiert, doch hatten ihre Gleichgültigkeit<br />

und unaufrichtige Reue ihn enttäuscht. Sie lohnte die Mühe<br />

nicht, hatte er gefolgert.<br />

Als Lyra und Roger ihn rufen hörten, blieben sie widerwillig<br />

stehen und betraten dann schlurfend das große, dämmrige und<br />

muffig riechende Bethaus. Kerzen flackerten vor verschiedenen<br />

Heiligenbildern, und von der Orgelempore, wo Reparaturen in<br />

Gang waren, kamen ferne Geräusche; ein Diener polierte das<br />

61


Lesepult aus Messing. Father Heyst stand in der Tür der Sakristei<br />

und winkte sie zu sich.<br />

»Wo wart ihr?« fragte er. »Ich habe euch jetzt zwei- oder<br />

dreimal hier hereinkommen sehen. Was führt ihr im Schilde?«<br />

Sein Ton war nicht anklagend. Er klang, als sei er wirklich<br />

interessiert. Sein Dæmon, eine Eidechse, saß auf seiner Schulter<br />

und sah die beiden Kinder züngelnd an.<br />

»Wir wollten uns in der Krypta umsehen«, sagte Lyra.<br />

»Warum denn das?«<br />

»Die… die Särge«, sagte sie. »Wir wollten uns all die Särge<br />

ansehen.«<br />

»Aber warum?«<br />

Sie zuckte die Schultern, ihre gewöhnliche Antwort, wenn<br />

man sie bedrängte.<br />

»Und du«, fuhr Father Heyst an Roger gewandt fort. Rogers<br />

Dæmon wedelte ängstlich mit seinem Terrierschwanz, um ihn<br />

zu besänftigen. »Wie heißt du?«<br />

»Roger, Father.«<br />

»Wenn du ein Diener bist, wo arbeitest du?«<br />

»In der Küche, Father.«<br />

»Solltest du jetzt nicht dort sein?«<br />

»Doch, Father.«<br />

»Dann fort mit dir.«<br />

Roger drehte sich um und rannte weg. Lyra zeichnete mit<br />

dem Fuß gelangweilt Muster auf den Boden.<br />

»Was dich betrifft, Lyra«, sagte Father Heyst, »so freue ich<br />

mich, daß das Bethaus und alles, was dazugehört, dich interessieren.<br />

Du hast wirklich Glück, inmitten von so viel Geschichte<br />

aufzuwachsen.«<br />

»Mhm«, sagte Lyra.<br />

»Ich verstehe nur nicht ganz, was für Kameraden du dir aussuchst.<br />

Bist du einsam?«<br />

»Nein.«<br />

62


»Vermißt du die Gesellschaft anderer Kinder?«<br />

»Nein.«<br />

»Ich meine damit nicht Küchenjungen wie Roger, sondern<br />

Kinder wie dich, von vornehmer Abstammung. Hättest du<br />

gerne solche Spielkameraden?«<br />

»Nein.«<br />

»Aber vielleicht andere Mädchen…«<br />

»Nein.«<br />

»Sieh mal, keiner von uns will, daß du alle Freuden der Kindheit<br />

entbehren mußt. Ich denke manchmal, du mußt hier unter<br />

all den älteren Wissenschaftlern doch ganz schön einsam sein,<br />

Lyra. Bist du das?«<br />

»Nein.«<br />

Er schlug die Daumen über seinen gefalteten Fingern aneinander.<br />

Ihm fiel nichts mehr ein, was er dieses sture Kind fragen<br />

konnte.<br />

»Wenn du je Sorgen hast«, sagte er schließlich, »kannst du<br />

damit immer zu mir kommen. Ich hoffe, du weißt das.«<br />

»Ja«, sagte sie.<br />

»Sagst du deine Gebete?«<br />

»Ja.«<br />

»Braves Mädchen. Dann geh jetzt.«<br />

Mit einem kaum unterdrückten Seufzer der Erleichterung<br />

wandte Lyra sich zum Gehen. Da sie die Gobbler nicht unter<br />

der Erde gefunden hatte, nahm sie ihre Streifzüge durch die<br />

Straßen wieder auf. Dort war sie zu Hause.<br />

Dann, als sie fast schon das Interesse an ihnen verloren hatte,<br />

tauchten die Gobbler in Oxford auf.<br />

Das erste, was Lyra hörte, war, daß ein Junge aus einer gyptischen<br />

Familie, die sie kannte, vermißt wurde.<br />

Es war zur Zeit des Pferdemarktes. Im Kanalbecken drängten<br />

sich Flußboote und Schleppkähne, auf denen Händler und Rei­<br />

63


sende standen, und auf den Kais im Hafen von Jericho blinkten<br />

Pferdegeschirre, Hufgetrappel und das lärmende Feilschen der<br />

Händler ertönte. Lyra genoß den Pferdemarkt in vollen Zügen.<br />

Man konnte hier nicht nur in einem unbewachten Augenblick<br />

Pferde für einen Ritt entführen, es boten sich auch endlose<br />

Gelegenheiten, Kämpfe auszutragen.<br />

Außerdem hatte sie in diesem Jahr einen großartigen Plan.<br />

Angeregt durch die Entführung des Flußbootes im Vorjahr,<br />

wollte sie diesmal eine ganze Reise machen, bevor sie wieder<br />

vom Boot vertrieben wurde. Wenn sie und ihre Kameraden aus<br />

der Collegeküche es bis Abingdon schafften, konnten sie dort<br />

vielleicht das Wehr blockieren…<br />

Doch in diesem Jahr sollte der Krieg ausfallen. Lyra schlenderte<br />

gerade mit einigen Kameraden in der Morgensonne am<br />

Rand der Bootswerft von Port Meadow entlang, eine gestohlene<br />

Zigarette wanderte von Hand zu Hand, und Rauch wurde<br />

genießerisch ausgeblasen, als sie den Schrei einer Stimme hörte,<br />

die sie kannte.<br />

»Aber was hast du denn mit ihm gemacht, du Hornochse?«<br />

Es war eine mächtige Stimme, die Stimme einer Frau, aber<br />

einer Frau mit Lungen wie ein Blasebalg. Lyra hielt sofort nach<br />

ihr Ausschau, denn die Frau war Ma Costa, die Lyra bei zwei<br />

Gelegenheiten mit einer gewaltigen Ohrfeige halb ohnmächtig<br />

geschlagen, ihr aber bei drei Gelegenheiten warme Pfefferkuchen<br />

gegeben hatte und deren Familie für die Größe und luxuriöse<br />

Ausstattung ihres Bootes bekannt war. Sie waren Fürsten<br />

unter den Gyptern, und Lyra bewunderte Ma Costa sehr, wollte<br />

ihr aber noch eine Zeitlang nicht zu nahe kommen, denn es war<br />

ihr Boot, das sie im letzten Jahr entführt hatte.<br />

Einer der Jungen in Lyras Begleitung hob automatisch einen<br />

Stein auf, als er das Geschrei hörte, aber Lyra sagte: »Vergiß es,<br />

sie ist schlecht gelaunt. Sie könnte dir das Rückgrat wie einen<br />

Zweig brechen.«<br />

64


Ma Costa sah allerdings eher besorgt als wütend aus. <strong>Der</strong><br />

Mann, vor dem sie stand, ein Pferdehändler, zuckte die Schultern<br />

und breitete die Hände aus.<br />

»Ich weiß nicht«, sagte er gerade. »Er kam und war sofort<br />

wieder weg. Ich hab nicht gesehen, wohin er ging…«<br />

»Aber er hat dir geholfen! Er hat deine blöden Pferde für<br />

dich gehalten!«<br />

»Na ja, dann hätte er auch hier bleiben sollen, oder? Statt<br />

mitten in der Arbeit wegzurennen…«<br />

Weiter kam er nicht, denn Ma Costa versetzte ihm plötzlich<br />

eine gewaltige Ohrfeige und ließ eine solche Lawine von Flüchen<br />

und Schlägen folgen, daß er schreiend die Flucht ergriff.<br />

Die anderen Pferdehändler johlten, und ein Fohlen bäumte<br />

sich erschrocken auf.<br />

»Was ist denn los?« fragte Lyra ein gyptisches Kind, das mit<br />

offenem Mund zusah. »Warum ist sie wütend?«<br />

»Es geht um ihren Sohn«, sagte das Kind. »Um Billy. Sie hat<br />

wohl Angst, daß die Gobbler ihn geschnappt haben. Vielleicht<br />

haben sie das ja auch. Ich habe Billy auch nicht mehr gesehen<br />

seit…«<br />

»Die Gobbler? Sind die jetzt in Oxford?«<br />

<strong>Der</strong> gyptische Junge rief seine Freunde, die Ma Costa beobachteten.<br />

»Sie hier weiß nicht, was los ist. Sie weiß nicht, daß die Gobbler<br />

hier sind!«<br />

Ein halbes Dutzend Kinder drehte sich um und sah Lyra verächtlich<br />

an, und Lyra warf die Zigarette weg, denn dies war das<br />

Stichwort für einen Kampf. Sofort nahmen die Dæmonen der<br />

Kinder ein kriegerisches Aussehen an; überall tauchten Fänge,<br />

Klauen und gesträubte Nackenhaare auf, und Pantalaimon,<br />

weit erhaben über die beschränkte Phantasie der gyptischen<br />

Dæmonen, verwandelte sich in einen Drachen von der Größe<br />

eines Windhundes.<br />

65


Doch bevor die Kinder sich in die Schlacht stürzen konnten,<br />

marschierte Ma Costa herbei, schubste zwei der Gypter zur<br />

Seite und baute sich wie ein Preisboxer vor Lyra auf.<br />

»Hast du ihn gesehen?« wollte sie wissen. »Billy?«<br />

»Nein«, sagte Lyra, »wir sind gerade erst gekommen. Ich hab<br />

Billy seit Monaten nicht gesehen.«<br />

Ma Costas Dæmon, ein Falke, kreiste über ihrem Kopf in der<br />

Luft, und seine wilden, gelben Augen mit den starren Lidern<br />

schössen ruckartig hin und her. Niemand sorgte sich um ein<br />

Kind, das seit einigen Stunden vermißt wurde, ganz bestimmt<br />

kein Gypter; in ihrer engen Welt der Boote wurden Kinder<br />

über die Maßen geliebt und geschätzt, und wenn eine Mutter<br />

ihr Kind aus den Augen verlor, konnte sie sicher sein, daß sich<br />

sofort jemand anders um es kümmern würde.<br />

Doch hier war Ma Costa, eine Königin unter den Gyptern, in<br />

verzweifelter Angst um ein vermißtes Kind. Was war geschehen?<br />

Ma Costa starrte halb blind über die kleine Gruppe von Kindern<br />

und schob sich dann durch das Gedränge auf dem Kai und<br />

rief immer wieder laut nach ihrem Kind. Sofort wandten sich<br />

die Kinder wieder einander zu; ihre Fehde hatten sie allerdings<br />

angesichts des Kummers von Ma Costa vergessen.<br />

»Wer sind denn die Gobbler?« fragte Simon Parslow, einer<br />

von Lyras Begleitern.<br />

<strong>Der</strong> erste Gypterjunge sagte: »Das weißt du doch. Sie stehlen<br />

überall Kinder. Sie sind Piraten…«<br />

»Sie sind keine Piraten«, verbesserte ein anderer Gypter,<br />

»sondern Kannibalen.«<br />

»Sie essen Kinder?« fragte Hugh Lovat, ein anderer Freund<br />

Lyras und Küchenjunge in St. Michael.<br />

»Das weiß keiner«, meinte der erste Junge. »Sie entführen sie,<br />

und man sieht sie nie wieder.«<br />

»Das wissen wir«, sagte Lyra. »Wir spielen schon seit Mona­<br />

66


ten Kinder und Gobbler, länger als ihr, wette ich. Aber ich<br />

wette, keiner hat sie gesehen.«<br />

»Einige schon«, sagte ein Junge.<br />

»Wer denn?« beharrte Lyra. »Du vielleicht? Woher weißt du,<br />

daß es nicht nur eine einzige Person ist?«<br />

»Charlie hat sie in Banbury gesehen«, sagte ein gyptisches<br />

Mädchen. »Sie haben mit einer Frau gesprochen, und inzwischen<br />

hat ein anderer Mann ihren kleinen Jungen aus dem Garten<br />

geholt.«<br />

»Stimmt«, piepste Charlie, ein Gypterjunge, »ich habe es<br />

gesehen.«<br />

»Wie sahen sie aus?« fragte Lyra.<br />

»Hm… ich habe sie nicht genau sehen können«, sagte Charlie.<br />

»Aber ihren Lastwagen schon«, fügte er hinzu. »Sie kamen in<br />

einem weißen Laster. Sie steckten den Jungen in den Laster und<br />

fuhren dann schnell weg.«<br />

»Und sie fressen die Kinder auf«, sagte wieder der erste<br />

Junge. »Das hat uns jemand in Northampton gesagt, dort waren<br />

sie nämlich auch. Dieses Mädchen in Northampton, also ihr<br />

Bruder wurde weggeholt, und sie sagte, die Männer, die ihn<br />

holten, hätten gesagt, sie würden ihn auffressen. Das weiß doch<br />

jeder. Sie fressen sie auf.«<br />

Ein gyptisches Mädchen begann laut zu weinen.<br />

»Das ist Billys Cousine«, sagte Charlie.<br />

»Wer hat Billy zuletzt gesehen?« fragte Lyra.<br />

»Ich«, antworteten ein halbes Dutzend Stimmen. »Ich habe<br />

gesehen, wie er Johnny Fiorellis altes Pferd hielt — Ich habe ihn<br />

am Stand mit den kandierten Äpfeln gesehen — Ich habe gesehen,<br />

wie er mit dem Kran herumschwang…«<br />

Lyra entnahm dem allem schließlich, daß Billy vor höchstens<br />

zwei Stunden sicher zum letztenmal gesehen worden war.<br />

»Die Gobbler müssen also irgendwann in den letzten beiden<br />

Stunden hier gewesen sein«, sagte sie.<br />

67


Die Kinder sahen sich um und fröstelten trotz der warmen<br />

Sonne, des Menschengedränges auf dem Kai und der vertrauten<br />

Gerüche nach Teer, Pferden und Tabak. Das Problem war, daß<br />

niemand wußte, wie die Gobbler aussahen, und daß deshalb<br />

jeder einer sein konnte, erklärte Lyra der entsetzten Truppe von<br />

Collegekindern und Gyptern, deren Anführerin sie nun bereits<br />

war.<br />

»Sie sehen sogar ganz sicher aus wie gewöhnliche Leute,<br />

sonst würde man sie ja sofort erkennen. Wenn sie nur nachts<br />

kämen, wäre das egal. Aber wenn sie auch am hellen Tag kommen,<br />

müssen sie normal aussehen. Jeder von diesen Leuten da<br />

könnte also ein Gobbler sein…«<br />

»Nein«, sagte ein Gypter unsicher. »Die Leute hier kenne ich<br />

alle.«<br />

»Na ja, nicht die, aber alle anderen«, sagte Lyra. »Also los,<br />

suchen wir sie! Und ihren weißen Lastwagen!«<br />

Hektisches Treiben entstand. Weitere Kinder stießen zu<br />

ihnen, und über kurz oder lang waren es dreißig und mehr gyptische<br />

Kinder, die über die Kais liefen, in die Ställe hinein- und<br />

wieder herausrannten, über die Kräne und Ladebäume der<br />

Bootswerft kletterten, über den Zaun auf die große Wiese<br />

sprangen, zu fünfzehnt auf der alten Drehbrücke über das<br />

grüne Wasser schwangen und durch die engen Straßen von<br />

Jericho schwärmten, vorbei an den aus Ziegeln erbauten kleinen<br />

Reihenhäusern und hinein in die große Kirche mit ihrem<br />

breiten Turm, die dem heiligen Barnabas, dem Alchimisten,<br />

geweiht war. Die Hälfte der Kinder wußten nicht, wonach sie<br />

suchten; sie hielten das Ganze für einen großen Spaß. Aber die<br />

Kinder, die Lyra folgten, erschraken jedesmal zu Tode, wenn sie<br />

in einer Gasse oder in der dämmrigen Kirche eine einsame<br />

Gestalt erblickten. War das ein Gobbler?<br />

Natürlich nicht. Allmählich, als der Erfolg ausblieb und Billy<br />

nicht wiederauftauchte, wurde das Spiel langweilig. Als Lyra<br />

68


und die beiden Jungen aus dem College Jericho zur Abendessenszeit<br />

verließen, sahen sie, daß die Gypter sich auf dem Kai<br />

in der Nähe der Stelle, an der das Boot der Costas vertäut lag,<br />

versammelt hatten. Einige Frauen weinten laut, die Männer<br />

standen wütend in Gruppen zusammen, und ihre Dæmonen<br />

zuckten nervös bei jedem Geräusch zusammen oder fletschten<br />

die Zähne, wenn sich ein Schatten bewegte.<br />

»Ich wette, hier trauen die Gobbler sich nicht herein«, sagte<br />

Lyra zu Simon Parslow, als sie die große Eingangshalle von Jordan<br />

betraten.<br />

»Nein«, sagte Simon unsicher. »Aber ich weiß, daß auf dem<br />

Markt ein Kind vermißt wird.«<br />

»Wer?« fragte Lyra. Sie kannte die meisten Kinder vom<br />

Markt, aber davon hatte sie noch nichts gehört.<br />

»Jessie Reynolds, die Tochter des Sattlers. Sie war gestern bei<br />

Ladenschluß nicht da, dabei hatte sie nur ihrem Vater einen<br />

Fisch zum Tee holen wollen. Sie kam nicht zurück, und niemand<br />

hat sie gesehen. Man hat den ganzen Markt und alles<br />

nach ihr abgesucht.«<br />

»Davon weiß ich ja gar nichts!« sagte Lyra empört. Sie<br />

betrachtete es als schwerwiegendes Versäumnis ihrer Gefolgsleute,<br />

ihr nicht alles sofort zu erzählen.<br />

»Es war erst gestern. Vielleicht ist sie schon wieder da.«<br />

»Ich frag mal«, sagte Lyra und wandte sich zum Gehen. Sie<br />

war noch nicht durch das Tor, als der Portier sie rief.<br />

»Halt, Lyra! Du sollst heute abend hierbleiben. Befehl des<br />

Rektors.«<br />

»Warum?«<br />

»Ich sagte doch, Befehl des Rektors. Er sagt, daß du bleiben<br />

sollst, wenn du kommst.«<br />

»Dann fang mich doch«, sagte Lyra und war zur Tür hinausgeschossen,<br />

bevor der alte Mann seine Loge verlassen konnte.<br />

Sie rannte über die enge Straße in die Gasse, in der die Last­<br />

69


wagen die Waren für die Markthalle abluden. Da der Markt<br />

gerade zumachte, standen nur noch wenige Lastwagen da, aber<br />

am Haupteingang gegenüber der hohen Steinwand von<br />

St. Michael’s College lehnte rauchend und redend eine Gruppe<br />

Jugendlicher. Lyra kannte einen von ihnen, einen Sechzehnjährigen,<br />

den sie bewunderte, weil er weiter spucken konnte als<br />

alle anderen. Zu ihm ging sie jetzt und wartete demütig, bis er<br />

sie bemerkte.<br />

»Ja? Was willst du denn?« fragte er endlich.<br />

»Ist Jessie Reynolds verschwunden?«<br />

»Ja. Warum?«<br />

»Weil ein gyptisches Kind heute auch verschwunden ist.«<br />

»Die verschwinden doch immer, die Gypter. Nach jedem<br />

Pferdemarkt verschwinden die.«<br />

»Und die Pferde auch«, sagte einer seiner Freunde.<br />

»Dies ist was anderes«, sagte Lyra. »Es ist ein kleiner Junge.<br />

Wir haben ihn den ganzen Nachmittag gesucht, und die anderen<br />

Kinder sagten, die Gobbler hätten ihn geschnappt.«<br />

»Die was?«<br />

»Die Gobbler«, sagte sie. »Hast du noch nicht von ihnen<br />

gehört?«<br />

Auch für die anderen Jungen war das neu, und sie hörten<br />

sich, von einigen groben Kommentaren abgesehen, aufmerksam<br />

an, was Lyra ihnen erzählte.<br />

»Gobbler«, sagte Lyras Bekannter, der Dick hieß. »So ein<br />

Blödsinn. Die Gypter kommen doch immer auf so blöde<br />

Ideen.«<br />

»Sie sagen, vor einigen Wochen seien Gobbler in Banbury<br />

aufgetaucht«, beharrte Lyra, »und damals verschwanden fünf<br />

Kinder. Wahrscheinlich kommen sie jetzt nach Oxford, um<br />

auch von uns Kinder zu holen. Sicher haben sie Jessie entführt.«<br />

»Drüben in Cowley ist auch ein Kind verschwunden«, sagte<br />

ein anderer Junge. »Fällt mir jetzt ein. Meine Tante war gestern<br />

70


mit ihrer Fish-and-Chips-Bude dort, und sie hörte davon… ein<br />

kleiner Junge… Aber das mit den Gobblern, ich weiß nicht. Die<br />

gibt es nicht. Die sind erfunden.«<br />

»Es gibt sie!« sagte Lyra. »Die Gypter haben sie gesehen. Sie<br />

glauben, daß die Gobbler die Kinder, die sie fangen, auffressen<br />

und…«<br />

Sie brach mitten im Satz ab, weil ihr plötzlich etwas eingefallen<br />

war. An jenem merkwürdigen Abend, an dem sie sich im<br />

Ruheraum versteckt hatte, hatte Lord Asriel das Bild eines<br />

Mannes gezeigt, der einen Stab in die Höhe hielt, auf den Lichtstrahlen<br />

einströmten. Neben ihm, mit weniger Licht um sich,<br />

hatte eine kleine Gestalt gestanden, und Lord Asriel hatte<br />

gesagt, das sei ein Kind. Als jemand gefragt hatte, ob es ein<br />

abgeschnittenes Kind sei, hatte ihr Onkel gesagt, nein, und das<br />

sei der springende Punkt.<br />

Und dann fiel ihr siedendheiß noch etwas ein: Wo war<br />

Roger? Sie hatte ihn seit dem Morgen nicht mehr gesehen…<br />

Plötzlich hatte sie Angst. Pantalaimon sprang ihr in Gestalt<br />

eines kleinen Löwen in die Arme und knurrte. Sie verabschiedete<br />

sich von den Jungen am Tor, ging ruhig die Gasse bis zur<br />

Turl Street und rannte dann, so schnell sie konnte, zum College<br />

zurück. Eine Sekunde vor ihrem Dæmon, der die Gestalt eines<br />

Gepards angenommen hatte, schoß sie durch das Tor.<br />

<strong>Der</strong> Portier zog scheinheilig die Augenbrauen hoch.<br />

»Leider mußte ich den Rektor verständigen«, sagte er. »Er<br />

war nicht gerade erfreut. Ich möchte nicht in deiner Haut stekken,<br />

nicht für Geld möchte ich das.«<br />

»Wo ist Roger?« wollte sie wissen.<br />

»Ich habe ihn nicht gesehen. <strong>Der</strong> kann sich auch auf was<br />

gefaßt machen. Oho, wenn Mr. Cawson den in die Finger<br />

kriegt…«<br />

Lyra rannte in die Küche. Sie bahnte sich einen Weg durch<br />

Hitze, Dampf und Lärm.<br />

71


»Wo ist Roger?« rief sie.<br />

»Geh, Lyra! Wir haben zu tun!«<br />

»Aber wo ist er? War er da oder nicht?«<br />

Keiner schien sich dafür zu interessieren.<br />

»Wo ist er denn? Ihr müßt es doch wissen!« rief sie dem<br />

Küchenchef entgegen, der ihr daraufhin eine Ohrfeige verpaßte.<br />

Wütend sah sie sich um.<br />

Bernie, der Konditor, versuchte sie zu beruhigen, aber sie<br />

wollte nichts davon hören.<br />

»Sie haben ihn erwischt! Diese Gobbler, man sollte sie fangen<br />

und umbringen! Ich hasse sie! Euch ist Roger doch ganz egal…«<br />

»Lyra, wir alle haben Roger gern…«<br />

»Ist doch nicht wahr, sonst würdet ihr sofort aufhören zu<br />

arbeiten und ihn suchen! Ich hasse euch!«<br />

»Daß Roger nicht da ist, kann doch ein Dutzend Gründe<br />

haben. Sei doch vernünftig. Wir müssen das Abendessen<br />

machen und in weniger als einer Stunde servieren. <strong>Der</strong> Rektor<br />

hat in seiner Wohnung Gäste und wird dort essen, der Chef<br />

muß dafür sorgen, daß das Essen schnell zu ihm rüberkommt<br />

und nicht kalt wird. Und davon abgesehen, Lyra, das Leben geht<br />

weiter. Roger taucht ganz bestimmt wieder auf…«<br />

Lyra stürmte aus der Küche. Auf dem Weg stieß sie einen<br />

Stapel silberner Abdeckhauben um und rannte dann, ohne das<br />

wütende Geschrei zu beachten, das hinter ihr ausbrach, die<br />

Treppe hinunter und über den Hof zwischen der Kapelle und<br />

dem Palmer-Turm zum Yaxley Quadrangle mit den ältesten<br />

Gebäuden des College.<br />

Pantalaimon sprang ihr als kleiner Gepard voraus und flog<br />

die Treppe hinauf bis ganz nach oben, wo sich Lyras Schlafzimmer<br />

befand. Lyra stieß die Tür auf, schleppte ihren wackligen<br />

Stuhl zum Fenster, machte es weit auf und kletterte hinaus.<br />

Dicht unter dem Fenster verlief eine breite, bleigefaßte Regenrinne<br />

aus Stein. Lyra stieg hinein, drehte sich um und kletterte<br />

72


die unebenen Dachziegel hinauf bis zum First. Dort öffnete sie<br />

den Mund und ließ einen Schrei ertönen. Pantalaimon, der sich<br />

auf dem Dach immer in einen Vogel verwandelte, umkreiste sie<br />

und schrie wie ein Rabe.<br />

<strong>Der</strong> Abendhimmel war ein Meer zarter pfirsich-, aprikosenund<br />

cremefarbener Sahnewölkchen auf einem weiten, orangefarbenen<br />

Himmel. Ringsherum ragten die Türme und Giebel<br />

von Oxford auf; im Westen und Osten erstreckten sich die<br />

Wälder von Château-Vert und White Ham. Irgendwo<br />

krächzten Raben und läuteten Glocken, und von den Ochsenställen<br />

her kündigte der stete Takt eines Gasmotors den Aufstieg<br />

des Abendzeppelins mit der Post für London an. Lyra<br />

beobachtete, wie er sich jenseits der Turmspitze der St.<br />

Michael’s Chapel entfernte, zunächst noch so groß wie das<br />

oberste Glied ihres kleinen Fingers, wenn sie ihn auf Armlänge<br />

von sich wegstreckte, dann immer kleiner, bis er nur noch ein<br />

Punkt am perlmuttfarbenen Himmel war.<br />

Sie wandte sich ab und sah in den dunkel werdenden Hof<br />

hinunter. Einzeln oder zu zweit strebten die schwarzgekleideten<br />

Gestalten der Wissenschaftler dem Speisesaal zu; ihre<br />

Dæmonen trotteten oder flatterten neben ihnen her oder hockten<br />

ruhig auf ihren Schultern. Im Speisesaal gingen die Lichter<br />

an; nach und nach begannen die bunten Glasfenster zu leuchten,<br />

als die Diener die Tische entlanggingen und die Naphthalampen<br />

anzündeten. Die Klingel des Stewards verkündete, daß<br />

es noch eine halbe Stunde bis zum Abendessen war.<br />

Das war ihre Welt. Lyra wollte, daß sie in alle Ewigkeit so<br />

blieb, aber sie änderte sich, denn da draußen entführte jemand<br />

Kinder. Das Kinn in die Hände gestützt, saß sie auf dem Dachfirst.<br />

»Wir müssen ihn retten, Pantalaimon«, sagte sie.<br />

Er antwortete mit seiner krächzenden Rabenstimme vom<br />

Schornstein. »Das ist gefährlich.«<br />

73


»Natürlich! Weiß ich doch.«<br />

»Denk dran, wovon im Ruhezimmer die Rede war.«<br />

»Wovon?«<br />

»Von einem Kind in der Arktis. Einem Kind, das keinen<br />

Staub anzog.«<br />

»Einem ganzen Kind, wie die Wissenschaftler sagten… Was<br />

heißt das?«<br />

»Vielleicht haben sie mit Roger, den Gyptern und den anderen<br />

Kindern dasselbe vor.«<br />

»Was?«<br />

»Na ja, was bedeutet ganz?«<br />

»Weiß ich doch nicht. Wahrscheinlich schneiden sie sie in<br />

der Mitte auseinander. Ich glaube, sie machen sie zu Sklaven.<br />

Das wäre viel nützlicher. Wahrscheinlich haben sie da oben<br />

Minen. Uranminen für Atomkraftwerke. Ich wette, das ist es.<br />

Und wenn sie Erwachsene in die Minen schicken, sind sie tot,<br />

also nehmen sie lieber Kinder, weil die weniger kosten. Das<br />

machen sie mit Roger.«<br />

»Ich glaube…«<br />

Aber was Pantalaimon glaubte, mußte warten, denn in diesem<br />

Augenblick begann von unten jemand zu rufen.<br />

»Lyra! Lyra! Komm sofort runter!«<br />

Jemand schlug an den Fensterrahmen. Lyra kannte die ungeduldige<br />

Stimme: Sie gehörte Mrs. Lonsdale, der Haushälterin.<br />

Vor ihr gab es kein Versteck.<br />

Mit ärgerlichem Gesicht rutschte Lyra das Dach hinunter<br />

und in die Regenrinne und stieg wieder durch das Fenster. Mrs.<br />

Lonsdale ließ gerade Wasser in das kleine, schartige Waschbekken<br />

laufen, und die Wasserrohre stöhnten und hämmerten.<br />

»Wie oft ich dir schon gesagt habe, du sollst nicht aufs Dach<br />

klettern… Sieh dich an! Sieh deinen Rock an — schmutzig von<br />

oben bis unten! Zieh ihn sofort aus und wasch dich, während<br />

ich nach etwas Anständigem zum Anziehen suche, das nicht<br />

74


zerrissen ist. Warum mußt du dich auch immer schmutzig<br />

machen…«<br />

Lyra war so beleidigt, daß sie gar nicht fragte, warum sie sich<br />

waschen und umziehen sollte, und Erwachsene begründeten<br />

nie etwas freiwillig. Sie zog sich das Kleid über den Kopf, ließ es<br />

auf das schmale Bett fallen und begann lustlos, sich zu waschen,<br />

während Pantalaimon in Gestalt eines Kanarienvogels auf Mrs.<br />

Lonsdales Dæmon, einen stattlichen Retriever, zuhüpfte und<br />

vergeblich versuchte, ihn zu ärgern.<br />

»Sieh dir diese Kleider an. Du hast seit Wochen nichts mehr<br />

aufgehängt! Sieh nur die Falten in diesem…«<br />

Sieh dies, sieh das… Lyra wollte gar nichts sehen. Sie schloß<br />

die Augen und trocknete sich mit dem dünnen Handtuch das<br />

Gesicht ab.<br />

»Dann mußt du es eben anziehen, wie es ist. Zeit zum Bügeln<br />

haben wir nicht mehr. Ach du meine Güte, Mädchen, deine<br />

Knie — sieh sie dir an…«<br />

»Ich will überhaupt nichts sehen«, murmelte Lyra.<br />

Mrs. Lonsdale gab ihr einen Klaps auf das Bein. »Du wäschst<br />

dich«, sagte sie streng, »bis du ganz sauber bist.«<br />

»Warum denn?« fragte Lyra. »Ich wasche meine Knie doch<br />

sonst auch nie. Niemand sieht sie. Wozu muß ich das alles tun?<br />

Dir ist Roger ja auch egal, genauso wie denen aus der Küche. Ich<br />

bin die einzige, die…«<br />

Sie bekam einen Klaps auf das andere Bein.<br />

»Hör auf mit dem Unsinn. Ich bin eine Parslow, genau wie<br />

Rogers Vater. Er ist mein Cousin zweiten Grades. Ich wette, du<br />

weißt das nicht, weil du natürlich nie gefragt hast, mein Fräulein.<br />

Ich wette, du wärst nie von selbst daraufgekommen. Also<br />

wirf mir nicht vor, der Junge wäre mir egal. Weiß Gott, ich<br />

sorge mich ja sogar um dich, obwohl du das eigentlich nicht<br />

verdienst und nur undankbar bist.«<br />

Sie griff nach dem Waschlappen und rubbelte Lyras Knie so<br />

75


heftig damit ab, daß die Haut schließlich rot und wund, aber<br />

sauber war.<br />

»<strong>Der</strong> Grund für das Waschen ist, daß du mit dem Rektor und<br />

seinen Gästen zu Abend essen wirst. Ich bete zu Gott, du<br />

benimmst dich anständig. Sprich nur, wenn du angesprochen<br />

wirst, sei höflich und nett und lächle freundlich. Und daß du<br />

mir nicht Weiß nich sagst, wenn man dich etwas fragt.«<br />

Mrs. Lonsdale zog das beste Kleid, das sie hatte finden können,<br />

über Lyras mageren Körper und zupfte daran, bis es glatt<br />

hing. Dann fischte sie aus dem Chaos einer Schublade ein rotes<br />

Band und kämmte Lyras Haare mit einer groben Bürste.<br />

»Wenn ich früher davon erfahren hätte, hätte ich deine<br />

Haare gründlich gewaschen. Tja, zu spät. Solange man nicht zu<br />

genau hinsieht… So, jetzt steh gerade. Wo sind deine Lackschuhe?«<br />

Fünf Minuten später klopfte Lyra an die Tür der Rektorswohnung,<br />

die in einem weitläufigen und etwas düsteren Haus<br />

lag, das sich zum Yaxley Quadrangle hin öffnete und mit der<br />

Rückseite an den Garten der Bibliothek grenzte. Pantalaimon,<br />

zur Feier des Tages ein Hermelin, rieb sich an ihrem Bein. Die<br />

Tür wurde von Cousins, dem Diener des Rektors, geöffnet,<br />

einem alten Feind Lyras, der freilich genauso wie sie wußte, daß<br />

bis auf weiteres Waffenstillstand zwischen ihnen herrschte.<br />

»Mrs. Lonsdale sagte, ich solle kommen«, sagte Lyra.<br />

»Ja«, nickte Cousins und trat zur Seite. »<strong>Der</strong> Rektor ist im<br />

Salon.«<br />

Er führte Lyra in ein großes Zimmer mit Blick in den Bibliotheksgarten.<br />

Die Abendsonne schien durch die Lücke zwischen<br />

Bibliothek und Palmer-Turm herein und beleuchtete die<br />

schweren Bilder und das düstere Silber, das der Rektor sammelte.<br />

Sie schien auch auf die Gäste, und jetzt verstand Lyra,<br />

warum sie nicht im Speisesaal aßen: Drei der Gäste waren<br />

Frauen.<br />

76


»Ah, Lyra«, sagte der Rektor, »schön, daß du kommen konntest.<br />

Cousins, bringen Sie Lyra etwas zu trinken. Dame Hannah,<br />

ich glaube nicht, daß Sie Lyra kennen… Lord Asriels Nichte,<br />

wie Sie vielleicht wissen.«<br />

Dame Hannah Reif, eine ältere, grauhaarige Frau, deren<br />

Dæmon ein Krallenaffe war, leitete eines der Frauen-Colleges.<br />

Lyra gab ihr so höflich, wie sie konnte, die Hand, dann wurde<br />

sie den anderen Gästen vorgestellt, die wie Dame Hannah Wissenschaftler<br />

anderer Colleges waren und damit für Lyra völlig<br />

uninteressant. Dann kam der Rektor zu seinem letzten Gast.<br />

»Mrs. Coulter«, sagte er, »das ist unsere Lyra. Lyra, komm<br />

und sage Mrs. Coulter guten Tag.«<br />

»Guten Tag, Lyra«, sagte Mrs. Coulter.<br />

Sie war wunderschön und jung. Schwarzglänzendes Haar<br />

umrahmte ihre Wangen, und ihr Dæmon war ein <strong>goldene</strong>r<br />

Affe.<br />

77


Vier<br />

Das Alethiometer<br />

»Ich hoffe, du sitzt beim Essen neben mir«, sagte Mrs. Coulter<br />

und machte auf dem Sofa Platz für Lyra. »Ich bin vornehme<br />

Rektorswohnungen nämlich nicht gewohnt. Du mußt mir zeigen,<br />

welches Messer und welche Gabel ich nehmen muß.«<br />

»Sind Sie Wissenschaftlerin?« fragte Lyra. Als Angehörige<br />

von Jordan betrachtete sie weibliche Wissenschaftler mit Verachtung:<br />

Es gab sie zwar, die armen Dinger, aber man konnte sie<br />

genausowenig ernst nehmen wie aufgeputzte, dressierte Tiere.<br />

Mrs. Coulter allerdings glich den Wissenschaftlerinnen, die<br />

Lyra kannte, nicht im entferntesten und schon gar nicht den<br />

beiden anderen geladenen Frauen, zwei ernsten, älteren<br />

Damen. Schon ganz unter dem Bann von Mrs. Coulters Ausstrahlung,<br />

erwartete Lyra von vornherein ein Nein auf ihre<br />

Frage. Sie konnte kaum die Augen von ihr abwenden.<br />

»Eigentlich nicht«, sagte Mrs. Coulter. »Ich bin zwar Mitglied<br />

von Dame Hannahs College, aber ich arbeite überwiegend<br />

außerhalb von Oxford… Aber erzähle mir von dir, Lyra. Lebst<br />

du schon immer hier in Jordan College?«<br />

In fünf Minuten hatte Lyra alles über ihr wildes Leben<br />

erzählt, über die Klettertouren über die Dächer, über die<br />

Kämpfe in den Lehmgruben, darüber, wie sie und Roger einmal<br />

einen Raben gefangen und gebraten hatten, über ihren<br />

78


Plan, ein Flußboot von den Gyptern zu kapern und damit nach<br />

Abingdon zu fahren, und so weiter. Lyra erzählte ihr sogar, nach<br />

einem Blick auf die anderen Gäste, mit gesenkter Stimme, was<br />

sie und Roger mit den Schädeln in der Krypta angestellt hatten.<br />

»Und die Geister kamen wirklich, sie kamen ohne ihre<br />

Köpfe in mein Schlafzimmer! Sie konnten nicht sprechen, sondern<br />

nur eine Art gurgelndes Geräusch machen, aber ich wußte<br />

genau, was sie wollten. Gleich am nächsten Tag stieg ich wieder<br />

hinunter und legte die Münzen zurück. Wahrscheinlich hätten<br />

sie mich sonst umgebracht.«<br />

»Du hast wohl gar keine Angst vor Gefahr, oder?« fragte Mrs.<br />

Coulter bewundernd. Inzwischen war das Essen aufgetragen<br />

worden, und sie saßen, wie Mrs. Coulter gehofft hatte, nebeneinander.<br />

Den Bibliothekar auf ihrer anderen Seite beachtete<br />

Lyra überhaupt nicht; sie sprach die ganze Mahlzeit über nur<br />

mit Mrs. Coulter.<br />

Als die Damen sich zum Kaffee zurückzogen, fragte Dame<br />

Hannah: »Sag mal, Lyra — kommst du eigentlich bald in die<br />

Schule?«<br />

Lyra sah sie verständnislos an. »Ich — ich weiß nicht«, erwiderte<br />

sie. »Wahrscheinlich nicht«, fügte sie sicherheitshalber<br />

hinzu. Und dann sagte sie noch artig: »Ich möchte auch keine<br />

Umstände machen. Oder Geld kosten. Es ist wohl besser, ich<br />

bleibe hier in Jordan und die Wissenschaftler unterrichten<br />

mich, wenn sie gerade Zeit haben. Die sind ja sowieso hier, da<br />

kosten sie wahrscheinlich nichts.«<br />

»Und hat dein Onkel Asriel irgendwelche Pläne mit dir?«<br />

fragte die andere Frau, die Wissenschaftlerin am anderen<br />

Frauen-College war.<br />

»Ja«, sagte Lyra, »das nehme ich schon an. Aber nicht die<br />

Schule. Er will mich in den Norden mitnehmen, wenn er das<br />

nächste Mal hinfährt.«<br />

»Das hat er mir auch gesagt«, sagte Mrs. Coulter.<br />

79


Lyra starrte sie erstaunt an. Die beiden Wissenschaftlerinnen<br />

zuckten kaum merklich zusammen, während ihre Dæmonen,<br />

ob nun gut erzogen oder einfach träge, einander lediglich für<br />

einen Moment ansahen.<br />

»Ich habe ihn im Royal Arctic Institute kennengelernt«, fuhr<br />

Mrs. Coulter fort. Ȇbrigens bin ich heute abend auch aufgrund<br />

dieser Begegnung hier.«<br />

»Machen Sie auch Entdeckungsreisen?« fragte Lyra.<br />

»In gewisser Weise, ja. Ich war bereits mehrere Male im Norden.<br />

Letztes Jahr habe ich drei Monate auf Grönland verbracht<br />

und Beobachtungen der Aurora angestellt.«<br />

Das war genug: von nun an existierte nichts und niemand<br />

anders mehr für Lyra. Anbetend hing ihr Blick an Mrs. Coulter,<br />

und sie lauschte mit stummer Begeisterung, wie diese Iglus<br />

gebaut, Seehunde gejagt und mit den lappländischen Hexen<br />

verhandelt hatte. Die beiden Wissenschaftlerinnen hatten<br />

nichts ähnlich Aufregendes zu berichten und schwiegen, bis die<br />

Männer hereinkamen.<br />

Später, als die Gäste sich verabschiedeten, sagte der Rektor:<br />

»Bleib noch da, Lyra. Ich möchte kurz etwas mit dir besprechen.<br />

Setz dich in mein Arbeitszimmer und warte auf mich.«<br />

Verwundert, müde und aufgedreht gehorchte Lyra. Cousins,<br />

der Diener des Rektors, führte sie in das Arbeitszimmer. Die<br />

Tür ließ er demonstrativ offen, damit er vom Flur aus sehen<br />

konnte, was sie machte, während er den Gästen in ihre Mäntel<br />

half. Lyra hielt nach Mrs. Coulter Ausschau, sah sie aber nicht<br />

mehr, und dann trat der Rektor ins Zimmer und schloß die Tür.<br />

Schwer ließ er sich in den Sessel am Feuer fallen. Sein<br />

Dæmon flog auf die Lehne und setzte sich neben seinen Kopf,<br />

die alten Augen unter den schweren Lidern waren auf Lyra<br />

gerichtet. Die Lampe zischte leise. Dann sprach der Rektor.<br />

»Also Lyra, du hast dich mit Mrs. Coulter unterhalten. War es<br />

interessant?«<br />

80


»Ja!«<br />

»Sie ist eine bemerkenswerte Dame.«<br />

»Sie ist toll. Sie ist der tollste Mensch, den ich kenne.«<br />

<strong>Der</strong> Rektor seufzte. In seinem schwarzen Anzug und der<br />

schwarzen Krawatte sah er seinem Dæmon zum Verwechseln<br />

ähnlich, und Lyra mußte auf einmal daran denken, daß man ihn<br />

womöglich schon bald in der Krypta unter dem Bethaus begraben<br />

würde; ein Künstler würde das Bild seines Dæmons auf die<br />

Messingplakette des Sarges gravieren, und darunter würden<br />

nebeneinander die beiden Namen stehen.<br />

»Ich hätte schon früher mit dir reden sollen, Lyra«, fuhr der<br />

Rektor schließlich fort. »Ich hatte es fest vor, aber jetzt scheint<br />

die Zeit knapper, als ich dachte. Du hast in Jordan ein behütetes<br />

Leben geführt, Liebes. Ich glaube, du warst glücklich. Es war<br />

nicht leicht für dich, uns zu gehorchen, aber wir haben dich<br />

sehr lieb, und du bist ein gutes Kind. Du hast ein aufrichtiges<br />

Herz, bist ein großes Mädchen, und du weißt, was du willst. Das<br />

alles wirst du brauchen. In der Welt draußen geschehen Dinge,<br />

vor denen ich dich gerne beschützt hätte — ich meine, indem<br />

ich dich hier in Jordan behalte —, aber das ist nun nicht länger<br />

möglich.«<br />

Lyra starrte den Rektor verständnislos an. Wollte man sie<br />

wegschicken?<br />

»Du weißt, daß du eines Tages zur Schule gehen mußt«, fuhr<br />

der Rektor fort. »Zwar haben wir dich hier in einigen Dingen<br />

unterrichtet, aber weder gut noch systematisch. Was wir hier<br />

wissen, ist etwas anderes. Du mußt Dinge lernen, die ältere<br />

Männer dir nicht beibringen können, zumal in deinem Alter.<br />

Das hast du sicher auch schon gemerkt. Außerdem bist du nicht<br />

das Kind eines Dieners; deshalb konnten wir dich nicht in eine<br />

Familie aus der Stadt geben, damit sie dich großzieht. Eine solche<br />

Familie hätte in mancher Hinsicht für dich sorgen können,<br />

aber du hast auch noch andere Bedürfnisse. Was ich also sagen<br />

81


will, Lyra, ist, daß der Teil deines Lebens, den du in Jordan College<br />

verbracht hast, sich dem Ende nähert.«<br />

»Nein«, sagte sie, »nein, ich will nicht von Jordan weg. Mir<br />

gefällt es hier. Ich will immer hier bleiben.«<br />

»Wenn man jung ist, glaubt man, daß alles ewig dauert. Leider<br />

ist es nicht so. Lyra, es dauert höchstens noch ein paar Jahre,<br />

und du bist kein Kind mehr, sondern eine junge Frau. Eine<br />

junge Dame. Und glaube mir, dann wird es dir in Jordan College<br />

überhaupt nicht mehr gefallen.«<br />

»Aber es ist mein Zuhause!«<br />

»Es war dein Zuhause. Jetzt brauchst du etwas anderes.«<br />

»Aber nicht die Schule. Ich geh nicht zur Schule.«<br />

»Du brauchst weibliche Gesellschaft. Die Anleitung einer<br />

Frau.«<br />

Bei dem Wort weiblich mußte Lyra sofort an Wissenschaftlerinnen<br />

denken, und sie schnitt unwillkürlich eine Grimasse.<br />

Das berühmte College verlassen zu müssen, seinen Glanz und<br />

seine berühmten Gelehrten, um in ein schäbiges, aus Ziegeln<br />

erbautes Internat im Norden Oxfords zu ziehen, wo langweilige<br />

Lehrerinnen unterrichteten, die wie die beiden Wissenschaftlerinnen<br />

beim Abendessen nach Kohl und Mottenkugeln<br />

rochen!<br />

<strong>Der</strong> Rektor sah ihr Gesicht und Pantalaimons rot blitzende<br />

Iltisaugen.<br />

»Und wenn diese Frau Mrs. Coulter wäre?«<br />

Schlagartig verwandelten sich die braunen Borsten von Pantalaimons<br />

Fell in weißen Flaum. Lyra riß die Augen auf.<br />

»Wirklich?«<br />

»Sie ist zufällig mit Lord Asriel bekannt. Deinem Onkel liegt<br />

dein Wohl natürlich sehr am Herzen, und als Mrs. Coulter von<br />

dir hörte, bot sie sofort ihre Hilfe an. Es gibt übrigens keinen<br />

Mr. Coulter, sie ist Witwe. Ihr Mann starb bei einem tragischen<br />

Unfall vor einigen Jahren. Denk bitte daran, ehe du sie fragst.«<br />

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Lyra nickte eifrig. Dann sagte sie: »Und sie will sich wirklich…<br />

um mich kümmern?«<br />

»Hättest du das gern?«<br />

»Ja!«<br />

Sie konnte kaum noch stillsitzen. <strong>Der</strong> Rektor lächelte. Er<br />

lächelte so selten, daß er ganz außer Übung war, und wer ihn<br />

gesehen hätte — Lyra hatte dafür jetzt keinen Blick —, hätte es<br />

eher für eine traurige Grimasse gehalten.<br />

»Ja, dann holen wir sie doch herein und besprechen das mit<br />

ihr«, sagte er.<br />

Er ging aus dem Zimmer, und als er wenige Augenblicke<br />

später mit Mrs. Coulter zurückkehrte, war Lyra aufgestanden,<br />

weil sie vor Aufregung nicht mehr sitzen konnte. Mrs. Coulter<br />

lächelte, und ihr Dæmon entblößte seine weißen Zähne zu<br />

einem koboldhaften Grinsen. Als Mrs. Coulter auf dem Weg<br />

zum Sessel an Lyra vorbeikam, strich sie ihr kurz über die<br />

Haare, und Lyra spürte, wie es sie warm durchlief, und wurde<br />

rot.<br />

<strong>Der</strong> Rektor schenkte Mrs. Coulter ein Glas Branntwein ein,<br />

dann sagte sie: »Dann bekomme ich also eine Assistentin, Lyra,<br />

ja?«<br />

»Ja«, sagte Lyra nur. Sie hätte zu allem ja gesagt.<br />

»Es gibt viel Arbeit, für die ich Hilfe brauche.«<br />

»Ich kann viel arbeiten!«<br />

»Und vielleicht müssen wir auch reisen.«<br />

»Das macht mir nichts. Ich komme überallhin mit.«<br />

»Aber es könnte gefährlich sein. Vielleicht müssen wir in den<br />

Norden.«<br />

Lyra war sprachlos. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder.<br />

»Bald?«<br />

Mrs. Coulter lachte und sagte: »Möglich. Aber du wirst sehr<br />

hart dafür arbeiten müssen. Du mußt Mathematik, Navigation<br />

und Himmelsgeographie lernen.«<br />

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»Werden Sie mich unterrichten?«<br />

»Ja. Und du wirst mir bei meinen Aufzeichnungen helfen,<br />

meine Unterlagen für mich ordnen, verschiedene grundlegende<br />

Berechnungen anstellen und so weiter. Und wir werden<br />

einige wichtige Leute besuchen, wir müssen also ein paar<br />

schöne Kleider für dich kaufen. Du mußt eine Menge lernen,<br />

Lyra.«<br />

»Das macht nichts. Ich will alles lernen.«<br />

»Natürlich willst du das. Wenn du nach Jordan College<br />

zurückkommst, wirst du eine berühmte, weitgereiste Frau sein.<br />

Morgen müssen wir in aller Frühe aufbrechen, mit dem ersten<br />

Morgenzeppelin, deshalb gehst du jetzt besser gleich ins Bett.<br />

Dann also bis zum Frühstück. Gute Nacht!«<br />

»Gute Nacht«, sagte Lyra. An der Tür fiel ihr eine der wenigen<br />

Umgangsformen ein, die sie gelernt hatte, und sie drehte<br />

sich noch einmal um. »Gute Nacht, Rektor.«<br />

Er nickte. »Schlaf gut.«<br />

»Und danke«, fügte Lyra an Mrs. Coulter gewandt hinzu.<br />

Sie schlief dann schließlich doch ein, obwohl Pantalaimon erst<br />

Ruhe gab, als sie ihn anfuhr, worauf er sich gekränkt in einen<br />

Igel verwandelte. Es war noch dunkel, als jemand sie wach<br />

rüttelte.<br />

»Lyra — pst! — erschrecke nicht — wach auf, Kind.«<br />

Es war Mrs. Lonsdale. In der Hand eine Kerze, stand sie über<br />

Lyra gebeugt und sprach ruhig auf sie ein, während sie sie<br />

zugleich mit ihrer freien Hand festhielt.<br />

»Hör zu. <strong>Der</strong> Rektor will dich sprechen, bevor ihr mit Mrs.<br />

Coulter frühstückt. Steh schnell auf und renn zu ihm hinüber.<br />

Geh in den Garten und klopfe an die Terrassentür des Arbeitszimmers.<br />

Hast du verstanden?«<br />

Hellwach und verwirrt nickte Lyra und schlüpfte barfuß in<br />

die Schuhe, die Mrs. Lonsdale vor sie hinstellte.<br />

84


»Du brauchst dich nicht zu waschen — das reicht später noch.<br />

Geh gleich runter und komm sofort wieder. Ich packe inzwischen<br />

deine Sachen und lege dir Kleider hin. Jetzt mach<br />

schnell.«<br />

<strong>Der</strong> Hof lag dunkel da. Die Nachduft war kühl, und am<br />

Himmel waren noch die letzten Sterne zu sehen, aber im Osten<br />

über dem Speisesaal kündigte bereits ein heller Schein den<br />

Morgen an. Lyra rannte in den Garten hinter der Bibliothek.<br />

Dort blieb sie einen Augenblick stehen, sog die tiefe Stille um<br />

sich ein und sah zu den steinernen Fialen der Kapelle, der perlmuttgrünen<br />

Kuppel des Sheldon-Gebäudes und der weiß<br />

gestrichenen Laterne der Bibliothek hinauf. All das mußte sie<br />

jetzt verlassen. Ob sie es sehr vermissen würde?<br />

Hinter dem Fenster des Arbeitszimmers bewegte sich etwas,<br />

und einen kurzen Augenblick drang ein Lichtschein nach<br />

außen. Lyra fiel ein, warum sie gekommen war, und sie klopfte<br />

leise an die Glastür. Die Tür ging fast sofort auf.<br />

»Gutes Kind«, sagte der Rektor. »Komm schnell rein, wir<br />

haben nicht viel Zeit.« Sobald sie hineingeschlüpft war, zog er<br />

die Vorhänge wieder vor die Tür. Er war vollständig angezogen,<br />

wie üblich in Schwarz.<br />

»Reise ich doch nicht ab?« fragte Lyra.<br />

»Doch, ich kann es nicht verhindern«, erwiderte der Rektor,<br />

und Lyra fiel in ihrer Aufregung gar nicht auf, wie seltsam diese<br />

Worte waren. »Lyra, ich gebe dir jetzt etwas, aber du darfst niemandem<br />

davon erzählen. Versprichst du mir das ganz fest?«<br />

»Ja«, sagte Lyra.<br />

Er ging zum Schreibtisch und nahm aus einer Schublade ein<br />

kleines, in schwarzen Samt gewickeltes Päckchen. Er wickelte es<br />

aus, und zum Vorschein kam ein Gegenstand, der aussah wie<br />

eine große Armbanduhr, eine dicke Scheibe aus Messing und<br />

Kristall. Es hätte ein Kompaß oder etwas <strong>Der</strong>artiges sein<br />

können.<br />

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»Was ist das?« fragte sie.<br />

»Ein Alethiometer, eins der sechs, die je gemacht wurden.<br />

Lyra, ich bitte dich noch einmal: Sage niemandem etwas davon.<br />

Auch Mrs. Coulter darf nichts davon wissen. Dein Onkel…«<br />

»Aber wozu ist das gut?«<br />

»Es sagt dir die Wahrheit. Wie man es liest, mußt du allerdings<br />

selbst herausfinden. Jetzt geh — draußen wird es hell —<br />

geh schnell in dein Zimmer zurück, bevor dich jemand sieht.«<br />

Er faltete den Samt wieder über dem Instrument zusammen<br />

und drückte es Lyra in die Hand. Es war erstaunlich schwer.<br />

Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und hielt es einen<br />

Augenblick sanft fest.<br />

Sie versuchte, zu ihm aufzusehen und fragte: »Was wolltest<br />

du über Onkel Asriel sagen?«<br />

»Dein Onkel hat das Alethiometer vor einigen Jahren dem<br />

College geschenkt. Vielleicht hat er…«<br />

Bevor er den Satz beenden konnte, ertönte ein leises, aber<br />

dringliches Klopfen an der Tür. Lyra spürte, wie seine Hände<br />

unwillkürlich zuckten.<br />

»Schnell jetzt, Kind«, sagte er ruhig. »Die Mächte dieser Welt<br />

sind stark. Männer und Frauen sind Gezeiten ausgeliefert, die<br />

viel gewaltiger sind, als du dir vorstellen kannst, und ihr Sog<br />

zieht uns alle in die Strömung hinein. Leb wohl, Lyra, und alles<br />

Gute, Kind, alles Gute. Paß auf dich auf.«<br />

»Danke, Rektor«, sagte sie artig.<br />

Das Päckchen an die Brust gedrückt, verließ sie das Arbeitszimmer<br />

durch die Gartentür. Als sie sich noch einmal kurz<br />

umdrehte, saß der Dæmon des Rektors auf dem Fenstersims<br />

und blickte ihr nach. Draußen wehte ein frischer Luftzug.<br />

»Was hast du da?« fragte Mrs. Lonsdale und drückte den<br />

ramponierten kleinen Koffer mit einem Klicken zu.<br />

»Das hat der Rektor mir gegeben. Paßt es nicht mehr in den<br />

Koffer?«<br />

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»Zu spät, ich mache ihn jetzt nicht mehr auf. Steck es in die<br />

Manteltasche, egal, was es ist. Und jetzt marsch in den Speisesaal.<br />

Laß die anderen nicht warten…«<br />

Erst später, nachdem sie sich von den wenigen Dienern, die<br />

schon auf waren, und von Mrs. Lonsdale verabschiedet hatte,<br />

fiel ihr Roger ein. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie<br />

seit der Begegnung mit Mrs. Coulter kein einziges Mal an ihn<br />

gedacht hatte. Wie schnell alles passiert war.<br />

Und jetzt war sie auf dem Weg nach London, auf einem Fensterplatz<br />

im Zeppelin, und Pantalaimons Hermelinpfoten mit<br />

ihren scharfen kleinen Krallen bohrten sich in ihre Schenkel,<br />

während er die Vorderpfoten an die Scheibe stützte, um hinauszusehen.<br />

Auf der anderen Seite von Lyra saß Mrs. Coulter. Sie<br />

las zunächst noch in einigen Papieren, legte sie allerdings bald<br />

weg, um sich mit Lyra zu unterhalten. Wie brillant sie redete!<br />

Lyra war wie berauscht.<br />

Diesmal war das Thema nicht der Norden, sondern London<br />

mit seinen Restaurants und Ballsälen, den abendlichen<br />

Empfängen in Botschaften und Ministerien und den Intrigen<br />

zwischen White Hall und Westminster. All das faszinierte<br />

Lyra fast noch mehr als die Landschaft, die unter ihnen<br />

dahinglitt. Was Mrs. Coulter sagte, war so erwachsen, so aufregend<br />

und verlockend zugleich; aus ihren Worten sprach der<br />

Glanz der großen Welt.<br />

Dann die Landung in Falkeshall Gardens, die Fahrt mit dem<br />

Boot über den breiten, braunen Fluß, das imposante Gebäude<br />

am anderen Ufer mit dem livrierten Pförtner, der Mrs. Coulter<br />

grüßte und Lyra zuzwinkerte, die sprachlos zu ihm hinaufstarrte…<br />

Und dann die Wohnung…<br />

Lyra schnappte nach Luft.<br />

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Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon viele schöne Dinge<br />

gesehen, aber es war immer die Schönheit von Jordan College,<br />

von Oxford gewesen — großartig, steinern und männlich. In<br />

Jordan College war zwar vieles prächtig, aber nichts hübsch. In<br />

Mrs. Coulters Wohnung war dagegen alles hübsch. Die Zimmer<br />

waren lichtdurchflutet, denn die breiten Fenster gingen<br />

nach Süden, und die Wände waren mit feinen, gold-weiß<br />

gestreiften Tapeten bedeckt. Dazu kamen wunderschöne Bilder<br />

in <strong>goldene</strong>n Rahmen, ein antiker Spiegel, originelle Wandlampen<br />

mit anbarischen Birnen unter fransengesäumten Schirmen,<br />

Kissen, die ebenfalls mit Fransen besetzt waren, Volants mit<br />

Blumenmustern über den Gardinenstangen und auf dem<br />

Boden ein lindgrüner Teppich mit Blattmuster. Und auf jeder<br />

verfügbaren freien Fläche, so schien es Lyras unschuldigem<br />

Auge, standen verspielte kleine Kästchen, Schäferinnen und<br />

Harlekins aus Porzellan.<br />

Mrs. Coulter lächelte, als sie Lyra sah.<br />

»Ja, Lyra«, sagte sie, »ich muß dir so viel zeigen! Zieh den<br />

Mantel aus und komm mit ins Bad. Dort kannst du dich<br />

waschen, und dann essen wir etwas und gehen einkaufen…«<br />

Das Badezimmer war ein weiteres Wunder. Lyra war es<br />

gewohnt, sich mit harter, gelber Seife zu waschen, an einem<br />

zerkratzten Waschbecken, aus dessen Hähnen bestenfalls lauwarmes<br />

Wasser kam, oft braun vor Rost. Hier dagegen war das<br />

Wasser heiß, die Seife rosarot und duftend und die Handtücher<br />

dick und flauschig. Um den Spiegel aus Rauchglas liefen kleine<br />

rosa Lämpchen, so daß Lyra jedesmal, wenn sie hineinsah, in<br />

dem weichen Licht ein Gesicht erblickte, das der Lyra, die sie<br />

kannte, überhaupt nicht ähnelte.<br />

Pantalaimon, der Mrs. Coulters Dæmon nachahmte und sich<br />

in einen Affen verwandelt hatte, hockte auf der Kante des<br />

Waschbeckens und schnitt Grimassen. Lyra schubste ihn in das<br />

seifige Wasser, und dann fiel ihr plötzlich das Alethiometer in<br />

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ihrer Manteltasche ein. Sie hatte den Mantel auf einem Stuhl im<br />

anderen Zimmer liegenlassen. Dabei hatte sie dem Rektor versprochen,<br />

das Instrument auch vor Mrs. Coulter geheimzuhalten…<br />

Alles war so verwirrend! Mrs. Coulter war so nett und klug,<br />

wohingegen Lyra mit eigenen Augen gesehen hatte, wie der<br />

Rektor versucht hatte, ihren Onkel zu vergiften. Wem schuldete<br />

sie mehr Gehorsam?<br />

Sie trocknete sich hastig ab und eilte ins Wohnzimmer<br />

zurück. Natürlich lag ihr Mantel noch unberührt an derselben<br />

Stelle.<br />

»Fertig?« fragte Mrs. Coulter. »Ich schlage vor, wir essen im<br />

Royal Arctic Institute zu Mittag. Ich bin eines der ganz wenigen<br />

weiblichen Mitglieder des Instituts, ich kann meine Privilegien<br />

also ruhig einmal in Anspruch nehmen.«<br />

Ein zwanzigminütiger Spaziergang brachte sie zu einem<br />

Gebäude mit einer imposanten steinernen Fassade. Dort saßen<br />

sie in einem weitläufigen Speisesaal, dessen Tische mit schneeweißen<br />

Tischtüchern und glänzendem Silber gedeckt waren,<br />

und aßen Kalbsleber und Speck.<br />

»Gegen Kalbsleber ist nichts einzuwenden«, sagte Mrs. Coulter,<br />

»und auch nicht gegen Seehundleber. Aber wenn du in der<br />

Arktis Hunger hast, darfst du auf keinen Fall Bärenleber essen.<br />

Die ist so giftig, daß du in wenigen Minuten daran stirbst.«<br />

Während des Essens machte Mrs. Coulter Lyra auf einige<br />

Institutsmitglieder an den anderen Tischen aufmerksam.<br />

»Siehst du den älteren Herrn mit der roten Krawatte? Das ist<br />

Colonel Carborn. Er war der erste, der mit einem Ballon über<br />

den Nordpol geflogen ist. Und der große Mann am Fenster, der<br />

gerade aufsteht, ist Dr. Broken Arrow.«<br />

»Ist er ein Skräling?«<br />

»Ja. Er hat die Meeresströmungen im Großen Nordmeer vermessen…«<br />

89


Lyra sah sie sich mit einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht<br />

genau an, die großen Männer. Natürlich waren sie Wissenschaftler,<br />

aber zugleich Entdecker. Dr. Broken Arrow wußte<br />

das mit der Bärenleber sicher auch, während Lyra bezweifelte,<br />

daß der Bibliothekar von Jordan College es wußte.<br />

Nach dem Essen zeigte Mrs. Coulter Lyra einige der wertvollen<br />

arktischen Exponate der Institutsbibliothek die Harpune,<br />

mit der man den legendären Wal Grimssdur getötet hatte, den<br />

Stein mit der Inschrift in einer unbekannten Sprache, den man<br />

in der Hand des einsam in seinem Zelt erfrorenen Entdeckers<br />

Lord Rukh gefunden hatte, und den Feuerschläger, den Captain<br />

Hudson auf seiner berühmten Reise nach Van-Tierens-<br />

Land benutzt hatte. Zu jedem Gegenstand erzählte Mrs. Coulter<br />

die entsprechende Geschichte, und Lyras Herz schlug höher,<br />

wenn sie an die tapferen Helden jener fernen Welt dachte.<br />

Dann gingen sie einkaufen. Alles an diesem außergewöhnlichen<br />

Tag war neu für Lyra, aber das Einkaufen war der Höhepunkt.<br />

In ein riesiges Kaufhaus voller schöner Kleider zu gehen,<br />

die man alle anprobieren durfte und wo man sich im Spiegel<br />

ansehen konnte… Und ein Kleid schöner als das andere… Bisher<br />

hatte immer Mrs. Lonsdale Lyras Kleider ausgesucht, Kleider,<br />

die oft gebraucht und vielfach geflickt waren. Lyra hatte<br />

fast nie etwas Neues bekommen, und wenn doch, dann weil es<br />

praktisch war, nicht weil es gut aussah. Selbst hatte sie nie auswählen<br />

dürfen. Und jetzt zeigte ihr Mrs. Coulter dies und lobte<br />

das und zahlte für alles und mehr…<br />

Als sie fertig waren, war Lyra rot im Gesicht und hatte glänzende<br />

Augen vor Müdigkeit. Mrs. Coulter ließ die meisten<br />

Kleider einpacken und nachschicken und nahm nur ein, zwei<br />

Dinge gleich mit.<br />

Zurück in der Wohnung, folgte ein Bad mit dickem, duftendem<br />

Schaum. Mrs. Coulter kam ins Badezimmer, um Lyra die<br />

Haare zu waschen, aber sie rieb und kratzte dabei nicht wie Mrs.<br />

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Lonsdale. Sie war ganz sanft. Pantalaimon sah mit unbezähmbarer<br />

Neugier zu, bis Mrs. Coulter ihn ansah und er verstand<br />

und gesittet die Augen vor den weiblichen Geheimnissen niederschlug,<br />

wie es auch der <strong>goldene</strong> Affe tat. Bisher hatte er bei<br />

Lyra nie wegsehen müssen.<br />

Nach dem Bad bekam sie ein warmes Getränk aus Milch und<br />

Kräutern, ein neues Flanellnachthemd mit aufgedruckten Blumen<br />

und Festons und Pantoffeln aus taubenblau gefärbtem<br />

Schaffell. Und dann das Bett.<br />

Wie weich es war, dieses Bett! Und das sanfte anbarische<br />

Licht der Nachttischlampe! Und das Schlafzimmer so gemütlich<br />

mit kleinen Schränken, einem Ankleidetisch und einer<br />

Kommode für die neuen Kleider, einem Teppich, der den ganzen<br />

Boden bedeckte, und hübschen Vorhängen mit Sternen,<br />

Monden und Planeten! Lyra lag ganz steif da, zu müde zum<br />

Schlafen und so überwältigt, daß sie alles über sich ergehen<br />

ließ.<br />

Als Mrs. Coulter ihr leise gute Nacht gewünscht hatte und<br />

hinausgegangen war, zupfte Pantalaimon an Lyras Haaren. Sie<br />

schubste ihn weg, aber er flüsterte: »Wo ist das Ding?«<br />

Lyra wußte sofort, was er meinte; ihr alter schäbiger Mantel<br />

hing noch immer in der Garderobe. Wenige Sekunden später<br />

war sie wieder im Bett. Mit gekreuzten Beinen saß sie im Licht<br />

der Lampe, und Pantalaimon verfolgte aufmerksam, wie sie den<br />

schwarzen Samt zurückschlug und sich ansah, was der Rektor<br />

ihr gegeben hatte.<br />

»Wie hat er es genannt?« flüsterte sie.<br />

»Alethiometer.«<br />

Es war sinnlos, Pantalaimon zu fragen, was das bedeutete.<br />

Schwer lag das Instrument mit dem schimmernden Kristallglas<br />

und dem fein gearbeiteten Messinggehäuse in ihrer Hand. Es<br />

sah aus wie eine Uhr oder ein Kompaß, denn es hatte Zeiger, die<br />

auf dem Zifferblatt in verschiedene Richtungen zeigten, nur<br />

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daß statt der Stunden oder Himmelsrichtungen verschiedene<br />

kleine Bilder zu sehen waren, gemalt mit außergewöhnlicher<br />

Präzision wie mit einem ganz feinen und dünnen Marderhaarpinsel<br />

auf Elfenbein. Lyra drehte das Instrument in der Hand,<br />

um die Bilder nacheinander anzusehen. Es gab einen Anker,<br />

eine Sanduhr mit einem Schädel darüber, einen Stier, einen<br />

Bienenstock… insgesamt sechsunddreißig Bilder, aber sie hatte<br />

keine Vorstellung, was sie bedeuteten.<br />

»Sieh mal, da ist ein Rädchen«, sagte Pantalaimon. »Vielleicht<br />

kannst du das Ding damit aufziehen.«<br />

Das Alethiometer hatte drei kleine, gerillte Rädchen, und<br />

jedes von ihnen bewegte einen der drei kürzeren Zeiger, die<br />

dann mit einem leisen, präzisen Klicken um die Anzeige fuhren.<br />

Man konnte sie auf ein beliebiges Bild richten, und wenn<br />

sie bei dem Bild einrasteten und exakt auf dessen Mitte zeigten,<br />

bewegten sie sich nicht mehr.<br />

<strong>Der</strong> vierte Zeiger war länger und dünner und schien aus<br />

einem matteren Metall gemacht als die anderen. Seine Bewegung<br />

konnte Lyra überhaupt nicht beeinflussen; er schwang<br />

hierhin und dorthin wie eine Kompaßnadel, nur daß er sich<br />

nicht auf einen Punkt einpendelte.<br />

»Meter bedeutet Messen«, sagte Pantalaimon. »Wie in Thermometer.<br />

Das hat der Kaplan gesagt.«<br />

»Ja, das ist klar«, flüsterte Lyra zurück. »Aber wozu ist das<br />

Ding gut?«<br />

Sie hatten beide keine Ahnung. Lyra verbrachte lange Zeit<br />

damit, die Zeiger auf verschiedene Symbole wie Engel, Helm,<br />

Delphin, Kugel, Laute, Zirkel, Kerze, Blitz und Pferd zu richten<br />

und zuzusehen, wie die lange Nadel unaufhörlich hierhin und<br />

dorthin schwang, und obwohl sie nichts verstand, war sie fasziniert<br />

und begeistert vom Detailreichtum des Instruments. Pantalaimon<br />

verwandelte sich in eine Maus, um die Nadel aus<br />

nächster Nähe betrachten zu können, die kleinen Pfoten auf<br />

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den Rand der Kristallscheibe gestützt und die Knopfaugen<br />

schwarzglänzend vor Neugier.<br />

»Was, glaubst du, wollte der Rektor über Onkel Asriel<br />

sagen?«<br />

»Vielleicht, daß wir es sicher aufbewahren und ihm geben<br />

sollen.«<br />

»Aber der Rektor wollte ihn vergiften! Vielleicht meinte er<br />

das Gegenteil. Vielleicht wollte er sagen, wir sollten es ihm<br />

nicht geben.«<br />

»Nein«, sagte Pantalaimon, »wir sollen es von ihr fernhalten…«<br />

An der Tür klopfte es leise.<br />

»Lyra«, sagte Mrs. Coulter, »ich würde das Licht ausmachen,<br />

wenn ich du wäre. Du bist müde, und wir haben morgen viel<br />

vor.«<br />

Lyra hatte das Alethiometer mit einer schnellen Bewegung<br />

unter die Decke geschoben.<br />

»In Ordnung, Mrs. Coulter«, sagte sie.<br />

»Dann gute Nacht.«<br />

»Gute Nacht.«<br />

Sie kuschelte sich in die Decke und machte das Licht aus.<br />

Bevor sie einschlief, steckte sie noch das Alethiometer unter das<br />

Kopfkissen, nur für alle Fälle.<br />

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Fünf<br />

Die Cocktailparty<br />

In den folgenden Tagen begleitete Lyra Mrs. Coulter wie ein<br />

Dæmon überallhin. Mrs. Coulter kannte unendlich viele Leute,<br />

und sie begegneten ihnen an den verschiedensten Orten. Am<br />

Morgen hörte Lyra etwa bei einer Sitzung der Geographen des<br />

Royal Arctic Institute zu, zum Mittagessen war Mrs. Coulter<br />

dann in einem eleganten Restaurant mit einem Politiker oder<br />

Geistlichen verabredet. Alle waren entzückt von Lyra und<br />

bestellten ihr irgendwelche Leckereien, und sie lernte, wie man<br />

Spargel aß und wie Bries schmeckte. Am Nachmittag standen<br />

vielleicht weitere Einkäufe an, denn Mrs. Coulter brauchte für<br />

ihre Expedition Pelze, Ölzeug und wasserdichte Stiefel, ferner<br />

Schlafsäcke und Messer und, zu Lyras großen Begeisterung,<br />

Zeichenmaterial. Zum Tee traf man sich mit verschiedenen<br />

Damen, die genauso vornehm gekleidet waren wie Mrs. Coulter,<br />

wenn auch vielleicht nicht so schön oder gebildet; Frauen,<br />

die sich so sehr von den Wissenschaftlerinnen, gyptischen<br />

Bootsmüttern oder Collegeangestellten unterschieden, daß sie<br />

Lyra als ganz neues Geschlecht erschienen, ausgestattet mit verführerischen<br />

Kräften und Eigenschaften wie Eleganz, Charme<br />

und Anmut. Lyra wurde für diese Gelegenheiten fein herausgeputzt,<br />

und die Damen verwöhnten sie und schlossen sie in ihre<br />

geistreichen Gespräche ein, die ausschließlich um Menschen<br />

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kreisten: um diesen Künstler, jenen Politiker und jenen Liebhaber.<br />

Abends ging Mrs. Coulter mit Lyra etwa ins Theater, und<br />

dort begegneten sie wieder zahlreichen faszinierenden Menschen,<br />

mit denen man sich unterhielt und von denen man sich<br />

bewundern ließ. Mrs. Coulter schien alle wichtigen Persönlichkeiten<br />

von London zu kennen.<br />

In den Pausen zwischen all diesen Aktivitäten unterrichtete<br />

Mrs. Coulter Lyra in den Grundlagen der Geographie und<br />

Mathematik. Lyras Wissen hatte große Löcher, wie eine von<br />

Mäusen angeknabberte Weltkarte, denn sie hatte in Jordan keinen<br />

zusammenhängenden und systematischen Unterricht<br />

bekommen. Dort war ein junger Wissenschaftler beauftragt<br />

worden, sie einzufangen und in dem und dem Fach zu unterrichten,<br />

und die Unterrichtsstunden mochten sich eine langweilige<br />

Woche hinziehen, bis Lyra zur Erleichterung des Wissenschaftlers<br />

»vergaß«, zum Unterricht zu erscheinen. Oder der<br />

Wissenschaftler vergaß, in welchem Fach er Lyra unterrichten<br />

sollte, und nahm ausführlich das Thema seiner gegenwärtigen<br />

Forschungen durch, egal was das war. Es war kein Wunder, daß<br />

Lyras Wissen Stückwerk war. So wußte sie zwar von Atomen<br />

und Elementarteilchen, von anbaromagnetischen Ladungen<br />

und den vier Grundkräften und anderen vereinzelten Erscheinungen<br />

der experimentellen Theologie, aber nichts über das<br />

Sonnensystem. Als Mrs. Coulter ihr daraufhin erklärte, daß die<br />

Erde und fünf weitere Planeten sich um die Sonne drehten,<br />

hielt Lyra das für einen Witz und lachte laut.<br />

Sie wollte jedoch unbedingt zeigen, daß sie manches auch<br />

wußte, und als Mrs. Coulter von Elektronen anfing, sagte sie<br />

fachmännisch: »Das sind negativ geladene Teilchen. Eine Art<br />

Staub, nur daß Staub nicht geladen ist.«<br />

Sobald sie das gesagt hatte, fuhr der Kopf von Mrs. Coulters<br />

Dæmon hoch, und der Affe sah sie an, das <strong>goldene</strong> Fell<br />

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gesträubt, als sei es selbst geladen. Mrs. Coulter legte ihm die<br />

Hand auf den Rücken.<br />

»Staub?« sagte sie.<br />

»Ja, Sie wissen schon, der Staub aus dem Weltraum.«<br />

»Was weißt du davon, Lyra?«<br />

»Och, er kommt also aus dem Weltraum und läßt die Menschen<br />

leuchten, wenn man eine Spezialkamera hat, mit der man<br />

das sehen kann. Nur Kinder nicht. Bei Kindern wirkt er nicht.«<br />

»Woher weißt du das?«<br />

Jetzt spürte auch Lyra die starke Spannung, die im Zimmer<br />

herrschte, denn Pantalaimon war in Gestalt eines Hermelins auf<br />

ihren Schoß gekrochen und zitterte heftig.<br />

»Irgend jemand in Jordan«, sagte sie vage. »Ich weiß nicht<br />

mehr, wer. Ich glaube, es war einer der Wissenschaftler.«<br />

»Hast du es im Unterricht gehört?«<br />

»Ja, vielleicht. Oder ich habe es irgendwo aufgeschnappt. Ja,<br />

ich glaube, so war es. Dieser Wissenschaftler, ich glaube, er kam<br />

aus Neudänemark, er sprach mit dem Kaplan über Staub, und<br />

ich kam zufällig vorbei, und es klang interessant, also blieb ich<br />

stehen und hörte zu. So war es.«<br />

»Ach so«, sagte Mrs. Coulter.<br />

»Hat er mir das richtig erklärt? Oder habe ich es falsch verstanden?«<br />

»Hm, keine Ahnung. Ich bin überzeugt, du kennst dich da<br />

viel besser aus als ich. Aber zurück zu den Elektronen…«<br />

Später sagte Pantalaimon: »Weißt du noch, wie sich das Fell<br />

ihres Dæmons sträubte? Ich stand hinter ihm, und sie griff so<br />

fest hinein, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Du konntest es<br />

nicht sehen. Sein Fell blieb ganz lange gesträubt, und ich dachte<br />

schon, er wollte dich anspringen.«<br />

Es war seltsam, aber weder Lyra noch Pantalaimon wußten,<br />

was sie davon halten sollten.<br />

Neben dem eigentlichen Unterricht lernte Lyra auch andere<br />

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Dinge, aber auf so angenehme und geschickte Weise, daß sie es<br />

gar nicht als Unterricht empfand. Sie lernte, wie man sich die<br />

Haare wusch, welche Farben einem am besten standen, wie<br />

man etwas so charmant ablehnte, daß niemand gekränkt war,<br />

und wie man Lippenstift, Puder oder Parfüm auftrug. Mrs.<br />

Coulter sagte Lyra nicht, wie sie sich schminken sollte, aber sie<br />

wußte, daß Lyra sie beobachtete, wenn sie sich selbst zurechtmachte,<br />

und sie sorgte dafür, daß Lyra wußte, wo sie ihre Kosmetika<br />

aufbewahrte, und diese allein kennenlernen und ausprobieren<br />

konnte.<br />

Die Zeit verging, und aus Herbst wurde Winter. Ab und zu<br />

dachte Lyra noch an Jordan College, aber es erschien ihr klein<br />

und ruhig im Vergleich zu dem geschäftigen Leben, das sie jetzt<br />

führte. Manchmal dachte sie auch mit leichten Gewissensbissen<br />

an Roger, aber dann stand ein Opernbesuch, ein neues Kleid<br />

oder ein Besuch im Royal Arctic Institute auf dem Programm,<br />

und sie vergaß ihn wieder.<br />

Als ungefähr sechs Wochen vergangen waren, beschloß Mrs.<br />

Coulter, eine Cocktailparty zu veranstalten. Lyra hatte den Eindruck,<br />

daß es etwas zu feiern gab, obwohl Mrs. Coulter nicht<br />

sagte, was. Mrs. Coulter bestellte Blumen, sprach mit Lieferanten<br />

über Häppchen und Getränke und verbrachte einen ganzen<br />

Abend damit, zusammen mit Lyra die Gästeliste zu erstellen.<br />

»Den Erzbischof müssen wir einladen. Ich kann mir nicht<br />

leisten, ihn zu übergehen, obwohl er ein entsetzlicher Snob ist.<br />

Lord Boreal ist in der Stadt; er ist amüsant. Und Prinzessin Postnikova.<br />

Findest du, wir sollten Erik Andersson einladen? Ich<br />

frage mich, ob es nicht an der Zeit ist, ihn aufzunehmen…«<br />

Erik Andersson war ein sehr gefragter Tänzer. Lyra hatte<br />

zwar keine Ahnung, was mit »ihn aufnehmen« gemeint war,<br />

aber sie genoß es trotzdem, nach ihrer Meinung gefragt zu werden.<br />

Pflichtbewußt schrieb sie alle Namen auf, die Mrs. Coulter<br />

97


ihr vorschlug — ihre Rechtschreibung war fürchterlich —, und<br />

strich sie wieder durch, wenn Mrs. Coulter sich doch noch<br />

anders entschied.<br />

Als Lyra an diesem Abend zu Bett ging, flüsterte Pantalaimon<br />

aus dem Kissen: »Sie wird nie in den Norden fahren! Sie<br />

behält uns für immer hier. Wann laufen wir weg?«<br />

»Unsinn«, flüsterte Lyra zurück. »Du kannst sie nur nicht leiden.<br />

Dein Pech! Ich mag sie. Und warum sollte sie uns in Navigation<br />

und allem unterrichten, wenn sie nicht mit uns in den<br />

Norden fahren will?«<br />

»Damit du nicht ungeduldig wirst, deshalb. In Wirklichkeit<br />

willst du doch gar nicht artig und brav auf dieser Cocktailparty<br />

herumstehen. Sie macht einen Schoßhund aus dir.«<br />

Lyra drehte ihm den Rücken zu und schloß die Augen. Doch<br />

Pantalaimon hatte recht. So großartig das gesellschaftliche<br />

Leben war, das sie führte, sie fühlte sich dadurch eingeengt und<br />

eingesperrt. Sie hätte alles für einen Tag mit ihren Oxforder<br />

Spielkameraden gegeben, für eine Schlacht in den Lehmgruben<br />

und ein Wettrennen entlang des Kanals. Nur die quälende<br />

Hoffnung auf eine Reise in den Norden ließ sie weiterhin höflich<br />

und aufmerksam zu Mrs. Coulter sein. Vielleicht begegneten<br />

sie dort Lord Asriel. Vielleicht verliebten er und Mrs. Coulter<br />

sich ineinander und heirateten und adoptierten Lyra, und<br />

dann würden sie Roger aus der Hand der Gobbler befreien.<br />

Am Nachmittag der Cocktailparty ging Mrs. Coulter mit<br />

Lyra zu einem Modefriseur, der ihre widerspenstigen dunkelblonden<br />

Haare zu weichen Wellen fönte und ihre Fingernägel<br />

feilte und polierte; man zeigte ihr sogar, wie man etwas Makeup<br />

auf Augen und Lippen auftrug. Dann holten sie das neue<br />

Kleid ab, das Mrs. Coulter für Lyra bestellt hatte, und kauften<br />

ihr Lackschuhe, und dann war es auch schon Zeit, in die Wohnung<br />

zurückzukehren, nach den Blumenarrangements zu<br />

sehen und sich umzuziehen.<br />

98


»Nicht die Umhängetasche, Liebes«, sagte Mrs. Coulter, als<br />

Lyra voller Stolz auf ihr schönes Aussehen aus dem Schlafzimmer<br />

kam.<br />

Lyra hatte sich angewöhnt, eine kleine Umhängetasche aus<br />

weißem Leder überallhin mitzunehmen, um das Alethiometer<br />

immer in der Nähe zu haben. Mrs. Coulter zupfte gerade einige<br />

zu eng in eine Vase gestopfte Rosen zurecht. Als sie merkte, daß<br />

Lyra sich nicht bewegte, blickte sie demonstrativ zur Schlafzimmertür.<br />

»Ach, bitte, Mrs. Coulter, ich mag die Tasche so!«<br />

»Nicht in der Wohnung, Lyra. Es sieht absurd aus, bei sich zu<br />

Hause eine Umhängetasche zu tragen. Leg sie sofort weg und<br />

hilf mir dann mit den Gläsern…«<br />

Es war weniger ihr barscher Ton als die Formulierung »bei<br />

sich zu Hause«, die Lyras Starrsinn weckte. Pantalaimon flog auf<br />

den Boden, verwandelte sich augenblicklich in einen Iltis und<br />

drückte sich mit gekrümmtem Rücken an Lyras kurze, weiße<br />

Söckchen. Lyra fühlte sich ermutigt.<br />

»Aber die Tasche stört doch niemanden«, sagte sie, »und sie<br />

ist das einzige, das ich wirklich gerne trage. Ich finde wirklich,<br />

sie paßt…«<br />

Sie beendete den Satz nicht, denn Mrs. Coulters Dæmon war<br />

wie ein <strong>goldene</strong>r Pfeil vom Sofa gesprungen und drückte Pantalaimon<br />

auf den Teppich, bevor dieser eine Bewegung machen<br />

konnte. Lyra schrie auf vor Schreck und dann vor Angst und<br />

Schmerzen, während Pantalaimon sich kreischend und fauchend<br />

auf dem Boden wand, den Griff des <strong>goldene</strong>n Affen<br />

jedoch nicht abschütteln konnte. Nach wenigen Sekunden<br />

hatte der Affe ihn ganz überwältigt: Mit einer schwarzen Pfote<br />

faßte er ihn grob um den Hals, mit den schwarzen Hinterpfoten<br />

hielt er seine unteren Glieder fest und mit der noch freien Pfote<br />

packte er sein Ohr und zog daran, als wollte er es abreißen.<br />

Dabei wirkte er nicht wütend, sondern zeigte eine merkwürdig<br />

99


kalte Gewalt, die grauenhaft anzusehen und noch schlimmer zu<br />

spüren war.<br />

Lyra schluchzte; sie war außer sich.<br />

»Nicht! Bitte! Hör auf, uns weh zu tun.«<br />

Mrs. Coulter sah von ihren Blumen auf.<br />

»Dann tu, was ich dir sage«, befahl sie.<br />

»Ich verspreche es!«<br />

<strong>Der</strong> <strong>goldene</strong> Affe ließ Pantalaimon los, als sei er ihm plötzlich<br />

langweilig geworden. Pantalaimon floh sofort zu Lyra, und<br />

sie nahm ihn hoch und küßte und liebkoste ihn.<br />

»Also, Lyra«, sagte Mrs. Coulter.<br />

Lyra drehte sich abrupt um, marschierte wortlos in ihr<br />

Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Doch im<br />

nächsten Augenblick ging die Tür wieder auf, und Mrs. Coulter<br />

stand vor ihr.<br />

»Lyra, wenn du dich so rüde und ordinär aufführst,<br />

bekommst du es mit mir zu tun, und ich bin stärker als du. Du<br />

legst die Tasche jetzt augenblicklich weg. Starr mich nicht so<br />

finster an. Und schlage nie wieder eine Tür zu, ob ich dabei bin<br />

oder nicht. In wenigen Minuten kommen die ersten Gäste, und<br />

sie werden hier ein in jeder Hinsicht wohlerzogenes, liebes,<br />

charmantes, unschuldiges, aufmerksames und nettes Mädchen<br />

antreffen. Das ist mein Wunsch, Lyra, hast du mich verstanden?«<br />

»Ja, Mrs. Coulter.«<br />

»Dann gib mir einen Kuß.«<br />

Mrs. Coulter beugte sich zu ihr herunter und hielt ihr die<br />

Wange hin. Lyra mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um<br />

sie zu küssen. Sie spürte, wie glatt Mrs. Coulters Haut war; nur<br />

ihr Geruch verwirrte sie etwas: Die Haut roch nach Parfüm,<br />

aber zugleich irgendwie metallisch. Lyra legte die Umhängetasche<br />

auf ihren Ankleidetisch und folgte Mrs. Coulter dann wieder<br />

in den Salon.<br />

100


»Was hältst du von den Blumen, Liebes?« sagte Mrs. Coulter<br />

so freundlich, als sei nichts geschehen. »Mit Rosen kann man<br />

eigentlich nichts falsch machen, aber manchmal tut man auch<br />

zu viel des Guten… Haben die Lieferanten genug Eis gebracht?<br />

Sei so nett und frage nach. Warme Drinks sind etwas Fürchterliches…«<br />

Lyra stellte fest, daß es ihr leichtfiel, einen unbeschwerten,<br />

heiteren Eindruck zu erwecken, obwohl sie keinen Augenblick<br />

Pantalaimons Entsetzen und seinen Haß auf den <strong>goldene</strong>n<br />

Affen vergessen konnte. Im nächsten Moment klingelte es an<br />

der Tür, und bald füllte sich der Raum mit elegant gekleideten<br />

Damen und gutaussehenden, vornehmen Herren. Lyra ging<br />

zwischen ihnen hin und her und bot ihnen Häppchen an,<br />

lächelte freundlich und antwortete artig, wenn jemand etwas<br />

zu ihr sagte. Sie kam sich vor wie ein Schoßhund, der von allen<br />

gestreichelt wurde, und in dem Moment, in dem sie das dachte,<br />

breitete Pantalaimon seine Stieglitzflügel aus und zwitscherte<br />

laut.<br />

Sie spürte seine Schadenfreude, weil er recht gehabt hatte,<br />

und beschloß, sich etwas mehr zurückzuhalten.<br />

»Und wo gehst du zur Schule, Liebes?« fragte eine ältere<br />

Dame und musterte Lyra durch eine Lorgnette.<br />

»Ich gehe nicht zur Schule«, sagte Lyra.<br />

»Ach ja? Ich glaubte, deine Mutter hätte dich auf ihre alte<br />

Schule geschickt. Ein sehr gutes Institut…«<br />

Lyra war verwirrt, bis sie den Fehler der alten Dame<br />

bemerkte.<br />

»Nein! Sie ist nicht meine Mutter! Ich helfe ihr nur. Ich bin<br />

ihre persönliche Assistentin«, sagte sie wichtig.<br />

»Ach so. Und wer sind dann deine Eltern?«<br />

Wieder mußte Lyra überlegen, was sie meinte, bevor sie antwortete.<br />

»Ein Graf und eine Gräfin«, sagte sie. »Aber sie sind beide bei<br />

101


einem Luftunfall auf einer Reise in den Norden ums Leben<br />

gekommen.«<br />

»Was für ein Graf?«<br />

»Graf Belacqua. Er war Lord Asriels Bruder.«<br />

<strong>Der</strong> Dæmon der alten Dame, ein scharlachroter Ära, trat wie<br />

verärgert von einem Fuß auf den anderen, und die alte Dame<br />

runzelte fragend die Stirn. Lyra lächelte freundlich und ging<br />

weiter. Sie kam gerade an einer Gruppe von mehreren jungen<br />

Männern und einer Frau in der Nähe des großen Sofas vorbei,<br />

als das Wort Staub fiel. Lyra hatte inzwischen genug vom gesellschaftlichen<br />

Leben mitbekommen, um zu wissen, wann Männer<br />

und Frauen flirteten, und sie sah fasziniert dabei zu, aber<br />

noch faszinierter war sie, wenn jemand von Staub sprach. Deshalb<br />

blieb sie stehen, um zuzuhören. Die Männer schienen<br />

Wissenschaftler zu sein, die junge Frau — den Fragen nach zu<br />

schließen, die sie stellte — eine Art Studentin.<br />

»Er wurde von einem Moskowiter entdeckt — unterbrechen<br />

Sie mich, wenn Sie das schon wissen…«, sagte gerade ein Mann<br />

mittleren Alters, den die junge Frau bewundernd anblickte,<br />

»von einem Mann namens Rusakow, nach dem die Teilchen<br />

meist Rusakow-Teilchen genannt werden. Es handelt sich um<br />

Elementarteilchen, die überhaupt nicht mit anderen Teilchen<br />

reagieren. Sie sind sehr schwer ausfindig zu machen, aber das<br />

Außergewöhnliche ist, daß Menschen sie anzuziehen scheinen.«<br />

»Tatsächlich?« sagte die junge Frau mit großen Augen.<br />

»Und noch außergewöhnlicher ist«, fuhr der Mann fort, »daß<br />

einige Menschen sie mehr anziehen als andere. Erwachsene ziehen<br />

sie an, aber nicht Kinder. Zumindest kaum und nicht bis<br />

zur Pubertät. Das ist übrigens der Grund…«, er senkte die<br />

Stimme, trat näher an die junge Frau heran und legte ihr vertraulich<br />

die Hand auf die Schulter, »…das ist der Grund, warum<br />

die Oblations-Behörde eingerichtet wurde. Wie unsere ehrenwerte<br />

Gastgeberin hier Ihnen sagen könnte.«<br />

102


»Tatsächlich? Hat sie mit der Oblations-Behörde zu tun?«<br />

»Meine Liebe, sie ist die Oblations-Behörde. Die Behörde ist<br />

in jeder Beziehung ihre Erfindung…«<br />

<strong>Der</strong> Mann war im Begriff, fortzufahren, als sein Blick auf<br />

Lyra fiel, die ihn unverwandt anstarrte. Er hatte vielleicht zu<br />

viel getrunken oder wollte die junge Frau beeindrucken, jedenfalls<br />

sagte er: »Ich wette, die kleine Dame hier weiß alles darüber.<br />

Du bist vor der Oblations-Behörde ja wohl sicher, oder?«<br />

»O ja«, sagte Lyra. »Mir kann hier nichts passieren. Wo ich<br />

früher gewohnt habe, also in Oxford, passierten alle möglichen<br />

gefährlichen Sachen. Da wurden Kinder entführt und als Sklaven<br />

an die Türken oder so verkauft. Und in Port Meadow gibt es<br />

bei Vollmond einen Werwolf, der aus dem alten Nonnenkloster<br />

bei Godstow kommt. Ich habe ihn einmal heulen hören. Und<br />

die Gobbler…«<br />

»Genau die meine ich«, sagte der Mann. »So heißen doch die<br />

Mitglieder der Oblations-Behörde, nicht wahr?«<br />

Lyra spürte, wie Pantalaimon plötzlich zitterte, obwohl er<br />

sich sonst untadelig benahm. Die Dæmonen der beiden<br />

Erwachsenen, eine Katze und ein Schmetterling, schienen<br />

jedenfalls nichts zu bemerken.<br />

»Gobbler?« sagte die junge Frau. »Was für ein seltsamer<br />

Name! Warum heißen sie Gobbler?«<br />

Lyra wollte ihr schon eine der blutrünstigen Geschichten<br />

über die Gobbler erzählen, die sie sich ausgedacht hatte, um den<br />

Kindern in Oxford Angst einzujagen, aber der Mann sprach<br />

bereits.<br />

»Nach den Initialen, sehen Sie? General-Oblations-Behörde.<br />

Übrigens eine sehr alte Idee. Im Mittelalter übergaben Eltern<br />

ihre Kinder der Kirche, damit sie Mönche oder Nonnen wurden.<br />

Und diese unglücklichen Kinder nannte man Oblaten.<br />

Das bedeutet Opfer, Opfergabe, etwas in der Art. Die Idee<br />

wurde aufgegriffen, als man sich an die Erforschung von Staub<br />

103


machte… Wie unsere kleine Freundin hier vermutlich weiß.<br />

Warum sprichst du nicht mit Lord Boreal?« fügte er an Lyra<br />

gewandt hinzu. »Er freut sich sicher, Mrs. Coulters Schützling<br />

kennenzulernen… Da drüben steht er, der Mann mit den<br />

grauen Haaren und dem Schlangendæmon.«<br />

Lyra begriff sofort, daß er sie nur loswerden wollte, um sich<br />

mit der jungen Frau über privatere Dinge unterhalten zu können.<br />

Die junge Frau schien sich allerdings mehr für Lyra zu<br />

interessieren und ging ihr nach.<br />

»Einen Augenblick… Wie heißt du denn?«<br />

»Lyra.«<br />

»Ich heiße Adele Starminster. Ich bin Journalistin. Kann ich<br />

in Ruhe mit dir reden?«<br />

Da Lyra es inzwischen für ganz natürlich hielt, daß alle Welt<br />

mit ihr reden wollte, sagte sie nur: »Klar.«<br />

<strong>Der</strong> Schmetterlingsdæmon der Frau flog auf, sah sich nach<br />

rechts und nach links um, kam wieder herunter und flüsterte<br />

etwas, worauf Adele Starminster sagte: »Komm mit zum Fensterplatz.«<br />

Das war einer von Lyras Lieblingsplätzen; man sah von dort<br />

auf den Fluß, und um diese Abendzeit leuchteten die Lichter<br />

am gegenüberliegenden Südufer hell über ihren Spiegelbildern<br />

im schwarzen Wasser der Flut. Ein Schlepper zog mehrere<br />

Kähne flußaufwärts. Adele Starminster setzte sich auf das Sitzpolster<br />

und rückte dann zur Seite, um Platz zu machen.<br />

»Sagte Professor Docker nicht, du hättest irgend etwas mit<br />

Mrs. Coulter zu tun?«<br />

»Ja.«<br />

»Was denn? Du bist doch nicht ihre Tochter? Eigentlich<br />

müßte ich es ja wissen…«<br />

»Nein!« sagte Lyra. »Natürlich nicht. Ich bin ihre persönliche<br />

Assistentin.«<br />

»Ihre persönliche Assistentin? Bist du dazu nicht noch zu<br />

104


jung? Ich dachte, du seist mit ihr verwandt oder so etwas. Wie<br />

ist sie denn so?«<br />

»Sie ist sehr klug«, sagte Lyra. Vor diesem Abend hätte sie<br />

noch viel mehr gesagt, aber die Lage hatte sich geändert.<br />

»Ja, aber persönlich«, bohrte Adele Starminster weiter. »Ich<br />

meine, ist sie freundlich oder ungeduldig oder was? Wohnst du<br />

mit ihr zusammen? Wie ist sie privat?«<br />

»Sie ist sehr nett«, sagte Lyra unerschütterlich.<br />

»Was für eine Arbeit machst du? Wie hilfst du ihr?«<br />

»Ich mache Rechnungen und all das. Zum Beispiel für die<br />

Navigation.«<br />

»Aha, verstehe… Und woher kommst du? Wie heißt du<br />

noch?«<br />

»Lyra. Ich komme aus Oxford.«<br />

»Warum hat Mrs. Coulter gerade dich ausgewählt, um…«<br />

Sie brach ab, weil Mrs. Coulter plötzlich neben ihnen stand.<br />

Aus der Art, wie Adele Starminster zu ihr aufsah, und dem aufgeregten<br />

Flattern ihres Dæmons um ihren Kopf folgerte Lyra,<br />

daß die junge Frau nicht zur Party eingeladen worden war.<br />

»Ich weiß nicht, wie Sie heißen«, sagte Mrs. Coulter sehr<br />

ruhig, »aber ich werde es innerhalb von fünf Minuten herausfinden,<br />

und dann werden Sie nie mehr als Journalistin arbeiten.<br />

Jetzt stehen Sie ganz ruhig auf, ohne Ärger zu machen, und verschwinden.<br />

Ich möchte hinzufügen, daß wer immer Sie hierhergebracht<br />

hat, ebenfalls dafür bezahlen wird.«<br />

Mrs. Coulter schien mit einer Art anbarischen Energie geladen.<br />

Sie roch sogar anders; ihr Körper verströmte einen Geruch<br />

wie nach heißem Metall. Lyra hatte ihn bereits früher wahrgenommen,<br />

aber jetzt erlebte sie zum erstenmal, daß er sich gegen<br />

jemand anders richtete, und die arme Adele Starminster war<br />

ihm machtlos ausgeliefert. Ihr Dæmon fiel matt auf ihre Schulter,<br />

schlug noch ein- oder zweimal mit seinen prächtigen Flügeln<br />

und wurde dann ohnmächtig, und die Journalistin selbst<br />

105


schien sich kaum mehr aufrecht halten zu können. Leicht vornübergebeugt<br />

schleppte sie sich durch das Gedränge der lärmenden<br />

Gäste zur Salontür, eine Hand an der Schulter, um zu verhindern,<br />

daß ihr bewußtloser Dæmon herunterfiel.<br />

»Nun?« sagte Mrs. Coulter zu Lyra.<br />

»Ich habe ihr nichts Wichtiges gesagt«, sagte Lyra.<br />

»Was hat sie gefragt?«<br />

»Nur was ich mache, wer ich bin und so weiter.«<br />

Als Lyra das sagte, merkte sie auf einmal, daß Mrs. Coulter<br />

allein war, ohne ihren Dæmon. Wie war das möglich? Einen<br />

Moment später erschien der <strong>goldene</strong> Affe jedoch wieder an<br />

ihrer Seite, und Mrs. Coulter bückte sich, nahm seine Pfote und<br />

schwang ihn sich ohne Anstrengung auf die Schulter. Schlagartig<br />

schien die Anspannung von ihr abzufallen.<br />

»Wenn du noch jemandem begegnest, der ganz offensichtlich<br />

nicht eingeladen worden ist, Liebes, sagst du mir gleich<br />

Bescheid, ja?«<br />

<strong>Der</strong> scharfe, metallische Geruch war verflogen. Vielleicht<br />

hatte Lyra sich ihn nur eingebildet. Sie roch wieder Mrs. Coulters<br />

Parfüm, die Rosen, den Rauch der Zigarillos und die Parfüms<br />

der anderen Frauen. Mrs. Coulter sah Lyra mit einem<br />

Lächeln an, das soviel zu bedeuten schien wie »Wir zwei, wir<br />

verstehen uns schon, wie?«, dann ging sie, um einige andere<br />

Gäste zu begrüßen.<br />

»Während sie mit dir redete, kam ihr Dæmon aus unserem<br />

Schlafzimmer«, flüsterte Pantalaimon Lyra ins Ohr. »Er hat<br />

spioniert. Sicher hat er das Alethiometer entdeckt!«<br />

Wahrscheinlich hatte er recht, aber Lyra konnte nichts daran<br />

ändern. Was hatte der Professor über die Gobbler gesagt? Sie<br />

sah sich suchend nach ihm um, aber in dem Augenblick, in dem<br />

sie ihn entdeckte, traten der Pförtner, der für den Abend die<br />

Uniform eines Bediensteten angelegt hatte, und ein anderer<br />

Mann auf ihn zu, klopften ihm auf die Schulter und sagten leise<br />

106


etwas, worauf er bleich wurde und ihnen nach draußen folgte.<br />

Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Sekunden und ging<br />

so diskret vonstatten, daß fast niemand es bemerkte. Nur Lyra<br />

fühlte sich wie ertappt und hatte auf einmal Angst.<br />

Sie schlenderte durch die beiden Räume, in denen gefeiert<br />

wurde, hörte mit einem Ohr den Gesprächen zu, stellte sich den<br />

Geschmack der Cocktails vor, von denen sie nicht kosten<br />

durfte, und wurde immer unruhiger. Sie merkte nicht, daß sie<br />

beobachtet wurde, bis plötzlich der Pförtner neben ihr stand<br />

und sie ansprach.<br />

»Miss Lyra, der Herr am Feuer würde gern mit Ihnen sprechen.<br />

Für den Fall, daß Sie ihn nicht kennen: Es handelt sich um<br />

Lord Boreal.«<br />

Lyra sah in die angegebene Richtung. <strong>Der</strong> kraftvoll wirkende,<br />

grauhaarige Mann sah zu ihr her, und als sich ihre Blicke<br />

trafen, nickte er und winkte.<br />

Zögernd, aber neugierig, ging sie hinüber.<br />

»Guten Abend, Kind«, sagte er. Seine Stimme war glatt und<br />

befehlsgewohnt. <strong>Der</strong> geschuppte Kopf und die smaragdgrünen<br />

Augen seines Schlangendæmons glänzten im Licht der Lampe<br />

aus geschliffenem Glas an der Wand.<br />

»Guten Abend«, sagte Lyra.<br />

»Wie geht es meinem alten Freund, dem Rektor von Jordan?«<br />

»Sehr gut, danke.«<br />

»Dort waren wahrscheinlich alle traurig, daß du gehen mußtest.«<br />

»Ja, stimmt.«<br />

»Und bei Mrs. Coulter hast du viel zu tun? Was lernst du<br />

denn bei ihr?«<br />

Weil Lyra in rebellischer Stimmung war und sich unbehaglich<br />

fühlte, beantwortete sie die gönnerhafte Frage nicht mit<br />

der Wahrheit oder einer ihrer sonstigen phantasievollen Aus­<br />

107


führungen. Statt dessen sagte sie: »Ich lerne, was Rusakow-Teilchen<br />

sind und was die Oblations-Behörde ist.«<br />

Er sah sie plötzlich scharf an, so wie man eine anbarische<br />

Lampe scharfstellte. Seine ganze Aufmerksamkeit strömte mit<br />

größter Intensität auf sie ein.<br />

»Vielleicht erzählst du mir, was du weißt«, sagte er.<br />

»Im Norden führen sie Experimente durch«, sagte Lyra, der<br />

jetzt alles egal war. »Wie Dr. Grumman.«<br />

»Weiter.«<br />

»Es gibt eine besondere Art von Photogramm, auf der man<br />

den Staub sieht, und bei einem Erwachsenen sieht man, wie das<br />

ganze Licht auf ihn herunterkommt, und bei einem Kind<br />

kommt gar nichts. Zumindest nicht soviel.«<br />

»Hat Mrs. Coulter dir ein solches Bild gezeigt?«<br />

Lyra zögerte, denn hier ging es nicht um Lügen, sondern<br />

etwas anderes, mit dem sie keine Erfahrung hatte.<br />

»Nein«, sagte sie nach einem Moment. »Ich habe in Jordan<br />

College ein Bild gesehen.«<br />

»Wer hat es dir gezeigt?«<br />

»Richtig gezeigt hat er es mir nicht«, überlegte Lyra. »Ich kam<br />

zufällig vorbei und sah es. Und dann wurde mein Freund Roger<br />

von der Oblations-Behörde entführt. Aber…«<br />

»Wer hat dir das Bild gezeigt?«<br />

»Mein Onkel Asriel.«<br />

»Wann?«<br />

»Als er das letzte Mal in Jordan College war.«<br />

»Aha. Was hast du sonst noch gelernt? Hast du nicht soeben<br />

von der Oblations-Behörde gesprochen?«<br />

»Ja. Aber davon habe ich nicht von ihm gehört, sondern hier.«<br />

Was ja auch stimmte, dachte sie.<br />

Er fixierte sie scharf. Sie starrte in aller Unschuld zurück.<br />

Schließlich nickte er.<br />

»Offensichtlich ist Mrs. Coulter zu dem Schluß gelangt, daß<br />

108


du ihr bei dieser Arbeit schon helfen kannst. Interessant. Hast<br />

du schon einmal daran teilgenommen?«<br />

»Nein«, sagte Lyra. Wovon redete er? Pantalaimon hatte klugerweise<br />

die Gestalt einer Motte angenommen, in der sein<br />

Gesicht nichts ausdrückte und Lyras Gefühle nicht verraten<br />

konnte, und Lyra selbst war überzeugt, daß sie ihre unschuldige<br />

Miene durchhalten würde.<br />

»Und hat sie gesagt, was mit den Kindern passiert?«<br />

»Nein, das nicht. Ich weiß nur, daß es mit Staub zu tun hat<br />

und daß sie eine Art Opfer sind.«<br />

Auch das war strenggenommen keine Lüge, dachte sie; sie<br />

hatte schließlich nicht behauptet, Mrs. Coulter habe ihr das<br />

selbst gesagt.<br />

»Opfer ist eine sehr dramatische Formulierung. Es geschieht<br />

schließlich nicht nur zu unserem, sondern auch zu ihrem eigenen<br />

Nutzen. Und natürlich kommen alle freiwillig zu Mrs.<br />

Coulter, deshalb ist sie ja so wertvoll. Sie müssen teilnehmen<br />

wollen, und welches Kind könnte Mrs. Coulter widerstehen?<br />

Und wenn du ihr helfen kannst, die Kinder heranzuschaffen,<br />

um so besser. Das freut mich sehr.«<br />

Er lächelte sie an, wie Mrs. Coulter es getan hatte, als ob sie<br />

beide ein Geheimnis teilten. Lyra erwiderte sein Lächeln höflich,<br />

dann wandte er sich ab und sprach mit jemand anderem.<br />

Lyra und Pantalaimon spürten beide das Entsetzen des anderen.<br />

Lyra wollte allein sein und mit Pantalaimon reden, sie<br />

wollte die Wohnung verlassen und nach Jordan College<br />

zurückkehren, in ihr kleines, ungepflegtes Schlafzimmer am<br />

oberen Ende der Treppe, und sie wollte Lord Asriel suchen…<br />

Wie als Antwort auf diesen letzten Wunsch hörte sie seinen<br />

Namen. Unter dem Vorwand, sich von einer Platte auf dem<br />

Tisch ein Häppchen zu holen, machte sie einen Schritt auf eine<br />

Gruppe von Gästen zu, die sich in der Nähe unterhielten.<br />

Ein Mann in einer purpurnen Bischofsrobe sagte gerade:<br />

109


»…nein, ich glaube nicht, daß Lord Asriel uns in nächster Zeit<br />

belästigt.«<br />

»Und wo, sagten Sie, hält man ihn gefangen?«<br />

»In der Festung Svalbard, wurde mir gesagt. Bewacht von<br />

Panserbjørne, müssen Sie wissen, von gepanzerten Bären.<br />

Schreckliche Kreaturen! Denen entkommt er nicht, und wenn<br />

er tausend Jahre alt wird. Ich denke wirklich, daß jetzt der Weg<br />

frei ist, fast frei…«<br />

»Die letzten Experimente haben bestätigt, was ich immer<br />

glaubte — daß Staub eine Aussonderung des Prinzips des Bösen<br />

selbst ist, und…«<br />

»Riecht das nicht nach zoroastrischer Ketzerei?«<br />

»Was früher Ketzerei war…«<br />

»Und wenn wir das Prinzip des Bösen isolieren könnten…«<br />

»Svalbard, sagten Sie?«<br />

»Gepanzerte Bären…«<br />

»Die Oblations-Behörde…«<br />

»Ich bin sicher, die Kinder leiden nicht…«<br />

»Lord Asriel im Gefängnis…«<br />

Lyra hatte genug gehört. Sie wandte sich ab und verschwand<br />

in ihrem Schlafzimmer, ohne dabei mehr Aufsehen zu erregen<br />

als die Motte Pantalaimon. Gedämpft drang der Lärm der<br />

Gesellschaft durch die geschlossene Tür.<br />

»Also?« flüsterte sie, und Pantalaimon verwandelte sich auf<br />

ihrer Schulter in einen Stieglitz.<br />

»Laufen wir jetzt weg?« flüsterte er zurück.<br />

»Natürlich. Wenn wir es tun, solange so viele Leute da sind,<br />

merkt sie es vielleicht eine Weile gar nicht.«<br />

»Aber er schon.«<br />

Pantalaimon meinte Mrs. Coulters Dæmon. Als Lyra an den<br />

geschmeidigen <strong>goldene</strong>n Affen dachte, wurde ihr ganz übel vor<br />

Angst.<br />

»Diesmal kämpfe ich gegen ihn«, sagte Pantalaimon tapfer.<br />

110


»Ich kann die Gestalt wechseln und er nicht. Ich verändere mich<br />

einfach so schnell, daß er mich nicht festhalten kann. Diesmal<br />

gewinne ich, du wirst sehen.«<br />

Lyra nickte abwesend. Was sollte sie anziehen? Wie gelangte<br />

sie nach draußen, ohne gesehen zu werden?<br />

»Du mußt auskundschaften«, flüsterte sie. »Sobald der Weg<br />

frei ist, rennen wir los. Sei eine Motte«, fügte sie hinzu. »Also<br />

denk dran, sobald alle abgelenkt sind…«<br />

Sie öffnete die Tür einen Spalt, und Pantalaimon schlüpfte<br />

hinaus, ein kleiner dunkler Schatten in dem warmen rosa Licht<br />

des Korridors.<br />

Inzwischen zog Lyra hastig die wärmsten Kleider an, die sie<br />

hatte, und stopfte weitere Kleider in eine der Tragetaschen aus<br />

Kohleseide aus dem Modegeschäft, in dem sie am Nachmittag<br />

gewesen waren. Mrs. Coulter hatte ihr Geld gegeben, als handle<br />

es sich um Süßigkeiten, und Lyra hatte das Geld zwar auch<br />

großzügig wieder ausgegeben, aber sie hatte noch einige Sovereigns<br />

übrig, die sie jetzt in die Tasche ihres dunklen Mantels aus<br />

Wolfspelz steckte. Zuletzt packte sie noch das in schwarzen<br />

Samt eingewickelte Alethiometer ein. Hatte der abscheuliche<br />

Affe es entdeckt? Mit Sicherheit, und er hatte sicher auch Mrs.<br />

Coulter davon erzählt. Wenn sie es nur besser versteckt hätte!<br />

Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür. Glücklicherweise lag<br />

ihr Zimmer am Ende des Ganges, gleich neben dem Flur, und<br />

die meisten Gäste hielten sich in den beiden Zimmern auf der<br />

anderen Seite auf. Lyra hörte laute Stimmen, Gelächter, das<br />

gleichmäßige Rauschen der Toilette, das Klirren von Gläsern,<br />

und dann wisperte die Stimme einer Motte kaum hörbar an<br />

ihrem Ohr: »Jetzt! Schnell!«<br />

Sie schlüpfte durch die Tür in den Flur. Im nächsten Augenblick<br />

öffnete sie die Eingangstür der Wohnung, dann war sie<br />

draußen und zog die Tür leise hinter sich zu. Mit Pantalaimon<br />

als Stieglitz auf der Schulter rannte sie die Treppe hinunter.<br />

111


Sechs<br />

Im Netz<br />

Rasch entfernte Lyra sich vorn Fluß, denn die Uferstraße war<br />

breit und hell erleuchtet. Zwischen hier und dem Royal Arctic<br />

Institute, dem einzigen Ort, zu dem sie den Weg zu kennen<br />

glaubte, lag ein Gewirr enger Gassen, und in dieses dunkle<br />

Labyrinth tauchte sie jetzt ein.<br />

Hätte sie sich in London bloß so gut ausgekannt wie in<br />

Oxford! Dann hätte sie gewußt, welche Straßen sie meiden<br />

mußte, wo sie etwas Eßbares finden oder, noch besser, wo sie<br />

anklopfen und sich verstecken konnte. Trotz der kalten Nacht<br />

pulsierte in den dunklen Gassen ein geheimnisvolles Leben,<br />

und Lyra fühlte sich fremd.<br />

Pantalaimon verwandelte sich in eine Wildkatze und spähte<br />

mit seinen die Nacht durchdringenden Augen aufmerksam in<br />

die Dunkelheit. Ab und zu blieb er mit gesträubtem Fell stehen,<br />

und Lyra bog dann nicht in die Gasse ein, in die sie hatte einbiegen<br />

wollen, sondern in eine andere. Die Nacht war voller<br />

Geräusche: Betrunkene lachten, zwei heisere Stimmen grölten<br />

ein Lied, in einem Keller ratterte und kreischte eine schlechtgeölte<br />

Maschine. Die Sinne aufs äußerste gespannt und mit denen<br />

von Pantalaimon zu einer Einheit verschmolzen, huschte Lyra<br />

durch die Schatten.<br />

Von Zeit zu Zeit mußte sie eine breitere, hell erleuchtete<br />

112


Straße überqueren, auf der unter anbarischen Leitungen Straßenbahnen<br />

hin und her summten und Funken versprühten. Es<br />

gab Verkehrsregeln für das Überqueren solcher Straßen, aber<br />

Lyra beachtete sie nicht, und wenn jemand sie anbrüllte, rannte<br />

sie nur schnell weiter.<br />

Aber was für ein herrliches Gefühl, wieder frei zu sein! Lyra<br />

merkte, daß der auf Katzenpfoten neben ihr her tollende Pantalaimon<br />

sich genau wie sie darüber freute, draußen zu sein, auch<br />

wenn die Luft in London stickig, rauchig und rußig und voller<br />

Lärm war. Sie würden bald über das nachdenken müssen, was<br />

sie in Mrs. Coulters Wohnung erfahren hatten, aber noch nicht<br />

jetzt. Und irgendwann brauchten sie auch einen Platz zum<br />

Schlafen.<br />

An einer Kreuzung in der Nähe eines großen Kaufhauses,<br />

dessen Schaufenster sich auf dem nassen Pflaster spiegelten,<br />

stand eine Imbißbude, eine kleine Hütte auf Rädern mit einer<br />

Theke und einer Holzklappe, die wie ein Vordach hochgeklappt<br />

war. Ein gelber Lichtschein fiel nach draußen, und<br />

Kaffeeduft wehte Lyra entgegen. <strong>Der</strong> mit einem weißen Kittel<br />

bekleidete Wirt lehnte an der Theke und unterhielt sich<br />

mit den zwei, drei Kunden, die vor der Bude standen.<br />

Die Versuchung war groß. Lyra war nun schon seit einer<br />

Stunde auf den Beinen und spürte die Kälte und Feuchtigkeit.<br />

Mit Pantalaimon als Spatz trat sie an die Theke und reckte sich<br />

in die Höhe, um vom Wirt bemerkt zu werden.<br />

»Eine Tasse Kaffee und ein Schinkensandwich, bitte«, sagte<br />

sie.<br />

»Du bist aber spät unterwegs, meine Liebe«, sagte ein Herr<br />

mit Zylinder und weißem Seidenschal.<br />

»Ja«, antwortete sie kurz und drehte ihm den Rücken zu, um<br />

die belebte Kreuzung unter die Lupe zu nehmen. Gerade war<br />

die Vorstellung in einem nahe gelegenen Theater zu Ende;<br />

Menschen drängten sich im erleuchteten Foyer, riefen nach<br />

113


Taxis und warfen sich Mäntel über. In der anderen Richtung<br />

strömten Scharen von Menschen die Treppe am Eingang eines<br />

chthonischen Bahnhofes hinauf und hinunter.<br />

»Bitte sehr«, sagte der Imbißbudenwirt. »Macht zwei Schillinge.«<br />

»Lassen Sie mich das bezahlen«, meinte der Mann mit dem<br />

Zylinder.<br />

Warum nicht, dachte Lyra. Ich kann schneller laufen als er,<br />

und vielleicht brauche ich mein Geld später noch. <strong>Der</strong> Zylindermann<br />

warf eine Münze auf die Theke und sah lächelnd zu<br />

ihr herunter. Sein Dæmon, ein Maki, hing an seinem Revers<br />

und starrte Lyra aus runden Augen an.<br />

Lyra biß in das Sandwich, ohne die belebte Straße aus den<br />

Augen zu lassen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, denn<br />

weder hatte sie jemals einen Plan von London gesehen, noch<br />

hatte sie eine Vorstellung davon, wie groß die Stadt war und wie<br />

weit sie laufen mußte, um aufs Land zu gelangen.<br />

»Wie heißt du?« fragte der Mann.<br />

»Alice.«<br />

»Ein schöner Name. Komm, nimm einen Tropfen davon in<br />

deinen Kaffee…, das wärmt auf…«<br />

Er drehte den Deckel einer silbernen Taschenflasche auf.<br />

»Das mag ich nicht«, sagte Lyra. »Ich will nur Kaffee.«<br />

»Ich wette, so einen Brandy hast du noch nie getrunken.«<br />

»Doch, hab ich. Und mir wurde ganz schlecht davon. Fast<br />

eine ganze Flasche habe ich von dem Zeug getrunken.«<br />

»Wie du willst«, meinte der Mann und kippte den Inhalt des<br />

Fläschchens in seine eigene Tasse. »Wohin bist du denn unterwegs,<br />

so mutterseelenallein?«<br />

»Zu meinem Vater.«<br />

»Wer ist dein Vater denn?«<br />

»Ein Mörder.«<br />

»Ein was?«<br />

114


»Hab ich doch gerade gesagt, ein Mörder — und zwar von<br />

Beruf. Er erledigt heute nacht einen Auftrag, und ich bringe<br />

ihm saubere Kleider, denn nach der Arbeit ist er meistens von<br />

oben bis unten mit Blut bespritzt.«<br />

»Ach so! Du machst nur Spaß.«<br />

»Mach ich nicht.«<br />

<strong>Der</strong> Maki ließ ein leises Miauen hören und kletterte hinter<br />

dem Kopf des Mannes langsam nach oben; auf dem Scheitel<br />

angekommen, beäugte er Lyra aufmerksam. Lyra trank unbeirrt<br />

ihren Kaffee und aß ihr Sandwich auf.<br />

»Gute Nacht«, sagte sie dann. »Dahinten kommt mein Vater.<br />

Er sieht eher schlecht gelaunt aus.«<br />

<strong>Der</strong> Zylindermann drehte sich um, und Lyra ging auf die aus<br />

dem Theater strömende Menge zu. Sie hätte sich gern die<br />

chthonische Bahn angesehen — Mrs. Coulter hatte gesagt, die<br />

Bahn sei eigentlich nicht für vornehme Leute wie Lyra und sie<br />

selbst gedacht —, aber sie wollte nicht in eine unterirdische Falle<br />

gehen; lieber blieb sie im Freien, wo sie im Notfall wegrennen<br />

konnte.<br />

Lyra marschierte immer weiter, und die Straßen wurden<br />

immer dunkler und einsamer. Es nieselte, aber selbst wenn der<br />

Himmel wolkenlos gewesen wäre, hätte man durch den Lichtschein,<br />

der nachts über der Stadt lag, keine Sterne gesehen. Pantalaimon<br />

glaubte, daß sie nach Norden gingen, aber sicher war<br />

er nicht.<br />

Sie kamen durch endlose Straßen mit kleinen, einander zum<br />

Verwechseln ähnlichen Backsteinhäusern, deren Gärten so<br />

klein waren, daß gerade noch eine Mülltonne hineinpaßte, vorbei<br />

an verlassen daliegenden, großen Fabrikgebäuden, beleuchtet<br />

nur vom trüben Licht einer hoch oben an der Mauer angebrachten,<br />

einsamen anbarischen Laterne, während der<br />

Nachtwächter ein Nickerchen am Ofen machte, und hin und<br />

wieder an einem düsteren Bethaus, das sich nur durch das<br />

115


Kreuz von einem Lagerschuppen unterschied. Einmal öffnete<br />

Lyra die Tür zu einem solchen Bethaus, aber als von einer Bank,<br />

die nur einen Meter vor ihr im Dunkel stand, ein Stöhnen<br />

ertönte und sie merkte, das überall schlafende Gestalten lagen,<br />

ergriff sie die Flucht.<br />

»Wo sollen wir denn schlafen, Pan?« fragte sie, als sie eine<br />

Ladenstraße entlanggingen, vorbei an geschlossenen Geschäften<br />

mit heruntergelassenen Rollläden.<br />

»Irgendwo in einer Toreinfahrt.«<br />

»Aber da kann uns jeder sehen.«<br />

»Dahinten ist ein Kanal…«<br />

Pantalaimon sah in eine Seitenstraße auf der linken Seite.<br />

Tatsächlich schimmerte am anderen Ende dunkel Wasser, und<br />

als sie sich vorsichtig näherten, sahen sie ein Hafenbecken, an<br />

dessen Kais ungefähr ein Dutzend Schleppkähne vertäut waren.<br />

Einige ragten hoch aus dem Wasser, andere lagen tief und<br />

schwer beladen unter galgenähnlichen Kränen. Aus dem Fenster<br />

einer Holzhütte drang ein schwacher Schein, und aus dem<br />

Blechschornstein der Hütte stieg ein Rauchfaden auf. Die einzigen<br />

anderen Lichter brannten hoch oben an der Mauer einer<br />

Lagerhalle und auf dem Portal eines Kranes. Unten am Boden<br />

war es dunkel. Auf den Kais stapelten sich Fässer mit Kohlenspiritus,<br />

zersägte Baumstämme und Rollen von mit Cauchuc<br />

ummantelten Kabeln.<br />

Auf Zehenspitzen schlich Lyra zu der Hütte und lugte<br />

durchs Fenster. Ein alter Mann, der eine Pfeife rauchte, las<br />

angestrengt in einem Heft mit Bildergeschichten. Sein Dæmon,<br />

ein Spaniel, schlief zusammengerollt auf dem Tisch. Während<br />

sie noch hineinsah, stand der Mann auf, nahm einen rußgeschwärzten<br />

Kessel vom eisernen Herd und goß heißes Wasser in<br />

einen gesprungenen Becher; dann setzte er sich wieder mit seiner<br />

Zeitung hin.<br />

»Sollen wir fragen, ob er uns reinläßt, Pan?« flüsterte sie, aber<br />

116


Pantalaimon hörte ihr nicht zu. Er verwandelte sich in eine Fledermaus,<br />

dann in eine Eule und schließlich wieder in eine<br />

Wildkatze. Angesteckt von seiner Panik, sah Lyra sich suchend<br />

um, und dann, im selben Augenblick wie Pantalaimon,<br />

erkannte sie die Gefahr: Zwei Männer rannten von verschiedenen<br />

Seiten auf sie zu; der schnellere hielt ein Wurfnetz in den<br />

Händen.<br />

Pantalaimon stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte<br />

sich in Gestalt eines Leoparden auf den Dæmon des schnelleren<br />

Mannes, einen bösartig aussehenden Fuchs, dem er einen Stoß<br />

versetzte, der ihn rückwärts vor die Beine des Mannes taumeln<br />

ließ. <strong>Der</strong> Mann sprang fluchend zur Seite, und Lyra rannte an<br />

ihm vorbei auf den offenen Kai zu. Auf gar keinen Fall durfte<br />

sie sich in eine Ecke drängen lassen.<br />

Pantalaimon, jetzt ein Adler, stieß zu ihr herunter und schrie:<br />

»Links! Links!«<br />

Sie schlug einen Haken nach links, sah zwischen Spiritusfässern<br />

und einem Wellblechschuppen eine Lücke und schoß wie<br />

der Blitz dorthin.<br />

Zu spät! Das Wurfnetz!<br />

Sie hörte ein Zischen in der Luft, und ihre Wange wurde von<br />

etwas gestreift, das scharf brannte. Widerlich klebrige Teerschnüre<br />

fielen ihr über Gesicht, Arme und Hände, und schon<br />

war sie gefesselt und stürzte, und sosehr sie auch um sich schlug,<br />

zappelte und sich wehrte, vergeblich.<br />

»Pan! Pan!«<br />

Aber der Fuchsdæmon fiel über Pantalaimon her, der wieder<br />

eine Katze war, und Lyra spürte die Schmerzen am eigenen<br />

Körper und schrie gepeinigt auf, als Pantalaimon zu Boden<br />

ging. Rasch wickelte einer der Männer das Netz eng um Lyras<br />

Glieder, Kehle, Rumpf und Kopf und verschnürte sie auf dem<br />

nassen Boden zu einem Bündel. Sie war so hilflos wie eine<br />

Fliege im Spinnennetz. <strong>Der</strong> arme Pan schleppte sich verletzt zu<br />

117


ihr. <strong>Der</strong> Fuchsdæmon hatte sich in seinen Rücken verbissen,<br />

und Pantalaimon hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu<br />

verwandeln. <strong>Der</strong> andere Mann lag in einer Pfütze; ein Pfeil<br />

steckte in seinem Hals…<br />

Als der Mann, der das Netz verknotete, das schließlich sah,<br />

herrschte plötzlich Totenstille.<br />

Pantalaimon setzte sich auf und blinzelte; dann ertönte ein<br />

leises Plop, und der Mann mit dem Netz fiel würgend und keuchend<br />

auf Lyra, die entsetzt aufschrie, denn was aus ihm heraussprudelte,<br />

war Blut!<br />

Hastige Schritte näherten sich. Jemand zog den Mann weg<br />

und beugte sich über ihn, Hände hoben Lyra hoch, und ein<br />

Messer schnitt und zerrte an den Maschen des Netzes, bis sie<br />

nacheinander aufgingen und Lyra die Schnur in ihrem Mund<br />

ausspucken und das Netz herunterreißen konnte. Sofort kniete<br />

sie sich auf den Boden und nahm Pantalaimon in die Arme.<br />

Immer noch kniend, wandte sie den Kopf zu den Neuankömmlingen<br />

empor. Drei dunkle Gestalten standen vor ihr,<br />

einer mit einem Bogen bewaffnet, die anderen mit Messern,<br />

und als Lyra aufsah, entfuhr dem Mann mit dem Bogen ein verblüffter<br />

Ausruf.<br />

»Das ist doch Lyra!«<br />

Eine vertraute Stimme, aber Lyra konnte sie erst zuordnen,<br />

als der Mann vor sie trat und Licht aufsein Gesicht und den Falkendæmon<br />

auf seiner Schulter fiel. Ein Gypter! Ein Gypter aus<br />

Oxford!<br />

»Tony Costa«, stellte er sich vor. »Erinnerst du dich? Du hast<br />

mit meinem kleinen Bruder Billy immer bei den Booten in<br />

Jericho gespielt, ehe die Gobbler ihn holten.«<br />

»Mein Gott, Pan, wir sind gerettet!« schluchzte Lyra, aber<br />

dann fiel ihr plötzlich etwas ein: Sie hatte damals doch das Boot<br />

der Costas gekapert. Wenn Tony sich nun daran erinnerte?<br />

»Du kommst besser mit uns«, sagte er. »Bist du allein?«<br />

118


»Ja, ich bin weggelaufen…«<br />

»Schon gut, sprich jetzt nicht. Bleib ganz ruhig. Jaxer, bring<br />

die Leichen in den Schatten. Und du hältst Wache, Kerim.«<br />

Mit wackeligen Beinen stand Lyra auf und drückte Pantalaimon<br />

an die Brust. Pantalaimon drehte suchend den Kopf in<br />

eine bestimmte Richtung, Lyra folgte seinem Blick, verstand,<br />

weshalb, und wurde selbst neugierig: Was war mit den Daemonen<br />

der toten Männer geschehen? Die Antwort war: Sie lösten<br />

sich auf. Sie lösten sich auf und wurden wie kleine Rußteilchen<br />

weggeweht, mochten sie sich auch noch so sehr an die<br />

Männer klammern, zu denen sie gehört hatten. Pantalaimon<br />

bedeckte seine Augen, und Lyra hastete blindlings hinter Tony<br />

Costa her.<br />

»Was machst du hier?« fragte sie.<br />

»Pst, Mädchen! Wir haben schon genügend Scherereien. Wir<br />

reden auf dem Boot darüber.«<br />

Er führte sie über eine kleine Holzbrücke auf ein Dock mitten<br />

im Hafenbecken. Die anderen beiden Männer gingen<br />

schweigend hinter ihnen her. Nachdem sie eine Weile am Wasser<br />

entlanggegangen waren, kamen sie zu einer hölzernen<br />

Anlegestelle, an deren Ende ein kleines Boot vertäut war. Tony<br />

sprang an Bord und stieß die Tür zur Kajüte auf.<br />

»Komm rein«, sagte er, »schnell.«<br />

Lyra folgte ihm, während sie ihre Tasche betastete, um sich<br />

zu vergewissern, daß das Alethiometer noch da war. Sie hatte<br />

die Tasche keinen Augenblick losgelassen, nicht einmal, als sie<br />

im Netz gefangen gewesen war. In der langgestreckten, engen<br />

Kajüte sah sie im Schein einer von einem Haken baumelnden<br />

Laterne eine beleibte, grauhaarige Frau am Tisch sitzen und<br />

Zeitung lesen. Billys Mutter!<br />

»Wer ist denn das?« fragte die Frau. »Doch nicht Lyra?«<br />

»Doch, aber wir müssen sofort weg, Ma. Wir haben hier im<br />

Hafen zwei Männer getötet. Wir hielten sie für Gobbler, aber<br />

119


ich glaube, es waren türkische Händler. Sie hatten Lyra<br />

geschnappt. Frag jetzt nicht — wir besprechen das auf der<br />

Fahrt.«<br />

»Komm her, Kind«, sagte Ma Costa.<br />

Lyra gehorchte, halb glücklich und halb ängstlich, denn Ma<br />

Costa hatte Pranken wie Totschläger, und Lyra war sich inzwischen<br />

sicher, daß es tatsächlich das Boot der Costas gewesen<br />

war, das sie mit Roger und den anderen Collegekindern gekapert<br />

hatte. Aber die Bootsmutter nahm Lyras Gesicht sanft in<br />

die Hände, und ihr Dæmon, ein großer, grauer, wolfsähnlicher<br />

Hund, beugte sich vorsichtig zu Pantalaimon hinunter und<br />

leckte dessen Wildkatzenkopf. Ma Costa schloß Lyra in ihre<br />

mächtigen Arme und drückte sie an die Brust.<br />

»Ich weiß zwar nicht, was du angestellt hast, aber du siehst<br />

müde aus. Du kannst im Kinderbett von Billy schlafen, aber erst<br />

mach ich dir was Heißes zu trinken. Setz dich hierher, Kind.«<br />

Anscheinend hatte sie Lyra die Bootsentführung verziehen<br />

oder sie zumindest vergessen. Lyra rutschte auf die gepolsterte<br />

Bank hinter der blankgescheuerten Tischplatte aus Kiefernholz.<br />

Das leise Rumpeln eines Motors ließ das Boot erzittern.<br />

»Wohin fahren wir?« fragte Lyra.<br />

Ma Costa setzte einen Topf mit Milch auf den eisernen Herd<br />

und stocherte in der Glut, um das Feuer zu schüren.<br />

»Fort von hier. Aber jetzt wird nicht mehr geredet. Wir<br />

unterhalten uns morgen früh.«<br />

Dann schwieg sie, und als die Milch heiß war, goß sie sie in<br />

eine Tasse für Lyra. Sobald das Schiff ablegte, schwang sie sich<br />

an Deck, wo sie ab und zu geflüsterte Bemerkungen mit den<br />

Männern austauschte. Lyra nippte an der Milch und hob die<br />

Ecke des Rollos an, um draußen die dunklen Kais vorbeiziehen<br />

zu sehen. Ein oder zwei Minuten später schlief sie bereits wie<br />

ein Murmeltier.<br />

120


Sie erwachte in einem schmalen Bett und hörte das beruhigende<br />

Rumpeln des Motors im Bauch des Schiffes. Als sie sich<br />

aufsetzen wollte, stieß sie sich den Kopf. Fluchend tastete sie<br />

nach allen Seiten und richtete sich dann erneut auf, diesmal<br />

vorsichtiger. In dem fahlen Licht, das die kleine Kabine erfüllte,<br />

konnte sie noch drei andere Kojen erkennen, alle leer und<br />

ordentlich gemacht, eine unter ihrer eigenen und die beiden<br />

anderen an der gegenüberliegenden Wand. Sie schwang sich<br />

aus dem Bett und stellte fest, daß sie nur ihre Unterwäsche trug.<br />

Die anderen Kleider und der Wolfspelzmantel lagen gefaltet<br />

am Fußende der Koje, daneben lag die Einkaufstasche. Das<br />

Alethiometer war noch da.<br />

Rasch zog sie sich an, öffnete die Tür, trat hinaus und stand in<br />

der Kajüte mit dem Ofen, der eine angenehme Wärme verbreitete.<br />

Außer ihr war niemand in der Kajüte. Durch die Fenster<br />

sah sie auf beiden Seiten graue Nebelschwaden und ab und zu<br />

dunkle Schatten vorüberziehen, vielleicht Häuser oder Bäume.<br />

Bevor sie an Deck gehen konnte, öffnete sich die Außentür,<br />

und Ma Costa stieg herunter, eingewickelt in einen alten<br />

Tweedmantel, auf dem der Dunst Tausende winziger Perlen<br />

gebildet hatte.<br />

»Ausgeschlafen?« rief sie und griff nach einer Bratpfanne.<br />

»Setz dich hin, ich mach dir was zum Frühstück. Steh nicht<br />

herum, dazu ist es hier drin zu eng.«<br />

»Wo sind wir?« wollte Lyra wissen.<br />

»Auf dem Grand Junction Canal. Du bleibst schön hier<br />

unten, Kind, wo dich keiner sieht. Ich will dich nicht an Deck<br />

sehen! Wir haben schon genug Ärger.«<br />

Sie schnitt ein paar dünne Scheiben Speck in die Pfanne und<br />

schlug ein Ei hinein.<br />

»Was denn für Ärger?«<br />

»Wir werden schon damit fertig, wenn du dich raushältst.«<br />

Und dann schwieg sie, bis Lyra aufgegessen hatte. Einmal<br />

121


wurde das Schiff langsamer; etwas knallte gegen die Seite, und<br />

Lyra hörte die Männer ärgerlich losbrüllen; aber dann machte<br />

jemand einen Witz, und sie lachten, die Stimmen wurden leiser,<br />

und das Boot nahm wieder Fahrt auf.<br />

Bald daraufschwang sich Tony Costa in die Kajüte herunter.<br />

Auf seinen Kleidern glitzerten wie vorher auf denen seiner<br />

Mutter Wasserperlen, und als er seinen Wollhut über dem<br />

Ofen ausschüttelte, stoben und sprühten Tropfen nach allen<br />

Seiten.<br />

»Was sagen wir ihr, Ma?«<br />

»Frag sie doch zuerst. Erzählen kannst du später.«<br />

Tony goß Kaffee in eine Blechtasse und setzte sich. Er war<br />

kräftig und hatte ein dunkles Gesicht, und erst jetzt, bei Tageslicht,<br />

sah Lyra, wie traurig und verbittert seine Miene war.<br />

»Gut«, sagte er. »Also, Lyra, dann erzähl uns, was du in London<br />

gemacht hast. Wir dachten, die Gobbler hätten dich<br />

geholt.«<br />

»Tja, ich habe da bei dieser Frau gewohnt…«<br />

Stockend erinnerte sich Lyra an ihre Erlebnisse und ordnete<br />

sie, wie man einen Kartenstapel vor dem Austeilen ordnet. Sie<br />

erzählte alles, nur von dem Alethiometer sagte sie nichts.<br />

»Und gestern abend bei der Cocktailparty fand ich dann heraus,<br />

was sie in Wirklichkeit tun. Mrs. Coulter gehört auch zu<br />

den Gobblern, und ich sollte ihr helfen, noch mehr Kinder zu<br />

fangen. Sie wollen nämlich…«<br />

Ma Costa verließ die Kajüte und ging ins Cockpit. Tony wartete,<br />

bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann sagte er:<br />

»Wir wissen, was sie tun, wenigstens zum Teil. Wir wissen, daß<br />

die Kinder auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Man bringt<br />

sie hoch in den Norden, weit weg, und macht dort Experimente<br />

mit ihnen. Zuerst haben wir geglaubt, die Gobbler würden mit<br />

verschiedenen Krankheiten und Medikamenten experimentieren,<br />

aber wieso hätten sie damit so plötzlich vor zwei oder drei<br />

122


Jahren beginnen sollen? Dann dachten wir, sie hätten vielleicht<br />

ein geheimes Abkommen mit den Tataren in Sibirien geschlossen;<br />

denn die Tataren wollen wie alle anderen wegen der Kohlenspiritusvorkommen<br />

und der Feuerminen in den Norden,<br />

und schon lange bevor die Gobbler ihr Unwesen trieben, gab es<br />

Kriegsgerüchte. Wir nahmen an, die Gobbler würden die Tatarenhäuptlinge<br />

mit Kindern bezahlen, weil die Tataren die doch<br />

essen, nicht wahr? Sie braten und essen Kinder.«<br />

»Das glaube ich nicht!« sagte Lyra.<br />

»Es stimmt aber. Und das ist noch längst nicht alles, ich<br />

könnte dir noch ganz andere Dinge erzählen. Schon mal was<br />

von den Nälkäinen gehört?«<br />

»Nein«, antwortete Lyra. »Nicht mal bei Mrs. Coulter. Was<br />

soll das sein?«<br />

»Nälkäinen sind eine Art Geister, die in den Wäldern im<br />

Norden vorkommen. Sie sind so groß wie Kinder und haben<br />

keine Köpfe. Nachts tasten sie sich durch die Gegend, und wenn<br />

jemand im Wald einschläft, packen sie ihn und lassen ihn nicht<br />

mehr los. Nälkäinen ist ein nordisches Wort. Und dann die<br />

Windsauger, die sind auch gefährlich. Sie schweben durch die<br />

Luft, und manchmal begegnet man ihnen in regelrechten<br />

Schwärmen, oder sie bleiben in einem Dornengestrüpp hängen.<br />

Wenn sie jemanden berühren, verliert er alle Kraft. Man sieht<br />

sie nicht richtig, nur als Schimmern in der Luft. Oder die Atemlosen…«<br />

»Die Atemlosen?«<br />

»Halbtote Krieger. Lebendig zu sein ist eine Sache, tot zu sein<br />

eine andere, aber halb tot zu sein ist am schlimmsten. Sie können<br />

nicht sterben und nicht leben, sondern irren für alle Zeiten<br />

durch die Welt. Sie heißen die Atemlosen, weil man ihnen etwas<br />

Schreckliches angetan hat.«<br />

»Was denn?« fragte Lyra mit großen Augen.<br />

»Die nördlichen Tataren brechen ihnen die Rippen auf und<br />

123


ziehen die Lungen heraus. Sie machen das sehr geschickt, denn<br />

sie töten ihre Opfer dabei nicht. Allerdings funktionieren die<br />

Lungen der Atemlosen nur noch, wenn ihre Dæmonen von<br />

Hand Luft hineinpumpen, deshalb schweben sie immer zwischen<br />

Atmen und Nichtatmen, Leben und Tod — sie sind eben<br />

halb tot, ja? Und ihre Dæmonen müssen Tag und Nacht pumpen<br />

und pumpen, sonst würden sie zusammen mit ihnen sterben.<br />

Ich habe gehört, daß man im Wald manchmal ganzen<br />

Gruppen von Atemlosen begegnet. Und dann gibt es noch die<br />

Panserbjørne — schon mal was von denen gehört? Das sind<br />

gepanzerte Bären, eine Art Eisbären, nur daß sie…«<br />

»Natürlich! Von denen habe ich schon gehört! Einer der<br />

Männer gestern abend hat erzählt, daß mein Onkel Lord Asriel<br />

in einer Festung gefangen ist, die von Panserbjørne bewacht<br />

wird.«<br />

»Wirklich? Warum war er denn im Norden?«<br />

»Er hat geforscht. Aber so wie der Mann geredet hat, glaube<br />

ich nicht, daß mein Onkel auf der Seite der Gobbler steht. Ich<br />

glaube, sie waren froh, daß er im Gefängnis ist.«<br />

»Wenn die Panserbjørne ihn bewachen, kommt er da nicht<br />

mehr raus. Diese Bären sind wie Söldner, wenn du verstehst,<br />

was ich meine. Sie verkaufen sich an jeden, der dafür bezahlt.<br />

Sie haben Hände wie Menschen und sind erfahrene Schmiede.<br />

Meistens verwenden sie Meteoreisen. Sie verarbeiten es zu großen<br />

Platten und Schilden, mit denen sie sich panzern. Seit Jahrhunderten<br />

überfallen sie die Skrälinge. Sie sind brutale,<br />

unbarmherzige Mörder, aber sie halten ihr Wort. Wenn du mit<br />

einem Panserbjørn etwas abmachst, kannst du dich drauf verlassen,<br />

daß er sich daran hält.«<br />

Lyra war von Tonys Greuelgeschichten zutiefst beeindruckt.<br />

»Ma will nichts vom Norden hören«, meinte Tony nach<br />

einer Weile, »denn wer weiß, was Billy zugestoßen ist. Wir wissen<br />

nämlich, daß man ihn in den Norden gebracht hat.«<br />

124


»Woher denn?«<br />

»Wir haben einen von den Gobblern erwischt und zum<br />

Reden gebracht. Deshalb wissen wir ein paar Sachen über sie.<br />

Die beiden Männer letzte Nacht waren keine Gobbler; sie<br />

waren zu ungeschickt. Wenn es Gobbler gewesen wären, hätten<br />

wir sie lebend mitgenommen. Wir Gypter haben unter den<br />

Gobblern mehr gelitten als sonst jemand, und wir treffen uns<br />

jetzt, um zu beraten, was wir dagegen tun können. Deshalb<br />

waren wir letzte Nacht im Hafen; wir mußten unsere Vorräte<br />

aufstocken, denn die Gypter versammeln sich oben in den Fens<br />

zu einem Thing, wie wir es nennen. Und ich schätze, wenn wir<br />

unsere Erfahrungen ausgetauscht und unser Wissen zusammengebracht<br />

haben, werden wir einen Rettungstrupp losschikken.<br />

Das würde ich jedenfalls an John Faas Stelle tun.«<br />

»Wer ist John Faa?«<br />

»<strong>Der</strong> König der Gypter.«<br />

»Ihr wollt wirklich die Kinder retten? Und was ist mit<br />

Roger?«<br />

»Wer ist Roger?«<br />

»<strong>Der</strong> Küchenjunge aus Jordan College. Er wurde genau wie<br />

Billy einen Tag, bevor ich mit Mrs. Coulter fortging, entführt.<br />

Ich wette, wenn ich entführt worden wäre, würde er kommen<br />

und mich befreien. Wenn ihr Billy rettet, komm ich mit und<br />

rette Roger.«<br />

Und Onkel Asriel, dachte sie; aber das sagte sie nicht laut.<br />

125


Sieben<br />

John Faa<br />

Mit diesem Ziel vor Augen ging es Lyra schon viel besser. Mrs.<br />

Coulter zu helfen war schön und gut gewesen, aber Pantalaimon<br />

hatte recht: Lyra hatte dort im Grunde nichts zu tun<br />

gehabt, außer zu allen lieb und nett zu sein. Auf dem gyptischen<br />

Boot dagegen gab es richtige Arbeit, und Ma Costa sorgte dafür,<br />

daß Lyra diese Arbeit tat. Lyra putzte und fegte, schälte Kartoffeln<br />

und kochte Tee, ölte die Welle der Schiffsschraube und<br />

entfernte das Gras aus dem Schutzgitter der Schraube, sie wusch<br />

ab, öffnete Schleusentore und vertäute das Schiff an den Pollern<br />

der Liegeplätze, und innerhalb weniger Tage hatte sie sich so an<br />

ihr neues Leben gewöhnt, als wäre sie schon immer eine Gypterin<br />

gewesen.<br />

Was sie nicht bemerkte, war, daß die Costas sich auf ihren<br />

Landgängen aufmerksam umhörten, ob jemand auffallendes<br />

Interesse für Lyra zeigte. Lyra war, auch wenn sie es nicht<br />

wußte, eine wichtige Person, und offenbar suchten Mrs. Coulter<br />

und die Oblations-Behörde überall nach ihr. Wie Tony<br />

unterwegs in Kneipen erfuhr, führte die Polizei ohne jede<br />

Erklärung Razzien in Häusern und Farmen, Hinterhöfen und<br />

Fabriken durch, und es kursierte das Gerücht, sie würde nach<br />

einem vermißten Mädchen fahnden. Und das war schon merkwürdig<br />

angesichts der vielen Kinder, die verschwunden waren,<br />

126


ohne daß man nach ihnen gesucht hatte. Gypter und Landbevölkerung<br />

waren verunsichert und zutiefst beunruhigt.<br />

Es gab auch noch einen anderen Grund, warum Lyra den<br />

Costas so wichtig war, aber das sollte sie erst ein paar Tage<br />

später<br />

erfahren.<br />

Lyra mußte unter Deck bleiben, wenn das Boot an der Hütte<br />

eines Schleusenwärters, einem Kanalhafen oder einem anderen<br />

Ort vorbeikam, wo sie gesehen werden konnte. Einmal fuhren<br />

sie durch eine Stadt, in der die Polizei den Verkehr in beiden<br />

Richtungen anhielt und alle passierenden Schiffe durchsuchte.<br />

Doch die Costas waren gewappnet. Unter Ma Costas Koje<br />

befand sich ein Geheimfach, in dem Lyra zwei Stunden lang<br />

zusammengekauert lag, während die Polizisten erfolglos jeden<br />

Winkel des Bootes durchsuchten.<br />

»Wieso haben ihre Dæmonen mich eigentlich nicht entdeckt?«<br />

fragte Lyra hinterher. Ma Costa zeigte ihr, daß das Versteck<br />

innen mit Zedernholz ausgekleidet war, das auf Daemonen<br />

wie ein Schlafmittel wirkte. Tatsächlich hatte Pantalaimon<br />

die ganze Zeit friedlich an Lyras Kopf geschlafen.<br />

Langsam, mit zahlreichen Unterbrechungen und Umwegen,<br />

näherte sich das Boot der Costas den Fens, jener weiten und nie<br />

vollständig kartographierten Wildnis in East Anglia. Unter<br />

einem unermeßlich hohen Himmel erstreckte sich eine endlose<br />

Moorlandschaft, die an ihrem äußersten Saum unmerklich in<br />

die Wasserläufe und seichten Buchten des Meeres überging, an<br />

dessen anderem Ende ebenso allmählich die Küste Hollands<br />

auftauchte. Teile der Fens waren von Holländern trocken gelegt<br />

und eingedeicht worden, und einige Holländer hatten sich hier<br />

angesiedelt, deshalb war die Sprache der Fens mit vielen holländischen<br />

Wörtern durchsetzt. Andere Teile waren jedoch nie<br />

trocken gelegt und bepflanzt oder besiedelt worden, und hier,<br />

in den wildesten Gegenden im Landesinnern, wo Aale die<br />

Flüsse bevölkerten und Schwärme von Wasservögeln brüteten,<br />

127


wo gespenstische Sumpffeuer flackerten und Wegelagerer arglose<br />

Reisende auf verhängnisvolle Irrwege in Sümpfe und<br />

Schlammlöcher lockten, hatten die Gypter sich stets ungestört<br />

versammeln können.<br />

Durch tausend gewundene Kanäle, Bäche und Wasserläufe<br />

strebten gyptische Boote den Byanplats zu, dem einzigen etwas<br />

höher gelegenen Landstück in der Hunderte von Quadratmeilen<br />

großen Sumpf- und Moorlandschaft. Inmitten von Anlegestellen,<br />

Hafendämmen, einem Aalmarkt und einer kleinen<br />

Siedlung stand dort eine uralte Versammlungshalle aus Holz.<br />

Wenn dort ein Thing, eine Versammlung der Gypter, einberufen<br />

wurde, drängten sich so viele Boote auf den Wasserstraßen,<br />

daß man — so sagte man — über ihre Decks in alle Richtungen<br />

eine Meile laufen konnte. In den Sümpfen herrschten die Gypter.<br />

Niemand sonst wagte es, sie zu betreten, und solange die<br />

Gypter sich friedlich verhielten und die öffentliche Ruhe nicht<br />

störten, drückten die Landloper, die Bewohner des Festlandes,<br />

bei dem regen Schmuggel und den gelegentlichen Fehden ein<br />

Auge zu. Wenn die Leiche eines Gypters an die Küste gespült<br />

wurde oder einem Fischer ins Netz ging, na ja — dann war es<br />

eben nur ein Gypter.<br />

Lyra lauschte gespannt den Geschichten der Fenbewohner<br />

vom großen Geisterhund Black oder den Sumpffeuern, die aufloderten,<br />

wenn Hexenöl in Blasen an die Oberfläche stieg, und<br />

noch ehe sie die Fens erreichten, fühlte sie sich als Gypterin. Sie<br />

war schnell wieder in die Ausdrucksweise ihrer Oxforder Zeit<br />

verfallen und bereicherte ihre Sprache jetzt auch noch mit holländischen<br />

Worten der gyptischen Fenbewohner. Ma Costa<br />

mußte sie an gewisse Dinge erinnern.<br />

»Du bist keine Gypterin, Lyra. Vielleicht sprichst du mit<br />

einiger Übung wie wir, aber die Sprache allein macht dich noch<br />

lange nicht zu einer Gypterin. In uns gibt es Tiefen und starke<br />

Strömungen. Wir sind Wassermenschen durch und durch und<br />

128


du nicht, du bist ein Feuermensch. Du gleichst am meisten dem<br />

Sumpffeuer, jedenfalls aus der Perspektive der Gypter; du hast<br />

Hexenöl in der Seele. Du führst in die Irre, Kind.«<br />

Lyra war gekränkt.<br />

»Ich habe noch nie jemanden in die Irre geführt! Frag<br />

doch…«<br />

Aber natürlich gab es niemanden, den man hätte fragen können,<br />

und Ma Costa lachte, doch es war ein freundliches Lachen.<br />

»Merkst du nicht, daß ich dir ein Kompliment mache, du<br />

Gänschen?« fragte sie, und Lyra war besänftigt, auch wenn sie<br />

nichts verstand.<br />

Als sie die Byanplats erreichten, war es Abend, und die Sonne<br />

stand rief am blutroten Himmel. Die flache Insel mit dem Zaal<br />

inmitten eines Gewirrs von Häusern hob sich als schwarze<br />

Masse gegen das Licht ab; Rauchfäden stiegen in die windstille<br />

Luft empor, und aus dem Gedränge der Boote ringsum wehte<br />

der Geruch von gebratenem Fisch, Tabak und Genever herüber.<br />

Sie vertäuten das Boot an einem Liegeplatz in der Nähe des<br />

Zaal, der laut Tony schon seit Generationen von ihrer Familie<br />

benutzt wurde. Bald daraufzischten und bruzelten fette Aale in<br />

Ma Costas Bratpfanne und im Kessel sprudelte Wasser für Kartoffelpürree.<br />

Tony und Kerim ölten sich das Haar ein, zogen<br />

ihre schönsten Lederjacken und blau getupfte Halstücher an,<br />

schmückten die Finger mit zahlreichen Silberringen und<br />

machten sich dann auf, um alte Freunde auf den Nachbarbooten<br />

zu begrüßen und in der nächsten Bar etwas zu trinken. Sie<br />

kehrten mit wichtigen Neuigkeiten zurück.<br />

»Wir sind gerade rechtzeitig angekommen. Das Thing findet<br />

schon heute abend statt. Und wißt ihr, was sie in der Stadt<br />

sagen? Es heißt, das vermißte Mädchen befinde sich auf einem<br />

gyptischen Boot und würde heute abend beim Thing erscheinen.«<br />

Tony lachte laut und zauste Lyras Haar. Seit sie die Sümpfe<br />

129


erreicht hatten, besserte sich seine Laune zusehends, als sei die<br />

grimmige Schwermut, die seine Miene nach außen zeigte, nur<br />

eine Maske. Und Lyra wurde immer aufgeregter. Sie schlang<br />

das Essen hinunter, wusch das Geschirr ab, kämmte sich die<br />

Haare und steckte das Alethiometer in die Tasche des Wolfspelzmantels.<br />

Dann sprang sie an Land und folgte den anderen<br />

Familien die Anhöhe zum Zaal hinauf.<br />

Sie hatte geglaubt, Tony mache einen Scherz, stellte aber bald<br />

fest, daß dem nicht so war oder daß sie vielleicht doch weniger<br />

einer Gypterin glich, als sie geglaubt hatte. Zahlreiche Menschen<br />

starrten sie an, und Kinder zeigten auf sie. Als sie die großen<br />

Türen des Zaal erreichten, wich die Menge auf beiden Seiten<br />

zurück, um ihnen Platz zu machen, und sie schritten durch<br />

ein Spalier von Menschen.<br />

Jetzt wurde Lyra erst recht nervös. Sie blieb dicht bei Ma<br />

Costa, und Pantalaimon machte sich so groß er konnte und verwandelte<br />

sich in einen Panther, um sie zu beruhigen. Ma Costa<br />

stapfte die Stufen empor, als könne nichts auf der Welt sie aufhalten<br />

oder ihren Schritt beschleunigen, und rechts und links<br />

von ihr gingen stolz wie zwei Prinzen Tony und Kerim.<br />

In der Halle brannten Naphthalampen, die Gesichter und<br />

Körper der Anwesenden beleuchteten, das Dachgebälk in der<br />

Höhe jedoch im Dunkeln ließen. Die hereinströmenden Menschen<br />

hatten Mühe, einen Platz zu finden — die meisten Bänke<br />

waren bereits voll —, aber die Familien rückten noch enger<br />

aneinander und nahmen die Kinder auf den Schoß, um Platz zu<br />

machen, und die Dæmonen rollten sich entweder am Boden<br />

zusammen oder hockten auf den Balken der grobgezimmerten<br />

Holzwände.<br />

An der Stirnseite des Zaal war ein Podium mit acht holzgeschnitzten<br />

Stühlen aufgebaut. Als Lyra und die Costas an der<br />

seitlichen Wand der Halle schließlich einen Stehplatz gefunden<br />

hatten, tauchten acht Männer aus dem Schatten hinter dem<br />

130


Podium auf und traten vor die Stühle. Erregtes Gemurmel ging<br />

durch die Menge, und die Anwesenden bedeuteten einander zu<br />

schweigen und quetschten sich auf die letzten freien Plätze auf<br />

den Bänken. Schließlich herrschte Stille, und sieben der Männer<br />

auf dem Podium setzten sich.<br />

<strong>Der</strong> Mann, der stehen blieb, war in den Siebzigern, aber<br />

immer noch hochgewachsen, stiernackig und kräftig. Wie die<br />

meisten gyptischen Männer trug er eine schlichte Segeltuchjacke<br />

und ein kariertes Hemd; allein durch die Stärke und<br />

Autorität, die er ausstrahlte, unterschied er sich von den anderen.<br />

Lyra erkannte diese Ausstrahlung wieder: Onkel Asriel<br />

hatte sie und ebenso der Rektor von Jordan. <strong>Der</strong> Dæmon des<br />

Mannes war eine Krähe, die dem Raben des Rektors ähnelte.<br />

»Das ist John Faa, der Herrscher der westlichen Gypter«, flüsterte<br />

Tony.<br />

Dann begann John Faa mit einer tiefen, langsamen Stimme<br />

zu sprechen.<br />

»Gypter! Willkommen zu unserem Thing. Wir sind hier, um<br />

zu beraten und zu entscheiden. Ihr wißt alle, um was es geht.<br />

Unter uns sind viele Familien, die ein Kind verloren haben,<br />

manche sogar zwei. Jemand raubt sie. Auch die Landloper verlieren<br />

Kinder. Sie sind in derselben Lage wie wir.<br />

Es hat viel Gerede gegeben über ein Kind und eine Belohnung.<br />

Hier ist die Wahrheit, damit der Klatsch ein Ende hat.<br />

Das Kind heißt Lyra Belacqua, und es wird von der Polizei der<br />

Landloper gesucht. Wer es der Polizei ausliefert, erhält eine<br />

Belohnung von tausend Sovereign. Das Mädchen ist ein Landloperkind,<br />

und es befindet sich in unserer Obhut, wo es auch<br />

bleiben wird. Wen diese tausend Sovereign in Versuchung führen,<br />

der wird weder an Land noch auf dem Wasser vor uns<br />

sicher sein. Wir liefern das Mädchen nicht aus.«<br />

Lyra spürte, wie sie von den Haarwurzeln bis zu den Fußsohlen<br />

errötete; Pantalaimon verwandelte sich in eine braune<br />

131


Motte, um sich zu verstecken. Aller Augen wandten sich ihnen<br />

zu, und Lyra sah hilfesuchend zu Ma Costa auf.<br />

John Faa sprach bereits weiter.<br />

»Aber durch Reden ändern wir nichts. Wenn wir etwas verändern<br />

wollen, müssen wir handeln. Was ihr noch wissen solltet:<br />

Die Gobbler, diese Kindsräuber, bringen ihre Gefangenen<br />

in eine Stadt im hohen Norden, hoch hinauf ins Land der Finsternis.<br />

Ich weiß nicht, was sie dort mit ihnen machen. Manche<br />

sagen, sie würden sie töten, aber jeder behauptet etwas anderes.<br />

Wir wissen es nicht. Wir wissen jedoch, daß Polizei und Klerus<br />

ihnen dabei helfen. Die Mächtigen des Landes helfen ihnen.<br />

Merkt euch das. Sie alle wissen, was vorgeht, und helfen nach<br />

Kräften. Was ich vorhabe, ist daher nicht leicht, und ich brauche<br />

dazu eure Zustimmung. Ich schlage vor, daß wir Krieger in<br />

den Norden entsenden, um die Kinder zu retten und zurückzubringen,<br />

und daß wir unser Gold und unser ganzes Geschick<br />

und unseren Mut in dieses Vorhaben stecken. Ja, Raymond van<br />

Gerrit?«<br />

Ein Mann im Publikum hatte die Hand gehoben, und John<br />

Faa erteilte ihm das Wort und setzte sich.<br />

»Entschuldigung, Lord Faa. Nicht nur gyptische, sondern<br />

auch Landloperkinder wurden gefangengenommen. Soll das<br />

heißen, daß wir die auch retten?«<br />

John Faa stand auf, um zu antworten.<br />

»Raymond, willst du damit sagen, wir sollten alle möglichen<br />

Gefahren auf uns nehmen, um zu einer Gruppe verängstigter<br />

Kinder zu gelangen und dann einigen zu sagen, sie könnten mit<br />

nach Hause kommen, und den übrigen, sie müßten dort bleiben?<br />

Nein, das willst du sicher nicht. Also, meine Freunde, habe<br />

ich euer Einverständnis?«<br />

Niemand hatte mit dieser Frage gerechnet, und im ersten<br />

Moment waren alle unschlüssig; doch dann ging ein Aufschrei<br />

durch die Halle, Hände hoben sich und applaudierten, Fäuste<br />

132


wurden geschüttelt, und die Stimmen schwollen zum Orkan<br />

an. Das Dachgebälk des Zaal erzitterte, und ein Dutzend<br />

Vögel, die dort oben im Dunkel geschlafen hatten, wachten<br />

erschrocken auf und schlugen mit den Flügeln. Kleine Staubwolken<br />

rieselten herab.<br />

John Faa hörte dem Lärmen kurze Zeit zu, dann hob er die<br />

Hand, um sich wieder Gehör zu verschaffen.<br />

»Wir werden eine Weile brauchen, um alles zu organisieren.<br />

Ich möchte, daß die Familienoberhäupter eine Steuer erheben<br />

und eine Truppe aufstellen. In drei Tagen treffen wir uns wieder<br />

hier. In der Zwischenzeit werde ich mit besagtem Kind und<br />

mit Farder Coram sprechen und einen Plan ausarbeiten, den<br />

ich euch beim nächsten Treffen vorlege. Gute Nacht, euch<br />

allen.«<br />

Mit seinen entschiedenen, klaren Worten gelang es ihm<br />

sofort, die Menge wieder zu beruhigen. Die Menschen strömten<br />

durch die großen Türen in die kühle Abendluft hinaus und<br />

machten sich auf den Weg zu den Booten oder in die überfüllten<br />

Bars.<br />

»Wer waren die anderen Männer auf dem Podium?« fragte<br />

Lyra Ma Costa.<br />

»Die Oberhäupter der sechs Familien. <strong>Der</strong> andere Mann war<br />

Farder Coram.«<br />

Es war klar, wen sie mit dem anderen Mann meinte. Er war<br />

der älteste gewesen, ging am Stock und hatte, während er hinter<br />

John Faa saß, die ganze Zeit gezittert, als habe er Schüttelfrost.<br />

»Komm mit«, sagte Tony. »Ich bring dich am besten zu John<br />

Faa, damit du dich vorstellen kannst. Du redest ihn mit Lord<br />

Faa an. Ich weiß nicht, was er dich fragen wird, aber gib acht,<br />

daß du die Wahrheit sagst.«<br />

Pantalaimon hatte sich in einen Spatz verwandelt. Neugierig<br />

saß er auf Lyras Schulter, die Krallen tief im Wolfspelzmantel<br />

vergraben, während sie Tony durch die Menge folgte.<br />

133


Tony hob sie auf das Podium. Sie spürte, wie alle, die noch in<br />

der Halle waren, sie anstarrten. Ihr wurde klar, daß sie plötzlich<br />

tausend Sovereign wert war, und sie wurde rot und zögerte.<br />

Pantalaimon hüpfte ihr auf die Brust und verwandelte sich in<br />

eine Wildkatze. Er machte es sich in ihren Armen bequem und<br />

sah sich leise fauchend um.<br />

Lyra fühlte einen Stoß im Rücken und trat auf John Faa zu.<br />

Mit seinem strengen, kantigen und unbewegten Gesicht<br />

ähnelte er mehr einem steinernen Pfeiler als einem Menschen,<br />

aber er beugte sich zu ihr herunter und streckte ihr die Hand<br />

entgegen. Als sie ihre Hand hineinlegte, verschwand sie fast.<br />

»Willkommen, Lyra«, sagte er.<br />

Seine Stimme klang aus der Nähe wie das Grollen der Erde.<br />

Wäre nicht Pantalaimon gewesen und wäre nicht die versteinerte<br />

Miene von John Faa etwas weicher geworden, Lyra hätte<br />

Angst gehabt. Doch John Faa behandelte sie sehr freundlich.<br />

»Danke, Lord Faa«, antwortete sie.<br />

»Komm mit ins Besprechungszimmer, damit wir reden können«,<br />

sagte John Faa. »Bekommst du bei den Costas etwas<br />

Anständiges zu essen?«<br />

»O ja, zum Abendessen gab es Aale.«<br />

»Echte Sumpfaale, will ich hoffen.«<br />

Das Besprechungszimmer war ein behaglicher Raum. Im<br />

Kamin brannte ein großes Feuer, auf den Anrichten türmten<br />

sich Silber und Porzellan, und um einen schweren, alten Tisch,<br />

dessen Holz dunkel glänzte, standen zwölf Stühle.<br />

Die anderen Männer, die auf dem Podium gesessen hatten,<br />

waren verschwunden, nur der zitternde alte Mann war noch da.<br />

John Faa führte ihn zu einem Platz am Tisch.<br />

»Setz dich rechts von mir hin«, sagte John Faa zu Lyra; er<br />

selbst nahm auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches Platz. Lyra<br />

saß Farder Coram gegenüber. Sie fürchtete sich ein wenig vor<br />

seinem totenkopfähnlichen Gesicht und seinem unablässigen<br />

134


Zittern. Sein Dæmon war eine schöne, braun<strong>goldene</strong> Katze von<br />

stattlicher Größe, die mit erhobenem Schwanz um den Tisch<br />

herumstolzierte, anmutig Pantalaimon beäugte und dessen<br />

Nase kurz mit ihrer berührte, bevor sie sich auf dem Schoß von<br />

Farder Coram niederließ, die Augen halb schloß und leise<br />

schnurrte.<br />

Eine Frau, die Lyra vorher nicht bemerkt hatte, löste sich aus<br />

dem Schatten und brachte ein Tablett mit Gläsern, stellte es vor<br />

John Faa, knickste und verschwand. John Faa goß sich und Farder<br />

Coram aus einem Steinkrug Genever in kleine Gläser, und<br />

Lyra bekam Wein.<br />

»So«, sagte John Faa. »Du bist weggelaufen, Lyra.«<br />

»Ja.«<br />

»Und wer war die Frau, vor der du weggelaufen bist?«<br />

»Sie hieß Mrs. Coulter. Am Anfang mochte ich sie, aber dann<br />

fand ich heraus, daß sie eine von den Gobblern ist. Ich habe<br />

gehört, wie jemand sagte, wer die Gobbler sind. Sie heißen<br />

eigentlich General-Oblations-Behörde, und Mrs. Coulter ist<br />

die Leiterin dieser Behörde, weil alles ihre Idee war. Sie haben<br />

etwas vor, aber ich weiß nicht, was, nur daß ich ihr helfen sollte,<br />

Kinder für die Gobbler zu besorgen. Aber sie wußten ja<br />

nicht…«<br />

»Was wußten sie nicht?«<br />

»Also erst mal hatten sie keine Ahnung, daß ich ein paar von<br />

den entführten Kindern kannte: meinen Freund Roger, den<br />

Küchenjungen von Jordan College, und Billy Costa und ein<br />

Mädchen aus der Markthalle von Oxford. Und noch etwas…<br />

Mein Onkel, also Lord Asriel… ich habe gehört, wie sie über<br />

seine Reisen in den Norden gesprochen haben, und ich glaube<br />

nicht, daß er etwas mit den Gobblern zu tun hat. Denn ich habe<br />

dem Rektor und den Wissenschaftlern von Jordan nachspioniert,<br />

ja, und ich habe mich im Ruhezimmer versteckt, das keiner<br />

außer ihnen betreten darf, und habe gehört, wie mein<br />

135


Onkel ihnen alles von seiner Expedition in den Norden erzählt<br />

hat und von diesem Staub, den er gesehen hat; und er hat den<br />

Kopf von Stanislaus Grumman mitgebracht, in den die Tataren<br />

ein Loch gebohrt haben. Und jetzt haben die Gobbler ihn<br />

irgendwo eingesperrt, wo ihn die gepanzerten Bären bewachen,<br />

und ich möchte ihn befreien.«<br />

Sie sah grimmig und wild entschlossen aus, wie sie da saß, ein<br />

kleines Mädchen vor der hohen, mit Schnitzereien verzierten<br />

Lehne des Stuhles. Die beiden alten Männer konnten ein<br />

Lächeln nicht unterdrücken. Während das Lächeln von Farder<br />

Coram zögernd und vieldeutig über sein Gesicht huschte wie<br />

ein den Schatten hinterherjagender Sonnenstrahl an einem<br />

windigen Märztag, war John Faas Lächeln langsam, herzlich,<br />

klar und offen.<br />

»Erzähl uns, was dein Onkel an jenem Abend gesagt hat«,<br />

meinte John Faa. »Und laß nichts aus. Wir wollen alles hören.«<br />

Lyra gehorchte und berichtete langsamer, aber auch genauer<br />

als bei den Costas. Sie hatte Angst vor John Faa, und am meisten<br />

fürchtete sie seine Freundlichkeit. Als sie geendet hatte, sprach<br />

Farder Coram zum ersten Mal. Seine Stimme war voll und<br />

melodisch, mit ebenso vielen Abstufungen im Tonfall, wie Farben<br />

im Pelz seines Dæmons schimmerten.<br />

»Lyra«, fragte er, »haben die Wissenschaftler diesen Staub<br />

jemals anders genannt?«<br />

»Nein, immer nur Staub. Mrs. Coulter erklärte mir, daß er<br />

aus Elementarteilchen besteht, aber anders hat sie ihn auch<br />

nicht genannt.«<br />

»Und sie glauben, daß sie durch irgendwelche Experimente<br />

mit Kindern mehr über ihn herausfinden können?«<br />

»Ja, aber ich weiß nicht, was. Das heißt, mein Onkel… Ich<br />

hab vergessen, Ihnen etwas zu erzählen. Er hatte noch ein anderes<br />

Lichtbild, das er ihnen zeigte. Darauf waren die Rohre zu<br />

sehen…«<br />

136


»Die was?« fragte John Faa.<br />

»Die Aurora«, sagte Farder Coram. »Stimmt das, Lyra?«<br />

»Ja, genau, das war’s. Und im Schein der Rohre sah man so<br />

etwas wie eine Stadt, mit Türmen und Kirchen und Kuppeln<br />

und so weiter. Ein bißchen wie Oxford, fand ich jedenfalls. Und<br />

ich glaube, Onkel Asriel interessierte sich vor allem dafür, aber<br />

der Rektor und die Wissenschaftler wollten mehr über Staub<br />

hören, genau wie Mrs. Coulter und Lord Boreal und die anderen.«<br />

»Ich verstehe«, sagte Farder Coram. »Das ist sehr interessant.«<br />

»Gut, Lyra«, sagte John Faa, »nun will ich dir etwas erzählen.<br />

Unser Farder Coram hier ist ein weiser Mann. Er ist ein Seher.<br />

Er hat alles verfolgt, was mit Staub und mit den Gobblern und<br />

Lord Asriel und allem anderen zu tun hat und auch mit dir.<br />

Jedesmal, wenn die Costas und ein halbes Dutzend anderer<br />

Familien nach Oxford fuhren, kehrten sie mit ein paar Neuigkeiten<br />

zurück. Über dich, mein Kind. Wußtest du das?«<br />

Lyra schüttelte den Kopf. Langsam wurde ihr das unheimlich.<br />

Pantalaimon knurrte unhörbar tief in seinem Innern, aber<br />

sie spürte es in den Fingerspitzen, die sie in sein Fell gegraben<br />

hatte.<br />

»Ja«, sagte John Faa, »unser Farder Coram erfährt alles, was<br />

du tust.«<br />

Jetzt platzte es aus Lyra heraus.<br />

»Wir haben es nicht kaputt gemacht, Ehrenwort! Nur drekkig!<br />

Und wir sind nicht weit gefahren…«<br />

»Wovon sprichst du, mein Kind?« fragte John Faa.<br />

Farder Coram lachte, und beim Lachen hörte er auf zu zittern,<br />

und sein Gesicht strahlte und sah auf einmal sehr jung aus.<br />

Aber Lyra war nicht zum Lachen zumute, und ihre Lippen<br />

bebten. »Selbst wenn wir den Stöpsel gefunden hätten, nie im<br />

Leben hätten wir ihn herausgezogen! Es war doch alles nur<br />

Spaß. Niemals hätten wir es versenkt!«<br />

137


Da begann auch John Faa zu lachen. Mit der flachen Hand<br />

schlug er so kräftig auf den Tisch, daß die Gläser klirrten, und<br />

seine massigen Schultern zuckten, und er mußte sich die Tränen<br />

aus den Augen wischen. Lyra hatte so etwas noch nie gesehen,<br />

geschweige denn ein solches Brüllen gehört; es klang, als<br />

lache ein Berg.<br />

»Ach ja«, keuchte er, als er wieder sprechen konnte, »davon<br />

haben wir auch gehört, Mädchen! Und ich weiß, daß die Costas<br />

seitdem auf Schritt und Tritt daran erinnert werden. ›Laß lieber<br />

eine Wache auf deinem Boot, Tony‹, spotten die Leute. ›Hier<br />

treiben sich böse kleine Mädchen herum!‹ Diese Geschichte hat<br />

sich wie ein Lauffeuer überall in den Fens ausgebreitet. Aber<br />

wir bestrafen dich dafür nicht. Nein, nein! Sei unbesorgt.«<br />

Er sah Farder Coram an, und die beiden Männer lachten<br />

wieder, wenn auch diesmal leiser.<br />

Lyra war beruhigt.<br />

Schließlich schüttelte John Faa den Kopf und wurde wieder<br />

ernst.<br />

»Lyra, was ich sagen wollte, war, daß wir dich von Kind auf<br />

kennen. Seit du ein Baby warst. Und du sollst wissen, was wir<br />

wissen. Ich habe keine Ahnung, was sie dir in Jordan College<br />

über deine Herkunft erzählt haben, jedenfalls kennt man dort<br />

nicht die ganze Wahrheit. Haben sie dir je gesagt, wer deine<br />

Eltern waren?«<br />

Nun war Lyra völlig verwirrt.<br />

»Ja«, antwortete sie. »Sie sagten, ich sei… sie sagten, sie… sie<br />

sagten also, Lord Asriel hätte mich ins College gebracht, weil<br />

meine Eltern beim Absturz eines Luftschiffes gestorben sind.<br />

Das sagten sie.«<br />

»So, so. Na gut, Kind, jetzt erzähle ich dir eine andere<br />

Geschichte, eine wahre Geschichte. Daß sie wahr ist, weiß ich,<br />

weil eine Gypterin sie mir erzählt hat und kein Gypter jemals<br />

John Faa oder Farder Coram belügen würde. Also höre die<br />

138


Wahrheit über dich, Lyra. Dein Vater kam nicht bei einem<br />

Luftunfall ums Leben, denn dein Vater ist Lord Asriel.«<br />

Lyra erstarrte.<br />

»Es war so«, fuhr John Faa fort. »Als junger Mann unternahm<br />

Lord Asriel ausgedehnte Forschungsreisen in den Norden und<br />

kehrte mit einem großen Vermögen zurück Er war ein temperamentvoller<br />

Mensch, aufbrausend und leidenschaftlich. Auch<br />

deine Mutter war eine leidenschaftliche Frau. Zwar nicht von<br />

so vornehmer Herkunft wie er, aber sehr klug. Sie war Studentin,<br />

und alle, die sie sahen, sagten, sie sei sehr schön. Sie und dein<br />

Vater verliebten sich gleich bei ihrer ersten Begegnung ineinander.<br />

Das Problem war jedoch, daß deine Mutter bereits verheiratet<br />

war. Sie hatte einen Politiker geheiratet, ein Mitglied der<br />

Partei des Königs und einer von dessen engsten Beratern. Einen<br />

aufstrebenden Mann.<br />

Als deine Mutter merkte, daß sie schwanger war, fürchtete<br />

sie sich davor, ihrem Mann zu gestehen, daß das Kind nicht von<br />

ihm war. Und als das Baby zur Welt kam — und das warst du,<br />

Mädchen —, war auf den ersten Blick klar, daß du nicht ihrem<br />

Mann, sondern deinem wahren Vater ähnlich sahst, und deshalb<br />

hielt deine Mutter es für das Beste, dich zu verstecken und<br />

so zu tun, als wärst du gestorben.<br />

Also wurdest du nach Oxfordshire gebracht, wo dein Vater<br />

Land besaß, und in die Obhut einer gyptischen Amme gegeben.<br />

Aber irgend jemand verriet dem Mann deiner Mutter, was<br />

geschehen war. Sofort eilte er dorthin und durchsuchte die<br />

Hütte der Gypterin, doch sie war in das Herrenhaus geflohen,<br />

wohin der Mann deiner Mutter ihr in mörderischem Zorn<br />

folgte. Dein Vater war auf der Jagd, aber man benachrichtigte<br />

ihn, und er kam gerade noch rechtzeitig, um sich dem Mann<br />

deiner Mutter am Fuß der großen Treppe in den Weg zu stellen.<br />

Einen Augenblick später, und er hätte den Schrank aufgebrochen,<br />

in dem sich die Gypterin mit dir versteckte; so aber for­<br />

139


derte Lord Asriel ihn zum Duell, und sie kämpften auf den Stufen,<br />

und Lord Asriel tötete ihn. Die Gypterin hat alles gesehen<br />

und gehört, Lyra, und von ihr haben wir es erfahren.<br />

Danach kam es zu einem großen Rechtsstreit. Dein Vater ist<br />

kein Mann, der die Wahrheit abstreitet oder vertuscht, und der<br />

Fall brachte die Richter in Bedrängnis. Zwar hatte dein Vater<br />

getötet und Blut vergossen, aber im Grunde hatte er ja nur sein<br />

Haus und sein Kind gegen einen Eindringling verteidigt. Andererseits<br />

erlaubt das Gesetz jedem Mann, die Vergewaltigung<br />

seiner Frau zu rächen, und die Anwälte des Toten behaupteten,<br />

nichts anderes hätte ihr Mandant vorgehabt.<br />

<strong>Der</strong> Fall zog sich wochenlang hin, und Berge von Beweisen<br />

und Gegenbeweisen wurden hin- und hergeschoben. Am Ende<br />

bestraften die Richter Lord Asriel, indem sie sein ganzes Vermögen<br />

und seine Ländereien beschlagnahmten und ihn, der<br />

reicher als der König gewesen war, zu einem armen Mann<br />

machten.<br />

Was deine Mutter anbelangt: Sie wollte von alldem nichts<br />

wissen, auch von dir nicht. Sie ließ dich im Stich. Die gyptische<br />

Amme erzählte mir, sie hätte oft Angst gehabt, deine Mutter,<br />

eine stolze und hochmütige Frau, könnte dir etwas antun.<br />

Soviel zu ihr.<br />

Dann gab es noch dich. Wäre die Sache anders ausgegangen,<br />

wärst du vielleicht als Gypterin erzogen worden, Lyra, denn die<br />

Gypterin flehte das Gericht an, dich ihr zu überlassen; aber wir<br />

Gypter haben einen schweren Stand vor dem Gesetz. Das<br />

Gericht entschied, daß du in einem Kloster untergebracht werden<br />

solltest, und so kamst du zu den Demütigen Schwestern<br />

von Watlington. Daran wirst du dich kaum erinnern.<br />

Doch Lord Asriel widersetzte sich diesem Urteil. Er haßte<br />

Äbte, Mönche und Nonnen, und als eigenmächtiger Mann, der<br />

er war, kam er eines Tages angeritten und nahm dich mit. Allerdings<br />

nicht, um sich selbst deiner anzunehmen oder dich den<br />

140


Gyptern zu überlassen, sondern er brachte dich nach Jordan<br />

College und warnte das Gericht davor, seine Tat rückgängig zu<br />

machen.<br />

Das Gericht ließ den Dingen ihren Lauf. Lord Asriel widmete<br />

sich wieder seinen Forschungen, und du lebtest in Jordan<br />

College. Alles, was dein Vater verlangte, seine einzige Bedingung<br />

war, daß deine Mutter dich nicht sehen dürfe. Jeder Versuch<br />

von ihr mußte verhindert und ihm mitgeteilt werden,<br />

denn all sein Zorn richtete sich mittlerweile gegen sie. <strong>Der</strong> Rektor<br />

versprach ihm das hoch und heilig, und so verging die Zeit.<br />

Dann brach plötzlich die Aufregung um diesen Staub aus.<br />

Gelehrte Männer und Frauen im ganzen Land und auf der ganzen<br />

Welt fingen besorgt an, darüber zu forschen. Uns Gypter<br />

hätte das nicht weiter interessiert, wären nicht eines Tages unsere<br />

Kinder entführt worden. Von da an wurden wir hellhörig. Wir<br />

knüpften Verbindungen, unter anderem zu Jordan College.<br />

Wahrscheinlich wußtest du nichts davon, aber es gab dort<br />

jemanden, der dich seit deiner Ankunft bewachte und uns darüber<br />

berichtete. Denn dein Schicksal lag uns am Herzen, und<br />

deine gyptische Amme hörte nie auf, sich um dich zu sorgen.«<br />

»Wer hat denn über mich berichtet?« fragte Lyra. Sie kam<br />

sich ungeheuer wichtig vor und war erstaunt, daß ihr Tun mit<br />

derartigem Interesse von so weit weg verfolgt worden war.<br />

»Ein Bediensteter aus der Küche, Bernie Johansen, der Konditor.<br />

Er ist Halbgypter, was du sicher nicht gewußt hast.«<br />

Bernie war ein freundlicher, alleinstehender Mann gewesen,<br />

einer der wenigen Menschen, deren Dæmonen das gleiche<br />

Geschlecht hatten wie sie selbst. Bernie war es gewesen, den sie<br />

in ihrer Verzweiflung angeschrien hatte, als Roger entführt<br />

worden war. Bernie hatte den Gyptern also alles erzählt! Lyra<br />

staunte.<br />

»Und dann«, fuhr John Faa fort, »erfuhren wir, daß du Jordan<br />

College verlassen solltest, und zwar genau zu der Zeit, als Lord<br />

141


Asriel verhaftet wurde und es nicht verhindern konnte. Wir<br />

erinnerten uns daran, daß er dem Rektor befohlen hatte, so<br />

etwas niemals zuzulassen; außerdem wußten wir noch, daß der<br />

Mann, mit dem deine Mutter verheiratet gewesen war, der<br />

Politiker also, den Lord Asriel getötet hatte, Edward Coulter<br />

geheißen hatte.«<br />

»Mrs. Coulter?« fragte Lyra bestürzt. »Sie ist meine Mutter?«<br />

»Ja. Wenn dein Vater nicht gefangen gewesen wäre, hätte sie<br />

niemals gewagt, ihm zu trotzen, und du wärst immer noch in<br />

Jordan, ohne davon etwas zu ahnen. Aber daß der Rektor dich<br />

gehen ließ, ist ein unerklärliches Rätsel. Er war für dich verantwortlich.<br />

Ich kann nur vermuten, daß sie ihn irgendwie in der<br />

Hand hatte.«<br />

Plötzlich verstand Lyra das merkwürdige Verhalten des Rektors<br />

am Morgen ihrer Abreise.<br />

»Aber er wollte nicht…«, begann sie und versuchte sich<br />

genau zu erinnern. »Er… Ich sollte an diesem Morgen ganz früh<br />

zu ihm kommen und durfte Mrs. Coulter nichts davon sagen…<br />

Er schien mich irgendwie vor Mrs. Coulter schützen zu wollen…«<br />

Sie stockte und warf einen abschätzenden Blick auf die<br />

beiden Männer. Dann beschloß sie, ihnen die Wahrheit über<br />

den Vorfall im Ruhezimmer zu sagen. »Da war übrigens noch<br />

was. An dem Abend, als ich mich im Ruhezimmer versteckte,<br />

sah ich, wie der Rektor versuchte, Lord Asriel zu vergiften. Ich<br />

beobachtete, wie er ein Pulver in den Wein schüttete, und<br />

erzählte meinem Onkel davon. Er stieß die Karaffe vom Tisch<br />

und verschüttete den Wein. So habe ich ihm das Leben gerettet.<br />

Aber ich konnte nicht verstehen, warum der Rektor, der immer<br />

so freundlich war, ihn vergiften wollte. Dann, am Morgen, als<br />

ich fortging, rief er mich in aller Frühe in sein Arbeitszimmer.<br />

Ich mußte heimlich hingehen, damit niemand davon erfuhr,<br />

und er sagte dann…« Lyra überlegte angestrengt, was genau der<br />

Rektor gesagt hatte, doch vergeblich. Sie schüttelte den Kopf.<br />

142


»Ich verstand nur, daß er mir etwas geben wollte, das ich vor<br />

Mrs. Coulter geheim halten mußte. Aber Ihnen kann ich es,<br />

glaube ich, verraten…«<br />

Lyra griff in die Tasche des Wolfspelzmantels und holte das<br />

in Samt eingewickelte Päckchen heraus. Sie legte es auf den<br />

Tisch und spürte die fragenden Blicke der beiden Männer, die<br />

unverhohlene Neugier John Faas und den lebhaften Verstand<br />

Farder Corams.<br />

Als sie das Alethiometer ausgewickelt hatte, sprach als erster<br />

Farder Coram.<br />

»Nie hätte ich mir träumen lassen, jemals wieder ein solches<br />

Instrument zu Gesicht zu bekommen. Das ist ein Zeichendeuter.<br />

Hat der Rektor noch etwas darüber gesagt, mein Kind?«<br />

»Nein, nur daß ich selbst herausfinden muß, wie man es liest.<br />

Und er nannte es Alethiometer.«<br />

»Was heißt das?« wollte John Faa wissen.<br />

»Alethiometer ist griechisch. Ich glaube, es kommt von<br />

aletheia, was Wahrheit bedeutet. Es handelt sich also um einen<br />

Wahrheitsmesser. Weißt du inzwischen, wie man es benutzt,<br />

Lyra?«<br />

»Nein. Ich kann zwar die drei kurzen Zeiger auf verschiedene<br />

Bilder stellen, aber mit dem langen kann ich nichts anfangen.<br />

Er schlägt nach allen möglichen Seiten aus. Nur manchmal,<br />

wenn ich mich konzentriere, kann ich die lange Nadel<br />

durch meine Gedanken in die eine oder andere Richtung lenken.«<br />

»Wozu ist es gut, Farder Coram?« fragte John Faa. »Und wie<br />

liest man es?«<br />

»All diese Bilder hier am Rand sind Symbole«, sagte Farder<br />

Coram und hielt das Alethiometer vorsichtig John Faa entgegen,<br />

der verständnislos daraufblickte. »Jedes von ihnen hat verschiedene<br />

Bedeutungen. Nimm zum Beispiel den Anker hier.<br />

Zunächst einmal bedeutet er Hoffnung, denn die Hoffnung<br />

143


hält dich fest wie ein Anker und verhindert, daß du abtreibst.<br />

Seine zweite Bedeutung ist Beständigkeit. Drittens kann er<br />

Schwierigkeiten oder ein Hindernis bedeuten. Viertens verkörpert<br />

er das Meer, und so weiter. Er kann bis zu zehn, zwölf oder<br />

sogar unendlich viele Bedeutungen haben.«<br />

»Und Ihr kennt sie alle?«<br />

»Ich kenne einige, aber um alle zu verstehen, brauchte ich das<br />

Buch. Ich habe das Buch gesehen und weiß, wo es sich befindet,<br />

aber ich habe es nicht.«<br />

»Darüber müssen wir noch sprechen«, sagte John Faa. »Aber<br />

jetzt erklärt uns weiter, wie man das Instrument liest.«<br />

»Es gibt also drei Zeiger, die man bewegen kann«, sagte Farder<br />

Coram, »und man kann mit ihnen eine Frage stellen. Indem<br />

man sie auf drei Symbole richtet, läßt sich jede beliebige Frage<br />

stellen, denn jedes Symbol verweist ja wieder auf viele Ebenen.<br />

Sobald man eine Frage formuliert hat, schlägt die lange Nadel<br />

aus und zeigt auf weitere Symbole, in denen die Antwort<br />

steckt.«<br />

»Aber woher weiß die Nadel, welche Ebene mit der jeweiligen<br />

Frage angesprochen wird?« fragte John Faa.<br />

»Von allein weiß sie es nicht. Es funktioniert nur, wenn der<br />

Fragesteller zur gleichen Zeit an die Ebenen denkt. Zunächst<br />

muß er alle Bedeutungen kennen, und das dürften mindestens<br />

tausend sein. Dann muß er sie im Gedächtnis behalten und darf<br />

weder eingreifen noch ungeduldig werden, wenn die Nadel<br />

sich dreht. Wenn sie das Zifferblatt einmal umrundet hat, kennt<br />

er die Antwort. Ich weiß, wie es funktioniert, weil ich in Uppsala<br />

einmal einem Weisen dabei zugeschaut habe, aber das war<br />

bis zum heutigen Tag meine einzige Begegnung mit einem<br />

Alethiometer. Weißt du, wie selten sie sind, Lyra?«<br />

»<strong>Der</strong> Rektor sagte, daß nur sechs gebaut wurden.«<br />

»Wie viele es auch immer sein mögen, jedenfalls sind es nicht<br />

viele.«<br />

144


»Und du hast Mrs. Coulter nichts davon gesagt, wie der Rektor<br />

dir aufgetragen hatte?« fragte John Faa.<br />

»Ja. Aber ihr Dæmon schnüffelte oft in meinem Zimmer<br />

herum, und ich bin sicher, daß er das Alethiometer entdeckt<br />

hat.«<br />

»Ich verstehe. Hör zu, Lyra, ich weiß nicht, ob wir jemals die<br />

volle Wahrheit erfahren werden, aber nach allem, was ich weiß,<br />

vermute ich folgendes. <strong>Der</strong> Rektor wurde von Lord Asriel<br />

beauftragt, für dich zu sorgen und dich vor deiner Mutter zu<br />

schützen, was er auch zehn Jahre oder noch länger tat. Dann<br />

gründete Mrs. Coulter mit Unterstützung ihrer Freunde in der<br />

Kirche die Oblations-Behörde, wobei wir nicht wissen, welche<br />

Absicht dahintersteckte, und wurde auf diese Weise ebenso<br />

mächtig wie Lord Asriel. Deine Eltern sind einflußreich und<br />

ehrgeizig, und der Rektor von Jordan stand zwischen beiden.<br />

Nun muß sich der Rektor aber um viele Dinge kümmern.<br />

Sein wichtigstes Anliegen ist das College mit seinen Wissenschaftlern.<br />

Sieht er es bedroht, muß er etwas unternehmen.<br />

Und die Kirche, Lyra, ist in letzter Zeit immer mächtiger<br />

geworden. Beim geringsten Anlaß werden Konzile einberufen,<br />

und es ist sogar die Rede davon, die Inquisitionsbehörde wiederzubeleben,<br />

wovor Gott uns bewahren möge. <strong>Der</strong> Rektor<br />

muß vorsichtig zwischen all diesen Mächten taktieren. Er muß<br />

verhindern, daß Jordan College der Kirche abtrünnig wird,<br />

sonst könnte es nicht überleben.<br />

Aber auch du liegst dem Rektor am Herzen, mein Kind. Bernie<br />

Johansen hat uns das immer wieder versichert. <strong>Der</strong> Rektor<br />

von Jordan und die Wissenschaftler haben dich wie ihr eigenes<br />

Kind geliebt. Sie hätten alles getan, um dich zu schützen, und<br />

zwar nicht nur, weil sie es Lord Asriel versprochen hatten, sondern<br />

deinetwegen. Wenn dich der Rektor also Mrs. Coulter<br />

anvertraute, obwohl er Lord Asriel das Gegenteil versprochen<br />

hatte, muß er trotz allem geglaubt haben, du wärst bei ihr siche­<br />

145


er aufgehoben als in Jordan College. Und als er versuchte, Lord<br />

Asriel zu vergiften, muß er befürchtet haben, Lord Asriels Tun<br />

würde euch alle und vielleicht auch uns oder sogar die ganze<br />

Welt in Gefahr bringen. <strong>Der</strong> Rektor ist für mich ein Mann, der<br />

vor schreckliche Entscheidungen gestellt ist; wofür er sich auch<br />

entscheidet, es wird verhängnisvolle Folgen haben, aber vielleicht<br />

richtet die richtige Entscheidung weniger Schaden an als<br />

die falsche. Möge Gott mich vor solchen Entscheidungen<br />

bewahren.<br />

Und als er dich gehen lassen mußte, gab er dir den Zeichendeuter<br />

und beschwor dich, ihn sicher zu verwahren. Ich frage<br />

mich, was du seiner Meinung nach damit machen sollst. Da du<br />

ihn nicht lesen kannst, ist mir schleierhaft, was er damit beabsichtigt<br />

hat.«<br />

»Er meinte, Onkel Asriel hätte das Alethiometer Vorjahren<br />

Jordan College geschenkt«, sagte Lyra. Wieder versuchte sie<br />

angestrengt, sich zu erinnern. »Und er wollte noch etwas anderes<br />

sagen, aber da klopfte es, und er konnte nicht weitersprechen.<br />

Vielleicht wollte er mir sagen, ich sollte es auch vor Lord<br />

Asriel verstecken.«<br />

»Oder auch das Gegenteil«, sagte John Faa.<br />

»Was meinst du damit, John?« fragte Farder Coram.<br />

»Vielleicht wollte er Lyra bitten, es Lord Asriel zurückzugeben,<br />

als eine Art Wiedergutmachung dafür, daß er versucht<br />

hatte, ihn zu vergiften. Vielleicht glaubte er, daß von Lord<br />

Asriel keine Gefahr mehr ausgehe. Oder daß das Instrument<br />

Lord Asriel Dinge offenbaren und ihn damit von seinen Zielen<br />

abbringen würde. Wenn Lord Asriel jetzt gefangengehalten<br />

wird, könnte es ihm helfen freizukommen. Tja, Lyra, am besten<br />

nimmst du den Zeichendeuter wieder an dich und paßt gut auf<br />

ihn auf. Du hast ihn ja bis jetzt sicher aufbewahrt, ich überlasse<br />

ihn dir unbesorgt. Aber eines Tages brauchen wir vielleicht seinen<br />

Rat, und dann werden wir dich wohl darum bitten.«<br />

146


Er legte den Samt wieder über dem Alethiometer zusammen<br />

und schob es über den Tisch zurück.<br />

Lyra hätte gern noch alle möglichen Fragen gestellt, empfand<br />

aber plötzlich Scheu vor dem massigen Mann mit den von<br />

Falten und Runzeln umgebenen, scharfen und zugleich<br />

freundlichen Augen.<br />

Aber eines mußte sie noch wissen.<br />

»Wer war die Gypterin, die mich gestillt hat?«<br />

»Ach so, das war natürlich Billy Costas Mutter. Sie hat es dir<br />

nicht gesagt, weil ich es ihr verboten habe, aber sie weiß, worüber<br />

wir uns hier unterhalten, und du sollst es ruhig wissen. Du<br />

gehst jetzt am besten zu ihr zurück. Du hast eine Menge zum<br />

Nachdenken, mein Kind. In drei Tagen haben wir wieder ein<br />

Thing, und dort besprechen wir, was wir tun werden. Mach’s<br />

gut. Gute Nacht, Lyra.«<br />

»Gute Nacht, Lord Faa, gute Nacht, Farder Coram«, sagte<br />

Lyra höflich und drückte mit einer Hand das Alethiometer an<br />

die Brust, mit der anderen Pantalaimon.<br />

Die beiden Alten lächelten ihr freundlich zu. Vor der Tür des<br />

Besprechungszimmers wartete Ma Costa, und als wäre seit<br />

Lyras Geburt nichts geschehen, schloß die Bootsmutter sie in<br />

ihre mächtigen Arme und gab ihr einen Kuß, bevor sie sie zum<br />

Boot zurückbrachte.<br />

147


Acht<br />

Enttäuschung<br />

Lyra mußte sich erst daran gewöhnen, was sie über ihre Vergangenheit<br />

erfahren hatte, und das konnte nicht von heute auf<br />

morgen gelingen. Daß Lord Asriel ihr Vater war, nun gut, doch<br />

Mrs. Coulter als Mutter zu akzeptieren war längst nicht so einfach,<br />

auch wenn sie darüber vor wenigen Monaten noch begeistert<br />

gewesen wäre, wie sie sich verwirrt eingestehen mußte.<br />

Doch es war nicht Lyras Art, sich lange zu grämen. Schließlich<br />

gab es in der Stadt vieles zu entdecken, und nur zu gern verblüffte<br />

sie die gyptischen Kinder mit ihren Geschichten. Noch<br />

vor Ablauf der drei Tage war sie eine Meisterin im Stocherkahnfahren<br />

— oder hielt sich zumindest dafür — und hatte eine<br />

Schar von Kindern um sich versammelt, die gebannt den<br />

Geschichten über ihren mächtigen, zu Unrecht gefangengehaltenen<br />

Vater lauschten.<br />

»Und dann war eines Abends der türkische Botschafter zum<br />

Abendessen in Jordan. Er hatte vom Sultan persönlich den Auftrag,<br />

meinen Vater zu töten, und er trug am Finger einen Ring<br />

mit einem Stein, der innen hohl und mit Gift gefüllt war. Als<br />

der Wein bei Tisch herumgereicht wurde, tat er so, als wolle er<br />

über das Glas meines Vaters langen, und dabei schüttete er<br />

heimlich das Gift hinein. Das geschah so schnell, daß niemand<br />

es sah, außer…«<br />

148


»Was denn für ein Gift?« wollte ein Mädchen mit magerem<br />

Gesicht wissen.<br />

»Das Gift einer ganz besonderen türkischen Schlange«,<br />

phantasierte Lyra, »die durch Flötenspiel angelockt wird. Dann<br />

wirft man ihr einen in Honig getränkten Schwamm hin, und<br />

wenn die Schlange hineinbeißt, bleibt sie mit ihren Zähnen<br />

darin hängen. Dann packt man sie und zapft ihr das Gift ab.<br />

Jedenfalls hatte mein Vater gesehen, was der Türke getan hatte,<br />

und er sagte: Meine Herren, ich möchte einen Toast auf die<br />

Freundschaft zwischen Jordan College und dem College von<br />

Izmir ausbringen.‹ Dem College von Izmir gehörte nämlich der<br />

türkische Botschafter an. Dann sagte er: ›Und zum Zeichen<br />

unserer Freundschaft wollen wir die Gläser austauschen und<br />

aus dem Glas unseres Nachbarn trinken.‹<br />

Da saß der türkische Botschafter in der Klemme, denn eine<br />

Weigerung wäre eine tödliche Beleidigung gewesen, und weil<br />

er wußte, daß der Wein vergiftet war, konnte er ihn auch nicht<br />

trinken. Er wurde totenblaß und fiel in Ohnmacht. Als er wieder<br />

zu sich kam, saßen die anderen alle noch wartend da und<br />

sahen ihn an. Und da mußte er entweder das Gift trinken oder<br />

alles zugeben.«<br />

»Und was hat er getan?«<br />

»Er hat es getrunken. Er brauchte fünf volle Minuten, um zu<br />

sterben, und litt die ganze Zeit furchtbare Qualen.«<br />

»Warst du dabei?«<br />

»Nein, denn Mädchen dürfen nicht am Tisch mit den<br />

Ehrengästen sitzen. Aber hinterher, als man ihn aufbahrte, habe<br />

ich seine Leiche gesehen. Die Haut war verschrumpelt wie ein<br />

alter Apfel, und die Augen waren schon fast aus dem Kopf<br />

gesprungen. Man mußte sie wirklich wieder in die Augenhöhlen<br />

hineindrücken…«<br />

Und so weiter.<br />

Zur gleichen Zeit klopfte die Polizei am Rand der Fens an<br />

149


Türen, durchsuchte Dachkammern und Nebengebäude, überprüfte<br />

Papiere und verhörte jeden, der behauptete, ein kleines<br />

blondes Mädchen gesehen zu haben. In Oxford wurde noch<br />

verbissener gefahndet. Jordan College wurde von der staubigsten<br />

Rumpelkammer bis zum finstersten Keller durchkämmt,<br />

desgleichen die Colleges von Gabriel und St. Michael, bis die<br />

Leiter aller Colleges gemeinsam protestierten und auf ihre<br />

alten Rechte pochten. Das einzige, was Lyra von dieser Suche<br />

mitbekam, war das unaufhörliche Brummen der am Himmel<br />

kreuzenden, mit Gasmotoren betriebenen Luftschiffe. Wegen<br />

der tiefhängenden Wolken und der gesetzlich vorgeschriebenen<br />

Mindestflughöhe über den Fens waren die Luftschiffe zwar<br />

nicht zu sehen, aber niemand wußte, ob sie nicht ausgeklügelte<br />

Spionagegeräte an Bord hatten. Auf jeden Fall ging Lyra in<br />

Deckung, sobald sie sie hörte, oder sie bedeckte ihr auffallend<br />

helles Haar mit ihrem Regenhut aus Ölzeug.<br />

Sie fragte Ma Costa über jede Einzelheit ihrer Geburt und<br />

der Zeit danach aus. Die einzelnen Ereignisse verwob sie in<br />

ihrer Phantasie zu einem Bildteppich, der noch anschaulicher<br />

und suggestiver war als ihre erfundenen Geschichten. Immer<br />

wieder malte sie sich die Flucht aus der Hütte aus, das Versteck<br />

im Schrank, die barsche Herausforderung zum Duell, das Klirren<br />

der Schwerter…<br />

»Schwerter? Großer Gott, Mädchen, wo denkst du hin?« rief<br />

Ma Costa. »Mr. Coulter hatte ein Gewehr, und Lord Asriel<br />

schlug es ihm aus der Hand und streckte ihn mit einem Schlag<br />

nieder. Dann fielen zwei Schüsse. Erstaunlich, daß du das nicht<br />

mehr weißt, aber du warst noch klein. Den ersten Schuß hatte<br />

Edward Coulter abgegeben, der sein Gewehr wieder in die<br />

Hände bekam und einfach losfeuerte. <strong>Der</strong> zweite stammte von<br />

Lord Asriel, der Coulter das Gewehr ein zweites Mal entriß und<br />

auf ihn anlegte. Lord Asriel schoß ihm genau zwischen die<br />

Augen, so daß er keinen Muckser mehr tat. Dann sagte er see­<br />

150


lenruhig: ›Kommen Sie raus, Mrs. Costa, und geben Sie mir das<br />

Kind‹, denn ihr beide, du und dein Dæmon, habt fürchterlich<br />

geschrien. Er nahm dich und wiegte dich in den Armen, nahm<br />

dich auf die Schultern, lief glänzend gelaunt mit dir auf und ab,<br />

den Toten zwischen den Füßen, rief nach Wein und befahl mir,<br />

den Boden aufzuwischen.«<br />

Nach der vierten Wiederholung der Geschichte war Lyra<br />

vollkommen überzeugt, sich an alles zu erinnern, und ergänzte<br />

sogar noch die Farbe von Mr. Coulters Mantel oder zählte auf,<br />

welche Umhänge und Pelze im Schrank hingen. Ma Costa<br />

lachte.<br />

Immer wenn Lyra allein war, holte sie das Alethiometer heraus<br />

und vertiefte sich in seinen Anblick wie eine Liebende in<br />

das Bild des Geliebten. Jedes Bild hatte also mehrere Bedeutungen.<br />

Warum sollte sie die nicht herausfinden? Schließlich war<br />

sie die Tochter Lord Asriels!<br />

Sie rief sich die Worte Farder Corams in Erinnerung und<br />

versuchte, sich auf drei willkürlich ausgewählte Symbole zu<br />

konzentrieren, und ließ die Zeiger an den entsprechenden Stellen<br />

einrasten. Wenn sie das Alethiometer auf ihre Handfläche<br />

legte und es mit einem besonders trägen Blick anschaute und<br />

sich hineinvertiefte, schien die lange Nadel sich zielstrebiger zu<br />

bewegen. Statt unberechenbar auf dem Zifferblatt hin- und<br />

herzupendeln, schwang sie gleichmäßig von Bild zu Bild.<br />

Manchmal verweilte sie bei drei, manchmal bei zwei, manchmal<br />

bei fünf oder mehr Bildern, und wenn auch Lyra von alldem<br />

nichts begriff, bereitete es ihr doch eine tiefe Befriedigung,<br />

die anders war als alles, was sie kannte. Pantalaimon beugte sich<br />

als Katze oder als Maus über das Zifferblatt und folgte der<br />

Nadel mit dem Kopf, und ein- oder zweimal hatten beide das<br />

Gefühl, gleichsam ahnungsweise etwas zu verstehen, als würde<br />

ein Sonnenstrahl die Wolken durchstoßen und in der Ferne ein<br />

majestätisches Gebirge aufleuchten lassen — etwas völlig Uner­<br />

151


wartetes, weit jenseits ihrer bisherigen Vorstellungen. Lyra<br />

überkam dann dasselbe prickelnde Gefühl, das sie ihr Leben<br />

lang gespürt hatte, wenn sie das Wort Norden hörte.<br />

Drei Tage vergingen, in denen zwischen den zahllosen Booten<br />

und dem Zaal ein ständiges Kommen und Gehen herrschte.<br />

Dann kam der Abend des zweiten Things. <strong>Der</strong> Saal war noch<br />

voller als beim ersten Mal, falls das überhaupt möglich war.<br />

Lyra und die Costas waren rechtzeitig erschienen und saßen in<br />

der ersten Reihe, und sobald man im flackernden Licht erkennen<br />

konnte, daß der Saal voll war, betraten John Faa und Farder<br />

Coram das Podium und setzten sich hinter den Tisch. John Faa<br />

brauchte nicht um Ruhe zu bitten; es genügte, daß er seine großen<br />

Hände flach auf den Tisch legte und zu den Menschen hinunterschaute,<br />

und schon erstarb der Lärm.<br />

»Ihr habt getan, worum ich euch gebeten hatte«, begann er.<br />

»Meine Hoffnungen wurden sogar noch übertroffen. Ich bitte<br />

jetzt die Oberhäupter der sechs Familien heraufzukommen, das<br />

Gold zu übergeben und zu sagen, wie viele Männer sie aufstellen<br />

können. Nicholas Rokeby, du bist der erste.«<br />

Ein stämmiger Mann mit einem schwarzen Bart stieg aufs<br />

Podium und stellte einen schweren Ledersack auf den Tisch.<br />

»Hier ist unser Gold«, sagte er. »Außerdem stellen wir achtunddreißig<br />

Mann.«<br />

»Vielen Dank, Nicholas«, sagte John Faa, und Farder Coram<br />

notierte etwas. Nicholas Rokeby trat nach hinten, und John Faa<br />

rief nacheinander die anderen auf. Sie kamen auf das Podium,<br />

legten einen Sack auf den Tisch und gaben die Zahl der Männer<br />

bekannt, die sie aufbieten konnten. Die Costas gehörten zur<br />

Familie Stefanski, und natürlich hatte sich Tony als einer der<br />

ersten freiwillig gemeldet. Lyra bemerkte, daß sein Dæmon, ein<br />

Falke, unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und die<br />

Flügel ausbreitete, als John Faa das Geld der Stefanskis und die<br />

Zusage von dreiundzwanzig Mann erhielt.<br />

152


Als alle sechs Familienoberhäupter auf dem Podium versammelt<br />

waren, gab Farder Coram John Faa das Blatt mit seinen<br />

Notizen, worauf dieser sich erneut an die Versammelten<br />

wandte.<br />

»Freunde, wir haben ein Aufgebot von einhundertsiebzig<br />

Mann. Ich bin stolz darauf und danke euch. Und so schwer, wie<br />

das Gold ist, zweifle ich nicht daran, daß ihr tief in eure Truhen<br />

gegriffen habt, und auch dafür danke ich euch herzlich. Wie<br />

geht es jetzt weiter? Wir mieten ein Schiff, fahren nach Norden,<br />

suchen die Kinder und befreien sie. Nach allem, was wir<br />

wissen, kann es dabei zu Kämpfen kommen. Es wären weder<br />

unsere ersten noch unsere letzten, aber wir haben noch nie<br />

gegen Menschen kämpfen müssen, die Kinder entführen, und<br />

dazu brauchen wir unser ganzes Können. Aber wir werden<br />

nicht ohne unsere Kinder zurückkehren. Ja, bitte, Dirk Vries?«<br />

Ein Mann stand auf und sagte: »Lord Faa, wißt Ihr, warum<br />

die Kinder entführt wurden?«<br />

»Soviel wir gehört haben, aus einem theologischen Grund. Es<br />

geht um ein Experiment, wir wissen aber nicht, was für eins.<br />

Ehrlich gesagt wissen wir nicht einmal, ob den Kindern Schaden<br />

zugefügt wird. Aber egal, ob es gut oder schlecht ist, was sie<br />

tun, sie haben kein Recht, sich nachts an Kinder heranzumachen<br />

und sie aus ihren Familien zu reißen. Ja, Raymond van<br />

Gerrit?«<br />

<strong>Der</strong> Mann, der bereits beim ersten Thing gesprochen hatte,<br />

erhob sich und sagte: »Es geht um das Kind, von dem Ihr gesagt<br />

habt, es würde gesucht, und das heute in der ersten Reihe sitzt.<br />

Ich habe gehört, die Häuser der Leute, die am Rand der Fens<br />

leben, wurden ihretwegen auf den Kopf gestellt. Und wie ich<br />

erfahren habe, soll genau am heurigen Tag wegen dieses Kindes<br />

im Parlament die Aufhebung unserer alten Privilegien beantragt<br />

werden. Jawohl, Freunde« — er übertönte das erschrokkene<br />

Geflüster im Saal — »ein Gesetz soll verabschiedet werden,<br />

153


das uns das Recht auf freie Bewegung innerhalb und außerhalb<br />

der Fens nimmt. Deshalb, Lord Faa, wollen wir wissen: Wer ist<br />

dieses Kind, dessentwegen wir in solche Bedrängnis geraten?<br />

Soviel ich weiß, ist es kein gyptisches Kind. Wie konnte es so<br />

weit kommen, daß ein Kind von Landlopern uns alle in Gefahr<br />

bringt?«<br />

Lyra sah zu John Faas mächtiger Gestalt auf. Ihr Herz pochte<br />

so laut, daß sie kaum die ersten Worte seiner Antwort verstehen<br />

konnte.<br />

»Sprich es ruhig aus, Raymond, ziere dich nicht«, sagte er.<br />

»Du willst also, daß wir das Kind jenen ausliefern, vor denen es<br />

geflohen ist, stimmt das?«<br />

Trotzig und mit finsterem Blick stand der Mann da und<br />

schwieg.<br />

»Na gut, vielleicht willst du es, vielleicht auch nicht«, fuhr<br />

John Faa fort. »Aber wenn hier jemand einen Grund braucht,<br />

Gutes zu tun, möge er über folgendes nachdenken. Das kleine<br />

Mädchen ist die Tochter von keinem Geringeren als Lord<br />

Asriel. Für alle, die es vergessen haben: Es war Lord Asriel, der<br />

sich bei den Türken für das Leben von Sam Broekman eingesetzt<br />

hat. Es war Lord Asriel, der den gyptischen Booten freie<br />

Fahrt auf den Kanälen seiner Ländereien gewährte. Es war Lord<br />

Asriel, der zu unserem großen und nachhaltigen Nutzen im<br />

Parlament das Gesetz über Wasserstraßen zu Fall brachte. Und<br />

es war Lord Asriel, der beim Hochwasser im Jahre 53 Tag und<br />

Nacht aktiv war und zweimal selbst ins Wasser sprang, um die<br />

Kinder Ruud und Nellie Koopman zu retten. Hast du das alles<br />

vergessen? Schäme dich!<br />

Und nun wird derselbe Lord Asriel in der entlegensten, kältesten<br />

und finstersten Wildnis gefangengehalten, in der<br />

Festung von Svalbard. Muß ich dir erklären, welche Kreaturen<br />

ihn dort bewachen? Seine kleine Tochter befindet sich hier in<br />

unserer Obhut, und Raymond van Gerrit will sie für ein wenig<br />

154


Ruhe und Frieden den Behörden übergeben. Stimmt das, Raymond?<br />

Steh auf und antworte, Mann.«<br />

Aber Raymond van Gerrit war auf seinen Platz gesunken,<br />

und nichts hätte ihn dazu bringen können, wieder aufzustehen.<br />

Ein leises mißbilligendes Gemurmel lief durch die Halle, und<br />

neben einem tiefen, glühenden Stolz auf ihren tapferen Vater<br />

empfand Lyra zugleich die Scham, die van Gerrit verspüren<br />

mußte.<br />

John Faa wandte sich an die Männer auf dem Podium.<br />

»Nicholas Rokeby, ich beauftrage dich, ein Schiff zu beschaffen<br />

und darauf das Kommando zu führen, wenn wir aufbrechen.<br />

Adam Stefanski, du bist für Waffen und Munition zuständig<br />

und befehligst die Männer im Kampf. Roger van Poppel, du<br />

kümmerst dich um die Einkäufe, von der Verpflegung bis zur<br />

warmen Kleidung. Simon Hartmann, du bist Schatzmeister<br />

und verantwortlich dafür, daß unser Gold vernünftig eingesetzt<br />

wird. Benjamin de Ruyter, du bist für Spionage zuständig. Wir<br />

brauchen viele Informationen, die du herausfinden sollst; du<br />

wirst Farder Coram Bericht erstatten. Michael Canzona, du bist<br />

für die Koordination der Arbeit der vier Befehlshaber verantwortlich,<br />

und wenn ich ums Leben komme, wirst du als mein<br />

Stellvertreter das Kommando übernehmen.<br />

Nachdem ich nun dem Brauch gemäß meine Vorkehrungen<br />

getroffen habe, mögen alle Männer und Frauen, die nicht mit<br />

mir übereinstimmen, ihre Meinung äußern.«<br />

Eine Frau stand auf.<br />

»Lord Faa, wollt Ihr bei dieser Expedition keine Frau mitnehmen,<br />

die sich um die Kinder kümmert, wenn ihr sie gefunden<br />

habt?«<br />

»Nein, Nell. Wie es aussieht, haben wir wenig Platz. Und die<br />

Kinder, die wir befreien, sind bei uns in jedem Fall besser aufgehoben<br />

als dort, wo sie jetzt sind.«<br />

»Aber angenommen, ihr braucht Frauen, die sich als Wäch­<br />

155


terinnen oder Kinderpflegerinnen oder was immer verkleiden,<br />

um sie zu retten?«<br />

»Darüber habe ich nicht nachgedacht«, gab John Faa zu.<br />

»Wir überlegen uns das gründlich, wenn wir uns ins Beratungszimmer<br />

zurückziehen, ich verspreche es dir.«<br />

Die Frau setzte sich, und ein Mann stand auf.<br />

»Lord Faa, ich hörte Euch sagen, Lord Asriel befinde sich in<br />

Gefangenschaft. Plant Ihr auch, ihn zu befreien? Denn wenn<br />

das stimmt und er, wenn ich das richtig verstanden habe, in der<br />

Gewalt der Bären ist, brauchte man dazu mehr als hundertsiebzig<br />

Mann. Und auch wenn Lord Asriel ein guter Freund von<br />

uns ist, weiß ich nicht, ob wir so weit gehen sollten.«<br />

»Du hast nicht unrecht, Adriaan Braks. Was ich vorhatte,<br />

war, Augen und Ohren offenzuhalten und zu sehen, was wir in<br />

Erfahrung bringen können, solange wir im Norden sind. Vielleicht<br />

können wir ihm helfen, vielleicht nicht, aber du kannst<br />

dich darauf verlassen, daß ich nichts von dem, was ihr mir an<br />

Männern und Gold gegeben habt, zu einem anderen Zweck<br />

verwenden werde als dem, unsere Kinder zu finden und nach<br />

Hause zu bringen.«<br />

Eine weitere Frau stand auf.<br />

»Lord Faa, wir wissen nicht, was die Gobbler unseren Kindern<br />

angetan haben. Wir haben alle schreckliche Gerüchte und<br />

Geschichten von Kindern ohne Köpfe gehört, von Kindern, die<br />

in zwei Hälften geschnitten und wieder zusammengenäht wurden,<br />

und von Dingen, die zu furchtbar sind, um sie auszusprechen.<br />

Ich möchte wirklich niemanden unglücklich machen,<br />

aber wir haben alle von derartigen Dingen gehört, und ich will,<br />

daß sie offen ausgesprochen werden. Falls Ihr auf solche Greuel<br />

stoßt, Lord Faa, hoffe ich, daß Ihr furchtbare Rache üben werdet,<br />

daß Euch nicht Gnade und Milde daran hindern zurückzuschlagen,<br />

und zwar hart zurückzuschlagen und diese teuflische<br />

Niedertracht ins Herz zu treffen. Ich bin sicher, daß ich im<br />

156


Namen aller Mütter spreche, die Kinder an die Gobbler verloren<br />

haben.«<br />

Als sie sich setzte, wurde zustimmendes Murmeln laut, und<br />

im ganzen Zaal wurde genickt.<br />

John Faa wartete, bis wieder Ruhe einkehrte.<br />

»Nichts wird meine Hand aufhalten, Margaret, als das nüchterne<br />

Urteil. Wenn ich mich im Norden zurückhalte, dann nur,<br />

um im Süden um so heftiger zuzuschlagen. Einen Tag zu früh<br />

anzugreifen wäre genauso verkehrt, wie an der falschen Stelle<br />

anzugreifen. Sicher, aus deinen Worten spricht der Zorn der<br />

Gerechten. Aber wenn ihr euch diesem Zorn überlaßt, Freunde,<br />

macht ihr genau das, wovor ich euch stets gewarnt habe: Ihr<br />

stellt eure Rachsucht über die Aufgabe, die zu tun ist. Und<br />

unsere Aufgabe ist zuallererst die Befreiung der Kinder, erst<br />

dann die Bestrafung der Übeltäter. Es geht nicht um die Befriedigung<br />

verletzter Gefühle; unsere Gefühle spielen keine Rolle.<br />

Wenn wir die Kinder retten, ohne die Gobbler bestrafen zu<br />

können, haben wir unsere wichtigste Aufgabe erfüllt. Wenn wir<br />

aber danach trachten, zuerst die Gobbler zu bestrafen, und<br />

dadurch die Chance verspielen, die Kinder zu befreien, sind wir<br />

gescheitert.<br />

Aber verlaß dich darauf, Margaret, wenn die Zeit der Bestrafung<br />

gekommen ist, werden wir ihnen einen Schlag versetzen,<br />

der ihre Herzen verzagen läßt und sie mit Angst erfüllt. Wir<br />

werden ihnen all ihre Kraft rauben. Wir werden sie vernichten<br />

und zugrunde richten, zerbrechen und zerschmettern, in tausend<br />

Stücke reißen und in alle Winde zerstreuen. Mein Hammer<br />

dürstet nach Blut, Freunde. Er hat kein Blut mehr<br />

geschmeckt, seit ich den tatarischen Helden der Steppe von<br />

Kasachstan getötet habe; träumend hängt mein Hammer in<br />

meinem Boot, aber er wittert Blut in dem Wind, der aus Norden<br />

kommt. Letzte Nacht sprach er zu mir von seinem Durst,<br />

und ich sagte zu ihm: ›Bald ist es soweit.‹ Margaret, dich mögen<br />

157


viele Sorgen quälen, aber fürchte nicht, daß John Faas Herz zu<br />

weich sein könnte, um zuzuschlagen, wenn es an der Zeit ist.<br />

Und diese Zeit wird kommen, wenn der Verstand es sagt, nicht<br />

der blinde Zorn. — Will sonst noch jemand etwas sagen? Dann<br />

sprecht jetzt.«<br />

Aber niemand meldete sich, und nach einer Weile griff John<br />

Faa nach der Glocke, um die Versammlung zu beenden. Er<br />

schwang sie kraftvoll hin und her und läutete so kräftig und<br />

laut, daß das Läuten die ganze Halle erfüllte und das Gebälk<br />

zum Klingen brachte.<br />

John Faa und die anderen Männer verließen das Podium und<br />

begaben sich ins Besprechungszimmer. Lyra war ein bißchen<br />

enttäuscht. Wurde sie nicht aufgefordert mitzukommen?<br />

Tony lachte nur. »Sie müssen jetzt die Reise planen«, sagte er.<br />

»Du hast deinen Teil beigetragen, Lyra. Jetzt sind John Faa und<br />

der Rat an der Reihe.«<br />

»Aber ich habe doch noch gar nichts gemacht!« protestierte<br />

Lyra, als sie widerwillig hinter den anderen herging, zuerst aus<br />

der Halle hinaus und dann die mit Kopfsteinen gepflasterte<br />

Straße zur Anlegestelle hinunter. »Bisher bin ich doch nur vor<br />

Mrs. Coulter davongelaufen! Das war doch erst der Anfang. Ich<br />

will in den Norden!«<br />

»Hör zu«, sagte Tony, »ich bring dir einen Walroßzahn mit,<br />

das versprech ich dir.«<br />

Lyra machte ein finsteres Gesicht. Pantalaimon war damit<br />

beschäftigt, Tonys Dæmon Affengrimassen zu schneiden, aber<br />

der schloß verächtlich die gelbbraunen Augen. Ziellos schlenderte<br />

Lyra zur Anlegestelle, wo sie sich mit ihren neuen Freunden<br />

die Zeit vertrieb und Laternen an Schnüren über das<br />

dunkle Wasser baumeln ließ, um die glotzäugigen Fische anzuziehen.<br />

Wenn die Fische dann langsam zur Wasseroberfläche<br />

schwammen, versuchten die Kinder sie mit spitzen Stöcken<br />

aufzuspießen, allerdings ohne sie zu treffen.<br />

158


Doch in Gedanken war Lyra im Besprechungszimmer bei<br />

John Faa, und schon bald stahl sie sich fort und über das Kopfsteinpflaster<br />

wieder zum Zaal hinauf. Im Fenster des Besprechungszimmers<br />

brannte Licht. Es war zwar zu hoch, um hineinzuschauen,<br />

aber aus dem Innern hörte Lyra gedämpftes<br />

Stimmengemurmel.<br />

Sie ging zur Tür und klopfte fünfmal entschlossen an. Das<br />

Gespräch brach ab, ein Stuhl schrammte über den Boden, dann<br />

ging die Tür auf. Ein breiter Strahl des warmen Naphthalichts<br />

fiel auf die feuchten Stufen.<br />

»Ja?« fragte der Mann, der die Tür geöffnet hatte.<br />

Hinter ihm sah Lyra die anderen Männer am Tisch sitzen,<br />

vor sich die Säcke mit Gold, Papier und Stifte, Gläser und einen<br />

Krug mit Genever.<br />

»Ich will mit in den Norden kommen«, sagte Lyra so laut,<br />

daß alle es hören konnten. »Ich will mitkommen und helfen,<br />

die Kinder zu befreien. Deswegen bin ich doch von Mrs. Coulter<br />

weggelaufen. Und ich wollte sogar schon vorher meinen<br />

Freund Roger befreien, den Küchenjungen von Jordan, der<br />

auch entführt wurde. Ich will mitkommen und helfen. Ich<br />

kenne mich in Navigation aus und kann anbaromagnetische<br />

Messungen an der Aurora vornehmen. Ich weiß, welche Teile<br />

von Bären eßbar sind, und ich kenne alle möglichen anderen<br />

nützlichen Dinge. Sie bereuen es bestimmt, wenn Sie mich<br />

hierlassen und dann dort feststellen, daß Sie mich brauchen.<br />

Und genauso, wie die Frau vorhin gesagt hat, daß Sie vielleicht<br />

auch Frauen brauchen, kann es doch sein, daß Sie auch Kinder<br />

brauchen. Sie können es nicht wissen, deshalb sollten Sie mich<br />

lieber mitnehmen, Lord Faa, und entschuldigen Sie bitte, daß<br />

ich das Gespräch unterbrochen habe.«<br />

Sie stand jetzt mitten im Zimmer, und die Männer und ihre<br />

Dæmonen musterten sie aufmerksam, einige schmunzelnd,<br />

andere verärgert, aber Lyra hatte nur Augen für John Faa. Pan­<br />

159


talaimon setzte sich in ihren Armen auf, und seine Wildkatzenaugen<br />

leuchteten grün.<br />

»Daß wir dich mitnehmen und in Gefahr bringen, Lyra,<br />

kommt nicht in Frage«, sagte John Faa. »Sei dir darüber im klaren.<br />

Bleib hier, wo du sicher bist, und hilf Ma Costa. Das ist<br />

deine Aufgabe.«<br />

»Aber ich lerne jetzt allmählich, das Alethiometer zu lesen.<br />

Ich verstehe jeden Tag mehr davon! Das brauchen Sie doch<br />

unbedingt — unbedingt!«<br />

Er schüttelte den Kopf.<br />

»Nein«, sagte er. »Ich weiß, wieviel dir daran liegt, in den<br />

Norden zu fahren, aber ich bin überzeugt, daß nicht einmal<br />

Mrs. Coulter dich dorthin mitgenommen hätte. Wenn du den<br />

Norden sehen willst, warte, bis der ganze Ärger vorbei ist. Jetzt<br />

fort mit dir.«<br />

Pantalaimon fauchte leise, aber da schwang sich der Dæmon<br />

John Faas, der auf dessen Stuhllehne gesessen hatte, in die Luft<br />

und flog ihnen mit ausgebreiteten schwarzen Schwingen entgegen<br />

— nicht drohend, sondern als Ermahnung, sich gefälligst<br />

zu benehmen. Die Krähe flog über Lyras Kopf, und als sie kehrt<br />

machte, um zu John Faa zurückzukehren, drehte auch Lyra sich<br />

um. Hinter ihr fiel die Tür mit einem endgültigen Schnappen<br />

ins Schloß.<br />

»Und wir kommen doch mit«, sagte sie zu Pantalaimon. »Sollen<br />

sie doch versuchen, uns aufzuhalten. Wir kommen mit!«<br />

160


Neun<br />

Die Spione<br />

Während der nächsten Tage schmiedete Lyra ein Dutzend<br />

Pläne, verwarf sie aber ungeduldig sofort wieder, da sie alle darauf<br />

hinausliefen, daß sie sich als blinder Passagier an Bord<br />

schlich, und wie sollte sie es anstellen, auf einem kleinen Boot<br />

unentdeckt zu bleiben? Natürlich, die eigentliche Seereise<br />

würde auf einem richtigen Schiff stattfinden; und Lyra kannte<br />

aus zahlreichen Geschichten alle möglichen Verstecke auf<br />

einem solchen Schiff, etwa die Rettungsboote, den Laderaum<br />

oder den Kielraum; aber zuerst mußte sie zum Schiff gelangen,<br />

und aus den Fens kam man nur heraus, wenn man reiste wie die<br />

Gypter: mit dem Boot.<br />

Und selbst wenn sie die Küste auf eigene Faust erreichte,<br />

konnte es immer noch passieren, daß sie sich auf dem falschen<br />

Schiff versteckte. Das wäre eine schöne Überraschung, wenn sie<br />

sich in einem Rettungsboot verstecken und auf dem Weg nach<br />

Hochbrasilien aufwachen würde.<br />

Um sie herum waren inzwischen Tag und Nacht die Expeditionsvorbereitungen<br />

in Gang, was ihre Qualen noch<br />

steigerte. Lyra sah Adam Stefanski bei der Auswahl der Freiwilligen<br />

für die Kampftruppe zu, und sie bombardierte Roger<br />

van Poppel mit Vorschlägen, welche Vorräte unbedingt mitzunehmen<br />

seien: Hatte er auch an Schneebrillen gedacht?<br />

161


Wußte er, in welchem Laden man die besten Karten der<br />

Arktis bekam?<br />

<strong>Der</strong> Mann, dem sie am liebsten geholfen hätte, war Benjamin<br />

de Ruyter, der Spion. Er war allerdings am Morgen nach<br />

dem zweiten Thing in aller Frühe verschwunden, und natürlich<br />

wußte keiner, wohin er gegangen war und wann er zurückkehren<br />

würde. Lyra heftete sich also an Farder Corams Fersen.<br />

»Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich Ihnen helfe, Farder<br />

Coram«, sagte sie, »denn wahrscheinlich weiß ich mehr über<br />

die Gobbler als sonst jemand, weil ich fast selbst mal einer war.<br />

Wahrscheinlich brauchen Sie meine Hilfe, wenn Sie Mr. de<br />

Ruyters Nachrichten verstehen wollen.«<br />

Farder Coram hatte Mitleid mit dem wildentschlossenen<br />

Mädchen und schickte sie nicht fort. Statt dessen unterhielt er<br />

sich mit ihr, hörte zu, wenn sie von Oxford und Mrs. Coulter<br />

erzählte, und beobachtete sie, wenn sie das Alethiometer studierte.<br />

»Wo ist eigentlich das Buch mit den Symbolen?«, fragte sie<br />

ihn eines Tages.<br />

»In Heidelberg.«<br />

»Und gibt es nur das eine?«<br />

»Vielleicht gibt es noch andere, aber ich kenne nur das.«<br />

»Ich wette, in Bodleys Bibliothek in Oxford gibt es auch<br />

eins«, sagte sie.<br />

Sie konnte kaum die Augen von Farder Corams Dæmon<br />

abwenden. Noch nie hatte sie einen schöneren Dæmon gesehen.<br />

Wenn sich Pantalaimon in eine Katze verwandelte, war er<br />

mager und hatte struppiges, rauhes Fell. Sophonax dagegen war<br />

eine unbeschreiblich vornehme Erscheinung, mit goldfarbenen<br />

Augen und dichtem Fell und etwa der doppelten Größe von<br />

einer normalen Katze. Wenn die Sonne auf das Fell schien,<br />

leuchtete es gelbbraun, braun, laubfarben, haselnußbraun,<br />

goldgelb, golden, herbstfarben und rotbraun; Lyra wußte gar<br />

162


nicht, wie die Farben alle hießen. Wie gern hätte sie dieses Fell<br />

gestreichelt und ihre Wange daran geschmiegt, aber das tat sie<br />

natürlich nicht, denn einen fremden Dæmon anzufassen galt<br />

als der schwerste Verstoß gegen die Etikette, den man sich vorstellen<br />

konnte. Dæmonen durften sich gegenseitig berühren<br />

oder auch gegeneinander kämpfen, doch das Verbot von Kontakten<br />

zwischen Mensch und Dæmon war so streng, daß man<br />

nicht einmal im Krieg den Dæmon des Feindes berührt hätte.<br />

So etwas war völlig undenkbar. Lyra konnte sich nicht daran<br />

erinnern, daß man ihr das jemals hatte sagen müssen, sie wußte<br />

es instinktiv, wie sie fühlte, daß Übelkeit schlecht und Wohlbefinden<br />

gut war. Deshalb bewunderte sie zwar das Fell von<br />

Sophonax und stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, aber<br />

sie versuchte nie, Sophonax zu berühren.<br />

So gepflegt, gesund und schön Sophonax war, so entstellt<br />

und schwach war Farder Coram. Vielleicht war er krank gewesen<br />

oder durch einen Schlaganfall zum Krüppel geworden,<br />

jedenfalls konnte er nicht laufen, ohne sich auf zwei Stöcke zu<br />

stützen, und er zitterte unaufhörlich wie Espenlaub. Er hatte<br />

jedoch einen bemerkenswert scharfen und klaren Verstand,<br />

und schon bald hatte Lyra ihn besonders gern, weil er viel<br />

wußte und ihr so vieles beibringen konnte.<br />

»Was bedeutet dieses Stundenglas, Farder Coram?« fragte<br />

sie, als sie sich eines sonnigen Morgens auf seinem Boot über<br />

das Alethiometer beugte. »Die Nadel kehrt immer wieder dorthin<br />

zurück.«<br />

»Man findet oft einen Hinweis, wenn man genau hinsieht.<br />

Was ist der kleine Gegenstand über dem Stundenglas?«<br />

Lyra sah mit zusammengekniffenen Augen auf das Zifferblatt.<br />

»Ein Schädel!«<br />

»Und was, glaubst du, bedeutet ein Schädel?«<br />

»Tod… ist das der Tod?«<br />

163


»Richtig. Eine der vielen Bedeutungen des Stundenglases ist<br />

also der Tod. <strong>Der</strong> Tod ist sogar — nach der Zeit — die zweitwichtigste<br />

Bedeutung.«<br />

»Wissen Sie, was mir aufgefallen ist, Farder Coram? Die<br />

Nadel hat das Zifferblatt einmal umrundet, und beim zweitenmal<br />

ist sie genau an dieser Stelle stehengeblieben! Beim erstenmal<br />

hat sie so komisch gezuckt, beim zweitenmal ist sie stehengeblieben.<br />

Heißt das, die zweite Bedeutung ist gemeint?«<br />

»Wahrscheinlich. Welche Frage stellst du denn gerade,<br />

Lyra?«<br />

»Ich überlege…« Sie stockte überrascht, als sie merkte, daß sie<br />

tatsächlich unbewußt eine Frage gestellt hatte. »Ich habe<br />

eigentlich nur drei Bilder verknüpft, weil… Wissen Sie, ich<br />

habe an Mr. Ruyter gedacht… Und ich habe die Symbole<br />

Schlange, Tiegel und Bienenstock verknüpft, um zu fragen, wie<br />

er mit der Spionage vorankommt, und…«<br />

»Warum ausgerechnet diese drei Symbole?«<br />

»Weil ich dachte, daß ein Spion listig sein muß wie eine<br />

Schlange, und der Schmelztiegel könnte das Wissen bedeuten,<br />

das man aus den Dingen herauszieht, und der Bienenstock den<br />

Fleiß, weil Bienen immer so fleißig sind; aus Fleiß und Klugheit<br />

entsteht Wissen, ja, und darin besteht doch die Aufgabe des<br />

Spions. Also habe ich die Zeiger auf diese Bilder gestellt und in<br />

Gedanken diese Frage gestellt, und dann blieb die Nadel beim<br />

Tod stehen… Glauben Sie, daß es wirklich so funktioniert, Farder<br />

Coram?«<br />

»Es funktioniert bestimmt, Lyra. Wir wissen nur nicht, ob<br />

wir es richtig lesen, denn das ist eine Kunst für sich. Ich frage<br />

mich, ob…«<br />

Bevor er ausreden konnte, ertönte ein dringendes Klopfen an<br />

der Tür, und ein junger Gypter trat ein.<br />

»Verzeihung, Farder Coram, gerade ist Jacob Huismans<br />

zurückgekehrt. Er ist schwer verletzt.«<br />

164


»Er hat Benjamin de Ruyter begleitet«, sagte Farder Coram.<br />

»Was ist passiert?«<br />

»Er spricht nicht«, antwortete der junge Mann. »Kommt am<br />

besten sofort mit, Farder Coram, denn er wird nicht mehr lange<br />

durchhalten; er hat innere Blutungen.«<br />

Farder Coram und Lyra wechselten einen bestürzten und<br />

zugleich erstaunten Blick, und im nächsten Augenblick humpelte<br />

Farder Coram so schnell er konnte auf seinen Krücken<br />

hinaus. Sein Dæmon ging voraus, Lyra hüpfte ungeduldig<br />

neben ihm her.<br />

<strong>Der</strong> junge Mann führte sie zu einem Boot, das am Zuckerrübensteg<br />

vertäut lag. Eine Frau in roter Flanellschürze hielt<br />

ihnen die Tür auf. Sie sah Lyra mißtrauisch an, und als Farder<br />

Coram das merkte, sagte er beschwichtigend: »Es ist wichtig,<br />

daß das Mädchen hört, was Jacob zu sagen hat.«<br />

Daraufhin trat die Frau zurück und ließ sie herein. Ihr<br />

Dæmon, ein Eichhörnchen, hockte stumm auf einer hölzernen<br />

Standuhr. In einer Koje lag unter einer Flickendecke ein Mann<br />

mit bleichem, schweißüberströmtem Gesicht und glasigen<br />

Augen.<br />

»Ich habe nach dem Arzt geschickt, Farder Coram«, sagte die<br />

Frau mit bebender Stimme. »Bitte regt ihn nicht auf. Er hat<br />

furchtbare Schmerzen. Sie haben ihn eben erst von Peter Hawkers<br />

Boot gebracht.«<br />

»Wo ist Peter jetzt?«<br />

»Er macht gerade das Boot fest. Er hat gesagt, ich soll Euch<br />

rufen lassen.«<br />

»Das war völlig richtig.« Farder Coram wandte sich dem Verletzten<br />

zu. »Jacob, hörst du mich?«<br />

Jacob verdrehte die Augen, um Farder Coram anzublicken,<br />

der einen halben Meter entfernt auf der gegenüberliegenden<br />

Koje saß.<br />

»Guten Tag, Farder Coram«, murmelte er.<br />

165


Lyra sah seinen Dæmon an, ein Frettchen, das reglos neben<br />

seinem Kopf lag. Es hatte sich zusammengerollt, schlief aber<br />

nicht, denn seine Augen waren offen und genauso glasig wie die<br />

von Jacob.<br />

»Was ist geschehen?« fragte Farder Coram.<br />

»Benjamin ist tot«, kam die Antwort. »Er ist tot und Gerard<br />

gefangen.«<br />

Jacobs Stimme klang heiser, und er atmete nur noch<br />

schwach. Als er stockte, streckte sich sein Dæmon unter<br />

Schmerzen aus und leckte seine Wange; nachdem er so wieder<br />

etwas zu Kräften gekommen war, konnte er fortfahren.<br />

»Wir drangen heimlich ins Ministerium für Theologie ein,<br />

denn Benjamin hatte von einem der Gobbler, die wir erwischten,<br />

erfahren, daß dort ihr Hauptquartier ist, aus dem sie die<br />

Befehle empfangen…« Wieder versagte ihm die Stimme.<br />

»Ihr habt Gobbler gefangengenommen?« fragte Farder<br />

Coram.<br />

Jacob nickte, dann sah er seinen Dæmon an. Dæmonen sprachen<br />

normalerweise nicht mit anderen Menschen, sondern nur<br />

mit dem, dem sie zugehörten, aber manchmal, so wie jetzt,<br />

geschah es doch.<br />

»In Clerkenwell«, sagte das Frettchen, »haben wir drei Gobbler<br />

geschnappt und gezwungen, uns zu sagen, für wen sie arbeiten,<br />

von wem sie ihre Befehle erhalten und so weiter. Wohin<br />

genau die Kinder gebracht werden, wußten sie nicht, nur daß<br />

sie nach Norden kommen, nach Lappland…«<br />

Das Frettchen mußte abbrechen und nach Luft schnappen,<br />

bevor es fortfahren konnte. Seine kleine Brust zitterte.<br />

»Die Gobbler haben uns also vom Ministerium für Theologie<br />

und von Lord Boreal erzählt. Benjamin meinte, er und<br />

Gerard Hook sollten ins Ministerium einbrechen, und Frans<br />

Broekman und Tom Mendham sollten versuchen, etwas über<br />

Lord Boreal zu erfahren.«<br />

166


»Haben sie das?«<br />

»Wir wissen es nicht. Sie kamen nicht zurück. Farder Coram,<br />

was wir auch anstellten, es war, als kannten sie unsere Pläne<br />

schon im voraus. Soweit wir wissen, wurden Frans und Tom, als<br />

sie in die Nähe von Lord Boreal kamen, bei lebendigem Leib<br />

gefressen.«<br />

»Was geschah mit Benjamin?« fragte Farder Coram, als er<br />

bemerkte, daß Jacob immer rasselnder atmete und vor Schmerzen<br />

die Augen schloß.<br />

Jacobs Dæmon ließ ein ängstliches und zärtliches Miauen<br />

hören, und die Frau schlug die Hände vor den Mund und trat<br />

ein oder zwei Schritte näher; sie sagte jedoch nichts, und der<br />

Dæmon sprach mit schwacher Stimme weiter.<br />

»Benjamin, Gerard und wir begaben uns zum Ministerium<br />

nach White Hall, wo wir einen kleinen, kaum bewachten<br />

Nebeneingang fanden. Während die anderen das Schloß öffneten<br />

und hineingingen, standen wir draußen Wache. Sie waren<br />

kaum eine Minute drin, als wir einen Angstschrei hörten. Benjamins<br />

Dæmon kam herausgeflogen, winkte uns zu Hilfe und<br />

flog wieder hinein, wir zückten unsere Messer und stürzten<br />

ihm nach. Drinnen war es dunkel, und unheimliche Schatten<br />

und schreckliche Geräusche kamen von allen Seiten und brachten<br />

uns völlig durcheinander. Wir versuchten, etwas zu erkennen,<br />

als über uns plötzlich ein Tumult entstand. Ein entsetzlicher<br />

Schrei gellte durch das Treppenhaus, und dann stürzten<br />

Benjamin und sein Dæmon von oben herunter; der Dæmon<br />

versuchte noch verzweifelt, Benjamin aufzufangen, und<br />

umkreiste ihn flatternd, aber vergeblich — sie schlugen beide<br />

auf dem Steinboden auf und waren sofort tot.<br />

Von Gerard konnten wir zwar nichts sehen, wir hörten ihn<br />

aber über uns schreien, und wir waren vor Angst wie gelähmt.<br />

Im nächsten Augenblick bohrte sich ein Pfeil, der von oben<br />

abgeschossen wurde, tief in unsere Schulter…«<br />

167


Die Stimme des Dæmons wurde immer schwächer, und der<br />

verletzte Jacob stöhnte auf. Farder Coram lehnte sich vor und<br />

schlug sacht die Decke zurück. Aus einem Klumpen geronnenen<br />

Blutes an Jacobs Schulter ragte das gefiederte Ende eines<br />

Pfeiles. Schaft und Spitze steckten so tief in der Brust des armen<br />

Mannes, daß nur noch ungefähr fünfzehn Zentimeter zu sehen<br />

waren. Lyra wurde ganz mulmig.<br />

Von der Anlegestelle erklangen Schritte und Stimmen. Farder<br />

Coram richtete sich auf und sagte: »<strong>Der</strong> Arzt ist da, Jacob,<br />

wir lassen dich jetzt in Ruhe. Sobald es dir bessergeht, unterhalten<br />

wir uns ausführlicher.«<br />

Beim Hinausgehen drückte er der Frau die Schulter. Lyra<br />

hielt sich dicht hinter ihm, denn schon versammelten sich an<br />

der Anlegestelle Menschen, die tuschelnd auf sie zeigten. Farder<br />

Coram befahl Peter Hawker, sofort John Faa aufzusuchen.<br />

Dann wandte er sich an Lyra.<br />

»Lyra, sobald wir wissen, ob Jacob überlebt oder stirbt, müssen<br />

wir uns noch mal über das Alethiometer unterhalten. Geh<br />

jetzt und beschäftige dich eine Weile allein, mein Kind; wir lassen<br />

dich rufen.«<br />

Ziellos wanderte Lyra umher und setzte sich schließlich auf<br />

das schilfbewachsene Ufer und warf Schlammklumpen ins<br />

Wasser. Soviel stand fest: Sie war weder froh noch stolz darüber,<br />

das Alethiometer lesen zu können — sie hatte Angst. Welche<br />

Macht die Nadel auch ausschwingen und anhalten ließ, sie<br />

wußte Dinge wie ein intelligentes Wesen.<br />

»Wahrscheinlich ein Geist«, sagte Lyra, und einen Augenblick<br />

lang war sie versucht, das kleine Ding im hohen Bogen in<br />

den Sumpf zu werfen.<br />

»Ich würde es sehen, wenn da ein Geist drin wäre«, sagte Pantalaimon.<br />

»Wie den alten Geist in Godstow, den ich ja auch<br />

sehen konnte, aber du nicht.«<br />

»Aber es gibt verschiedene Sorten Geister«, sagte Lyra verär­<br />

168


gert. »Und du kannst auch nicht alle sehen. Und erinnerst du<br />

dich nicht an die toten Wissenschaftler ohne Köpfe? Ich hab sie<br />

gesehen, vergiß das nicht.«<br />

»Das war doch bloß ein Spuk«<br />

»Stimmt nicht. Es waren richtige Geister, das weißt du ganz<br />

genau. Aber auf jeden Fall gehört der Geist, der die Nadel<br />

bewegt, zu einer anderen Sorte.«<br />

»Vielleicht ist es aber kein Geist«, sagte Pantalaimon hartnäkkig.<br />

»Was denn dann?«<br />

»Vielleicht… Vielleicht sind es Elementarteilchen.«<br />

Lyra schnaubte verächtlich.<br />

»Könnte doch sein!« beharrte Pantalaimon. »Erinnerst du<br />

dich an die Photomühle, die es in Gabriel College gab? Na<br />

bitte.«<br />

In Gabriel College wurde auf dem Hochaltar des Bethauses<br />

ein heiliger Gegenstand aufbewahrt, der, wie Lyra jetzt einfiel,<br />

ebenfalls in ein schwarzes Samttuch eingehüllt war. Sie hatte<br />

ihn gesehen, als sie den Bibliothekar von Jordan zu einem Gottesdienst<br />

in Gabriel College begleitet hatte. Auf dem Höhepunkt<br />

der Zeremonie hatte der Fürsprecher das Tuch gelüftet,<br />

und im Dämmerlicht war eine gläserne Glocke zum Vorschein<br />

gekommen, in deren Innern sich etwas befand, das Lyra aus der<br />

großen Entfernung nicht erkennen konnte. Erst als der Fürsprecher<br />

an einer Schnur zog, die ein Fenster weiter oben öffnete,<br />

und ein Sonnenstrahl genau auf die Glasglocke fiel, war es<br />

deutlich zu sehen gewesen, das kleine Ding, das aussah wie eine<br />

Wetterfahne mit vier Segeln, die auf einer Seite schwarz und<br />

auf der anderen weiß waren. Sobald Licht darauf fiel, fing das<br />

Ding an, im Kreis herumzuwirbeln. Wie der Fürsprecher<br />

erklärte, verdeutlichte es ein moralisches Prinzip, denn das<br />

Schwarz der Unwissenheit floh vor dem Licht, während das<br />

Weiß der Weisheit sich ihm entgegendrängte. Lyra nickte zu<br />

169


allem, was er sagte, aber die kleinen herumwirbelnden Fähnchen<br />

waren auch ohne ihre tiefere Bedeutung reizend anzusehen<br />

gewesen — bewegt nur durch die Kraft der Photonen, wie<br />

der Bibliothekar auf dem Heimweg nach Jordan erklärt hatte.<br />

Also hatte Pantalaimon vielleicht doch recht. Wenn Elementarteilchen<br />

eine Photomühle antreiben konnten, konnten sie<br />

sicher auch eine Nadel bewegen. Trotzdem ließ ihr das Problem<br />

keine Ruhe.<br />

»Lyra! Lyra!« Tony winkte von der Anlegestelle.<br />

»Komm her«, rief er. »John Faa erwartet dich im Zaal. Lauf,<br />

Mädel, es eilt!«<br />

John Faa empfing sie mit besorgter Miene im Kreis von Farder<br />

Coram und den anderen Anführern.<br />

»Lyra, mein Kind«, begann er, »Farder Coram hat mir<br />

erzählt, was du von diesem Instrument abgelesen hast. Leider<br />

muß ich dir mitteilen, daß der arme Jacob gerade gestorben ist.<br />

Ich denke, wir müssen dich jetzt doch mitnehmen, obwohl ich<br />

eigentlich dagegen bin. Ich habe dabei ein sehr ungutes Gefühl,<br />

aber es scheint keine andere Möglichkeit zu geben. Sobald<br />

Jacob begraben ist, wie es bei uns Brauch ist, brechen wir auf.<br />

Aber damit eins klar ist, Lyra: Du kommst mit, aber es wird<br />

keine Vergnügungsreise. Uns erwarten Schwierigkeiten und<br />

Gefahren. Farder Coram wird dich unter seine Fittiche nehmen.<br />

Falls du ihm Ärger machst oder ihn in Gefahr bringst,<br />

bekommst du meinen Zorn zu spüren. Jetzt beeil dich und sag<br />

Ma Costa Bescheid, und dann mach dich bereit.<br />

Obwohl um Lyra herum in den nächsten beiden Wochen mehr<br />

los war als je zuvor in ihrem Leben, schien die Zeit nicht vergehen<br />

zu wollen. Lyra selbst mußte endlos herumsitzen und sich<br />

in feuchten, dunklen Schränken verstecken, während draußen<br />

vor dem Fenster eine trostlose, regennasse Herbstlandschaft<br />

vorbeizog; sie schlief in der Nähe der Motorabgase und wachte<br />

170


dann mit Kopfschmerzen und Übelkeit auf, und, am allerschlimmsten,<br />

sie durfte kein einziges Mal ins Freie, um am Ufer<br />

entlangzulaufen, auf Deck herumzuklettern, Schleusentore<br />

aufzuziehen oder ein Tau aufzufangen, das vom Ufer herübergeworfen<br />

wurde.<br />

Denn natürlich durfte niemand sie sehen. Tony Costa<br />

erzählte ihr den Klatsch aus den Kneipen am Ufer: Im ganzen<br />

Königreich wurde Jagd auf ein kleines blondes Mädchen<br />

gemacht; für seine Ergreifung war eine große Belohnung ausgesetzt<br />

worden, während jedem, der sie versteckte, eine harte<br />

Strafe drohte. Außerdem kursierten die seltsamsten Gerüchte.<br />

So wurde behauptet, sie sei das einzige Kind, das den Gobblern<br />

entkommen sei, und kenne schreckliche Geheimnisse. Einem<br />

anderen Gerücht zufolge war sie kein Menschenkind, sondern<br />

ein Doppelgeist, halb Kind, halb Dæmon, der im Auftrag teuflischer<br />

Mächte die Erde vernichten sollte, und wieder anderen<br />

Gerüchten zufolge war sie kein Kind, sondern eine durch einen<br />

Zauberspruch geschrumpfte Erwachsene im Sold der Tataren,<br />

die das englische Volk auszuspionieren und eine tatarische<br />

Invasion vorbereiten sollte.<br />

Am Anfang hörte sich Lyra solche Geschichten noch gern an,<br />

später war sie darüber verzweifelt. Daß so viele Menschen sie<br />

haßten und fürchteten! Sie hielt es kaum noch in ihrer engen,<br />

kistenartigen Kabine aus und sehnte sich danach, endlich im<br />

Norden zu sein, auf weiten, verschneiten Flächen unter dem<br />

gleißenden Licht der Aurora. Und manchmal wäre sie am liebsten<br />

wieder in Jordan College gewesen und mit Roger über die<br />

Dächer geklettert, bis eine halbe Stunde vor dem Essen die<br />

Glocke des Stewards läutete und Klappern, Brutzeln und Rufen<br />

aus der Küche drang… Dann wünschte sie inbrünstig, daß sich<br />

nie etwas geändert hätte, daß alles immer gleich wäre und sie<br />

für immer und ewig die Lyra aus Jordan College bleiben<br />

könnte.<br />

171


Das einzige, das ihre Langeweile und Gereiztheit vertrieb,<br />

war das Alethiometer. Sie übte sich täglich im Lesen, manchmal<br />

zusammen mit Farder Coram, manchmal allein, und sie<br />

merkte, daß sie immer leichter jenen Zustand der Seelenruhe<br />

herstellen konnte, in dem sich die Symbole von selbst erklärten<br />

und, von einem Sonnenstrahl getroffen, jenes ferne Gebirge<br />

aufleuchtete.<br />

Sie bemühte sich, Farder Coram ihr Gefühl zu erklären.<br />

»Es ist fast, als ob man sich mit jemandem unterhält, bloß daß<br />

man die anderen nicht genau verstehen kann, und weil sie klüger<br />

sind als man selber, kommt man sich irgendwie blöd vor,<br />

obwohl die anderen deshalb nicht böse sind… Und was sie alles<br />

wissen, Farder Coram! Eigentlich alles! Mrs. Coulter war so<br />

klug und wußte immer so viel, aber das hier ist eine andere Art<br />

von Wissen… mehr eine Art Verstehen, glaube ich…«<br />

Oft stellte Farder Coram bestimmte Fragen, und Lyra suchte<br />

nach den Antworten.<br />

»Was macht Mrs. Coulter gerade?« wollte er einmal wissen,<br />

und sofort begann Lyra, an den Zeigern zu drehen. »Erkläre mir<br />

doch, was du tust«, bat er.<br />

»Also, die Madonna ist Mrs. Coulter, und wenn ich den Zeiger<br />

auf sie richte, denke ich: meine Mutter. Die Ameise steht für<br />

beschäftigt — das ist leicht, das ist die erste Bedeutung. Und das<br />

Stundenglas hat als eine seiner Bedeutungen die Zeit, und eine<br />

andere Bedeutung ist jetzt, und darauf konzentriere ich mich.«<br />

»Woher weißt du, unter welchen Symbolen diese Bedeutungen<br />

liegen?«<br />

»Ich sehe sie. Oder besser gesagt, ich fühle sie, als wenn man<br />

nachts eine Leiter hinuntersteigt und mit dem Fuß Sprosse für<br />

Sprosse abtastet. So taste ich in Gedanken Bedeutung für<br />

Bedeutung ab und ahne irgendwie den Sinn. Dann füge ich<br />

alles zusammen. Das ist, als wenn man die Augen auf etwas<br />

scharfstellt.«<br />

172


»Dann mach das jetzt, und versuche herauszubekommen,<br />

was das Alethiometer sagt.«<br />

Lyra tat, wie ihr geheißen. Sofort schlug die lange Nadel aus,<br />

hielt an, pendelte weiter und blieb wieder stehen, in einer präzisen<br />

Abfolge von Schwüngen und Pausen. Lyra fühlte sich<br />

dabei leicht und beschwingt wie ein junger Vogel, der das Fliegen<br />

lernt. Farder Coram, der ihr vom anderen Tischende aus<br />

zusah, merkte sich die Stellen, an denen die Nadel stehenblieb,<br />

und beobachtete Lyra aufmerksam. Das kleine Mädchen strich<br />

sich eine Strähne aus dem Gesicht und kaute auf der Unterlippe,<br />

während seine Augen zunächst der Nadel folgten, dann<br />

aber, sobald diese sich eingependelt hatte, zielbewußt zu anderen<br />

Stellen des Zifferblattes wanderten. Als Schachspieler<br />

kannte Farder Coram den Blick, mit dem Schachspieler während<br />

einer Partie das Schachbrett betrachten. Und wie das Brett<br />

für einen erfahrenen Spieler ein Feld von Kräften zu sein<br />

scheint, das er für seine Züge nutzt, schien auch Lyras Blick auf<br />

ein ähnlich magnetisches Feld gerichtet, das sie — im Unterschied<br />

zu ihm — sehen konnte.<br />

Die Nadel blieb bei den Symbolen Blitz, Kleinkind,<br />

Schlange, Elefant und bei einem Wesen stehen, dessen Namen<br />

Lyra nicht kannte, einer Art Echse mit großen Augen und<br />

einem Schwanz, der sich um den Zweig ringelte, auf dem sie<br />

saß. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte Lyra, wie die<br />

Nadel immer wieder in dieser Reihenfolge um das Zifferblatt<br />

kreiste.<br />

»Was bedeutet die Echse?« fragte Farder Coram in die konzentrierte<br />

Stille hinein.<br />

»Sie ergibt keinen Sinn… Wahrscheinlich verstehe ich da<br />

etwas falsch. <strong>Der</strong> Blitz bedeutet glaube ich Zorn, und das Kind<br />

… bin wohl ich… Ich hatte auch schon fast die Bedeutung von<br />

diesem Echsending, aber als Sie mich fragten, war sie wieder<br />

weg. Sie ist irgendwo, aber ich kann sie nicht fassen.«<br />

173


»Verstehe. Tut mir leid, Lyra. Bist du jetzt müde? Willst du<br />

lieber aufhören?«<br />

»Nein«, sagte Lyra, ihre Wangen glühten, und ihre Augen<br />

glänzten. Sie war völlig überdreht, wozu auch die lange Gefangenschaft<br />

in der stickigen Kabine beigetragen hatte.<br />

Farder Coram blickte zum Fenster hinaus. Draußen war es<br />

fast dunkel, und sie passierten die letzte Strecke des Binnenlandes;<br />

bald würden sie die Küste erreichen. Unter dem düsteren<br />

Himmel erstreckte sich die weite, schmutzigbraune Wasserfläche<br />

einer Flußmündung; in der Ferne konnte man<br />

verrostete und von Rohrleitungen überzogene Kohlenspiritustanks<br />

erkennen und daneben eine Raffinerie, aus der dicker<br />

Rauch quoll und träge zu den Wolken aufstieg.<br />

»Wo sind wir?« fragte Lyra. »Darf ich kurz raus, Farder<br />

Coram?«<br />

»Wir sind in der Bucht von Colby«, antwortete er. »Das ist<br />

die Mündung des Cole. Wenn wir in Colby sind, machen wir<br />

am Räuchermarkt fest und gehen dann zu Fuß zu den Docks. In<br />

ein bis zwei Stunden sind wir dort…«<br />

Weil es bereits dunkel wurde und in der endlosen Weite der<br />

Bucht kein Schiff zu sehen war außer ihrem eigenen Boot und<br />

einem weit entfernten, mit Kohle beladenen Lastkahn, der sich<br />

langsam auf die Raffinerie zuschob, und weil Lyra so überspannt<br />

und müde war und so lange hatte drinnen bleiben müssen,<br />

sagte Farder Coram schließlich: »Na gut, ich glaube nicht,<br />

daß ein paar Minuten an der frischen Luft schaden können.<br />

Obwohl die Luft alles andere als frisch ist, denn der Wind<br />

kommt heute nicht vom Meer. Geh ruhig an Deck und sieh<br />

dich um, bis wir näher an der Stadt sind.«<br />

Lyra sprang auf, und Pantalaimon verwandelte sich augenblicklich<br />

in eine Möwe. Er konnte es kaum erwarten, seine Flügel<br />

im Freien auszubreiten. Draußen war es kalt, und obwohl<br />

Lyra warm eingemummt war, fröstelte sie schon bald. Pantalai­<br />

174


mon aber stieg mit lautem Freudenkrächzen hoch hinauf, kreiste<br />

über dem Boot, ließ sich herabfallen und stand im nächsten<br />

Moment vor dem Bug und dann wieder hinter dem Heck. Lyra<br />

freute sich mit ihm am Fliegen, und in Gedanken feuerte sie ihn<br />

an, den Dæmon des alten Steuermanns, einen Kormoran, zu<br />

einem Rennen zu provozieren. <strong>Der</strong> Kormoran beachtete ihn<br />

freilich nicht, sondern ließ sich schläfrig auf der Ruderpinne<br />

neben seinem Herrn nieder.<br />

Nichts rührte sich in der öden, braunen Weite, und nur das<br />

stetige Tuckern des Motors und das gedämpfte Klatschen der<br />

Wellen am Bug durchbrachen die tiefe Stille. Schwere Wolken<br />

hingen tief am Himmel, ohne daß es regnete, und darunter<br />

zogen trübe Rauchschwaden vorbei. Das einzige Lebenszeichen<br />

war Pantalaimon, der ausgelassen und elegant wie ein Pfeil den<br />

Himmel durchschnitt.<br />

Als er sich nach einem Sturzflug wieder mit ausgebreiteten,<br />

vor dem Himmelgrau weiß aufleuchtenden Flügeln emporschwang,<br />

wirbelte auf einmal etwas Schwarzes durch die Luft<br />

und stieß mit ihm zusammen. Vor Schreck und Schmerzen wie<br />

benommen, taumelte er durch die Luft, und Lyra, die seine heftigen<br />

Schmerzen spürte, schrie laut auf. Plötzlich tauchte noch<br />

ein zweites kleines, schwarzes Wesen auf; beide flogen nicht<br />

wie Vögel, sondern wie Käfer schwerfällig und mit einem<br />

brummenden Geräusch.<br />

Im Fallen versuchte Pantalaimon abzudrehen, um sich ins<br />

Boot und Lyras verzweifelt geöffnete Arme zu retten, aber die<br />

mordlüsternen schwarzen Kreaturen stießen weiter brummend<br />

und surrend nach ihm. Lyra war vor Angst — Pantalaimons und<br />

ihrer eigenen — halb wahnsinnig, als plötzlich etwas an ihr vorbei<br />

nach oben rauschte.<br />

Es war der Dæmon des Steuermanns. So plump und schwerfällig<br />

er wirkte, sein Flug war kraftvoll und schnell. Er<br />

schnappte mit dem Kopf hierhin und dorthin, schwarze Flügel<br />

175


auschten und etwas Weißes blitzte auf, und dann fiel ein kleines<br />

schwarzes Etwas vor Lyra auf das geteerte Dach der Kabine,<br />

im selben Moment, in dem Pantalaimon auf ihrer ausgestreckten<br />

Hand landete.<br />

Bevor sie ihn beruhigen konnte, hatte er sich schon in eine<br />

Wildkatze verwandelt und ging auf das Wesen los. Mit einem<br />

Tatzenhieb schlug er es vom Rand des Daches zurück, wohin es<br />

bereits hurtig gekrochen war, um zu fliehen. Dann hielt er es<br />

mit spitzen Krallen fest und sah zum bereits dämmernden<br />

Himmel empor, wo der Kormoran sich mit kräftigen Schlägen<br />

seiner schwarzen Schwingen immer höher emporschraubte<br />

und dem anderen Wesen nachjagte.<br />

Schließlich kehrte der Kormoran im schnellen Gleitflug<br />

zurück und krächzte etwas zum Steuermann, der daraufhin<br />

sagte: »Es ist weg. Laß das andere nicht entkommen. Hier…«, er<br />

schüttete den Bodensatz aus einem Zinnbecher, aus dem er<br />

getrunken hatte, und warf Lyra den Becher zu.<br />

Sofort stülpte sie ihn über die Kreatur. Im Becher summte<br />

und brummte sie wie eine kleine Maschine.<br />

»Halt den Becher ganz ruhig«, ertönte die Stimme von Farder<br />

Coram hinter ihr. Er kniete sich hin, um ein Stück Pappe<br />

unter den Becher zu schieben.<br />

»Was ist das, Farder Coram?« fragte Lyra mit zittriger<br />

Stimme.<br />

»Laßt uns runtergehen und es ansehen. Sei vorsichtig, Lyra,<br />

und drück die Pappe fest auf den Becher.«<br />

Auf dem Weg nach unten sah Lyra zum Dæmon des Steuermanns<br />

hinüber, um ihm zu danken, aber er hatte seine alten<br />

Augen geschlossen. Statt dessen bedankte sie sich beim Steuermann.<br />

»Du hättest unten bleiben sollen« war alles, was er sagte.<br />

Sie brachte den Becher in die Kabine. Farder Coram nahm<br />

ein Bierglas, hielt den Zinnbecher verkehrt herum darüber und<br />

176


zog die Pappe weg, so daß die Kreatur ins Glas fiel. Dann hielt er<br />

das Glas hoch, so daß sie das wütende kleine Ding genauer<br />

betrachten konnten.<br />

Es war ungefähr so lang wie Lyras Daumen und nicht<br />

schwarz, sondern dunkelgrün. Die Deckflügel waren aufgerichtet<br />

wie bei einem Marienkäfer, der gerade losfliegen will,<br />

und die inneren Flügel schlugen so rasend schnell, daß nur ein<br />

Flirren zu sehen war. Die sechs mit Klauen bewehrten Beine<br />

waren auf dem glatten Glas ständig in Bewegung.<br />

»Was ist das?« fragte Lyra.<br />

Pantalaimon, der immer noch eine Wildkatze war, kauerte<br />

zwei Handbreit davor auf dem Tisch und verfolgte mit seinen<br />

grünen Augen, wie das Geschöpf unermüdlich auf dem Boden<br />

des Glases im Kreis herum lief.<br />

»Würde man es aufknacken, fände man in seinem Innern<br />

kein Leben«, sagte Farder Coram. »Ein Insekt ist das jedenfalls<br />

nicht. Ich habe einmal eins dieser Biester gesehen, hätte aber nie<br />

damit gerechnet, ihnen so weit nördlich zu begegnen. Sie stammen<br />

aus Afrika. In ihrem Innern läuft ein Uhrwerk, und an der<br />

Feder ist ein böser Geist mit einem verfluchten Herzen befestigt.«<br />

»Aber wer hat es zu uns geschickt?«<br />

»Dazu brauchst du nicht einmal das Alethiometer, Lyra; du<br />

errätst es so leicht wie ich.«<br />

»Mrs. Coulter?«<br />

»Natürlich. Sie hat nicht nur im Norden geforscht, auch in<br />

der Wildnis im Süden gibt es viele seltsame Dinge. Ich habe eins<br />

von diesen Dingern in Marokko gesehen. Solange der Geist in<br />

ihnen steckt, sind sie in Bewegung, und wenn man den Geist<br />

freiläßt, ist er so unbeschreiblich zornig, daß er den ersten, den<br />

er erwischt, tötet.«<br />

»Aber hinter was war es her?«<br />

»Es hat spioniert. Ich war ein verdammter Idiot, daß ich dich<br />

177


nach oben gelassen habe. Ich hätte dich auch vorhin nicht stören<br />

dürfen, als du mit den Symbolen beschäftigt warst.«<br />

»Aber jetzt kapiere ich es!« rief Lyra plötzlich aufgeregt. »Das<br />

Echsendings bedeutet Luft! Das hatte ich zwar gesehen, aber ich<br />

verstand den Zusammenhang nicht, und als ich versuchte, ihn<br />

zu verstehen, entglitt mir die Bedeutung wieder.«<br />

»Ach so«, sagte Farder Coram, »jetzt verstehe ich. Das<br />

Symbol<br />

ist nämlich gar keine Echse, sondern ein Chamäleon. Und es<br />

verkörpert Luft, weil das Chamäleon weder ißt noch trinkt,<br />

sondern nur von Luft lebt.«<br />

»Und der Elefant…«<br />

»Afrika. Aha.«<br />

Sie sahen sich an. Ihre Ehrfurcht vor dem Alethiometer wuchs<br />

mit jedem neuen Beweis seiner Macht.<br />

»Es hat uns die ganze Zeit vor diesen Dingern gewarnt«, sagte<br />

Lyra. »Wir hätten genauer hinhören sollen. Aber was machen<br />

wir jetzt mit dem hier, Farder Coram? Können wir es irgendwie<br />

töten?«<br />

»Ich glaube nicht, daß wir etwas tun können. Am besten setzen<br />

wir es in eine fest verschließbare Schachtel und lassen es nie<br />

mehr heraus. Viel mehr Sorgen macht mir, daß das andere entkommen<br />

konnte. Es fliegt jetzt bestimmt zu Mrs. Coulter<br />

zurück und sagt ihr, daß es dich gesehen hat. Verflucht, Lyra!<br />

Was bin ich nur für ein Idiot!«<br />

Er klapperte in einem Schrank herum und fand eine Tabakdose<br />

von knapp acht Zentimeter Durchmesser, in der Schrauben<br />

aufbewahrt wurden. Er kippte die Schrauben heraus,<br />

wischte das Innere mit einem Lappen aus und stülpte das Glas<br />

darüber, dessen Öffnung noch immer durch die Pappe verschlossen<br />

war. Dann zog er die Pappe weg. Sie hielten beide den<br />

Atem an, als eins der Beine der Kreatur freikam und die Dose<br />

mit erstaunlicher Kraft wegzustoßen versuchte, doch dann hatten<br />

sie es gefangen und drehten den Deckel fest zu.<br />

178


»Sobald wir das Schiff verlassen, löte ich den Deckel an,<br />

damit das Biest nicht ausbrechen kann«, sagte Farder Coram.<br />

»Aber ist das Uhrwerk nicht irgendwann abgelaufen?«<br />

»Wäre es ein normales Uhrwerk, dann ja. Aber wie gesagt,<br />

dieses wird durch den Geist, der in ihm steckt, ständig aufgezogen.<br />

Je mehr das Biest kämpft, desto mehr zieht es sich auf und<br />

desto stärker ist es. Aber laß uns das Ding jetzt wegräumen…«<br />

Er wickelte die Dose in ein Flanelltuch, um das unaufhörliche<br />

Summen und Brummen zu ersticken, und verstaute sie<br />

unter seiner Koje.<br />

Inzwischen war es dunkel geworden, und Lyra sah durch das<br />

Fenster, wie die Lichter von Colby langsam näher kamen. <strong>Der</strong><br />

Dunst verdichtete sich zu Nebel, und als sie am Kai entlang des<br />

Räuchermarktes festmachten, konnte man nur noch weiche<br />

und verschwommene Umrisse erkennen. Die Dunkelheit ging<br />

allmählich in einen silbergrau schimmernden Schleier über, der<br />

sich auf Lagerhäuser, Kräne und hölzerne Marktstände legte<br />

und das granitene Gebäude mit seinen vielen Schornsteinen<br />

einhüllte, nach dem der Markt benannt war und in dem Tag<br />

und Nacht im duftenden Rauch von Eichenholz Fische geräuchert<br />

wurden. <strong>Der</strong> Qualm aus den Schornsteinen machte die<br />

Luft noch klammer und rußiger, und selbst das Kopfsteinpflaster<br />

schien den Geruch von geräucherten Heringen, Makrelen<br />

und Schellfisch auszuströmen.<br />

Lyra ging, in eine Ölhaut eingewickelt und das verräterische<br />

Haar unter einer großen Kapuze versteckt, zwischen Farder<br />

Coram und dem Steuermann. Die drei Dæmonen erkundeten<br />

wachsam die vor ihnen liegenden Ecken, spähten immer wieder<br />

nach hinten und lauschten auf den leisesten Schritt.<br />

Doch außer ihnen war niemand zu sehen. Die Einwohner<br />

Colbys saßen alle in ihren Häusern und tranken wahrscheinlich<br />

gerade ein Gläschen Genever am warmen Ofen. Auf dem Weg<br />

zum Dock trafen sie keine Menschenseele, und dort angekom­<br />

179


men, begegneten sie als erstem Tony Costa, der das Tor<br />

bewachte.<br />

»Da seid ihr ja, Gott sei Dank«, sagte er leise und ließ sie hinein.<br />

»Wir haben soeben erfahren, daß Jack Verhoeven erschossen<br />

und sein Boot versenkt wurde, und keiner wußte, wo ihr<br />

steckt. John Faa ist bereits an Bord und will so bald wie möglich<br />

los.«<br />

Das Schiff mit seinem Ruderhaus und dem Schornstein in<br />

der Mitte, dem hohen Vorderdeck und dem dicken Ladebaum<br />

über einer mit Segeltuch verhängten Luke kam Lyra riesig vor.<br />

Bullaugen und Kommandobrücke waren gelb erleuchtet, und<br />

an der Mastspitze brannte eine weiße Lampe. Drei oder vier<br />

Männer arbeiteten hektisch; woran, konnte Lyra nicht erkennen.<br />

Sie sprang vor Farder Coram die hölzerne Gangway hinauf<br />

und sah sich aufgeregt um. Pantalaimon verwandelte sich in<br />

einen Affen und kletterte sogleich auf den Ladebaum, doch<br />

Lyra rief ihn wieder zurück; Farder Coram wollte, daß sie sich<br />

drinnen aufhielten, unter Deck.<br />

Einige Stufen tiefer, am Ende eines Niedergangs, lag ein kleiner<br />

Salon, in dem John Faa leise mit Nicholas Rokeby sprach,<br />

dem Kapitän des Schiffes. John Faa überstürzte nichts. Lyra<br />

hatte erwartet, daß er sie begrüßen würde, aber er beendete<br />

zuerst das Gespräch über Gezeiten und Lotsen, bevor er sich<br />

den Neuankömmlingen zuwandte.<br />

»Guten Abend, Freunde«, sagte er. »Wie ihr vielleicht schon<br />

gehört habt, ist der arme Jack Verhoeven tot. Und seine Jungs<br />

wurden gefangengenommen.«<br />

»Auch wir haben schlechte Nachrichten.« Farder Coram<br />

berichtete von ihrer Begegnung mit den fliegenden Geistern.<br />

John Faa schüttelte seinen großen Kopf, machte ihnen aber<br />

keine Vorwürfe.<br />

»Wo steckt die Kreatur jetzt?« fragte er.<br />

180


Farder Coram zog die Tabakdose heraus und stellte sie auf<br />

den Tisch. Das Summen, das aus der Dose zu hören war, war<br />

dermaßen wütend, daß sie von ganz allein langsam über das<br />

Holz rutschte.<br />

»Gehört habe ich schon von diesen aufgezogenen Teufeln,<br />

aber gesehen habe ich noch keinen«, sagte John Faa. »Soviel ich<br />

weiß, kann man sie weder beruhigen noch abstellen, noch hätte<br />

es Sinn, sie mit Blei zu beschweren und im Ozean zu versenken,<br />

denn eines Tages würde die Dose durchrosten, und der Teufel<br />

käme heraus und würde sich auf das Kind stürzen, wo immer es<br />

ist. Nein, wir müssen ihn wohl hierbehalten und gut bewachen.«<br />

Lyra war die einzige weibliche Person an Bord — John Faa<br />

hatte sich dagegen entschieden, Frauen mitzunehmen — und<br />

bekam eine Kabine für sich allein. Die Kabine war allerdings<br />

nicht groß, tatsächlich kaum größer als ein Schrank, und hatte<br />

eine Koje und eine Luke, wie das Bullauge eigentlich hieß. Lyra<br />

verstaute ihre Habseligkeiten in dem Schubfach unter der Koje<br />

und rannte dann aufgeregt nach oben, um an der Reling stehend<br />

England verschwinden zu sehen; doch sie mußte feststellen,<br />

daß England schon beinahe vollständig im Nebel verschwunden<br />

war.<br />

Aber das Rauschen des Wassers unter ihr, der Fahrtwind, die<br />

unerschrocken in der Dunkelheit blinkenden Schiffslampen,<br />

das Rumpeln der Maschine und der Geruch nach Salz, Fisch<br />

und Kohlenspiritus waren schon aufregend genug. Wenig später,<br />

als das Schiff von der Dünung des Deutschen Ozeans erfaßt<br />

wurde, stellte sich ein weiteres Gefühl ein. Als Lyra zum<br />

Abendessen gerufen wurde, merkte sie, daß sie weniger hungrig<br />

war, als sie gedacht hatte, und im nächsten Augenblick<br />

beschloß sie auch schon, sich lieber hinzulegen, Pantalaimon<br />

zuliebe, denn dem armen Kerl war speiübel.<br />

Und so begann ihre Reise in den Norden.<br />

181


182


II<br />

Bolvangar<br />

183


184


Zehn<br />

<strong>Der</strong> Konsul und der Bär<br />

John Faa und die anderen Anführer hatten beschlossen, Kurs<br />

auf Trollesund zu nehmen, den wichtigsten Hafen Lapplands.<br />

Die Hexen hatten in der Stadt ein Konsulat, und John Faa<br />

wußte, daß es ohne ihre Hilfe oder zumindest wohlwollende<br />

Neutralität unmöglich war, die Kinder zu befreien.<br />

Am nächsten Tag, als Lyras Seekrankheit etwas abgeklungen<br />

war, erklärte er Lyra und Farder Coram seinen Plan. Die Sonne<br />

schien hell vom Himmel, und die grünen Wellen klatschten an<br />

den Bug und entfernten sich auf beiden Seiten als schaumbekrönte<br />

Linien. An Deck, wo eine frische Brise wehte und das<br />

Meer als bewegte, glitzernde Fläche vor ihr lag, war Lyra nicht<br />

mehr übel; und als Pantalaimon begeistert als Möwe oder<br />

Sturmschwalbe über die Wellenkämme glitt, ließ Lyra sich von<br />

seiner Freude anstecken und hatte ihr Elend schnell vergessen.<br />

John Faa, Farder Coram und zwei andere Männer saßen am<br />

Heck und besprachen, was als nächstes zu tun sei.<br />

»Farder Coram kennt also die lappländischen Hexen«,<br />

meinte John Faa. »Und wenn ich ihn richtig verstanden habe,<br />

stehen sie sogar in seiner Schuld.«<br />

»Das stimmt, John«, sagte Farder Coram. »<strong>Der</strong> Anlaß liegt<br />

zwar schon vierzig Jahre zurück, aber für eine Hexe ist das keine<br />

lange Zeit. Manche Hexen werden steinalt.«<br />

185


»Wie kam es dazu, Farder Coram?« fragte Adam Stefanski,<br />

der Anführer der kleinen gyptischen Streitmacht.<br />

»Ich habe einer Hexe das Leben gerettet. Sie wurde von<br />

einem großen roten Vogel verfolgt, wie ich nie zuvor einen<br />

gesehen hatte, stürzte verletzt vom Himmel und fiel in den<br />

Sumpf. Ich machte mich sofort auf die Suche nach ihr. Sie wäre<br />

beinahe ertrunken, aber ich konnte sie gerade noch an Bord<br />

meines Bootes hieven und erschoß den Vogel. Er fiel in ein<br />

Sumpfloch, sehr zu meinem Bedauern, denn er war so groß wie<br />

eine Rohrdommel und feuerrot.«<br />

Die anderen Männer hingen wie gebannt an Farder Corams<br />

Lippen.<br />

»Als ich sie in meinem Boot hatte«, fuhr er fort, »bekam ich<br />

den größten Schreck meines Lebens: Die junge Frau hatte keinen<br />

Dæmon.«<br />

Er hätte genausogut sagen können: »Sie hatte keinen Kopf.«<br />

Schon der Gedanke war entsetzlich. Den Männern schauderte.<br />

Ihren Dæmonen sträubten sich Fell und Gefieder, sie schüttelten<br />

sich oder stießen ein heiseres Krächzen aus, und die Männer<br />

mußten sie beruhigen. Pantalaimon verkroch sich an Lyras<br />

Brust; sein Herz schlug genauso heftig wie ihres.<br />

»Zumindest schien es so«, sagte Farder Coram. »Ich hatte<br />

schon vermutet, daß sie eine Hexe war, weil sie aus der Luft fiel.<br />

Sie sah wie eine ganz normale junge Frau aus, nur schlanker als<br />

viele und hübscher als die meisten, aber als ich ihren Dæmon<br />

nirgends entdecken konnte, bekam ich einen furchtbaren<br />

Schrecken.«<br />

»Haben Hexen denn keine Dæmonen?« fragte der andere<br />

Mann, der Michael Canzona hieß.<br />

»Wahrscheinlich sind ihre Dæmonen unsichtbar«, sagte<br />

Adam Stefanski. »Und ihr Dæmon war zwar die ganze Zeit da,<br />

aber Farder Coram konnte ihn nicht sehen.«<br />

»Nein, Adam, du irrst dich«, widersprach Farder Coram. »Er<br />

186


war nicht da. Hexen können über viel größere Entfernungen<br />

von ihren Dämonen getrennt sein als wir. Wenn es sein muß,<br />

können sie ihre Dæmonen mit dem Wind oder den Wolken<br />

oder über den Meeresboden weit weg schicken. Die Hexe, die<br />

ich kennenlernte, hatte sich gerade etwas ausgeruht, als ihr<br />

Dæmon angeflogen kam, denn natürlich hatte er ihre Angst<br />

und ihre Verletzung gespürt. Und ich bin überzeugt, auch wenn<br />

sie es nicht zugeben wollte, daß der große rote Vogel, den ich<br />

erschossen habe, der Dæmon einer anderen Hexe war, die sie<br />

verfolgte. Mein Gott! Wenn ich daran denke, überläuft es mich<br />

kalt. Hätte ich das geahnt, hätte ich das Gewehr stecken lassen<br />

und etwas anderes getan; aber nun war es geschehen. Jedenfalls<br />

hatte ich ihr ohne Zweifel das Leben gerettet, und sie schenkte<br />

mir ein Andenken und versprach, mir zu helfen, wenn ich Hilfe<br />

brauchte. Und einmal, als die Skrälinge mich mit einem vergifteten<br />

Pfeil angeschossen hatten, schickte sie mir tatsächlich<br />

Hilfe. Wir hatten auch noch andere Verbindungen… Zwar<br />

habe ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen, aber sie erinnert<br />

sich bestimmt noch an mich.«<br />

»Und lebt sie in Trollesund, diese Hexe?«<br />

»Nein, nein. Hexen leben in Wäldern und in der Tundra,<br />

aber nicht in einem Seehafen unter Männern und Frauen. Sie<br />

bevorzugen ein ungebundenes Leben. Aber sie haben dort ein<br />

Konsulat, und seid versichert, ich werde sie benachrichtigen.«<br />

Lyra hätte gern mehr über Hexen erfahren, aber die Unterhaltung<br />

der Männer wandte sich anderen Themen wie Brennstoff<br />

und Vorräten zu, und so ging sie neugierig daran, den Rest<br />

des Schiffes zu erforschen. Sie schlenderte über das Deck in<br />

Richtung Bug und machte bald die Bekanntschaft eines Matrosen,<br />

auf den sie Apfelkerne schnippte, die sie noch vom Frühstück<br />

aufbewahrt hatte. <strong>Der</strong> Matrose war ein untersetzter und<br />

im Grunde friedfertiger Mensch, und nachdem er sie zuerst<br />

beschimpft und danach sie ihn beschimpft hatte, wurden sie<br />

187


dicke Freunde. Er hieß Jerry, und von ihm lernte Lyra, daß man<br />

Seekrankheit vorbeugen konnte, wenn man sich mit etwas<br />

beschäftigte, und daß selbst eine Arbeit wie Deckschrubben<br />

Spaß machen konnte, solange sie auf Seemannsart getan wurde.<br />

Lyra war davon so begeistert, daß sie später die Decken auf ihrer<br />

Koje auf Seemannsart faltete und ihre Sachen auf Seemannsart<br />

in den Schrank legte und das dann »verstauen« statt »aufräumen«<br />

nannte.<br />

Nach zwei Tagen auf See fand Lyra, daß sie immer so leben<br />

wollte. Sie durfte sich vom Maschinenraum bis zur Brücke<br />

überall frei bewegen, und bald duzte sie sich mit der ganzen<br />

Mannschaft. Kapitän Rokeby ließ sie am Griff der Dampfpfeife<br />

ziehen, um einer holländischen Fregatte ein Signal zu geben,<br />

der Koch ließ ihre Hilfe beim Rühren des Mehlpuddings über<br />

sich ergehen, und nur ein strenges Wort von Farder Coram<br />

hielt sie davor zurück, den Fockmast hinaufzuklettern, um vom<br />

Krähennest aus den Horizont abzusuchen.<br />

Die ganze Zeit fuhren sie Richtung Norden, und täglich<br />

wurde es kälter. Man suchte im Schiffsbauch nach Ölzeug, das<br />

auf Lyras Größe zurechtgeschnitten werden konnte, und Jerry<br />

brachte ihr Nähen bei, eine Kunst, die sie bereitwillig von ihm<br />

lernte, obwohl sie sie in Jordan College verachtet hatte und Mrs.<br />

Lonsdales Anleitungen aus dem Weg gegangen war. Gemeinsam<br />

mit Jerry schneiderte sie einen wasserdichten Beutel für das<br />

Alethiometer, den sie um die Taille tragen konnte — falls sie ins<br />

Wasser fiel, wie sie sagte. Das Alethiometer sicher verpackt,<br />

stand sie in Ölzeug und Regenhut an der Reling, wenn die salzig<br />

in den Augen brennende Gischt über den Bug spritzte und<br />

über das Deck strömte. Manchmal, vor allem wenn der Wind<br />

auffrischte und das Schiff in graugrünen Wellenbergen versank,<br />

wurde sie noch immer seekrank. Dann war es Pantalaimons<br />

Aufgabe, sie abzulenken, indem er als Sturmschwalbe über die<br />

Wellen glitt. Sobald sie die unbändige Freude spürte, mit der er<br />

188


durch Wind und Wetter schoß, vergaß sie ihre Übelkeit. Hin<br />

und wieder versuchte er sich sogar als Fisch, und einmal schloß<br />

er sich sogar, zu deren freudiger Überraschung, einer Gruppe<br />

Delphinen an. Lyra stand frierend auf dem Vorderdeck und<br />

lachte vergnügt, als ihr geliebter Pantalaimon zusammen mit<br />

einem halben Dutzend anderer grauer Leiber in eleganten,<br />

kraftvollen Sprüngen aus dem Wasser schnellte. Ihre Freude<br />

war allerdings nicht ungetrübt, denn gleichzeitig quälte sie eine<br />

bange Frage. Angenommen, die Verlockungen des Lebens als<br />

Delphin wären stärker als seine Liebe zu ihr?<br />

Ihr Freund, der Matrose, war in ihrer Nähe damit beschäftigt,<br />

das Segeltuch über der vorderen Luke zurechtzurücken. Er<br />

unterbrach seine Arbeit, um zuzuschauen, wie der Dæmon des<br />

Weinen Mädchens mit den Delphinen durch die Wellen glitt<br />

und aus dem Wasser sprang. Sein eigener Dæmon, eine Möwe,<br />

saß auf der Ankerwinde und hatte den Kopf unter den Flügel<br />

gesteckt. Jerry wußte, was Lyra empfand.<br />

»Als ich das erste Mal zur See fuhr, hatte meine Belisaria<br />

noch nicht ihre endgültige Gestalt angenommen — so jung war<br />

ich damals —, und sie verwandelte sich für ihr Leben gern in<br />

einen Tümmler. Ich hatte Angst, daß sie irgendwann mal endgültig<br />

einer bleiben würde. Auf meinem ersten Schiff war nämlich<br />

ein alter Seemann, der überhaupt nie an Land gehen<br />

konnte, weil sein Dæmon für immer ein Delphin geworden<br />

war und das Wasser nicht verlassen konnte. Er war ein wunderbarer<br />

Seemann, der beste Navigator, den es jemals gab; er hätte<br />

in der Fischerei ein Vermögen machen können, aber er wollte<br />

nicht. Er war nie richtig glücklich, bis er starb und im Meer<br />

begraben werden konnte.«<br />

»Warum nehmen Dæmonen irgendwann eine feste Gestalt<br />

an?« fragte Lyra. »Ich will, daß Pantalaimon sich immer verwandelt,<br />

und er will das auch.«<br />

»Das war immer so und wird auch immer so sein. Es gehört<br />

189


zum Erwachsenwerden dazu. Eines Tages wirst du es leid sein,<br />

daß er sich verwandelt, und dann willst du, daß er eine feste<br />

Gestalt annimmt.«<br />

»Das will ich nie!«<br />

»Doch, glaube mir. Du wirst erwachsen sein wollen wie alle<br />

anderen Mädchen. Außerdem hat das auch einen Vorteil.«<br />

»Was für einen denn?«<br />

»Man weiß, was für ein Mensch man ist. Schau dir die alte<br />

Belisaria an. Sie ist eine Möwe, und das bedeutet, auch ich bin<br />

eine Art Möwe. Ich bin nicht schön oder sonstwie außergewöhnlich,<br />

aber ich bin ein zäher alter Kerl, der überall Freunde<br />

und etwas zum Beißen findet. So etwas ist gut zu wissen. Wenn<br />

dein Dæmon seine endgültige Gestalt annimmt, weißt du, zu<br />

welcher Sorte Mensch du gehörst.«<br />

»Aber wenn er eine Gestalt annimmt, die ich nicht mag?«<br />

»Tja, dann bist du natürlich unzufrieden. Was glaubst du,<br />

wie viele Leute sich einen Löwen als Dæmon wünschen und<br />

schließlich einen Pudel bekommen. Sie ärgern sich, bis sie lernen,<br />

sich mit dem zufriedenzugeben, was sie sind. Da ist aller<br />

Ärger umsonst.«<br />

Trotzdem konnte Lyra sich nicht vorstellen, jemals erwachsen<br />

zu werden.<br />

Eines Morgens hing ein fremdartiger Geruch in der Luft, und<br />

das Schiff machte seltsame Bewegungen. Statt wie bisher auf<br />

und ab über die Wellenberge zu stampfen, schaukelte es lebhaft<br />

von einer Seite auf die andere. Lyra war eine Minute nach dem<br />

Aufwachen an Deck und starrte begierig dem Land entgegen:<br />

Was für ein ungewohnter Anblick nach all dem Wasser! Denn<br />

obwohl sie nur wenige Tage auf See verbracht hatten, hatte Lyra<br />

das Gefühl, sie wären monatelang unterwegs gewesen. Unmittelbar<br />

vor dem Schiff ragte ein Berg mit grünen Hängen und<br />

schneebedecktem Gipfel auf. An seinem Fuß lag eine kleine<br />

190


Stadt mit einem Hafen; zu sehen waren Holzhäuser mit spitzen<br />

Dächern, der Turm eines Bethauses, Hafenkräne und<br />

Schwärme kreisender, schreiender Möwen. Es stank nach Fisch,<br />

vermischt mit Gerüchen vom Festland wie Kiefernharz, Erde,<br />

einem Geruch nach Tieren und Moschus und noch etwas Kaltem,<br />

Leerem und Wildem, vielleicht Schnee. Es war der Geruch<br />

des Nordens.<br />

Seehunde tollten ums Schiff herum und streckten ihre<br />

Clownsgesichter aus dem Wasser, bevor sie lautlos wieder<br />

untertauchten. <strong>Der</strong> Wind, der die Gischt von den weißen<br />

Schaumkronen der Wellen wehte, war eisig und drang durch<br />

jede Ritze in Lyras Wolfspelz. Bald schmerzten ihre Hände, und<br />

ihr Gesicht war taub vor Kälte. Pantalaimon wärmte ihr zwar<br />

als Hermelin den Hals, aber es war trotzdem zu kalt, um lange<br />

untätig draußen herumzustehen, selbst wenn man dabei Seehunde<br />

beobachtete, und so ging Lyra unter Deck, aß im Salon<br />

ihren Haferbrei und sah zum Bullauge hinaus.<br />

Im Hafen war das Wasser ruhig, und als sie an dem wuchtigen<br />

Wellenbrecher vorbeifuhren, hatte Lyra plötzlich Gleichgewichtsstörungen,<br />

weil jede Bewegung fehlte. Gespannt beobachteten<br />

sie und Pantalaimon, wie sich das schwerfällige Schiff<br />

zentimeterweise der Kaimauer näherte. In der folgenden<br />

Stunde waren alle mit Vorbereitungen für die Landung<br />

beschäftigt. Das Maschinengeräusch ging in ein gedämpftes<br />

Brummen über, und Befehle und Fragen wurden gebrüllt, Taue<br />

durch die Luft geschleudert, Gangways heruntergelassen und<br />

Luken geöffnet.<br />

»Komm, Lyra!« sagte Farder Coram schließlich. »Hast du<br />

alles gepackt?«<br />

Lyras wenige Sachen waren gepackt, seit sie aufgewacht war<br />

und Land gesehen hatte. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als<br />

die Einkaufstasche aus der Kabine zu holen, und schon war sie<br />

fertig.<br />

191


An Land machten sie und Farder Coram sich als erstes auf die<br />

Suche nach dem Haus des Hexenkonsuls. Sie brauchten nicht<br />

lange zu suchen; die Häuser der kleinen Stadt drängten sich um<br />

den Hafen, und die einzigen größeren Gebäude waren das Bethaus<br />

und das Haus des Gouverneurs. <strong>Der</strong> Hexenkonsul wohnte<br />

in einem grün gestrichenen Holzhaus mit Blick aufs Meer. Als<br />

sie an der Tür läuteten, tönte die Glocke schrill durch die<br />

ruhige Straße.<br />

Ein Diener führte sie in einen kleinen Salon und brachte<br />

ihnen Kaffee. Bald darauftrat der Konsul ein und begrüßte sie.<br />

Er war ein beleibter Mann mit rosiger Gesichtsfarbe; er trug<br />

einen schlichten, dunklen Anzug und hieß Martin Lanselius.<br />

Sein Dæmon war eine kleine Schlange, genauso tiefgrün wie<br />

die Augen des Konsuls, die das einzig Hexenähnliche an ihm<br />

waren; obwohl Lyra gar nicht genau wußte, wie sie sich eigentlich<br />

eine Hexe vorgestellt hatte.<br />

»Was kann ich für Sie tun, Farder Coram?« fragte er.<br />

»Zweierlei, Doktor Lanselius. Erstens liegt mir viel daran,<br />

mich mit einer Hexe in Verbindung zu setzen, der ich vor Jahren<br />

in den Fens von East Anglia begegnet bin. Sie heißt Serafina<br />

Pekkala.«<br />

Dr. Lanselius notierte sich etwas mit einem silbernen Stift.<br />

»Wie lange liegt diese Begegnung zurück?« fragte er.<br />

»An die vierzig Jahre. Aber ich glaube, daß sie sich daran<br />

erinnert.«<br />

»Und Ihr zweites Anliegen?«<br />

»Ich vertrete mehrere gyptische Familien, die Kinder verloren<br />

haben. Wir haben Grund anzunehmen, daß es eine Organisation<br />

gibt, die diese Kinder — unsere und andere — entführt<br />

und in den Norden bringt. Den Grund kennen wir nicht. Ich<br />

wüßte gern, ob Sie oder Ihr Volk von solchen Vorgängen gehört<br />

haben.«<br />

Dr. Lanselius nippte am Kaffee, seine Miene war höflich.<br />

192


»Es ist nicht ausgeschlossen, daß uns derartige Unternehmungen<br />

zu Ohren gekommen sind«, sagte er. »Verstehen Sie<br />

aber bitte, daß die Beziehungen zwischen meinem Volk und<br />

den Nordländern überaus herzlich sind und ich mir nicht<br />

erlauben darf, sie aufs Spiel zu setzen.«<br />

Farder Coram nickte, als könne er das sehr gut verstehen.<br />

»Natürlich«, sagte er. »Und ich brauchte Sie auch gar nicht<br />

darum zu bitten, wenn ich die Informationen auf einem anderen<br />

Weg bekommen könnte. Aus diesem Grund habe ich zuerst<br />

nach der Hexe gefragt.«<br />

Jetzt war es an Dr. Lanselius, verständnisvoll zu nicken. Lyra<br />

sah diesem Hin und Her erstaunt und bewundernd zu. Unter<br />

der Oberfläche der Worte spielten sich die verschiedensten<br />

Dinge ab, und sie merkte, daß der Hexenkonsul einen Entschluß<br />

faßte.<br />

»Also gut«, sagte er. »Sie haben natürlich ganz recht, und Sie<br />

wissen ja auch, Farder Coram, daß Ihr Name uns keineswegs<br />

unbekannt ist. Serafina Pekkala ist die Königin eines Hexenclans<br />

am Enara-See. Was Ihre andere Frage betrifft, so versteht<br />

sich von selbst, daß Sie die gewünschte Auskunft nicht durch<br />

mich erhalten.«<br />

»Selbstverständlich.«<br />

»Gut. In dieser Stadt befindet sich die Niederlassung einer<br />

Organisation mit dem Namen Gesellschaft zur Erforschung des<br />

Nordens, die angeblich nach Bodenschätzen sucht, in Wirklichkeit<br />

aber von der sogenannten General-Oblations-Behörde<br />

aus London gesteuert wird. Zufälligerweise weiß ich, daß diese<br />

Organisation Kinder importiert. In der Stadt ist das im großen<br />

und ganzen unbekannt, und offiziell weiß auch die norrowegische<br />

Regierung nichts davon. Die Kinder bleiben nicht lange<br />

hier, sondern werden weiter ins Landesinnere gebracht.«<br />

»Wissen Sie wohin, Doktor Lanselius?«<br />

»Nein. Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüßte.«<br />

193


»Wissen Sie denn, was dort mit ihnen geschieht?«<br />

Zum ersten Mal sah Doktor Lanselius kurz zu Lyra hinüber.<br />

Sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu<br />

zucken. <strong>Der</strong> kleine grüne Schlangendæmon hob den Kopf vom<br />

Kragen des Konsuls und flüsterte ihm züngelnd etwas ins<br />

Ohr.<br />

Daraufhin sagte der Konsul: »Ich habe gehört, wie in diesem<br />

Zusammenhang der Begriff Maystadt-Verfahren fiel. Offensichtlich<br />

verwenden sie diesen Begriff als Decknamen für ihr eigentliches<br />

Geschäft. Außerdem ist die Rede von Interzision, ich kann<br />

aber nicht sagen, was damit gemeint ist.«<br />

»Sind gegenwärtig Kinder in der Stadt?« fragte Farder<br />

Coram.<br />

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Dr. Lanselius. »Vor einer<br />

Woche kam eine etwa zwölfköpfige Gruppe hier an, sie hat die<br />

Stadt aber vorgestern wieder verlassen.«<br />

»Aha, erst vorgestern? Dann besteht noch Hoffnung. Wie<br />

sind sie abgereist, Doktor Lanselius?«<br />

»Mit Schlitten.«<br />

»Und Sie haben keine Ahnung, wohin sie gefahren sein<br />

könnten?«<br />

»Nein. Solche Dinge interessieren uns nicht.«<br />

»Ich verstehe. Nachdem Sie nun meine Fragen so offen<br />

beantwortet haben, habe ich noch eine letzte. Wenn Sie an meiner<br />

Stelle wären, welche Frage würden Sie dem Konsul der<br />

Hexen stellen?«<br />

Zum ersten Mal lächelte Dr. Lanselius.<br />

»Ich würde ihn fragen, wo ich die Dienste eines gepanzerten<br />

Bären bekommen könnte«, antwortete er.<br />

Lyra setzte sich auf. Sie spürte, wie Pantalaimons Herz in<br />

ihren Händen schlug.<br />

»Ich dachte immer, die Panzerbären ständen im Dienst der<br />

Oblations-Behörde«, erwiderte Farder Coram überrascht. »Ich<br />

194


meine natürlich, der Gesellschaft zur Erforschung des Nordens,<br />

oder wie sie sich nennt.«<br />

»Es gibt zumindest einen, für den das nicht zutrifft. Sie finden<br />

ihn im Schlittendepot am Ende der Langlokur-Straße. Dort<br />

verdient er sich zur Zeit seinen Lebensunterhalt, aber es kann<br />

angesichts seines Temperaments und der Angst, die er den<br />

Hunden einjagt, sein, daß er seine Arbeit bald wieder verliert.«<br />

»Er ist also ein Abtrünniger?«<br />

»So könnte man sagen. Er heißt Iorek Byrnison. Sie wollten<br />

wissen, was ich fragen würde, und ich habe es Ihnen gesagt.<br />

Hören Sie jetzt noch, was ich tun würde: Ich würde mir die<br />

Gelegenheit, die Dienste eines Panzerbären zu bekommen, auf<br />

keinen Fall entgehen lassen, selbst wenn er nicht gerade in der<br />

Nähe wäre.«<br />

Lyra hielt es kaum noch auf ihrem Stuhl aus. Farder Coram<br />

wußte jedoch, wie man sich bei Begegnungen wie dieser zu<br />

benehmen hatte, und nahm noch einen der aromatischen<br />

Honigkuchen vom Teller. Während er ihn aß, wandte sich Dr.<br />

Lanselius an Lyra.<br />

»Soviel ich weiß, besitzt du ein Alethiometer«, sagte er zu<br />

ihrer großen Verwunderung. Woher konnte er das bloß wissen?<br />

»Ja«, sagte sie und fügte, nachdem Pantalaimon sie gezwickt<br />

hatte, hinzu: »Möchten Sie es sehen?«<br />

»Sehr gern.«<br />

Linkisch zog sie das Samtpäckchen aus dem Beutel aus<br />

Ölhaut und reichte es ihm. Er wickelte es aus und hielt das Alethiometer<br />

ganz vorsichtig hoch. Dann starrte er auf das Zifferblatt<br />

wie ein Wissenschaftler auf ein seltenes Schriftstück.<br />

»Herrlich!« sagte er. »Ich habe einmal ein anderes Exemplar<br />

gesehen, aber es war nicht so schön wie dieses. Besitzt du auch<br />

das Buch mit den Deutungen?«<br />

»Nein«, begann Lyra, aber bevor sie noch etwas sagen konnte,<br />

sprach Farder Coram.<br />

195


»Nein, es ist jammerschade. Zwar gehört Lyra das Alethiometer,<br />

aber wir wissen überhaupt nicht, wie man es liest. Es ist<br />

genauso geheimnisvoll wie die Tintenlachen, aus denen Hindus<br />

die Zukunft lesen. Und das nächste Buch der Deutungen,<br />

das ich kenne, befindet sich in der Abtei Sankt Johann in Heidelberg.«<br />

Lyra wußte zwar, warum Farder Coram das sagte; er wollte<br />

nicht, daß Dr. Lanselius von Lyras Fähigkeit erfuhr. Aber sie<br />

merkte auch etwas, das Farder Coram nicht merken konnte: die<br />

plötzliche Aufregung von Dr. Lanselius’ Dæmon. Schlagartig<br />

wurde ihr klar, daß es ein Fehler wäre, sich zu verstellen.<br />

Deshalb sagte sie, halb an Dr. Lanselius und halb an Farder<br />

Coram gewandt: »Ich kann es übrigens doch lesen.«<br />

»Das ist klug von dir«, sagte der Konsul. »Woher hast du das<br />

Alethiometer bekommen?«<br />

»<strong>Der</strong> Rektor von Jordan College in Oxford hat es mir gegeben«,<br />

erwiderte sie. »Wissen Sie, wer diese Instrumente<br />

gemacht hat, Doktor Lanselius?«<br />

»Angeblich stammen sie aus Prag. <strong>Der</strong> Wissenschaftler, der<br />

das erste Alethiometer erfunden hat, suchte offenbar nach einer<br />

Methode, mit der man den Einfluß der Planeten messen<br />

konnte, von dem die Astrologie spricht. Er wollte ein Gerät<br />

bauen, das sich nach dem Mars oder der Venus richtet wie ein<br />

Kompaß nach dem Norden. Damit ist er zwar gescheitert, aber<br />

der von ihm erfundene Mechanismus reagierte ganz eindeutig<br />

auf irgend etwas, wenn auch niemand wußte, was das war.«<br />

»Und woher stammen die Symbole?«<br />

»Oh, aus dem siebzehnten Jahrhundert. Damals gab es überall<br />

Symbole und Sinnbilder. Man sollte Bauwerke und Bilder<br />

wie Bücher lesen können. Alles stand gleichzeitig für etwas<br />

anderes; mit dem richtigen Wörterbuch konnte man selbst die<br />

Natur deuten. Deshalb ist es eigentlich nicht verwunderlich,<br />

daß Philosophen damals auch Erkenntnisse, deren Ursprung<br />

196


ihnen unerklärlich war, mit solchen Symbolen deuten wollten.<br />

Aber seit ungefähr zwei Jahrhunderten verwendet man diese<br />

Symbole eigentlich nicht mehr.«<br />

Er gab Lyra das Instrument zurück. »Darf ich dich etwas<br />

fragen? Wie liest du es ohne das Buch der Symbole?«<br />

»Ich konzentriere mich einfach, und dann ist es irgendwie so,<br />

als würde man ins Wasser schauen. Die Augen müssen die richtige<br />

Ebene finden, auf der sie scharf sehen. Oder so ähnlich.«<br />

»Ob du mir das wohl einmal vormachen könntest?«<br />

Lyra sah Farder Coram an. Sie hätte sofort zugestimmt,<br />

wollte aber sein Einverständnis abwarten. <strong>Der</strong> alte Mann nickte.<br />

»Was soll ich fragen?«<br />

»Was haben die Tataren mit Kamtschatka vor?«<br />

Das war nicht schwer. Lyra richtete die Zeiger auf das Kamel,<br />

das Asien und damit die Tataren symbolisierte, auf das Füllhorn,<br />

das für Kamtschatka mit seinen Goldminen stand, und<br />

auf die Ameise, die Geschäftigkeit verkörperte, die wiederum<br />

Absichten und Pläne symbolisierte. Dann saß sie ganz ruhig da,<br />

konzentrierte sich auf alle drei Bedeutungsebenen zugleich<br />

und öffnete sich der Antwort, die beinahe umgehend eintraf.<br />

Die lange Nadel zuckte zu den Symbolen Delphin, Helm,<br />

Kleinkind und Anker und tanzte zwischen ihnen und dem Tiegel<br />

in einer komplizierten Folge hin und her, der Lyras Augen<br />

ohne zu zögern folgten, die für die beiden Männer aber unverständlich<br />

blieb.<br />

Nachdem die Nadel die Bewegungen mehrere Male vollführt<br />

hatte, sah Lyra auf. Sie blinzelte ein- oder zweimal, als<br />

erwache sie aus einer Trance.<br />

»Sie werden einen Angriff vortäuschen, aber nicht wirklich<br />

angreifen, denn Kamtschatka ist viel zu weit weg, und sie wären<br />

zu weit verstreut.«<br />

»Erklärst du mir, woran du das abliest?«<br />

»Am Delphin. Eine seiner tieferen Bedeutungen ist das Spie­<br />

197


len im Sinn von Verspieltheit oder Schabernack«, erklärte Lyra.<br />

»Daß diese Bedeutung gemeint ist, erkenne ich daran, wie oft<br />

die Nadel an dieser Stelle stehenbleibt und daß ich nur diese<br />

Bedeutungsebene scharf sehen kann. <strong>Der</strong> Helm bedeutet Krieg,<br />

und beides zusammen bedeutet Krieg vortäuschen, ohne ihn<br />

wirklich vorzuhaben. Das kleine Kind steht für Schwierigkeiten;<br />

es wäre zu schwer für die Tataren, Kamtschatka anzugreifen,<br />

und der Anker sagt auch, weshalb: Ihre Reihen wären dann<br />

so auseinandergezogen und gespannt wie eine Ankerkette. Ich<br />

sehe das einfach so, verstehen Sie?«<br />

Dr. Lanselius nickte.<br />

»Bemerkenswert«, sagte er. »Ich bin dir sehr dankbar und<br />

werde das nicht vergessen.«<br />

Er warf Farder Coram einen sonderbaren Blick zu, dann<br />

wandte er sich wieder an Lyra.<br />

»Darf ich dich um noch eine Demonstration bitten?« fragte<br />

er sie. »Im Hof hinter dem Haus hängen Wolkenkiefernzweige<br />

an der Wand. Einen von ihnen hat Serafina Pekkala benutzt.<br />

Kannst du herausfinden, welchen?«<br />

»Na klar!« meinte Lyra, immer bereit anzugeben, und nahm<br />

das Alethiometer und stürmte hinaus. Sie konnte es kaum<br />

erwarten, Wolkenkiefern zu sehen, denn die Hexen benutzten<br />

sie zum Fliegen, und sie hatte noch nie zuvor welche gesehen.<br />

Als sie fort war, fragte der Konsul: »Wissen Sie eigentlich,<br />

wer dieses Kind ist?«<br />

»Sie ist die Tochter von Lord Asriel«, antwortete Farder<br />

Coram. »Und ihre Mutter ist Mrs. Coulter von der Oblations-<br />

Behörde.«<br />

»Und weiter?«<br />

<strong>Der</strong> alte Gypter mußte den Kopf schütteln. »Nein«, sagte er,<br />

»mehr weiß ich nicht. Aber sie ist ein seltsames unschuldiges<br />

Wesen, und ich möchte um nichts in der Welt, daß ihr etwas<br />

zustößt. Wie sie es schafft, dieses Instrument zu lesen, ist mir ein<br />

198


Rätsel, aber ich glaube ihr, was sie sagt. Warum fragen Sie, Doktor<br />

Lanselius? Wissen Sie mehr?«<br />

»Die Hexen sprechen seit Jahrhunderten von diesem Mädchen«,<br />

sagte der Konsul. »Sie leben ganz in der Nähe des Ortes,<br />

an dem die Welten nur durch einen dünnen Schleier voneinander<br />

getrennt sind, und hören deshalb manchmal jenes ewige<br />

Raunen, das von den Stimmen der Wesen herrührt, die zwischen<br />

den Welten wandeln. Und diese Wesen sprachen von<br />

einem Kind wie diesem, einem Kind, dem ein großes Schicksal<br />

bestimmt ist, das sich nur woanders erfüllen kann — nicht in<br />

dieser Welt, sondern weit jenseits davon. Ohne dieses Kind<br />

werden wir alle sterben, sagen die Hexen. Aber es muß sein<br />

Schicksal erfüllen, ohne zu wissen, was es tut; nur wenn es völlig<br />

ahnungslos ist, können wir gerettet werden. Verstehen Sie das,<br />

Farder Coram?«<br />

»Nein«, antwortete Farder Coram, »das kann ich nicht<br />

behaupten.«<br />

»Es bedeutet, daß es ihr freistehen muß, Fehler zu machen.<br />

Wir müssen hoffen, daß sie keine macht, aber wir dürfen sie<br />

nicht lenken. Ich bin froh, daß ich dieses Kind noch gesehen<br />

habe, bevor ich sterbe.«<br />

»Aber woher wissen Sie, daß Lyra dieses Kind ist? Und was<br />

meinten Sie mit Wesen, die zwischen den Welten wandeln? Ich<br />

halte Sie für einen aufrichtigen Menschen, Doktor Lanselius,<br />

aber das verstehe ich nicht.«<br />

Bevor jedoch der Konsul antworten konnte, ging die Tür<br />

auf, und Lyra kam triumphierend mit einem kleinen Kiefernzweig<br />

herein.<br />

»Das ist er!« sagte sie. »Ich habe alle untersucht, und dieser ist<br />

es, da bin ich sicher.«<br />

<strong>Der</strong> Konsul begutachtete den Zweig und nickte dann.<br />

»Richtig«, meinte er. »Wirklich, Lyra, das ist beachtlich. Du<br />

kannst dich glücklich schätzen, ein solches Instrument zu besit­<br />

199


zen, und ich wünsche dir alles Gute damit. Ich möchte dir zum<br />

Abschied etwas mitgeben…«<br />

Er nahm den Zweig und brach ein kleines Stück ab.<br />

»Ist sie damit geflogen?« fragte Lyra ehrfürchtig.<br />

»Ja. Ich kann dir nicht den ganzen Zweig geben, denn ich<br />

brauche ihn, um Kontakt mit ihr aufzunehmen, aber das hier<br />

wird reichen. Paß gut darauf auf.«<br />

»Das mache ich bestimmt«, sagte sie. »Vielen Dank.«<br />

Sie steckte den Zweig in den Beutel zum Alethiometer. Farder<br />

Coram berührte den Rest des Zweiges, als könne er ihm<br />

Glück bringen, und auf seinem Gesicht lag ein fast sehnsüchtiger<br />

Ausdruck, den Lyra noch nie zuvor bei ihm bemerkt hatte.<br />

<strong>Der</strong> Konsul brachte sie zur Tür, wo er zuerst Farder Coram und<br />

dann Lyra die Hand schüttelte.<br />

»Ich wünsche euch viel Erfolg«, sagte er. Trotz der schneidenden<br />

Kälte blieb er in der Haustür stehen und sah ihnen<br />

nach, wie sie die kleine Straße hinuntergingen.<br />

»Das mit den Tataren wußte er schon vor mir«, erzählte Lyra<br />

Farder Coram. »Das Alethiometer hat mir das gesagt, aber ich<br />

habe es für mich behalten. Es war der Tiegel.«<br />

»Wahrscheinlich wollte er dich auf die Probe stellen, mein<br />

Kind. Aber es war richtig von dir, höflich zu sein, da wir nicht<br />

sicher sein konnten, was er bereits wußte. Und das mit dem<br />

Bären war ein nützlicher Hinweis. Ich weiß nicht, wie wir sonst<br />

davon erfahren hätten.«<br />

Sie fanden das Depot, das aus ein paar Lagerhäusern aus<br />

Beton auf einem Gelände bestand, auf dem zwischen grauen<br />

Felsen und zugefrorenen Schlammpfützen spärliches Unkraut<br />

wuchs. Ein griesgrämiger Mann in einem Büro erklärte ihnen,<br />

daß der Bär ab sechs Uhr Feierabend habe, sie sich aber beeilen<br />

müßten, da er meist schnurstracks den Hof hinter Einarssons<br />

Bar aufsuchte, um sich zu betrinken.<br />

Danach ging Farder Coram mit Lyra in das beste Kleiderge­<br />

200


schäft der Stadt und kaufte ihr warme Kleider: einen Anorak<br />

aus Rentierfell, da Rentierhaare hohl sind und deshalb einen<br />

zuverlässigen Schutz gegen Kälte und Nässe bieten; die Kapuze<br />

war mit Marderpelz gefüttert, der das beim Atmen entstehende<br />

Eis abwies. Dann besorgten sie warme Unterwäsche, Einlagen<br />

aus Rentierkalbfell für die Stiefel und Seidenhandschuhe zum<br />

Unterziehen unter die großen Pelzfäustlinge. Stiefel und Fäustlinge<br />

waren aus der besonders strapazierfähigen Haut von Rentiervorderbeinen<br />

gefertigt, und die Stiefel waren mit Bartrobbenhaut<br />

besohlt, die genauso zäh wie Walroßleder war, aber<br />

etwas leichter. Zuletzt kauften sie noch ein Regencape aus<br />

durchscheinendem Seehunddarm, das Lyra ganz umhüllte.<br />

Als sie alles angezogen und dazu noch einen dicken Seidenschal<br />

um den Hals geschlungen, eine Wollmütze über die<br />

Ohren gezogen und die große Kapuze aufgesetzt hatte, war ihr<br />

viel zu warm; aber schließlich würden sie ja noch in viel kältere<br />

Gegenden kommen.<br />

John Faa, der das Entladen des Schiffes beaufsichtigt hatte,<br />

hörte sich aufmerksam an, was der Hexenkonsul gesagt hatte.<br />

Als er von dem Bären hörte, wurde er unruhig.<br />

»Noch heute abend suchen wir ihn auf«, sagte er. »Habt Ihr<br />

jemals mit einer solchen Kreatur gesprochen, Farder Coram?«<br />

»Ja, sogar gekämpft, wenn auch Gott sei Dank nicht eigenhändig.<br />

Wir müssen auf Verhandlungen mit ihm gefaßt sein,<br />

John. Er wird sicher eine Menge fordern und schlecht gelaunt<br />

und anspruchsvoll sein, aber wir brauchen ihn unbedingt.«<br />

»O ja, unbedingt. Und was war mit Eurer Hexe?«<br />

»Tja, sie ist weit weg und inzwischen Königin eines Hexenclans«,<br />

sagte Farder Coram. »Ich hatte gehofft, ich könnte ihr<br />

eine Nachricht zukommen lassen, aber es würde zu lange dauern,<br />

auf die Antwort zu warten.«<br />

»Hm, ja. Aber hört zu, was ich entdeckt habe, alter Freund.«<br />

John Faa konnte es kaum erwarten, ihnen das mitzuteilen. Er<br />

201


hatte am Kai einen Goldsucher getroffen, einen Neudänen<br />

namens Lee Scoresby aus Texas, und dieser Mann besaß doch<br />

tatsächlich einen Ballon. Die Expedition, der er sich ursprünglich<br />

hatte anschließen wollen, war, noch bevor sie Amsterdam<br />

verlassen konnte, aus Geldmangel gescheitert, und deshalb saß<br />

er jetzt hier fest.<br />

»Stellt Euch vor, was wir mit der Hilfe eines Aeronauten alles<br />

machen könnten, Farder Coram!« sagte John Faa und rieb sich<br />

die Hände. »Ich habe ihn bereits angeheuert. Scheint ein<br />

Glückstreffer gewesen zu sein, daß wir hierhergekommen<br />

sind.«<br />

»Noch besser wäre es, wenn wir genau wüßten, wohin wir<br />

müssen«, meinte Farder Coram, aber nichts konnte John Faas<br />

Begeisterung für die bevorstehende Expedition dämpfen.<br />

Nach Einbruch der Dunkelheit, als Vorräte und Ausrüstung<br />

wohlbehalten ausgeladen waren und auf dem Kai bereitstanden,<br />

suchten Farder Coram und Lyra entlang der Uferpromenade<br />

nach Einarssons Bar. Sie war leicht zu finden: ein roher<br />

Betonschuppen mit einem roten Neonschild, das über der Tür<br />

flackerte. Durch die beschlagenen Fenster drang lautes Stimmengewirr.<br />

Neben dem Schuppen führte eine holprige Gasse zum<br />

Metalltor eines Hinterhofs, wo auf dem gefrorenen Schlammboden<br />

ein windschiefer Anbau des Schuppens stand. <strong>Der</strong> trübe<br />

Lichtschein aus dem hinteren Barfenster fiel auf eine gewaltige<br />

helle Gestalt, die aufrecht hockend an einer Keule nagte, die sie<br />

mit beiden Händen festhielt. Lyra meinte, ein blutverschmiertes<br />

Maul und Gesicht, kleine, schwarze, bösartig funkelnde<br />

Augen und eine Unmenge schmutzig verfilzten, gelblichen<br />

Pelzes zu erkennen. Das Wesen machte beim Fressen abscheuliche<br />

knurrende, knirschende und schmatzende Geräusche.<br />

Farder Coram blieb am Tor stehen und rief: »Iorek Byrnison!«<br />

202


<strong>Der</strong> Bär hörte auf zu essen. Soweit sie es beurteilen konnten,<br />

sah er sie direkt an, aber es war unmöglich, irgendeine Regung<br />

in seinem Gesicht zu erkennen.<br />

»Iorek Byrnison«, wiederholte Farder Coram, »kann ich mit<br />

dir sprechen?«<br />

Lyras Herz hämmerte wild, denn die Gegenwart des Bären<br />

ließ sie erzittern; er strahlte Kälte, Gefahr und eine brutale<br />

Gewalt aus, eine durch Intelligenz gesteuerte Gewalt, die keine<br />

menschliche Intelligenz war und auch nichts Menschliches<br />

hatte, weil Bären natürlich keine Dæmonen besaßen. Die<br />

fremdartige, grobe Gestalt, die da an dem Fleisch nagte, war<br />

anders als alles, was sie sich jemals vorgestellt hatte, und sie<br />

empfand tiefe Bewunderung und unsägliches Mitleid mit der<br />

einsamen Kreatur.<br />

<strong>Der</strong> Bär ließ die Rentierkeule in den Dreck fallen und kam<br />

auf allen vieren zum Tor. Dort richtete er sich zu seiner vollen<br />

Größe von über drei Metern auf, als wollte er ihnen zeigen, wie<br />

gewaltig er war und daß das Tor für ihn kein Hindernis darstellte,<br />

und aus dieser Höhe sprach er zu ihnen.<br />

»Also? Wer seid ihr?« <strong>Der</strong> Boden schien zu erzittern, so tief<br />

war seine Stimme. <strong>Der</strong> scharfe Geruch, der von seinem Körper<br />

ausströmte, nahm ihnen fast den Atem.<br />

»Ich bin Farder Coram vom Volk der Gypter aus East Anglia,<br />

und das Mädchen hier ist Lyra Belacqua.«<br />

»Was wollt ihr?«<br />

»Wir bieten dir Arbeit an, Iorek Byrnison.«<br />

»Ich habe bereits Arbeit.«<br />

<strong>Der</strong> Bär ließ sich wieder auf alle viere fallen. Seine Stimme<br />

war so tief und gleichförmig, daß man überhaupt keinen Ausdruck<br />

aus ihr heraushörte, weder Ironie noch Wut.<br />

»Was machst du im Schlittendepot?« fragte Farder Coram.<br />

»Ich repariere kaputte Maschinen und Eisenteile und transportiere<br />

schwere Sachen.«<br />

203


»Ist das eine Arbeit für einen Panserbjørn?«<br />

»Es ist bezahlte Arbeit.«<br />

Die Tür zur Bar hinter dem Bären ging einen Spalt auf, und<br />

ein Mann stellte einen großen irdenen Krug auf den Boden und<br />

starrte zu ihnen herüber.<br />

»Wer ist das?«<br />

»Fremde«, sagte der Bär.<br />

<strong>Der</strong> Barkeeper schien noch etwas fragen zu wollen, aber der<br />

Bär machte plötzlich einen Satz auf ihn zu, und der Mann<br />

machte die Tür erschrocken wieder zu. <strong>Der</strong> Bär steckte eine<br />

Tatze durch den Griff des Kruges und hob ihn zum Mund. Lyra<br />

konnte den unverdünnten Schnaps riechen, der dabei herausspritzte.<br />

Nachdem der Bär einige Schlucke getrunken hatte, setzte er<br />

den Krug ab und wandte sich, anscheinend ohne Farder Coram<br />

und Lyra weiter zu beachten, wieder seiner Keule zu. Doch<br />

dann sprach er erneut.<br />

»Was ist das für eine Arbeit, die ihr mir anbietet?«<br />

»Wahrscheinlich Kämpfen«, sagte Farder Coram. »Wir fahren<br />

nach Norden, um einige Kinder zu suchen, die dorthin entführt<br />

worden sind. Wenn wir sie finden, müssen wir wahrscheinlich<br />

kämpfen, um sie zu befreien; anschließend bringen<br />

wir sie zurück.«<br />

»Und was bezahlt ihr?«<br />

»Ich weiß nicht, was wir dir anbieten können, Iorek Byrnison.<br />

Wenn du Gold willst, wir haben Gold.«<br />

»Interessiert mich nicht.«<br />

»Was bekommst du im Schlittendepot?«<br />

»Was ich hier zum Leben brauche, Fleisch und Schnaps.«<br />

<strong>Der</strong> Bär verstummte, ließ den angenagten Knochen fallen,<br />

hob den Krug wieder an die Schnauze und trank den hochprozentigen<br />

Schnaps, als wäre er Wasser.<br />

»Verzeih meine Frage, Iorek Byrnison«, sagte Farder Coram,<br />

204


»aber du könntest doch in Freiheit leben, auf dem Eis Seehunde<br />

und Walrosse jagen oder in den Krieg ziehen und reiche Beute<br />

machen. Was hält dich eigentlich in Trollesund und Einarssons<br />

Bar?«<br />

Lyra spürte, wie sie überall eine Gänsehaut bekam. Eine solche<br />

Frage war doch fast schon eine Beleidigung und mußte den<br />

Bären in besinnungslose Wut versetzen. Wie konnte Farder<br />

Coram es wagen, sie zu stellen? Iorek Byrnison setzte den Krug<br />

ab, kam dicht ans Tor und starrte dem alten Mann ins Gesicht.<br />

Farder Coram zuckte nicht zurück.<br />

»Ich kenne die Leute, die du suchst, die Kinderabschneider«,<br />

sagte der Bär. »Sie haben vorgestern die Stadt verlassen und sind<br />

wieder mit Kindern in den Norden gefahren. Von den Bewohnern<br />

der Stadt werdet ihr darüber nichts erfahren. Alle tun so,<br />

als sehen sie nichts, denn die Kinderabschneider bringen Geld<br />

und Arbeit. Ich mag sie allerdings nicht, deshalb beantworte ich<br />

deine Frage. Ich bin hier und trinke Schnaps, weil man mir hier<br />

meine Rüstung weggenommen hat, und ohne Rüstung kann<br />

ich zwar Seehundejagen, aber nicht in den Krieg ziehen. Ich bin<br />

ein Panzerbär, und der Krieg ist das Meer, in dem ich<br />

schwimme, und die Luft, die ich atme. Doch die Männer dieser<br />

Stadt gaben mir so viel Schnaps zu trinken, bis ich eingeschlafen<br />

war, und dann nahmen sie mir die Rüstung weg. Wenn ich<br />

wüßte, wo sie sie aufbewahren, würde ich die Stadt in Schutt<br />

und Asche legen, um sie wiederzubekommen. Wenn ihr wollt,<br />

daß ich euch diene, so ist das mein Preis: Besorgt mir meine<br />

Rüstung wieder. Tut ihr das, kämpfe ich für euch, bis ich tot bin<br />

oder ihr gesiegt habt. <strong>Der</strong> Preis ist meine Rüstung. Ich will sie<br />

zurückhaben. Dann werde ich nie mehr Schnaps brauchen.«<br />

205


Elf<br />

Die Rüstung<br />

Nach ihrer Rückkehr auf das Schiff zogen sich Farder Coram,<br />

John Faa und die anderen Anführer zu einer langen Besprechung<br />

in den Salon zurück, und Lyra ging in ihre Kabine, um<br />

das Alethiometer zu befragen. Fünf Minuten später wußte sie,<br />

wo die Rüstung des Bären war und warum es sehr schwer sein<br />

würde, sie zurückzubekommen.<br />

Lyra überlegte, ob sie zum Salon gehen und es John Faa und<br />

den anderen sagen sollte; aber die würden sie schon fragen,<br />

wenn sie es wissen wollten. Vielleicht wußten sie es ja schon.<br />

Sie blieb also auf ihrer Koje liegen und dachte an den riesigen,<br />

wilden Bären. Wie achtlos er den Schnaps getrunken hatte,<br />

und wie einsam er in seiner schmutzigen Behausung sein<br />

mußte. Was für ein Glück, daß sie selbst ein Mensch war und<br />

einen Dæmon hatte, mit dem sie immer reden konnte. Das<br />

unaufhörliche Quietschen von Metall, und das Knarren des<br />

Holzes und das Rumpeln des Motors und das Klatschen der<br />

Wellen waren verstummt, und umgeben von der Ruhe des<br />

ankernden Schiffes schlief Lyra allmählich ein, den schlummernden<br />

Pantalaimon auf dem Kopfkissen neben sich.<br />

Sie träumte gerade von ihrem gefangenen Vater, als sie plötzlich<br />

ohne jeden Grund aufwachte. Sie hatte keine Ahnung, wie<br />

spät es war. Ein schwacher Lichtschein, den sie für Mondlicht<br />

206


hielt, fiel in die Kabine, genau auf ihre neuen Winterpelze, die<br />

steif in der Ecke lagen. Bei ihrem Anblick erlag sie der Versuchung,<br />

sie noch einmal anzuprobieren.<br />

Kaum hatte sie alles angezogen, hielt sie es drinnen nicht<br />

mehr aus, und einen Augenblick später öffnete sie die Außentür<br />

der Kajüttreppe und trat hinaus auf das Deck. Sofort entdeckte<br />

sie die seltsame Erscheinung am Himmel. Zuerst dachte sie, es<br />

seien Wolken, die von heftigen Böen aufgerissen und auseinandergeweht<br />

wurden, aber Pantalaimon flüsterte: »Die Aurora!«<br />

Sie mußte sich an der Reling festhalten, um nicht vor Staunen<br />

umzufallen.<br />

Das Schauspiel erstreckte sich über den gesamten nördlichen<br />

Himmel in seiner unermeßlichen Weite. Gewaltige Vorhänge<br />

aus zartem Licht fielen wie vom Himmel herab und flimmerten<br />

in der Luft. Blaßgrün und rosarot schimmernd, durchscheinend<br />

wie hauchfeines Gewebe und mit einem Saum von tiefem,<br />

wie Höllenfeuer leuchtendem Karmesinrot, schwebten sie<br />

gelöster und anmutiger als jeder Tänzer durch den Raum. Lyra<br />

meinte sogar, sie zu hören: ein Raunen und Sausen aus unendlicher<br />

Ferne. Beim Anblick dieser vergänglichen Zartheit überkam<br />

sie ein ähnlich unergründliches Gefühl, wie sie es in der<br />

Nähe des Bären empfunden hatte. Sie war zutiefst ergriffen von<br />

dieser fast heiligen Schönheit; Tränen brannten in ihren Augen<br />

und brachen das Licht zu regenbogenfarbigen Splittern. Bald<br />

merkte sie, daß sie in eine ähnliche Trance fiel wie beim Lesen<br />

des Alethiometers. Vielleicht ließ ja das, was die Nadel des Alethiometers<br />

in Schwingungen versetzte, auch die Aurora leuchten,<br />

dachte sie. Am Ende war es Staub. Aber ihr war nicht<br />

bewußt, was sie dachte, und kurz darauf hatte sie es vergessen<br />

und sollte sich erst viel später wieder daran erinnern.<br />

Und während sie noch staunte, entstand hinter den durchscheinenden<br />

farbigen Schleiern und Strömen das Bild einer<br />

Stadt mit Türmen und Kuppeln, <strong>goldene</strong>n Tempeln und Säu­<br />

207


lengängen, breiten Boulevards und sonnenbeschienenen Parks.<br />

Lyra wurde von einem Schwindelgefühl gepackt, als blicke sie<br />

nicht nach oben, sondern nach unten, über einen unüberwindbaren<br />

Abgrund, so breit, als trenne ein ganzes Universum sie<br />

von der Stadt auf der anderen Seite.<br />

Aber bewegte sich da nicht etwas in der Luft? Lyra versuchte,<br />

ihre Augen darauf scharfzustellen, doch wurde ihr dabei ganz<br />

schwindlig, denn das kleine Ding, das sich bewegte, gehörte<br />

weder zur Aurora noch zu der anderen Welt dahinter. Es flog<br />

am Himmel über den Dächern der Stadt. Als sie es endlich<br />

deutlich sah, erwachte sie aus ihrer Trance. Die Himmelsstadt<br />

war verschwunden.<br />

Das fliegende Etwas kam näher und umkreiste das Schiff mit<br />

ausgebreiteten Flügeln. Dann glitt es herab, landete unter heftigem<br />

Flattern seiner mächtigen Schwingen und kam ein paar<br />

Meter von Lyra entfernt auf dem Holzdeck zum Stehen.<br />

Im Licht der Aurora erblickte sie einen großen Vogel, eine<br />

schöne graue Gans, deren Kopf von schneeweißen leuchtenden<br />

Federn gekrönt war. Und doch war es kein Vogel, sondern ein<br />

Dæmon, obwohl außer Lyra niemand zu sehen war. Vor lauter<br />

Angst wurde ihr fast schlecht.<br />

»Wo ist Farder Coram?« fragte der Vogel.<br />

Da erkannte Lyra, daß die Gans nur der Dæmon von Serafina<br />

Pekkala sein konnte, der Stammeskönigin und Hexenfreundin<br />

von Farder Coram.<br />

»Ich… er… ich rufe ihn…«, stammelte sie.<br />

Sie drehte sich um, sprang die Kajüttreppe zur Kabine von<br />

Farder Coram hinunter, öffnete die Tür und rief in die Dunkelheit<br />

hinein: »Farder Coram! <strong>Der</strong> Dæmon der Hexe ist da! Er<br />

wartet auf Deck! Er ist ganz allein hier — ich habe ihn am Himmel<br />

kommen sehen…«<br />

»Bitte ihn, auf dem Achterdeck zu warten, Kind«, sagte der<br />

alte Mann.<br />

208


Die Gans schritt zum Heck und sah sich dort um; sie war<br />

eine anmutige und zugleich wilde Erscheinung. Lyra war fasziniert<br />

und befremdet, es war, als hätte sie Besuch von einem<br />

Geist bekommen.<br />

Dann kam, eingemummt in Wintersachen, Farder Coram<br />

herauf, dicht gefolgt von John Faa. Ehrfürchtig verneigten sich<br />

die beiden alten Männer vor dem Besucher, und auch ihre<br />

Dæmonen begrüßten ihn.<br />

»Seien Sie gegrüßt, Kaisa«, sagte Farder Coram. »Ich bin<br />

glücklich und stolz, Sie wiederzusehen. Möchten Sie hereinkommen<br />

oder lieber draußen bleiben?«<br />

»Danke, Farder Coram, ich bleibe lieber draußen. Ist Ihnen<br />

auch nicht kalt?«<br />

Hexen und ihre Dæmonen frieren selbst nie, aber sie wissen,<br />

daß Menschen es tun.<br />

Farder Coram versicherte, sie seien warm genug angezogen.<br />

Dann fragte er: »Wie geht es Serafina Pekkala?«<br />

»Sie läßt Sie grüßen, Farder Coram. Es geht ihr gut, und sie ist<br />

gesund. Wer sind die beiden hier?«<br />

Farder Coram stellte ihm John Faa und Lyra vor. <strong>Der</strong> Gänsedæmon<br />

blickte Lyra aufmerksam an.<br />

»Von diesem Kind habe ich schon gehört«, sagte er. »Die<br />

Hexen sprechen oft von ihm. Sie sind also gekommen, um<br />

Krieg zu führen?«<br />

»Nicht Krieg, Kaisa. Wir wollen die Kinder befreien, die uns<br />

weggenommen wurden. Und ich hoffe, die Hexen helfen uns<br />

dabei.«<br />

»Sicher nicht alle. Einige Stämme arbeiten mit den Staubjägern<br />

zusammen.«<br />

»Nennen Sie so die Mitglieder der Oblations-Behörde?«<br />

»Diese Behörde kenne ich nicht. Die Staub-Jäger kamen vor<br />

zehn Jahren mit philosophischen Instrumenten in unsere<br />

Gegend. Sie gaben uns Geld, damit wir ihnen erlaubten, Statio­<br />

209


nen auf unserem Gebiet einzurichten, und behandelten uns<br />

höflich.«<br />

»Was ist dieser Staub?«<br />

»Er kommt vom Himmel. Einige sagen, es habe ihn schon<br />

immer gegeben, andere behaupten, er falle erst neuerdings auf<br />

die Erde. Auf jeden Fall bekommen alle, die davon erfahren,<br />

große Angst und setzen alles daran herauszubekommen, was<br />

dieser Staub ist. Für Hexen hat das allerdings keinerlei Bedeutung.«<br />

»Und wo sind die Staub-Jäger jetzt?«<br />

»Vier Tagesreisen nordöstlich von hier, an einem Ort<br />

namens Bolvangar. Unser Stamm hat kein Abkommen mit<br />

ihnen geschlossen, und weil wir wegen damals noch in Ihrer<br />

Schuld stehen, Farder Coram, bin ich gekommen, um Ihnen zu<br />

erklären, wie Sie die Staub-Jäger finden.«<br />

Farder Coram lächelte, und John Faa klatschte voller Genugtuung<br />

in die Hände.<br />

»Besten Dank, Sir«, sagte er zu der Gans. »Aber sagen Sie<br />

doch, was wissen Sie sonst noch über die Staub-Jäger? Was treiben<br />

sie in diesem Bolvangar?«<br />

»Sie haben aus Stahl und Beton Gebäude errichtet und<br />

unterirdische Räume angelegt. Als Brennmaterial verwenden<br />

sie Kohlenspiritus, den sie mit großem Aufwand herbeischaffen.<br />

Wir wissen nicht, was sie tun, aber wir wissen, daß an diesem<br />

Ort und im Umkreis von Meilen eine Atmosphäre von<br />

Haß und Angst herrscht. Hexen können solche Dinge sehen, für<br />

die andere blind sind. Auch Tiere meiden die Gegend. Die<br />

Vögel sind weggeflogen, Lemminge und Füchse geflüchtet.<br />

Daher der Name Bolvangar: Land des Bösen. Die Staub-Jäger<br />

nennen den Ort nicht so, sie sprechen nur von der Station. Aber<br />

für alle anderen heißt er Bolvangar.«<br />

»Wie verteidigen sie sich?«<br />

»Sie haben eine Kompanie Nordtataren, die mit Gewehren<br />

210


ewaffnet sind. Gute Soldaten, allerdings fehlt ihnen die<br />

Übung, denn die Siedlung wurde seit ihrem Bestehen noch nie<br />

angegriffen. Außerdem ist das Lager von einem anbarisch geladenen<br />

Drahtzaun umgeben. Möglicherweise gibt es noch<br />

andere Verteidigungseinrichtungen, von denen wir nichts wissen,<br />

da uns das Ganze wie gesagt nicht interessiert.«<br />

<strong>Der</strong> Gänsedæmon merkte, daß Lyra vor Neugier fast platzte,<br />

und sah sie aufmunternd an.<br />

»Warum sprechen die Hexen über mich?« fragte sie.<br />

»Wegen deines Vaters und weil er soviel von den anderen<br />

Welten weiß«, antwortete der Dæmon.<br />

Verblüfft sahen die drei einander an. Farder Coram begegnete<br />

Lyras Blick mit sanfter Verwunderung, und John Faa<br />

machte ein besorgtes Gesicht.<br />

»Von den anderen Welten?« fragte er erstaunt. »Entschuldigen<br />

Sie, Sir, aber was für Welten sollen das sein? Meinen Sie die<br />

Sterne?«<br />

»Keineswegs.«<br />

»Vielleicht die Welt der Geister?« fragte Farder Coram.<br />

»Nein, die auch nicht.«<br />

»Bestimmt ist es die Stadt im Licht«, sagte Lyra. »So ist es<br />

doch, oder?«<br />

Die Gans drehte ihr würdevoll den Kopf zu, der Blick ihrer<br />

schwarzen Augen, umrahmt von einem dünnen Rand reinsten<br />

Himmelblaus, war durchdringend.<br />

»Ja«, sagte sie. »Hexen wissen seit Tausenden von Jahren, daß<br />

es andere Welten gibt. Man sieht sie manchmal im Nordlicht.<br />

Sie gehören nicht zu unserer Welt. Zwar dehnt sich unser Universum<br />

bis zu den fernsten Sternen aus, doch was wir im Nordlicht<br />

sehen, ist ein völlig anderes Universum. Es ist nicht weit<br />

weg, sondern durchdringt unsere Welt. Hier, auf diesem Deck,<br />

existieren Millionen von Welten, und keine weiß von der anderen…«<br />

211


Die Gans hob die Flügel, spreizte sie weit und legte sie wieder<br />

an.<br />

»Da«, sagte sie, »gerade habe ich zehn Millionen andere Welten<br />

berührt, ohne daß sie es auch nur gemerkt hätten. Zwar sind<br />

die anderen Welten nicht einmal einen Herzschlag von uns entfernt,<br />

aber wir können sie, außer im Nordlicht, nicht berühren<br />

oder sehen oder hören.«<br />

»Und wieso dann im Nordlicht?« fragte Farder Coram.<br />

»Weil die geladenen Teilchen der Aurora imstande sind, die<br />

Materie unserer Welt so aufzulösen, daß wir für kurze Zeit hindurchsehen<br />

können. Das wußten wir Hexen zwar immer<br />

schon, doch wir sprechen nur selten davon.«<br />

»Ich weiß jedenfalls, daß mein Vater daran glaubt«, sagte<br />

Lyra, »denn ich war dabei, als er von der Aurora erzählte und<br />

Bilder zeigte.«<br />

»Hat das etwas mit Staub zu tun?« fragte John Faa.<br />

»Wer weiß?« sagte der Gänsedæmon. »Alles, was ich Ihnen<br />

sagen kann, ist, daß die Staub-Jäger Staub fürchten, als wäre<br />

er ein tödliches Gift. Deshalb haben sie auch Lord Asriel eingesperrt.«<br />

»Warum denn?« fragte Lyra.<br />

»Sie glauben, daß er mit Hilfe von Staub eine Brücke zwischen<br />

unserer Welt und der Welt jenseits der Aurora bauen<br />

will.«<br />

Lyras Kopf wurde plötzlich ganz leicht.<br />

Sie hörte Farder Coram fragen: »Und will er das?«<br />

»Ja«, sagte der Gänsedæmon. »Allerdings glauben sie nicht,<br />

daß er es schafft, denn sie halten schon den Glauben an andere<br />

Welten für verrückt. Aber das ist tatsächlich seine Absicht. Und<br />

er ist eine so mächtige Person, daß sie befürchten, er könnte ihre<br />

Pläne durchkreuzen. Um das zu verhindern, haben sie einen<br />

Pakt mit den Panzerbären geschlossen, damit die ihn gefangennehmen<br />

und in der Festung von Svalbard einsperren. Manche<br />

212


ehaupten, als Gegenleistung hätten sie dem neuen Bärenkönig<br />

zu seinem Thron verhelfen.«<br />

»Wollen denn die Hexen, daß er die Brücke baut?« fragte<br />

Lyra. »Sind sie auf seiner Seite oder gegen ihn?«<br />

»Diese Frage läßt sich nicht so einfach beantworten. Erstens<br />

sind die Hexen untereinander nicht einig. Es gibt Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen uns. Zweitens würde Lord Asriels<br />

Brücke zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einem Krieg zwischen<br />

einem Teil der Hexen und mehreren anderen Mächten<br />

führen, einige davon aus der geistigen Welt. Denn die Kontrolle<br />

über die Brücke, falls es sie je geben sollte, würde ihrem Besitzer,<br />

wer immer das auch sei, einen gewaltigen Vorteil verschaffen.<br />

Drittens gehört Serafina Pekkalas Stamm — mein Stamm<br />

also — bisher keinem Bündnis an, obwohl man uns drängt, uns<br />

für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Wie du siehst,<br />

handelt es sich um brisante politische Fragen, die nicht leicht zu<br />

beantworten sind.«<br />

»Und die Bären? Zu wem halten die?«<br />

»Zu dem, der sie bezahlt. Sie interessieren sich nicht im<br />

geringsten für solche Fragen; sie haben keine Dæmonen, und<br />

menschliche Probleme sind ihnen völlig gleichgültig. Wenigstens<br />

haben sich die Bären bisher so verhalten. Allerdings haben<br />

wir gehört, daß sich unter ihrem neuen König einiges ändern<br />

soll…Jedenfalls haben die Staub-Jäger sie dafür bezahlt, daß sie<br />

Lord Asriel einsperren, und deshalb werden sie ihn auf Svalbard<br />

festhalten — und wenn sie bis zum letzten Blutstropfen kämpfen<br />

müssen.«<br />

»Aber so sind nicht alle Bären!« rief Lyra. »Einer ist überhaupt<br />

nicht auf Svalbard. Er wurde ausgestoßen und will mit<br />

uns kommen.«<br />

Wieder sah der Gänsedæmon Lyra durchdringend an, und<br />

diesmal konnte Lyra sein Befremden deutlich spüren.<br />

Farder Coram räusperte sich unbehaglich und sagte: »Das<br />

213


wird er kaum tun, Lyra. Wie wir gehört haben, muß er eine<br />

Zeitlang hier arbeiten. Er ist nicht frei, wie wir gedacht haben,<br />

sondern wurde verurteilt. Solange er nicht frei ist, kann er nicht<br />

einfach mit uns kommen, Rüstung hin oder her; außerdem<br />

bekommt er sie sowieso nie wieder zurück.«<br />

»Aber er hat doch gesagt, sie hätten ihn reingelegt! Zuerst<br />

haben sie ihn betrunken gemacht, und dann haben sie seine<br />

Rüstung gestohlen!«<br />

»Wir haben eine andere Geschichte gehört«, sagte John Faa.<br />

»Uns wurde gesagt, er sei ein gefährlicher Schurke.«<br />

»Wenn…«, Lyra war so entrüstet, daß sie kaum sprechen<br />

konnte, »…wenn das Alethiometer etwas sagt, weiß ich, daß es<br />

stimmt. Und als ich es vorhin fragte, hat es gesagt, der Bär hätte<br />

die Wahrheit gesagt; man hat ihn reingelegt; die anderen lügen,<br />

nicht er. Ich glaube ihm, Lord Faa! Farder Coram — Sie haben<br />

ihn doch auch gesehen und glauben ihm, nicht wahr?«<br />

»Eigentlich ja, mein Kind, aber ich bin mir nicht so sicher<br />

wie du.«<br />

»Aber wovor haben die denn Angst? Glauben sie vielleicht,<br />

daß er Leute umbringt, sobald er seine Rüstung trägt? Wenn er<br />

wollte, könnte er sie doch schon jetzt dutzendweise töten!«<br />

»Das hat er auch«, sagte John Faa. »Gut, vielleicht nicht Dutzende,<br />

aber einige. Als man ihm das erste Mal die Rüstung wegnahm,<br />

zog er auf der Suche nach ihr randalierend durch die<br />

Stadt. Er ist in die Polizeiwache und in die Bank eingebrochen,<br />

und wer weiß, wo noch überall, und mindestens zwei Männer<br />

sind dabei ums Leben gekommen. <strong>Der</strong> einzige Grund, weshalb<br />

man ihn nicht erschossen hat, ist sein erstaunliches Geschick im<br />

Umgang mit Metallen; er sollte für sie arbeiten.«<br />

»Wie ein Sklave!« rief Lyra empört. »Dazu haben sie kein<br />

Recht!«<br />

»Wie dem auch sei, man hätte ihn jedenfalls für seine Morde<br />

erschießen können, hat es aber nicht getan. Statt dessen hat man<br />

214


ihn dazu verurteilt, so lange für die Stadt zu arbeiten, bis er den<br />

Schaden abbezahlt und für die Morde gebüßt hat.«<br />

»John«, sagte Farder Coram, »ich weiß nicht, was du denkst,<br />

aber ich glaube fest, daß man ihm seine Rüstung nie zurückgeben<br />

wird, denn je länger man ihn hier festhält, desto wütender<br />

wäre er, wenn er sie wiederbekäme.«<br />

»Aber wenn wir sie ihm beschaffen, würde er bestimmt mit<br />

uns kommen und die Stadt für immer in Ruhe lassen«, sagte<br />

Lyra. »Ich verspreche es, Lord Faa.«<br />

»Aber woher sollen wir sie bekommen?«<br />

»Ich weiß, wo sie ist!«<br />

In dem Schweigen, das plötzlich herrschte, konnten die drei<br />

den stechenden Blick, mit dem der Dæmon der Hexe Lyra<br />

anstarrte, beinahe körperlich spüren. Sie sahen ihn gleichzeitig<br />

an, auch ihre Dæmonen, die bis dahin vor lauter Höflichkeit<br />

nicht gewagt hatten, den Blick zu diesem einzigartigen Wesen<br />

zu erheben, das ohne seinen Körper erschienen war.<br />

»Es wird dich nicht überraschen«, sagte die Gans an Lyra<br />

gewandt, »zu erfahren, daß das Alethiometer ein weiterer<br />

Grund dafür ist, weshalb sich die Hexen für dich interessieren.<br />

Unser Konsul hat uns von eurem Besuch heute morgen berichtet.<br />

Ich nehme an, es war Doktor Lanselius, der euch von dem<br />

Bären erzählt hat.«<br />

»Das stimmt«, sagte John Faa. »Lyra und Farder Coram<br />

haben ihn aufgesucht und mit ihm gesprochen. Es kann ja sein,<br />

daß Lyra recht hat, aber wenn wir gegen die Gesetze der Bevölkerung<br />

hier verstoßen, bekommen wir nur Streit mit ihnen,<br />

dabei sollten wir eigentlich zusehen, daß wir nach Bolvangar<br />

kommen, Bär hin oder her.«<br />

»Hm, aber du hast ihn nicht gesehen, John«, sagte Farder<br />

Coram. »Und ich glaube Lyra. Vielleicht könnten wir uns für<br />

ihn verbürgen. Und ihn dabeizuhaben könnte ein großer Vorteil<br />

für uns sein.«<br />

215


»Was meinen Sie, Sir«, fragte John Faa den Dæmon der Hexe.<br />

»Wir haben nur selten mit Bären zu tun und kennen ihre<br />

Wünsche genausowenig wie sie die unseren. Normalerweise<br />

gelten die Bären als zuverlässig, aber wenn dieser Bär ausgestoßen<br />

wurde, kann man ihm womöglich weniger trauen. Ihr<br />

müßt selbst entscheiden.«<br />

»Das werden wir auch«, sagte John Faa fest. »Würden Sie uns<br />

jetzt erklären, wie man von hier nach Bolvangar kommt, Sir?«<br />

<strong>Der</strong> Gänsedämon begann den Weg zu beschreiben. Er sprach<br />

von Tälern und Hügeln, von der Baumgrenze und der Tundra<br />

und von Sternbildern als Orientierung. Lyra hörte eine Weile<br />

zu, dann legte sie sich in ihrem Liegestuhl zurück, Pantalaimon<br />

um den Hals, und gab sich der Vision hin, von der der Gänsedæmon<br />

gesprochen hatte. Eine Brücke zwischen zwei Welten…<br />

das war ja noch viel grandioser als alles, was sie jemals erhofft<br />

hatte! Nur ihr großartiger Vater konnte sich so etwas ausgedacht<br />

haben. Sobald sie die Kinder gerettet hatten, würde sie<br />

mit dem Bären nach Svalbard gehen und Lord Asriel das Alethiometer<br />

bringen; gemeinsam würden sie dann die Brücke<br />

bauen und als erste hinübergehen…<br />

Irgendwann in der Nacht mußte John Faa sie zu ihrer Koje<br />

gebracht haben, denn dort wachte sie auf. Die fahle Sonne hatte<br />

ihren höchsten Stand, knapp eine Handbreit über dem Horizont,<br />

bereits erreicht, vermutete Lyra, es mußte also beinahe<br />

Mittag sein. Bald, wenn sie noch weiter in den Norden kamen,<br />

würde überhaupt keine Sonne mehr scheinen.<br />

Rasch zog sie sich an und hastete an Deck, wo allerdings<br />

nicht viel los war. Sämtliche Vorräte waren ausgeladen, und die<br />

gemieteten Schlitten und Hundegespanne standen zur Abfahrt<br />

bereit. Es hätte losgehen können, trotzdem rührte sich nichts.<br />

Die meisten Gypter saßen in einem verrauchten Cafe am Wasser<br />

an langen Holztischen und aßen Pfefferkuchen und tranken<br />

216


starken, süßen Kaffee. Über ihren Köpfen zischten und knisterten<br />

altersschwache anbarische Lampen.<br />

»Wo ist Lord Faa«, fragte sie, als sie sich zu Tony Costa und<br />

seinen Freunden setzte. »Und Farder Coram? Holen sie die<br />

Rüstung für den Bären?«<br />

»Sie sprechen gerade mit dem Sysselmann, wie sie hier statt<br />

Gouverneur sagen. Du hast den Bären gesehen, Lyra?«<br />

»Ja!« sagte sie stolz, und während sie ihn beschrieb, zog ein<br />

Fremder einen Stuhl heran und setzte sich zu der Gruppe an<br />

den Tisch.<br />

»Du hast also mit dem alten Iorek gesprochen?« fragte er.<br />

Verblüfft sah sie den Neuankömmling an. Er war ein großer,<br />

hagerer Mann mit einem dünnen schwarzen Schnurrbart und<br />

zusammengekniffenen blauen Augen, die Lyra beharrlich mit<br />

einem Ausdruck kühler und spöttischer Belustigung musterten.<br />

Lyra fühlte sich sofort in seinen Bann gezogen, obwohl sie<br />

nicht genau wußte, ob das, was sie empfand, Zuneigung oder<br />

Abneigung war. Sein Dæmon, ein zerzauster Hase, sah genauso<br />

mager und zäh aus wie der Mann.<br />

Mißtrauisch schüttelte sie die Hand, die der Mann ihr entgegenstreckte.<br />

»Lee Scoresby«, stellte er sich vor.<br />

»<strong>Der</strong> Aeronaut!« rief Lyra. »Wo ist Ihr Ballon? Kann ich mal<br />

mit aufsteigen?«<br />

»Im Moment ist er eingepackt, Fräulein. Du mußt die<br />

berühmte Lyra sein. Wie hast du dich denn mit Iorek Byrnison<br />

verstanden?«<br />

»Kennen Sie ihn denn?«<br />

»Wir haben Seite an Seite im Tunguska-Feldzug gekämpft.<br />

Teufel noch mal, Iorek kenne ich seit Jahren. Bären sind ja<br />

wirklich Dickschädel, in jeder Beziehung, aber daß wir uns<br />

richtig verstehen, er ist ein besonders harter Brocken. Wie wär’s,<br />

hätte vielleicht einer der Herren Lust, ein Spielchen zu wagen?«<br />

217


Aus dem Nichts hatte er ein Kartenspiel hervorgezaubert. Er<br />

mischte, indem er die Karten aus zwei Stapeln knatternd ineinanderschnappen<br />

ließ.<br />

»Ich habe schon viel von den Kartenkünsten Ihres Volkes<br />

gehört«, meinte Lee Scoresby, während er mit der einen Hand<br />

die Karten immer wieder trennte und ineinanderschob und<br />

mit der anderen eine Zigarre aus seiner Brusttasche fischte,<br />

»und da dachte ich mir, Sie schlagen es einem einfachen texanischen<br />

Reisenden bestimmt nicht ab, sich mit Ihnen zu messen<br />

und Sie zu einer Partie am Kartentisch herauszufordern. Was<br />

halten Sie davon, meine Herren?«<br />

Die Gypter rühmten sich ihres Geschicks beim Kartenspiel,<br />

und ein paar Männer zeigten Interesse und zogen ihre Stühle<br />

heran. Während sie sich mit Lee Scoresby über Spiel und Einsatz<br />

einigten, gab sein Dæmon Pantalaimon mit dem Ohr ein<br />

Zeichen; Pantalaimon verstand sofort und hüpfte leichtfüßig in<br />

Gestalt eines Eichhörnchens an seine Seite.<br />

Natürlich war das, was der Hase zu sagen hatte, auch für<br />

Lyras Ohren bestimmt, und sie hörte ihn leise sagen: »Geht auf<br />

dem schnellsten Weg zum Bären und erzählt ihm alles. Denn<br />

sobald die Leute hier wissen, was ihr vorhabt, verstecken sie<br />

seine Rüstung woanders.«<br />

Lyra nahm ihren angebissenen Pfefferkuchen und stand auf;<br />

keiner merkte es, denn Lee Scoresby teilte bereits die Karten<br />

aus, und alle Augen waren voller Mißtrauen auf seine Hände<br />

gerichtet.<br />

In der trüben Dämmerung eines endlosen Nachmittags<br />

machte sie sich auf den Weg zum Schlittendepot. Sie mußte es<br />

tun, das wußte sie, trotzdem war ihr dabei nicht wohl, und sie<br />

hatte Angst.<br />

<strong>Der</strong> Bär arbeitete vor dem größten der Betonschuppen, und<br />

Lyra blieb am geöffneten Tor stehen, um ihn zu beobachten,<br />

Iorek Byrnison zerlegte gerade einen gasbetriebenen Motor­<br />

218


schlitten, der durch einen Unfall beschädigt worden war; die<br />

Metallverkleidung des Motors war verbogen und verbeult, und<br />

eine Kufe krümmte sich nach oben. <strong>Der</strong> Bär hob das Blech ab,<br />

als sei es aus Pappe, und drehte es in seinen großen Händen hin<br />

und her, als wollte er prüfen, wozu es noch taugte; dann setzte<br />

er eine Hinterpfote auf eine Kante und bog das Blech, bis die<br />

Dellen heraussprangen. Als die ursprüngliche Form wiederhergestellt<br />

war, lehnte er es an die Wand, hob den schweren Schlitten<br />

mit einer Pfote hoch, legte ihn auf die Seite und bückte sich,<br />

um die verbogene Kufe zu untersuchen.<br />

Dabei entdeckte er Lyra. Kalte Angst kroch in ihr hoch, so<br />

riesig und fremd kam er ihr vor. Vierzig Meter von ihm entfernt<br />

starrte sie durch den Maschendrahtzaun und überlegte,<br />

daß er die Entfernung leicht in ein, zwei Sätzen überwinden<br />

und den Draht wie ein Spinnennetz zerfetzen konnte. Fast hätte<br />

sie sich umgedreht und wäre weggerannt, aber da sagte Pantalaimon:<br />

»Halt! Laß mich zu ihm gehen und mit ihm reden.«<br />

Er hatte sich in eine Seeschwalbe verwandelt, und ehe sie<br />

noch etwas erwidern konnte, war er schon vom Zaun heruntergeflogen<br />

und saß auf der anderen Seite auf dem gefrorenen<br />

Boden. Wenige Meter weiter stand ein Tor offen, und Lyra<br />

hätte ihm ohne weiteres folgen können, aber sie konnte sich<br />

nicht dazu entschließen. Pantalaimon sah sie an, dann verwandelte<br />

er sich in einen Dachs.<br />

Lyra ahnte, was er vorhatte. Dæmonen können sich nur<br />

wenige Schritte von den Menschen entfernen, zu denen sie<br />

gehören, und wenn sie am Zaun stehenblieb, würde er es als<br />

Vogel niemals schaffen, in die Nähe des Bären zu kommen; also<br />

mußte er sie ziehen.<br />

Sie war wütend und unglücklich. Pantalaimon grub seine<br />

Dachsklauen in den Boden und stemmte sich Schritt für Schritt<br />

vorwärts. Lyra spürte, wie er an der Verbindung zwischen ihnen<br />

zog und zerrte, und sie empfand eine ihr bisher unbekannte<br />

219


Qual, eine Mischung aus körperlichen Schmerzen tief in der<br />

Brust und einer heftigen Traurigkeit und Liebe. Und sie wußte,<br />

daß er dasselbe empfand. Alle Heranwachsenden probierten<br />

hin und wieder aus, wie weit sie sich voneinander entfernen<br />

konnten, doch wie groß war jedesmal die Erleichterung, wenn<br />

sie zueinander zurückkehrten.<br />

Pantalaimon zerrte noch stärker.<br />

»Nicht, Pan!«<br />

Aber er hörte nicht auf. <strong>Der</strong> Bär sah regungslos zu. Die<br />

Schmerzen in Lyras Brust wurden immer unerträglicher, und<br />

ein sehnsüchtiges Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.<br />

»Pan…«<br />

Schon war Lyra durchs Tor gerannt und schlitterte über den<br />

gefrorenen Schlamm auf Pantalaimon zu. Er verwandelte sich<br />

in eine Wildkatze und sprang in ihre Arme. Sie klammerten<br />

sich ganz fest aneinander und schluchzten beide vor Kummer.<br />

»Ich dachte schon, du wolltest wirklich…«<br />

»Nein…«<br />

»Ich hätte nie geglaubt, wie weh das tut…«<br />

Wütend wischte sie die Tränen weg und schniefte laut. Pantalaimon<br />

kuschelte sich in ihre Arme, und sie wußte, daß sie lieber<br />

sterben wollte, als noch einmal von ihm getrennt zu sein<br />

und diese Traurigkeit zu spüren; beim nächsten Mal würde sie<br />

vor Kummer und Entsetzen verrückt werden. Auch wenn sie<br />

einmal starb, würden sie noch Zusammensein, genau wie die<br />

Wissenschaftler in der Krypta von Jordan.<br />

Dann blickten das Mädchen und sein Dæmon zu dem Bären<br />

auf. Er hatte keinen Dæmon. Er war allein, immer allein. Vor<br />

lauter Mitleid und Rührung hätte Lyra fast die Hand ausgestreckt<br />

und sein verfilztes Fell berührt, aber ihre Höflichkeit<br />

und der Blick seiner kalten, wilden Augen hielten sie zurück.<br />

»Iorek Byrnison«, sagte sie.<br />

»Ja?«<br />

220


»Lord Faa und Farder Coram versuchen gerade, dir deine<br />

Rüstung wiederzuholen.«<br />

<strong>Der</strong> Bär zuckte mit keiner Miene und sagte nichts. Es war<br />

klar, wie er ihre Chancen einschätzte.<br />

»Und ich weiß, wo sie ist«, sagte Lyra. »Wenn ich es dir sage,<br />

kannst du sie dir dann nicht selbst holen?«<br />

»Woher willst du denn wissen, wo sie ist?«<br />

»Ich habe ein Instrument, von dem ich das ablesen kann. Und<br />

ich finde, ich sollte dir sagen, wo die Rüstung ist, denn schließlich<br />

haben sie dich ja zuerst reingelegt. Das war bestimmt nicht<br />

in Ordnung, das hätten sie nicht tun dürfen. Lord Faa will dem<br />

Sysselmann das sagen, aber wahrscheinlich geben sie dir die<br />

Rüstung trotzdem nicht zurück. Wenn ich es dir verrate,<br />

kommst du dann mit uns und hilfst uns, die Kinder aus Bolvangar<br />

zu befreien?«<br />

»Ja.«<br />

»Ich…« Sie wollte ihre Nase nicht in seine Angelegenheiten<br />

stecken, aber ihre Neugier siegte. »Wieso machst du dir eigentlich<br />

nicht einfach aus dem ganzen Blech hier eine neue<br />

Rüstung, Iorek Byrnison?«<br />

»Weil die Bleche hier wertlos sind. Schau her.« Er hielt die<br />

Motorverkleidung mit einer Tatze hoch, fuhr an der anderen<br />

Tatze eine Kralle aus und schlitzte das Blech wie mit einem<br />

Dosenöffner auf. »Meine Rüstung besteht aus Himmelseisen<br />

und wurde extra für mich gemacht. Die Rüstung eines Bären ist<br />

seine Seele, so wie dein Dæmon deine Seele ist. Es wäre so, als<br />

würdest du ihn« — er zeigte auf Pantalaimon — »durch eine mit<br />

Sägespänen ausgestopfte Puppe ersetzen. Das ist der Unterschied!<br />

Also, wo ist meine Rüstung?«<br />

»Hör zu, erst mußt du versprechen, daß du keine Rache<br />

nimmst. Sie hätten dir die Rüstung nicht wegnehmen dürfen,<br />

aber damit mußt du dich jetzt abfinden.«<br />

»Einverstanden. Keine Rache hinterher, aber ich ich tue alles,<br />

221


um sie zu bekommen. Wenn sie mich daran hindern wollen,<br />

müssen sie sterben.«<br />

»<strong>Der</strong> Priester hat sie in seinen Keller eingeschlossen«, sagte<br />

Lyra. »Er glaubt, daß ein Geist in ihr steckt, und versucht, ihn<br />

auszutreiben. Also, dort ist sie jedenfalls.«<br />

Iorek Byrnison richtete sich auf und sah nach Westen. Die<br />

untergehende Sonne fiel auf sein Gesicht und ließ es in der<br />

düsteren Umgebung gelb aufleuchten. Lyra spürte die Kraft, die<br />

das große Tier wie Hitzewellen abstrahlte.<br />

»Ich muß bis Sonnenuntergang arbeiten«, sagte er. »Das habe<br />

ich dem Meister heute morgen versprochen. Ein paar Minuten<br />

Arbeit schulde ich ihm also noch.«<br />

»Wo ich bin, ist die Sonne schon untergegangen«, sagte Lyra.<br />

Aus ihrer Perspektive war die Sonne bereits hinter der felsigen<br />

Landspitze im Südwesten verschwunden.<br />

<strong>Der</strong> Bär ließ sich auf alle viere fallen.<br />

»Stimmt«, sagte er. Sein Gesicht war jetzt genauso im Schatten<br />

wie ihres. »Wie heißt du, Kind?«<br />

»Lyra Belacqua.«<br />

»Ich stehe jetzt in deiner Schuld, Lyra Belacqua«, sagte er.<br />

Dann drehte er sich um und trottete über den gefrorenen<br />

Boden fort, so schnell, daß Lyra nicht Schritt halten konnte,<br />

sosehr sie auch rannte. Und wie sie rannte! Pantalaimon stieg<br />

als Möwe auf, um den Bären nicht aus den Augen zu verlieren,<br />

und rief ihr von oben zu, welche Richtung sie einschlagen<br />

mußte.<br />

Iorek Byrnison eilte die enge Gasse entlang, an der das Depot<br />

lag, bog in die Hauptstraße ein, passierte den Hof der Residenz<br />

des Sysselmanns, in dem eine Fahne schlaff in der windstillen<br />

Luft am Mast hing und ein Wachtposten steif auf und ab marschierte,<br />

und trabte dann hangabwärts an der Straße vorbei, in<br />

der der Hexenkonsul wohnte. Als der Wachtposten schließlich<br />

gemerkt hatte, was los war, und sich von dem Schrecken<br />

222


erholte, bog Iorek Byrnison bereits um eine Ecke in der Nähe<br />

des Hafens.<br />

Die Menschen blieben gaffend stehen oder brachten sich<br />

schnell in Sicherheit, wenn der Bär an ihnen vorbeikam. <strong>Der</strong><br />

Wachtposten feuerte zweimal in die Luft und setzte dem Bären<br />

nach, verlor aber an Boden, weil er auf dem vereisten Hang ausrutschte<br />

und sich am nächsten Geländer festhalten mußte, um<br />

nicht zu stürzen. Lyra holte ihn fast ein. Als sie am Haus des Sysselmanns<br />

vorbeikam, sah sie mehrere Gestalten neugierig auf<br />

den Hof hinaustreten und meinte, auch Farder Coram unter<br />

ihnen zu erkennen, aber da war sie schon vorbei und sauste die<br />

Straße hinunter auf die Ecke zu, um die gerade der hinter dem<br />

Bären herjagende Wachmann verschwand.<br />

Das Haus des Priesters war älter als die meisten anderen<br />

Häuser und aus teuren Ziegelsteinen erbaut. Drei Stufen führten<br />

zur Haustür hinauf, die nun jedoch zu Kleinholz zersplittert<br />

in den Angeln hing. Aus dem Innern des Hauses ertönten<br />

Schreie und das Zerbersten von weiterem Holz. <strong>Der</strong> Wachmann<br />

stand unschlüssig vor dem Eingang, das Gewehr im<br />

Anschlag, als aber immer mehr Passanten stehenblieben und<br />

die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgingen,<br />

sah er sich zum Handeln gezwungen und stürmte, nachdem er<br />

zuvor einmal in die Luft geschossen hatte, ins Haus.<br />

Im nächsten Augenblick bebte das ganze Gebäude. Drei Fensterscheiben<br />

gingen zu Bruch, und ein Ziegel rutschte vom<br />

Dach. Ein Dienstmädchen kam in Panik herausgerannt; sein<br />

Dæmon, ein gackerndes Huhn, flatterte aufgeregt hinterher.<br />

Dann ertönte ein weiterer Schuß, gefolgt von so markerschütterndem<br />

Gebrüll, daß das Dienstmädchen vor Schreck<br />

aufkreischte. Wie eine Kanonenkugel schoß der Priester heraus,<br />

hinter ihm in einem wilden Geflatter aus Federn und verletztem<br />

Stolz sein Dæmon, ein Pelikan. Lyra hörte, wie Befehle<br />

gebrüllt wurden, und als sie sich umdrehte, sah sie ein Polizei­<br />

223


kommando um die Ecke hasten; einige der Polizisten trugen<br />

Pistolen, andere Gewehre. In kurzem Abstand folgten John Faa<br />

und der korpulente, aufgeregt fuchtelnde Sysselmann.<br />

Ein Bersten und Splittern ertönte, und alle wandten sich<br />

wieder dem Haus zu. Klirrend zerbrach die Scheibe eines Fensters<br />

auf Bodenhöhe, das anscheinend zu einem Keller gehörte,<br />

dann zersplitterte krachend der hölzerne Rahmen. <strong>Der</strong> Posten,<br />

der Iorek Byrnison ins Haus gefolgt war, kam herausgerannt<br />

und stellte sich mit angelegtem Gewehr vor das Kellerfenster.<br />

Dann wurde das Fenster ganz herausgebrochen, und aus dem<br />

Loch kletterte Iorek Byrnison in voller Rüstung.<br />

Er war schon ohne Rüstung furchterregend, aber mit ihr war<br />

er ein Ungeheuer. Sie war rostrot und aus verschieden großen<br />

Platten aus verfärbtem und verbeultem Metall, die bei jeder<br />

Bewegung quietschend und kratzend aneinander scheuerten,<br />

grob zusammengenietet. <strong>Der</strong> Helm lief spitz zu wie Ioreks<br />

Schnauze, hatte Schlitze für die Augen und ließ den Unterkiefer<br />

zum Reißen und Beißen frei.<br />

<strong>Der</strong> Wachmann feuerte mehrere Schüsse ab, und auch die<br />

Polizisten zielten auf den Bären, doch Iorek Byrnison schüttelte<br />

die Kugeln ab, als wären es Regentropfen. Er stürzte sich mit<br />

seiner quietschenden, scheppernden Rüstung auf den Wachmann,<br />

bevor dieser fliehen konnte, und warf ihn zu Boden. Wie<br />

ein Blitz fuhr der Dæmon des Wachmanns, ein Husky, dem<br />

Bären an die Kehle, doch Iorek Byrnison beachtete ihn sowenig<br />

wie eine Fliege. Mit seiner gewaltigen Pranke zog er den Wachmann<br />

zu sich heran, beugte sich über ihn und nahm seinen<br />

Kopf zwischen die Kiefer. Lyra wußte genau, was als nächstes<br />

geschehen würde: <strong>Der</strong> Bär würde den Schädel des Mannes wie<br />

ein Ei zerquetschen, und dann käme es zu einem blutigen<br />

Kampf mit noch mehr Toten und zu weiteren Verzögerungen;<br />

und schließlich würden sie überhaupt nicht mehr loskommen<br />

— ob mit oder ohne den Bären.<br />

224


Ohne nachzudenken, rannte sie zu ihm hin und legte die<br />

Hand auf die einzige ungeschützte Stelle des Bären, die Lücke<br />

zwischen dem Helm und der großen Schulterplatte, die entstand,<br />

wenn er den Kopf senkte, und durch die sie zwischen den<br />

rostigen Metallrändern das gelbweiße Fell schimmern sah. Sie<br />

grub die Finger in das Fell, und sofort flog auch Pantalaimon an<br />

diese Stelle und verwandelte sich in eine sprungbereite Wildkatze,<br />

um Lyra notfalls verteidigen zu können. Doch Iorek<br />

Byrnison rührte sich nicht, und daraufhin stellten die Schützen<br />

das Feuer ein.<br />

»Iorek!« sagte Lyra heftig. »Hör mir zu! Du schuldest mir<br />

noch einen Gefallen, stimmt’s? Jetzt kannst du dich revanchieren.<br />

Tu, was ich dir sage. Kämpfe nicht mit diesen Männern.<br />

Wir gehen jetzt einfach von hier weg. Wir brauchen dich, Iorek,<br />

du darfst nicht hier bleiben. Komm mit mir zum Hafen, und<br />

sieh dich nicht mehr um. Farder Coram und John Faa sollen für<br />

dich verhandeln, die kriegen das schon hin. Also laß den Mann<br />

hier los und komm mit…«<br />

Langsam öffnete der Bär das Maul. <strong>Der</strong> Kopf des Wachmanns<br />

blutete, war naß und kreidebleich; er schlug hart<br />

auf den Boden, als der Mann in Ohnmacht fiel. Sein Dæmon<br />

begann ihn sofort zu liebkosen, während sich der Bär Lyra<br />

zuwandte.<br />

Niemand rührte sich. Alle beobachteten, wie der Bär auf den<br />

Befehl des kleinen Mädchens mit dem Katzendæmon von seinem<br />

Opfer abließ, und erst als Iorek Byrnison an der Seite Lyras<br />

schwerfällig durch ihre Mitte in Richtung Hafen trottete,<br />

machten sie eilig Platz.<br />

Lyra, die nur auf den Bären achtete, merkte nichts von der<br />

Verwirrung, die sie hinterließ, und von der Angst und der Wut,<br />

die sich entluden, sobald der Bär fort war. Sie ging einfach<br />

neben ihm her, und Pantalaimon sprang den beiden voraus, als<br />

wollte er ihnen den Weg bahnen.<br />

225


Am Hafen angekommen, senkte Iorek Byrnison den Kopf,<br />

öffnete mit einer Klaue den Helm und ließ ihn scheppernd auf<br />

den gefrorenen Boden fallen. Gypter, die mitbekommen hatten,<br />

daß sich draußen etwas tat, kamen aus dem Cafe und beobachteten<br />

im Schein der anbarischen Lampen, die auf dem<br />

Schiffsdeck brannten, wie Iorek Byrnison auch die restliche<br />

Rüstung abschüttelte und auf einem Haufen auf dem Kai<br />

zurückließ. Wortlos trottete er zum Wasser, glitt hinein, ohne<br />

daß sich eine Welle kräuselte, und verschwand.<br />

»Was ist passiert?« fragte Tony Costa, als er die empörten<br />

Stimmen von Einwohnern und Polizisten hörte, die aus den<br />

höher gelegenen Straßen zum Hafen hinunterstürzten.<br />

Lyra erzählte ihm alles so ausführlich sie konnte.<br />

»Aber wo steckt er denn jetzt?« fragte Tony. »Er kann doch<br />

nicht einfach seine Rüstung hier liegenlassen. Die holen sie sich<br />

doch zurück, sobald sie hier sind!«<br />

Lyra befürchtete das auch, denn an der Ecke tauchte bereits<br />

der erste Polizist auf, gefolgt von weiteren, und dahinter kamen<br />

der Sysselmann und der Priester und zwanzig oder dreißig<br />

Schaulustige und schließlich John Faa und Farder Coram, die<br />

mit den anderen Schritt zu halten versuchten.<br />

Doch als sie die Gruppe am Kai erblickten, blieben sie stehen,<br />

denn dort war mittlerweile noch jemand erschienen. Auf<br />

der Rüstung des Bären saß die langgliedrige Gestalt von Lee<br />

Scoresby. Er hatte einen Knöchel über das Knie geschlagen,<br />

hielt die längste Pistole, die Lyra jemals gesehen hatte, in der<br />

Hand und zielte damit ungerührt auf den stattlichen Bauch des<br />

Sysselmanns.<br />

»Mir scheint, ihr habt nicht besonders gut auf die Rüstung<br />

meines Freundes aufgepaßt«, sagte er im Plauderton. »Nein<br />

wirklich, schaut euch bloß mal den Rost hier an! Und es würde<br />

mich überhaupt nicht überraschen, auch noch Motten darin zu<br />

entdecken. So, und jetzt bleibt ihr entweder schön ruhig da ste­<br />

226


hen, wo ihr seid, und rührt euch nicht, bis der Bär mit ein bißchen<br />

Schmiere zurückkommt. Oder ihr geht nach Hause und<br />

steckt die Nase in die Zeitung. Könnt’s euch aussuchen.«<br />

»Da kommt er«, sagte Tony und zeigte zu einer Rampe am<br />

anderen Ende des Kais, wo Iorek Byrnison gerade aus dem<br />

Wasser auftauchte; in den Zähnen hielt er einen dunklen<br />

Gegenstand. Oben auf dem Kai angelangt, schüttelte er sich so<br />

heftig, daß das Wasser nach allen Seiten sprühte, bis sein dickes<br />

Fell wieder buschig abstand. Dann senkte er den Kopf, nahm<br />

den schwarzen Gegenstand wieder zwischen die Zähne und<br />

brachte ihn zu der Stelle, an der seine Rüstung lag. Es war ein<br />

toter Seehund.<br />

»Tag, Iorek«, sagte der Aeronaut und erhob sich träge, hielt<br />

aber die Pistole unverändert auf den Sysselmann gerichtet.<br />

»Alles klar?«<br />

<strong>Der</strong> Bär sah kurz auf und brummte, dann schlitzte er mit<br />

einer Kralle den Seehund auf. Gebannt beobachtete Lyra, wie er<br />

säuberlich die Haut abzog und Streifen von dem wabbeligen<br />

Seehundspeck abriß, mit denen er seine Rüstung von oben bis<br />

unten einrieb und sorgfältig die Stellen schmierte, an denen<br />

sich die Platten übereinanderschoben.<br />

»Gehörst du auch zu diesen Leuten?« fragte der Bär Lee Scoresby,<br />

ohne seine Arbeit zu unterbrechen.<br />

»Klar. Schätze, wir sind beide angeheuert, Iorek.«<br />

»Wo ist Ihr Ballon?« fragte Lyra den Texaner.<br />

»Verpackt und auf zwei Schlitten verstaut«, sagte er. »Ah, da<br />

kommt ja der Chef.«<br />

Zusammen mit dem Sysselmann und vier bewaffneten Polizisten<br />

kamen John Faa und Farder Coram den Kai entlang.<br />

»Bär!« sagte der Sysselmann schrill. »Wir lassen dich in<br />

Begleitung dieser Leute gehen. Aber eins sage ich dir: Wenn du<br />

dich noch einmal innerhalb der Stadtgrenzen blicken läßt,<br />

kannst du keine Gnade mehr erwarten.«<br />

227


Ohne von seinen Worten auch nur die geringste Notiz zu<br />

nehmen, fuhr Iorek Byrnison fort, seine Rüstung mit dem Seehundspeck<br />

einzufetten; die Sorgfalt und Aufmerksamkeit, mit<br />

der er bei der Arbeit war, erinnerte Lyra an ihre enge Verbindung<br />

mit Pantalaimon. Es war wohl so, wie der Bär gesagt hatte:<br />

Die Rüstung war seine Seele. <strong>Der</strong> Sysselmann und die Polizisten<br />

zogen sich zurück, und nach und nach machten auch die anderen<br />

Leute kehrt und zerstreuten sich. Nur ein kleines Häuflein<br />

Neugieriger blieb.<br />

John Faa formte mit seinen Händen einen Trichter vor dem<br />

Mund und rief: »Gypter!«<br />

Alle waren abmarschbereit. Seit sie von Bord gegangen<br />

waren, hatten sie ungeduldig daraufgewartet, endlich loszuziehen;<br />

die Schlitten waren bepackt, die Hundegespanne angeschirrt.<br />

»Es wird Zeit, daß wir losfahren, Freunde«, sagte John Faa.<br />

»Wir sind vollzählig, und nichts hindert uns mehr. Mr. Scoresby,<br />

haben Sie alles aufgeladen?«<br />

»Bereit zum Abmarsch, Lord Faa.«<br />

»Und du, Iorek Byrnison?«<br />

»Sobald ich die Rüstung angezogen habe«, sagte der Bär.<br />

Er war mit dem Einfetten der Rüstung fertig. Weil er das<br />

Seehundfleisch nicht verschwenden wollte, hob er den Kadaver<br />

mit den Zähnen hoch und hievte ihn auf Lee Scoresbys Schlitten,<br />

der größer war als die anderen. Dann legte er die Rüstung<br />

an. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit er das tat:<br />

Obwohl die Metallplatten an einigen Stellen über zwei Zentimeter<br />

dick waren, legte er sie an, als seien es Kleider aus Seide.<br />

Er brauchte dazu keine Minute, und diesmal quietschte nichts.<br />

Eine knappe halbe Stunde später war die Expedition auf dem<br />

Weg nach Norden. Unter einem mit Sternen übersäten Himmel,<br />

an dem hell der Mond leuchtete, holperten und klapperten<br />

die Schlitten über Furchen und Steine, bis sie den glatten<br />

228


Schnee am Stadtrand erreichten, wo das Gepolter in das ruhige<br />

Knirschen des Schnees und das gelegentliche Knarren von Holz<br />

überging. Ausgeruht legten die Hunde sich ins Zeug, und die<br />

Schlitten glitten schnell und sanft dahin.<br />

Lyra saß dick eingemummt im hinteren Teil von Farder<br />

Corams Schlitten; nur ihre Augen waren unbedeckt. »Kannst<br />

du Iorek sehen?« flüsterte sie Pantalaimon zu.<br />

»Er trottet neben dem Schlitten von Lee Scoresby her«, antwortete<br />

der Dæmon, der in Gestalt eines Hermelins an Lyras<br />

Kapuze aus Marderpelz hing und zurückschaute.<br />

Vor ihnen, über den Bergen im Norden, begannen die blassen<br />

Bögen und Spiralen des Nordlichts zu glühen und zu flimmern.<br />

Lyra konnte sie durch ihre halbgeschlossenen Augen<br />

sehen, und bei der Vorstellung, unter der Aurora Richtung<br />

Norden dahinzugleiten, überlief sie noch im Halbschlaf ein<br />

Schauer vollkommenen Glücks. Pantalaimon wehrte sich gegen<br />

ihre Schläfrigkeit, doch sie war übermächtig, und so rollte er<br />

sich als Maus in Lyras Pelz zusammen. Was er ihr sagen wollte,<br />

hatte schließlich Zeit, bis sie aufwachte, und wahrscheinlich<br />

war es sowieso nur ein Marder oder ein Traum oder ein harmloser<br />

Geist aus der Gegend. Denn irgend jemand folgte dem<br />

Zug der Schlitten, sich behende von Ast zu Ast der dicht nebeneinander<br />

stehenden Kiefern schwingend, jemand, der Pantalaimon<br />

auf beklemmende Weise an einen Affen erinnerte.<br />

229


Zwölf<br />

<strong>Der</strong> verlorene Junge<br />

Sie fuhren mehrere Stunden und hielten dann an, um zu essen.<br />

Während die Männer Feuer machten und Schnee schmolzen<br />

und Iorek Byrnison zusah, wie Lee Scoresby das Seehundfleisch<br />

briet, sprach John Faa mit Lyra.<br />

»Lyra, glaubst du, du siehst genug, um das Instrument zu<br />

lesen?« fragte er.<br />

<strong>Der</strong> Mond war seit langem untergegangen. Das Licht der<br />

Aurora leuchtete zwar heller als der Mond, flackerte aber auch<br />

stärker. Doch Lyra hatte scharfe Augen, und so wühlte sie in<br />

ihren Pelzen und zerrte schließlich das schwarze Samtpäckchen<br />

hervor.<br />

»Ja, ich sehe genug«, sagte sie. »Aber ich weiß inzwischen<br />

sowieso, wo die meisten Symbole sind. Was soll ich denn fragen,<br />

Lord Faa?«<br />

»Ich möchte mehr darüber wissen, wie dieses Bolvangar verteidigt<br />

wird.«<br />

Automatisch stellten Lyras Finger die Zeiger auf Helm, Greif<br />

und Tiegel, und dann vertiefte sie sich in die jeweiligen Bedeutungen<br />

wie in ein kompliziertes dreidimensionales Diagramm.<br />

Sofort begann die Nadel auszuschlagen, vor, zurück, vor und so<br />

weiter, wie eine Biene, die vor dem Bienenkorb tanzt. Ruhig sah<br />

Lyra zu. Mochte am Anfang auch alles rätselhaft erscheinen,<br />

230


nach und nach würde sich eine Bedeutung herauskristallisieren,<br />

das wußte sie. Sie ließ die Nadel tanzen, bis sie sich eingependelt<br />

hatte.<br />

»Es ist genau so, wie der Dæmon der Hexe gesagt hat, Lord<br />

Faa. Die Station wird von einer Kompanie Tataren bewacht und<br />

ist von Stacheldraht umgeben. <strong>Der</strong> Symboldeuter sagt außerdem,<br />

daß sie nicht mit einem Angriff rechnen. Aber, Lord<br />

Faa…«<br />

»Was ist, mein Kind?«<br />

»Er sagt noch etwas anderes. Im nächsten Tal liegt ein Dorf<br />

an einem See, dessen Bewohner von einem Geist heimgesucht<br />

werden.«<br />

Ungeduldig schüttelte John Faa den Kopf. »Das ist doch jetzt<br />

nicht wichtig. Hier in den Wäldern soll es alle möglichen Geister<br />

geben. Erzähl mir lieber mehr von den Tataren. Zum Beispiel<br />

wie viele es sind und welche Waffen sie haben.«<br />

Gehorsam befragte Lyra das Alethiometer und verkündete<br />

John Faa die Antwort.<br />

»Es sind sechzig Mann mit Gewehren, aber sie haben auch<br />

noch größere Waffen, so eine Art Kanonen. Außerdem haben<br />

sie Flammenwerfer. Und… das Alethiometer sagt, daß alle ihre<br />

Dæmonen Wölfe sind.«<br />

Die älteren Gypter, die bereits gegen Tataren gekämpft hatten,<br />

waren sichtlich beunruhigt.<br />

»Die sibirischen Regimenter haben Wolfsdæmonen«, sagte<br />

einer.<br />

»Und zwar die wildesten, die mir je begegnet sind«, fügte<br />

John Faa hinzu. »Wir werden kämpfen müssen wie die Tiger.<br />

Und wir werden uns mit dem Bären beraten, er ist ein listiger<br />

Krieger.«<br />

»Aber Lord Faa«, sagte Lyra ungeduldig, »der Geist — ich<br />

glaube, es ist der Geist von einem der Kinder!«<br />

»Selbst wenn das stimmt, Lyra, wüßte ich nicht, was wir<br />

231


daran ändern könnten. Also sechzig sibirische Scharfschützen.<br />

Und Flammenwerfer… Mr. Scoresby, würden Sie einen<br />

Moment herkommen?«<br />

Während der Aeronaut zum Schlitten kam, schlich sich Lyra<br />

fort, um mit dem Bären zu sprechen.<br />

»Iorek, warst du schon mal hier?«<br />

»Einmal.« Er sprach mit tiefer ausdrucksloser Stimme.<br />

»Hier in der Nähe ist ein Dorf, stimmt das?«<br />

»Hinter diesem Berg«, sagte er und blickte durch die dürren<br />

Bäume nach oben.<br />

»Ist es weit?«<br />

»Für dich oder für mich?«<br />

»Für mich«, sagte Lyra.<br />

»Viel zu weit. Für mich ist es nur ein Katzensprung.«<br />

»Wie lange würdest du brauchen, um hinzukommen?«<br />

»Ich könnte dreimal hin- und zurücklaufen, bis der Mond<br />

wieder aufgeht.«<br />

»Also es ist so, Iorek. Ich habe einen Symboldeuter, der mir<br />

Dinge sagt, und er sagt, ich müßte unbedingt in dieses Dorf,<br />

aber Lord Faa will mich nicht hingehen lassen. Er will so schnell<br />

wie möglich weiter. Das seh ich ja auch ein, aber wenn ich nicht<br />

hingeh und rauskriege, was da los ist, erfahren wir vielleicht nie,<br />

was die Gobbler eigentlich machen.«<br />

<strong>Der</strong> Bär schwieg. Er saß aufrecht wie ein Mensch da, die großen<br />

Pranken im Schoß gefaltet, und seine dunklen Augen über<br />

der langen Schnauze blickten ruhig in Lyras. Er wußte, daß sie<br />

ihn um etwas bitten wollte.<br />

Pantalaimon sprach es aus: »Schaffst du es, uns hinzubringen<br />

und die Schlitten später wieder einzuholen?«<br />

»Wenn ich will, ja. Aber ich habe Lord Faa versprochen, daß<br />

ich nur ihm gehorche und niemandem sonst.«<br />

»Und wenn er es mir erlaubt?« fragte Lyra.<br />

»Dann ja.«<br />

232


Sie drehte sich um und rannte durch den Schnee zurück.<br />

»Lord Faa! Wenn Iorek Byrnison mich über diesen Berg zum<br />

Dorf bringen würde, könnten wir alles rauskriegen und später<br />

die Schlitten wieder einholen.« Und bittend fügte sie hinzu: »Er<br />

kennt den Weg doch. Ich würde bestimmt nicht fragen, aber es<br />

geht mir genau so wie neulich bei dem Chamäleon, wissen Sie<br />

noch, Farder Coram? Zuerst habe ich es nicht kapiert, aber hinterher<br />

haben wir entdeckt, daß es stimmte. Das gleiche Gefühl<br />

habe ich jetzt auch. Ich verstehe zwar nicht genau, was das<br />

Instrument sagt, aber ich weiß, daß es wichtig ist. Und Iorek<br />

Byrnison kennt den Weg und sagt, er könnte es bis zum nächsten<br />

Mondaufgang dreimal hin- und herschaffen. Und wenn er<br />

bei mir ist, kann mir doch nichts passieren, oder? Aber er geht<br />

nur, wenn Lord Faa es ihm erlaubt.«<br />

Es wurde still. Farder Coram seufzte. John Faa runzelte die<br />

Stirn und verzog unter seiner Kapuze grimmig den Mund.<br />

Doch noch ehe er antworten konnte, mischte sich der Aeronaut<br />

ein: »Lord Faa, wenn Iorek Byrnison sich um das Mädchen<br />

kümmert, ist es genauso sicher wie bei uns. Alle Bären sind ehrlich,<br />

und Iorek kenne ich seit Jahren. Er würde um nichts in der<br />

Welt sein Wort brechen. Vertrauen Sie ihm das Mädchen an,<br />

und er wird Sie bestimmt nicht enttäuschen. Und wenn Sie wissen<br />

wollen, wie schnell er ist — er kann stundenlang laufen,<br />

ohne müde zu werden.«<br />

»Wäre es dann nicht besser, ein paar Männer hinzuschikken?«<br />

»Aber die müßten dann doch zu Fuß gehen«, sagte Lyra,<br />

»denn mit dem Schlitten kommt man nicht über diesen Berg,<br />

Iorek Byrnison kommt hier viel schneller voran als ein Mensch,<br />

und ich bin so leicht, daß ihn mein Gewicht beim Laufen nicht<br />

stört. Und Lord Faa, ich verspreche, daß ich keine Sekunde länger<br />

als nötig dort bleibe und daß ich nichts von uns verrate und<br />

nichts Gefährliches mache.«<br />

233


»Bist du sicher, daß du unbedingt hin mußt? <strong>Der</strong> Symboldeuter<br />

hält dich nicht zum Narren?«<br />

»Das hat er noch nie getan, Lord Faa, und ich glaube, das<br />

könnte er auch gar nicht.«<br />

Nachdenklich rieb sich John Faa das Kinn.<br />

»Na gut. Zumindest wissen wir, wenn alles gut ausgeht, mehr<br />

als jetzt.« Er rief Iorek Byrnison her. »Bist du bereit zu tun, was<br />

dieses Kind von dir verlangt?«<br />

»Ich tue, was Sie mir befehlen, Lord Faa. Sagen Sie mir, daß<br />

ich das Kind dorthin bringen soll, und ich tue es.«<br />

»Also gut. Dann bringe sie hin, wohin sie möchte, und tu,<br />

was sie dir befiehlt. Und jetzt, Lyra, gebe ich Greinen Befehl,<br />

verstanden?«<br />

»Ja, Lord Faa.«<br />

»Sobald du gefunden hast, was du suchst, machst du sofort<br />

kehrt und kommst zurück. Iorek Byrnison, wir fahren inzwischen<br />

weiter, du mußt uns also wieder einholen.«<br />

<strong>Der</strong> Bär nickte mit seinem großen Kopf.<br />

»Sind in dem Dorf Soldaten?« fragte der Bär Lyra. »Brauche<br />

ich meine Rüstung? Ohne sie wären wir schneller.«<br />

»Nein«, sagte sie, »du brauchst sie ganz sicher nicht, Iorek.<br />

Danke, Lord Faa, ich verspreche, daß ich alles tue, was Sie<br />

befohlen haben.«<br />

Tony Costa gab ihr einen Streifen getrocknetes Seehundfleisch<br />

zum Kauen, und mit Pantalaimon als Maus in ihrer<br />

Kapuze kletterte Lyra auf den Rücken des Bären, griff mit ihren<br />

Fäustlingen in sein Fell und schloß die Knie um seinen schmalen,<br />

muskulösen Rücken. Sein Fell war dicht, und sie spürte<br />

seine ungeheuren Kräfte. Als würde sie nicht das geringste wiegen,<br />

drehte er sich um und trabte mit weit ausholenden Schritten<br />

davon, zwischen den niedrigen Bäumen hindurch hangaufwärts.<br />

Es dauerte eine Weile, bis Lyra sich an die schaukelnde<br />

234


Bewegung gewöhnt hatte, aber dann überkam sie eine wilde<br />

Begeisterung. Sie ritt auf einem Bären! Über ihnen flimmerte<br />

in <strong>goldene</strong>n Bögen und Spiralen die Aurora, und sie waren<br />

umgeben von der bitteren arktischen Kälte und der unermeßlich<br />

riefen Stille des Nordens.<br />

Iorek Byrnison flog fast lautlos auf seinen Tatzen über den<br />

Schnee. Hier, am Rand der Tundra, waren die Bäume dürr und<br />

verkrüppelt, doch der Weg wurde immer wieder durch Brombeergestrüpp<br />

und niedrige Büsche versperrt. <strong>Der</strong> Bär stürmte<br />

hindurch, als seien es Spinngewebe.<br />

Zwischen schwarzen Felsvorsprüngen erklommen sie den<br />

niedrigen Bergkamm, und schon bald konnten sie von den<br />

Zurückgebliebenen nicht mehr gesehen werden. Lyra hätte<br />

gern mit dem Bären gesprochen. Wenn er ein Mensch gewesen<br />

wäre, hätte sie bestimmt schon Freundschaft mit ihm geschlossen;<br />

aber er war so seltsam und wild und kalt, daß sie, vielleicht<br />

zum ersten Mal in ihrem Leben, zu schüchtern war, ihn anzusprechen.<br />

Deshalb paßte sie sich nur seinen Bewegungen an,<br />

den langen Sätzen, in denen er unermüdlich dahinjagte, und<br />

schwieg. Vielleicht war ihm das sowieso lieber, überlegte sie,<br />

denn in den Augen eines Panzerbären war sie bestimmt nur ein<br />

daherplapperndes Junges, das gerade dem Säuglingsalter entwachsen<br />

war. Lyra hatte bisher nur selten über sich nachgedacht,<br />

und sie fand diese Erfahrung zwar interessant, aber unerfreulich<br />

und eigentlich genauso unbequem, wie auf einem<br />

Bären zu reiten. Iorek Byrnison bewegte beim Laufen immer<br />

beide Beine einer Seite zugleich und schaukelte in einem stetigen,<br />

kraftvollen Rhythmus hin und her. Lyra merkte, daß sie<br />

nicht einfach ruhig auf ihm sitzen konnte, sondern mit seinen<br />

Bewegungen mitgehen mußte.<br />

Sie waren eine gute Stunde unterwegs; Lyra war steif und<br />

wundgeritten und deshalb sehr froh, als Iorek Byrnison langsamer<br />

wurde und stehenblieb.<br />

235


»Sieh nach oben«, sagte er.<br />

Lyra blickte auf, mußte sich aber erst die Augen mit der<br />

Innenseite des Handgelenks trocknen, denn ihr war so kalt, daß<br />

sie vor lauter Tränen alles nur verschwommen sah. Als sie wieder<br />

scharf sehen konnte, verschlug es ihr beim Anblick des<br />

Himmels beinahe den Atem. Die Aurora war zu einem flirrenden<br />

Glimmen verblaßt, aber die Sterne funkelten hell wie Diamanten,<br />

und über das dunkle, diamantenübersäte Firmament<br />

flogen Hunderte und Aberhunderte kleiner schwarzer Schatten<br />

aus Osten und Süden in Richtung Norden.<br />

»Sind das Vögel?« fragte sie.<br />

»Nein, Hexen«, antwortete der Bär.<br />

»Hexen! Was haben sie vor?«<br />

»Vielleicht fliegen sie in den Krieg. Ich habe noch nie so viele<br />

auf einmal gesehen.«<br />

»Kennst du eigentlich irgendwelche Hexen, Iorek?«<br />

»Ich habe einigen gedient und gegen einige auch gekämpft.<br />

Lord Faa müßte bei diesem Anblick jedenfalls einen ziemlichen<br />

Schreck bekommen. Wenn sie unterwegs sind, um unseren<br />

Feinden zu helfen, solltet ihr eigentlich alle Angst haben.«<br />

»Lord Faa hätte bestimmt keine Angst. Du doch auch nicht,<br />

oder?«<br />

»Noch nicht. Und wenn ich Angst bekomme, unterdrücke<br />

ich sie. Aber wir sollten Lord Faa auf jeden Fall von den Hexen<br />

erzählen, denn die Männer haben sie vielleicht nicht gesehen.«<br />

Er trottete langsam weiter, und Lyra beobachtete den Himmel,<br />

bis die Kälte ihr wieder Tränen in die Augen trieb und den<br />

nicht enden wollenden Zug der nordwärts fliegenden Hexen<br />

verschwimmen ließ.<br />

Schließlich blieb Iorek Byrnison stehen und sagte: »Da ist das<br />

Dorf.«<br />

Sie blickten einen zerklüfteten, unwegsamen Hang hinab auf<br />

eine Siedlung von Holzhäusern neben einer weiten, vollkom­<br />

236


men ebenen Schneefläche, die, wie Lyra annahm, der zugefrorene<br />

See sein mußte. Ein Holzsteg für Boote bestätigte ihre Vermutung.<br />

Sie waren höchstens noch fünf Minuten von dem Dorf<br />

entfernt.<br />

»Was hast du jetzt vor?« fragte der Bär.<br />

Lyra rutschte von seinem Rücken hinunter und merkte, daß<br />

sie kaum stehen konnte. Ihr Gesicht war starr vor Kälte, und sie<br />

hatte wackelige Beine, aber sie hielt sich an Ioreks Fell fest und<br />

stampfte mit den Füßen, bis sie spürte, wie ihre Kräfte zurückkehrten.<br />

»Da unten lebt ein Kind oder ein Geist oder etwas Ähnliches«,<br />

sagte sie, »vielleicht auch in der Nähe des Dorfes, ich<br />

weiß es nicht. Ich muß das Kind finden und, wenn ich kann, zu<br />

John Faa und den anderen bringen. Eigentlich dachte ich, es sei<br />

ein Geist, aber vielleicht habe ich ja nicht richtig verstanden,<br />

was der Symboldeuter mir sagen wollte.«<br />

»Wenn er sich draußen aufhält, braucht er irgendeinen<br />

Unterschlupf.«<br />

»Und ich glaube nicht, daß er tot ist…«, sagte Lyra, obwohl<br />

sie alles andere als sicher war. Das Alethiometer hatte etwas<br />

Unheimliches und Unnatürliches gezeigt, das ihr angst machte.<br />

Aber auf der anderen Seite: Sie war Lord Asriels Tochter! Und<br />

wer stand unter ihrem Kommando? Ein mächtiger Bär!<br />

Warum sollte sie da überhaupt Angst haben?<br />

»Los, laß uns nachsehen«, sagte sie.<br />

Sie kletterte wieder auf seinen Rücken, und Iorek machte<br />

sich auf den Weg den zerklüfteten Hang hinunter, jetzt nicht<br />

mehr im Paßgang, sondern mit gleichmäßigen Schritten. Die<br />

Dorfhunde witterten oder hörten ihr Kommen schon von weitem<br />

und begannen, entsetzlich zu heulen; die Rentiere liefen<br />

aufgeregt in den Gehegen hin und her, und ihre Geweihe klapperten<br />

wie trockene Hölzer gegeneinander.<br />

Als sie das erste Haus erreichten, drehte sich Lyra nach rechts<br />

237


und links und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Die Aurora<br />

war bereits verblaßt, und der Mond würde erst viel später aufgehen.<br />

Hier und da flackerte Licht unter einem dick mit Schnee<br />

bedeckten Dach, und Lyra meinte, hinter manchen Fensterscheiben<br />

bleiche Gesichter zu sehen. Sie stellte sich vor, wie<br />

erstaunt die Dorfbewohner beim Anblick eines Kindes sein<br />

mußten, das auf einem großen, weißen Bären ritt.<br />

In der Mitte des kleinen Dorfes, auf einer freien Fläche<br />

neben der Anlegestelle, lagen an Land gezogene Boote wie<br />

kleine Hügel unter dem Schnee. Das Gebell der Hunde war<br />

ohrenbetäubend, und gerade, als Lyra überlegte, daß inzwischen<br />

das ganze Dorf wach sein mußte, ging eine Tür auf, und<br />

ein Mann mit einem Gewehr kam heraus. Sein Dæmon, ein<br />

Marder, sprang auf einen Holzstoß neben der Tür, so daß der<br />

Schnee nur so stäubte. Sofort rutschte Lyra vom Rücken des<br />

Bären hinunter und stellte sich zwischen den Mann und Iorek<br />

Byrnison, denn schließlich hatte sie ja dem Bären gesagt, er<br />

brauche keine Rüstung.<br />

<strong>Der</strong> Mann sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand,<br />

Iorek Byrnison antwortete in derselben Sprache, worauf der<br />

Mann einen kurzen, angstvollen Laut von sich gab.<br />

»Er glaubt, wir seien Teufel«, erklärte Iorek Lyra. »Was soll<br />

ich ihm sagen?«<br />

»Sag ihm, daß wir keine Teufel sind, aber Teufel als Freunde<br />

haben. Und wir suchen nach… nur nach einem Kind, aber<br />

einem seltsamen Kind. Sag ihm das.«<br />

Kaum hatte der Bär ausgesprochen, zeigte der Mann nach<br />

rechts auf eine etwas weiter entfernte Stelle und begann hastig<br />

zu reden.<br />

»Er fragt, ob wir gekommen sind, um das Kind mitzunehmen«,<br />

sagte Iorek Byrnison. »Sie fürchten sich nämlich vor ihm<br />

und haben versucht, es zu verjagen, aber es kommt immer wieder<br />

zurück.«<br />

238


»Sag ihm, daß wir es mitnehmen, aber daß sie sehr gemein zu<br />

ihm waren. Wo ist es?«<br />

<strong>Der</strong> Mann erklärte es und fuchtelte dabei so aufgeregt mit<br />

den Händen herum, daß Lyra schon fürchtete, er könnte aus<br />

Versehen sein Gewehr abfeuern. Doch sobald er zu Ende<br />

gesprochen hatte, hastete er ins Haus zurück und warf die Tür<br />

hinter sich zu. Lyra sah jetzt hinter jedem Fenster Gesichter.<br />

»Wo ist das Kind?« fragte sie.<br />

»Im Fischerhaus«, antwortete der Bär. Er drehte sich um und<br />

trottete zur Bootsanlegestelle hinunter.<br />

Lyra folgte ihm. Sie war schrecklich aufgeregt. <strong>Der</strong> Bär lief<br />

auf einen schmalen Holzschuppen zu, hob schnüffelnd den<br />

Kopf und wandte ihn hierhin und dorthin. An der Tür blieb er<br />

stehen und sagte: »Hier drin.«<br />

Lyras Herz hämmerte wie verrückt, und sie konnte kaum<br />

atmen. Sie hob die Hand und wollte an die Tür klopfen, doch<br />

dann merkte sie, wie lächerlich das war. Also holte sie tief Luft,<br />

um zu rufen. Aber was sollte sie denn rufen? Wie dunkel es<br />

jetzt war! Hätte sie doch bloß eine Laterne mitgenommen!<br />

Aber sie hatte keine Wahl, und außerdem wollte sie nicht,<br />

daß der Bär ihre Angst bemerkte. Hatte er nicht gesagt, er<br />

würde seine Angst meistern? Genau das mußte sie jetzt auch<br />

tun. Sie hob die Schlaufe aus Rentierleder, die den Riegel festhielt,<br />

und rüttelte an dem Eis, das die Tür blockierte. Mit einem<br />

Krachen sprang die Tür auf. Jetzt mußte sie nur noch mit den<br />

Füßen den Schnee an der Türschwelle aus dem Weg räumen,<br />

damit sie die Tür weiter aufziehen konnte; Pantalaimon, der als<br />

Hermelin wie ein weißer Schatten auf dem weißen Boden vorund<br />

zurücklief und vor lauter Angst piepsige Töne ausstieß, war<br />

dabei keine große Hilfe.<br />

»Pan, um Gottes willen!« sagte sie. »Sei eine Fledermaus. Geh<br />

rein und sieh für mich nach…«<br />

Aber er wollte nicht, und er wollte auch nicht sprechen. Nur<br />

239


ein einziges Mal hatte sie ihn bisher so erlebt, und zwar damals,<br />

als sie und Roger in der Krypta von Jordan College die Münzen<br />

der Dæmonen in die falschen Schädel gelegt hatten. Pantalaimon<br />

hatte sogar noch mehr Angst als sie. Und was Iorek Byrnison<br />

betraf, der lag in der Nähe im Schnee und sah ihnen schweigend<br />

zu.<br />

»Komm raus!« rief Lyra, so laut sie es wagte. »Komm raus!«<br />

Kein Ton war zu hören. Sie zog die Tür etwas weiter auf. Da<br />

sprang Pantalaimon als Katze in ihre Arme, trommelte wild mit<br />

seinen Pfoten gegen ihre Brust und rief: »Geh weg! Bleib nicht<br />

hier! Bitte, Lyra, geh doch endlich! Schnell!«<br />

Während sie versuchte, den zappelnden Pantalaimon festzuhalten,<br />

merkte sie, daß Iorek Byrnison sich erhob. Sie drehte<br />

sich um und sah eine Gestalt mit einer Laterne den Weg vom<br />

Dorf heruntereilen. Als die Gestalt sich ihnen auf Hörweite<br />

genähert hatte, hob sie die Laterne, damit sie ihr Gesicht erkennen<br />

konnten: Es war ein alter Mann mit einem breiten, runzligen<br />

Gesicht und Augen, die fast völlig in den unzähligen Falten<br />

verschwanden. Sein Dæmon war ein Polarfuchs.<br />

Er sagte etwas, und Iorek Byrnison übersetzte: »Er behauptet,<br />

dies sei nicht das einzige Kind dieser Art. Im Wald hat er noch<br />

mehr gesehen. Manchmal sterben sie nach kurzer Zeit, manchmal<br />

leben sie weiter. Dieses hier sei zäh, sagt er. Aber für das<br />

Kind selbst wäre es besser, wenn es sterben würde.«<br />

»Frage ihn, ob er mir seine Laterne leiht«, sagte Lyra.<br />

<strong>Der</strong> Bär sagte ein paar Worte, und sofort gab der Mann ihr<br />

unter eifrigem Nicken die Laterne. Lyra merkte, daß er vom<br />

Dorf heruntergekommen war, um ihr die Lampe zu bringen.<br />

Sie dankte ihm, und wieder nickte er und trat dann ein Stück<br />

zurück, weg von ihr, der Hütte und dem Bären.<br />

Plötzlich durchzuckte Lyra ein Gedanke: Wenn nun Roger<br />

das Kind war? Inständig betete sie, daß er es nicht sein möge.<br />

Pantalaimon, der wieder ein Hermelin war, klammerte sich an<br />

240


sie, die kleinen Krallen tief in ihren Anorak gebohrt. Sie hielt<br />

die Laterne hoch und machte einen Schritt in den Schuppen.<br />

Und dann sah sie, was die Oblations-Behörde tat und worin das<br />

Opfer bestand, das die Kinder bringen mußten.<br />

Ein kleiner Junge saß zusammengekauert an dem hölzernen<br />

Trockenregal, in dem in Reihen übereinander ausgenommene<br />

Fische hingen, steif gefroren wie Bretter. Er preßte ein Stück<br />

Fisch an seine Brust, so wie Lyra mit beiden Händen Pantalaimon<br />

umklammert hielt, ganz fest an ihr Herz gedrückt. Das<br />

Stück getrockneter Fisch war alles, was er besaß, denn er hatte<br />

keinen Dæmon mehr! Die Gobbler hatten ihn abgeschnitten!<br />

Das also bedeutete Interzision. <strong>Der</strong> Junge war ein abgeschnittenes<br />

Kind.<br />

241


Dreizehn<br />

<strong>Der</strong> Fechtkampf<br />

Fast hätte Lyra auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre weggerannt,<br />

oder sie hätte sich übergeben. Ein Mensch ohne Dæmon<br />

— das war wie jemand ohne Gesicht oder mit offenem Brustkorb<br />

und herausgerissenem Herzen: Etwas so Abartiges und<br />

Unheimliches gehörte in die nächtliche Welt der Spukgeschichten,<br />

aber nicht in die taghelle Welt der Vernunft.<br />

Lyra klammerte sich an Pantalaimon. Ihr wurde schwindlig<br />

und schlecht, und der kalte Schweiß, in den ihr Körper gebadet<br />

war, ließ sie in der Kälte der Nacht noch stärker frösteln.<br />

»Ratter«, sagte der Junge. »Habt ihr Ratter gefunden?«<br />

Lyra wußte genau, was er meinte.<br />

»Nein«, sagte sie mit einer Stimme, die genauso schwach und<br />

ängstlich klang, wie sie sich fühlte. »Wie heißt du?«<br />

»Tony Makarios«, antwortete er. »Wo ist Ratter?«<br />

»Ich weiß nicht…«, begann Lyra und schluckte heftig, um<br />

den Brechreiz zu unterdrücken. »Die Gobbler…« Aber sie<br />

konnte nicht weitersprechen. Sie mußte den Schuppen verlassen<br />

und sich draußen allein in den Schnee setzen. Nur daß sie<br />

natürlich nicht allein war, sie war nie allein, denn Pantalaimon<br />

war ja immer bei ihr. Von ihm abgeschnitten zu sein wie dieser<br />

kleine Junge, der für immer von seinem Ratter getrennt war,<br />

war das Grauenhafteste auf der Welt! Sie hörte sich schluchzen,<br />

242


und auch Pantalaimon wimmerte, und beide empfanden heftiges<br />

Mitleid und tiefe Trauer für den halben Jungen.<br />

Dann stand sie wieder auf.<br />

»Komm«, rief sie mit zitternder Stimme. »Komm raus, Tony.<br />

Wir bringen dich in Sicherheit.«<br />

Man hörte, wie sich im Fischerhaus etwas bewegte, dann<br />

erschien der Junge in der Tür, in der Hand noch immer den<br />

getrockneten Fisch. Er war zwar warm genug angezogen, aber<br />

sein dick wattierter Anorak aus Kohleseide und die Pelzstiefel<br />

sahen gebraucht aus und waren ihm zu groß. Im Freien, wo es<br />

aufgrund der letzten, blassen Schleier der Aurora und des<br />

schneebedeckten Bodens heller war, wirkte er noch verlorener<br />

und erbarmungswürdiger als zuvor im Laternenschein an den<br />

Fischregalen kauernd.<br />

<strong>Der</strong> Dörfler, der die Laterne gebracht hatte, war ein paar<br />

Schritte zurückgewichen und rief ihnen etwas zu.<br />

»Er sagt, du mußt den Fisch bezahlen«, übersetzte Iorek<br />

Byrnison.<br />

Am liebsten hätte Lyra dem Bären befohlen, den Mann zu<br />

töten, aber sie sagte nur: »Immerhin haben sie es uns zu verdanken,<br />

daß sie das Kind los sind. Dafür können sie ja wohl einen<br />

Fisch opfern.«<br />

<strong>Der</strong> Bär sprach mit dem Mann, woraufhin dieser zwar<br />

murrte, aber nicht widersprach. Lyra stellte die Laterne in den<br />

Schnee, nahm den abgeschnittenen Jungen an die Hand und<br />

führte ihn zum Bären. Tony folgte ihr unbeholfen, zeigte aber<br />

weder Erstaunen noch Angst beim Anblick des großen weißen<br />

Tieres, das so dicht vor ihnen stand, und als Lyra ihm auf Ioreks<br />

Rücken half, sagte er nur: »Ich weiß nicht, wo Ratter ist.«<br />

»Wir wissen es auch nicht, Tony«, sagte Lyra. »Aber wir werden…<br />

wir werden die Gobbler bestrafen. Das tun wir, ich verspreche<br />

es dir. Iorek, kann ich auch aufsteigen, oder sind wir dir<br />

dann zu schwer?«<br />

243


»Meine Rüstung wiegt viel mehr als zwei Kinder«, sagte<br />

Iorek.<br />

Daraufhin kletterte Lyra hinter Tony auf Ioreks Rücken und<br />

forderte Tony auf, sich an dem langen, steifen Fell festzuhalten.<br />

Pantalaimon kuschelte sich in ihrer warmen Kapuze an sie; er<br />

war voller Mitleid. Lyra wußte, er hätte am liebsten die Pfoten<br />

ausgestreckt und das kleine halbe Kind umarmt, es abgeleckt,<br />

liebkost und gewärmt, wie der Dæmon des Kindes es getan<br />

hätte, aber das war natürlich undenkbar und tabu, und er tat es<br />

nicht.<br />

Sie ritten durch das Dorf auf den Bergkamm zu, über den sie<br />

gekommen waren, und auf den Gesichtern der Dorfbewohner<br />

spiegelten sich Horror und ängstliche Erleichterung, als sie<br />

sahen, wie dieses grauenhaft verstümmelte Wesen von einem<br />

kleinen Mädchen und einem großen weißen Bären fortgebracht<br />

wurde.<br />

In Lyras Herzen kämpften Abscheu und Mitgefühl, doch das<br />

Mitgefühl siegte schließlich, und sie legte beschützend die<br />

Arme um Tonys schmächtige Gestalt. <strong>Der</strong> Rückweg zu den<br />

anderen war kälter, anstrengender und dunkler als der Hinweg,<br />

obwohl er Lyra wegen der vielen Dinge, die sie bewegten, kürzer<br />

vorkam. Iorek Byrnison zeigte keine Müdigkeit, und Lyra<br />

ging inzwischen so automatisch mit seinen Bewegungen mit,<br />

daß sie keine Gefahr lief herunterzufallen. Allerdings war es<br />

nicht ganz einfach, den kalten Körper in ihren Armen festzuhalten,<br />

denn er war zwar leicht, saß aber stocksteif vor ihr, ohne<br />

sich den Bewegungen des Bären anzupassen.<br />

Von Zeit zu Zeit murmelte er etwas.<br />

»Was hast du gesagt?« fragte Lyra.<br />

»Ich habe gefragt, ob er weiß, wo ich bin.«<br />

»Ja, ganz bestimmt. Er wird dich schon finden, und sonst finden<br />

wir ihn. Halt dich jetzt gut fest, Tony, es ist nicht mehr<br />

weit…«<br />

244


Mit großen Sprüngen jagte der Bär durch die Nacht. Erst als<br />

sie die Gypter eingeholt hatten, merkte Lyra, wie müde sie war.<br />

Die Schlitten hatten angehalten, damit die Hunde sich ausruhen<br />

konnten, und plötzlich waren die beiden Kinder umringt<br />

von Farder Coram, Lord Faa, Lee Scoresby und den anderen;<br />

alle kamen herbeigestürzt, um zu helfen, doch kaum hatten sie<br />

die Gestalt neben Lyra erblickt, wichen sie zurück und verstummten.<br />

Lyra war so steif, daß sie nicht einmal mehr die<br />

Arme vom Körper des Jungen lösen konnte; John Faa mußte sie<br />

sanft öffnen und Lyra herunterheben.<br />

»Du meine Güte, was ist das denn?« fragte er. »Lyra, Kind,<br />

was hast du da bloß gefunden?«<br />

»Er heißt Tony«, murmelte sie mit vor Kälte gefühllosen Lippen.<br />

»Sie haben seinen Dæmon abgeschnitten. Das waren die<br />

Gobbler.«<br />

Die Männer blieben ängstlich im Hintergrund stehen, aber<br />

da ergriff zum Staunen der erschöpften Lyra der Bär das Wort.<br />

»Schämt euch!« sagte er. »Seht, was dieses Mädchen getan<br />

hat! Ihr solltet euch schämen, wenn ihr nicht wenigstens so viel<br />

Mut habt wie sie.«<br />

»Du hast recht, Iorek Byrnison«, sagte John Faa. Dann befahl<br />

er: »Facht das Feuer wieder an, und wärmt etwas Suppe für das<br />

Kind auf. Für beide Kinder. Farder Coram, ist Euer Zelt aufgebaut?«<br />

»Ja, John. Bring das Mädchen rüber, bei mir kann sie sich aufwärmen…«<br />

»Und der kleine Junge«, sagte jemand, »er soll auch etwas<br />

essen und sich wärmen, obwohl…«<br />

Lyra wollte John Faa von den Hexen erzählen, aber alle<br />

waren so beschäftigt, und sie war todmüde. In dem ganzen<br />

Durcheinander aus leuchtenden Laternen, Rauchschwaden<br />

und hin und her eilenden Gestalten mußte sie wohl eingenickt<br />

sein, denn plötzlich spürte sie, wie Pantalaimons Hermelin­<br />

245


zähne sanft an ihrem Ohr knabberten, und als sie die Augen<br />

öffnete, sah sie in das Gesicht des Bären wenige Zentimeter vor<br />

sich.<br />

»Die Hexen«, flüsterte Pantalaimon. »Ich habe Iorek gerufen.«<br />

»Ach ja«, murmelte sie schlaftrunken. »Vielen Dank, Iorek,<br />

daß du mich hingebracht hast und wieder zurück. Vielleicht<br />

vergesse ich, Lord Faa von den Hexen zu erzählen. Sag du es ihm<br />

lieber.«<br />

Sie hörte noch, wie der Bär zustimmte, dann schlief sie fest<br />

ein.<br />

Als sie aufwachte, war es bereits so hell, wie es in diesen Breiten<br />

überhaupt werden konnte. Im Südosten war der Himmel fahl,<br />

und die Luft war von grauem Nebel erfüllt, durch den die Gypter<br />

wie unförmige Geister huschten, während sie die Schlitten<br />

beluden und die Hunde anschirrten.<br />

Lyra lag unter einem Haufen Felle in Farder Corams Zelt,<br />

von wo aus sie alles beobachten konnte. Pantalaimon war schon<br />

hellwach und probierte gerade die Gestalt eines Polarfuchses<br />

aus, besann sich dann aber doch wieder auf sein Lieblingstier,<br />

das Hermelin.<br />

Iorek Byrnison schlief im Schnee neben dem Schlitten, den<br />

Kopf auf seine mächtigen Tatzen gelegt. Farder Coram war<br />

jedoch bereits auf den Beinen, und kaum sah er Pantalaimon<br />

auftauchen, kam er angehumpelt, um Lyra zu wecken.<br />

Als sie ihn kommen sah, setzte sie sich auf und sagte: »Farder<br />

Coram, jetzt weiß ich, was ich gestern nicht verstehen konnte!<br />

Das Alethiometer hat doch dauernd Vogel und nicht gesagt, und<br />

ich habe nicht kapiert, warum. Aber natürlich sollte das kein<br />

Dæmon heißen, ich konnte mir das nur nicht vorstellen… Was<br />

ist denn?«<br />

»Lyra, es tut mir leid, daß ich dir das nach allem, was du getan<br />

246


hast, sagen muß, aber der kleine Junge ist vor einer Stunde<br />

gestorben. Er blieb nirgendwo sitzen, sondern lief die ganze<br />

Zeit ruhelos umher und fragte nach seinem Dæmon, wo er<br />

wäre, ob er bald käme und so weiter. Und die ganze Zeit hielt er<br />

diesen gedörrten Fisch umklammert, als ob… Ach, Kind, ich<br />

kann es nicht aussprechen. Aber zuletzt machte er einfach die<br />

Augen zu und wurde ganz ruhig, und da sah er zum ersten Mal<br />

friedlich aus, wie jeder andere Tote, dessen Dæmon sich auf<br />

natürlichem Wege aufgelöst hat. Wir haben versucht, ein Grab<br />

für ihn zu schaufeln, aber der Boden ist steinhart. Deshalb hat<br />

John Faa befohlen, ein Feuer anzuzünden. Er soll wegen der<br />

Aasfresser verbrannt werden.<br />

Du warst tapfer, Kind, und hast ein gutes Werk getan, ich bin<br />

stolz auf dich. Jetzt wissen wir, zu welcher Niedertracht diese<br />

Menschen fähig sind, und sehen klarer denn je, was wir tun<br />

müssen. Du mußt dich ausruhen und etwas essen, denn gestern<br />

nacht bist du sofort eingeschlafen, und bei diesen Temperaturen<br />

mußt du essen, damit du nicht krank wirst…«<br />

Er machte sich in ihrer Nähe zu schaffen, zog die Felle<br />

zurecht, straffte die Schnüre, mit denen die Ladung auf dem<br />

Schlitten befestigt war, und ließ die Hundeleinen durch seine<br />

Hände laufen, um sie zu entwirren.<br />

»Farder Coram, wo ist der kleine Junge jetzt? Haben sie ihn<br />

schon verbrannt?«<br />

»Nein, Lyra, er liegt dort hinten.«<br />

»Ich möchte zu ihm gehen und ihn sehen.«<br />

Das konnte er ihr nicht verwehren, denn sie hatte schon<br />

schlimmere Dinge als einen Toten gesehen, und vielleicht<br />

beruhigte es sie ja auch. Lyra stapfte also mit Pantalaimon, der<br />

als Schneehase zaghaft neben ihr herhoppelte, an den Schlitten<br />

vorbei auf eine Stelle zu, an der ein paar Männer Reisig aufhäuften.<br />

Die Leiche des Jungen lag am Wegrand unter einer karierten<br />

247


Decke. Lyra kniete nieder und hob die Decke mit ihren Fäustlingen<br />

hoch. Einer der Männer wollte sie daran hindern, aber<br />

die anderen schüttelten die Köpfe. Pantalaimon drängte sich<br />

ganz dicht an Lyra, während sie auf das ausgemergelte Gesicht<br />

hinabsah. Lyra zog die Hand aus dem Handschuh und strich<br />

über die Augen des Jungen. Sie waren kalt wie Marmor. Farder<br />

Coram hatte recht gehabt; der arme kleine Tony Makarios<br />

unterschied sich jetzt nicht mehr von Menschen, die zusammen<br />

mit ihren Dæmonen gestorben waren. Wenn ihr jemals Pantalaimon<br />

weggenommen würde! Sie nahm ihn in die Arme und<br />

preßte ihn an sich, als wollte sie ihn in ihr Herz hineindrücken.<br />

Und alles, was der kleine Tony besaß, war dieses jämmerliche<br />

Stück Fisch…<br />

Wo war es?<br />

Sie zog die Decke fort. Es war verschwunden.<br />

Sie sprang auf die Beine und funkelte wütend die umstehenden<br />

Männer an.<br />

»Wo ist sein Fisch?«<br />

Die Männer hielten verwirrt mir ihrer Arbeit inne, unsicher,<br />

was Lyra meinte; einige ihrer Dæmonen verstanden jedoch und<br />

warfen sich vielsagende Blicke zu. Dann begann einer der Männer<br />

unsicher zu grinsen.<br />

»Lacht bloß nicht«, fauchte Lyra. »Ich reiße euch bei lebendigem<br />

Leib die Lungen heraus, wenn ihr lacht! Er hatte nur diesen<br />

alten, getrockneten Fisch zum Liebhaben und Trösten —<br />

statt seines Dæmons! Wer hat ihm den Fisch weggenommen?<br />

Wo ist er?«<br />

Sie merkte nicht, daß sich Pantalaimon in einen fauchenden<br />

Schneeleoparden verwandelt hatte und aussah wie der Dæmon<br />

von Lord Asriel; für sie gab es nur noch Recht und Unrecht.<br />

»Immer sachte, Lyra«, sagte einer der Männer.<br />

»Wer hat ihn weggenommen?« brauste sie wieder auf, so<br />

zornig, daß der Gypter vor Schreck einen Schritt zurückwich.<br />

248


»Ich wußte das nicht«, sagte ein anderer Mann bedauernd.<br />

»Ich dachte, er hätte ihn nur zum Essen dabeigehabt. Ich habe<br />

ihn aus seiner Hand genommen, weil ich dachte, es gehöre sich<br />

bei einem Toten so. Nur deshalb, Lyra.«<br />

»Und wo ist er?«<br />

Dem Mann war sichtlich unbehaglich zumute. »Ich hatte<br />

doch keine Ahnung, wozu er ihn brauchte. Ich habe ihn meinen<br />

Hunden gegeben. Ich bitte dich vielmals um Entschuldigung.«<br />

»Da mußt du schon ihn bitten, nicht mich«, sagte Lyra kurz<br />

und wandte sich ab. Sie kniete wieder nieder und legte ihre<br />

Hand auf die eisige Wange des toten Kindes.<br />

Dann kam ihr eine Idee, und sie durchwühlte ihre Pelze. Als<br />

sie den Anorak aufmachte, spürte sie die schneidende Kälte,<br />

aber sie hatte schnell gefunden, was sie suchte. Sie nahm eine<br />

Goldmünze aus ihrem Portemonnaie, dann mummte sie sich<br />

rasch wieder ein.<br />

»Ich hätte gern dein Messer«, sagte sie zu dem Mann, der den<br />

Fisch genommen hatte, und als er es ihr gab, fragte sie Pantalaimon:<br />

»Wie hieß er noch mal?«<br />

Pantalaimon verstand sofort und sagte: »Ratter.«<br />

Lyra hielt die Münze mit der linken, in einem dicken Fäustling<br />

steckenden Hand fest, packte das Messer wie einen Stift<br />

und ritzte den Namen des verlorenen Dæmons in das Gold.<br />

»So wird es bei den Wissenschaftlern von Jordan gemacht,<br />

hoffentlich ist es auch bei dir richtig«, flüsterte sie dem toten<br />

Jungen zu. Sie stemmte seine Zähne auseinander, um ihm die<br />

Münze in den Mund zu schieben. Es war schwer, aber sie<br />

schaffte es und drückte die Kiefer anschließend wieder zusammen.<br />

Dann gab sie dem Mann das Messer zurück, drehte sich um<br />

und ging im Morgenlicht zu Farder Coram zurück.<br />

Farder Coram nahm einen Becher mit Suppe vom Feuer und<br />

reichte ihn Lyra; gierig schlürfte sie die heiße Flüssigkeit.<br />

249


»Was ist mit den Hexen, Farder Coram?« fragte sie. »Ob Ihre<br />

Hexe wohl auch dabei war?«<br />

»Meine Hexe? Soweit würde ich nicht gehen, Lyra. Wer weiß,<br />

wohin sie fliegen. Im Leben von Hexen spielen die unterschiedlichsten<br />

Dinge eine Rolle, Dinge, die für uns unsichtbar sind,<br />

geheimnisvolle Krankheiten, denen sie zum Opfer fallen, über<br />

die wir aber nur mit den Achseln zucken, Kriege, deren Ursachen<br />

wir nicht annähernd verstehen, Freude und Trauer, die<br />

mit der Blüte Heiner Pflanzen in der Tundra zusammenhängen…<br />

Ach, ich wünschte, ich hätte die Hexen fliegen sehen,<br />

Lyra. Wie hätte ich diesen Anblick genossen. Jetzt trink deine<br />

Suppe leer. Willst du noch mehr? Es gibt auch noch Pfannkuchen.<br />

Iß, Kind, denn wir brechen bald auf.«<br />

Die Mahlzeit weckte Lyras Lebensgeister, und bald begann<br />

auch das Eis auf ihrer Seele zu tauen. Zusammen mit den anderen<br />

ging sie zum Scheiterhaufen, auf dem das abgeschnittene<br />

Kind lag. Bei John Faas Gebeten senkte sie den Kopf und schloß<br />

die Augen. Anschließend besprengten die Männer den Scheiterhaufen<br />

mit Kohlenspiritus und hielten brennende Streichhölzern<br />

daran. Sofort loderten die Flammen auf.<br />

Sobald sie sicher waren, daß der Junge völlig verbrannt war,<br />

machten sie sich wieder auf den Weg. Es war eine gespenstische<br />

Reise. Nach kurzer Zeit begann es zu schneien, und bald<br />

bestand die Welt nur noch aus den grauen Schatten der vorauslaufenden<br />

Hunde, dem Schlingern und Knarren der Schlitten,<br />

der beißenden Kälte und einem Meer durcheinanderwirbelnder<br />

Flocken, die kaum dunkler waren als der Himmel und<br />

kaum heller als der Boden.<br />

Mit erhobenen Schwänzen und dampfenden Atemwolken<br />

vor den Schnauzen rannten die Hunde unermüdlich weiter<br />

durch das Schneegestöber in Richtung Norden. Die fahle Mittagsstunde<br />

kam und ging, und dann versank die Welt wieder in<br />

der Dämmerung. In einer Mulde zwischen den Bergen mach­<br />

250


ten sie Rast, um zu essen, zu trinken, auszuruhen und sich zu<br />

orientieren. Während John Faa mit Lee Scoresby besprach, wie<br />

man den Ballon am sinnvollsten einsetzen konnte, fiel Lyra der<br />

fliegende Spion ein, und sie erkundigte sich bei Farder Coram<br />

nach der Tabakdose, in der er die Kreatur eingesperrt hatte.<br />

»Ich habe sie gut verstaut«, sagte er. »Sie ist ganz unten in diesem<br />

Seesack, aber da gibt es überhaupt nichts zu sehen, denn<br />

noch an Bord des Schiffes habe ich den Deckel verlötet, wie ich<br />

es ja angekündigt hatte. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung,<br />

was wir mit dem Spion machen sollen; vielleicht können wir<br />

ihn in eine Feuermine werfen und ihn so loswerden. Aber du<br />

brauchst dir keine Sorgen zu machen, Lyra. Solange ich die<br />

Dose habe, kann dir nichts passieren.«<br />

Bei der ersten Gelegenheit steckte Lyra den Arm tief in den<br />

Seesack aus steifgefrorenem Leinen und holte die kleine Dose<br />

heraus. Sie spürte das Summen, noch ehe sie es hörte.<br />

Während Farder Coram sich mit den anderen Anführern<br />

besprach, brachte sie die Dose zu Iorek Byrnison und erklärte<br />

ihm ihren Plan. Die Idee war ihr gekommen, als ihr einfiel, wie<br />

mühelos der Bär das Blech der Motorverkleidung zerschnitten<br />

hatte.<br />

Iorek hörte sie an, nahm dann den Deckel einer Keksdose<br />

und verbog ihn geschickt zu einem kleinen, flachen Zylinder.<br />

Sie staunte über seine Fingerfertigkeit; anders als die meisten<br />

Bären hatten er und seine Artgenossen den anderen Klauen<br />

entgegengesetzte Daumenklauen, mit denen sie Gegenstände<br />

festhalten und bearbeiten konnten; außerdem besaß er ein<br />

angeborenes Gespür für die Härte und Biegsamkeit von Metall.<br />

Er brauchte das Blech nur ein- oder zweimal hochzunehmen<br />

und ein paarmal hin- und herzubiegen, dann kerbte er mit der<br />

Klaue einen Kreis ein, um es an dieser Stelle zu falzen. Er<br />

knickte die Enden so oft, bis sie zu einem Rand umgebogen<br />

waren, und fertigte anschließend noch einen Deckel an, der<br />

251


genau daraufpaßte. Auf Lyras Bitte hin machte er zwei Dosen:<br />

eine von der Größe der ursprünglichen Tabakdose und eine, die<br />

so groß war, daß die andere Dose hineinpaßte und außerdem<br />

noch Fell, Moos und Flechten, um den Lärm zu ersticken. Als<br />

die Dose verschlossen war, hatte sie die gleiche Größe und Form<br />

wie das Alethiometer.<br />

Als das erledigt war, setzte sich Lyra neben Iorek Byrnison,<br />

der an einer steinhart gefrorenen Rentierkeule zu nagen<br />

begann.<br />

»Iorek«, sagte sie, »ist es eigentlich schwer, keinen Dæmon zu<br />

haben? Bist du nicht manchmal einsam?«<br />

»Einsam?« fragte er. »Ich weiß nicht. Die Leute sagen auch,<br />

hier sei es kalt, aber ich weiß nicht, was Kälte ist, denn ich friere<br />

nie. Genausowenig weiß ich, was Einsamkeit bedeutet. Bären<br />

sind nun mal allein.«<br />

»Und die Bären von Svalbard?« fragte sie. »Es gibt doch Tausende<br />

von ihnen, oder? Jedenfalls habe ich das gehört.«<br />

Iorek antwortete nicht, sondern riß mit einem splitternden<br />

Geräusch, als breche ein Baum auseinander, das Gelenk auseinander.<br />

»Entschuldige, Iorek«, sagte Lyra. »Hoffentlich bist du jetzt<br />

nicht beleidigt. Weißt du, ich will einfach wegen meines Vaters<br />

soviel wie möglich über die Bären von Svalbard wissen.«<br />

»Wer ist dein Vater?«<br />

»Lord Asriel. Und er ist doch auf Svalbard gefangen. Ich<br />

glaub, die Gobbler haben ihn verraten und den Bären Geld<br />

gegeben, damit sie ihn bewachen.«<br />

»Das weiß ich nicht. Ich gehöre nicht zu den Bären von Svalbard.«<br />

»Ich dachte, du wärst einer…«<br />

»Nein. Ich habe zu ihnen gehört, aber jetzt nicht mehr. Ich<br />

wurde verbannt, weil ich einen anderen Bären getötet habe. Zur<br />

Strafe wurden mir mein Rang, mein Vermögen und meine<br />

252


Rüstung weggenommen, und ich wurde dazu verurteilt, am<br />

Rande der menschlichen Welt zu leben. Ich kämpfe, wenn mich<br />

jemand braucht, oder verrichte grobe Arbeiten und ertränke<br />

meine Erinnerungen in Schnaps.«<br />

»Warum hast du einen Bären umgebracht?«<br />

»Aus Zorn. Eigentlich legen wir Bären Auseinandersetzungen<br />

anders bei, aber ich habe die Beherrschung verloren. Deshalb<br />

habe ich ihn getötet und bin zu Recht bestraft worden.«<br />

»Du warst also reich und mächtig«, sagte Lyra staunend.<br />

»Genau wie mein Vater, Iorek! Ihm ist nämlich nach meiner<br />

Geburt dasselbe passiert. Er hat auch jemanden getötet, und<br />

deshalb hat man ihm sein ganzes Vermögen weggenommen.<br />

Das war allerdings lange bevor er Gefangener auf Svalbard<br />

wurde. Ich weiß überhaupt nichts über Svalbard, außer, daß es<br />

im äußersten Norden liegt… Ist es eigentlich ganz von Eis<br />

bedeckt? Wie kommt man dahin? Über das zugefrorene<br />

Meer?«<br />

»Nicht von dieser Küste aus, denn im Süden ist das Meer nur<br />

manchmal zugefroren. Man brauchte auf jeden Fall ein Boot.«<br />

»Oder vielleicht einen Ballon.«<br />

»Oder einen Ballon, ja, aber dazu braucht man den richtigen<br />

Wind.«<br />

Er nagte weiter an der Rentierkeule, und Lyra, die wieder an<br />

die Hexen am nächtlichen Himmel denken mußte, hatte eine<br />

kühne Idee, aber sie sagte lieber nichts davon. Statt dessen fragte<br />

sie Iorek Byrnison über Svalbard aus und lauschte gespannt, als<br />

er ihr von den sich langsam vorwärts schiebenden Gletschern<br />

erzählte, von Felsen und Eisschollen, auf denen Hunderte von<br />

Walrossen mit ihren großen Hauern lagen, vom Meer, das vor<br />

Seehunden wimmelte, von Narwalen, die mit langen weißen<br />

Stoßzähnen durch die eisige Wasseroberfläche stachen, von der<br />

langen, zerklüfteten Küste und den über tausend Fuß hohen<br />

Klippen, auf denen die abscheulichen Klippenalpe hausten, die<br />

253


ab und zu auf Beutesuche zum Wasser herunterstießen, und<br />

von Kohlegruben und Feuerminen, in denen Bärenschmiede<br />

gewaltige Eisenplatten aus den Felsen hämmerten und zu<br />

Rüstungen vernieteten…<br />

»Aber wenn sie dir deine Rüstung weggenommen haben,<br />

Iorek, woher hast du denn dann diese?«<br />

»Die habe ich mit eigenen Händen in Nowaja Semlja aus<br />

Himmelseisen gemacht. Davor war ich nur ein halber Bär.«<br />

»Also können sich Bären ihre Seele selbst machen…«, sagte<br />

Lyra. Es gab so vieles auf der Welt, wovon sie nichts wußte!<br />

»Wer ist der König von Svalbard?« fragte sie. »Oder haben<br />

Bären keinen König?«<br />

»Er heißt Iofur Raknison.«<br />

<strong>Der</strong> Name löste in Lyras Kopf ein schwaches Echo aus. Wo<br />

hatte sie ihn schon einmal gehört? Jedenfalls weder aus dem<br />

Munde eines Bären noch aus dem eines Gypters. Die Stimme,<br />

die ihn ausgesprochen hatte, war die eines Wissenschaftlers<br />

gewesen, präzise, pedantisch und überheblich; eigentlich<br />

konnte es nur eine Stimme aus Jordan College sein. Lyra versuchte,<br />

sich zu erinnern. Es lag ihr auf der Zunge!<br />

Und dann fiel es ihr ein: das Ruhezimmer! Die Wissenschaftler<br />

hatten Lord Asriel zugehört, und der Palmer-Professor<br />

hatte etwas von Iofur Raknison erzählt. Er hatte das Wort<br />

Panserbjørne gebraucht, das Lyra damals noch nicht kannte, und<br />

sie hatte auch nicht gewußt, daß Iofur Raknison ein Bär war.<br />

Aber was hatte er bloß gesagt? Daß der König von Svalbard eitel<br />

war und man ihm schmeicheln konnte. Aber da war noch etwas<br />

anderes gewesen, wenn sie sich bloß erinnern könnte, aber seitdem<br />

war ja so viel geschehen…<br />

»Wenn dein Vater ein Gefangener der Bären von Svalbard<br />

ist«, sagte Iorek Byrnison, »hat er keine Chance zu entkommen.<br />

Auf Svalbard gibt es kein Holz, um ein Boot zu bauen. Andererseits,<br />

wenn er ein Adliger ist, wird er auch gut behandelt. Dann<br />

254


ekommt er ein Haus und einen Diener und genügend Essen<br />

und Brennstoff.«<br />

»Kann man die Bären denn überhaupt besiegen, Iorek?«<br />

»Nein.«<br />

»Aber vielleicht überlisten?«<br />

Er hörte auf, am Knochen zu nagen, und sah sie an. Dann<br />

sagte er: »Man kann Panzerbären nicht besiegen. Meine<br />

Rüstung kennst du ja schon, aber nun schau dir mal meine<br />

Waffen an.«<br />

Er ließ das Fleisch fallen und streckte ihr seine Tatzen mit<br />

den Innenflächen nach oben entgegen. Die Ballen waren von<br />

einer mehrere Zentimeter dicken Hornhaut bedeckt, und jede<br />

der messerscharfen Klauen war so lang wie Lyras Hand oder<br />

länger. Iorek ließ Lyra staunend mit den Fingern darüberstreichen.<br />

»Ein Schlag reicht aus, um den Schädel eines Seehundes zu<br />

zertrümmern«, sagte er. »Oder einem Menschen das Rückgrat<br />

zu brechen oder ihm ein Glied auszureißen. Und beißen kann<br />

ich auch. Hättest du mich in Trollesund nicht zurückgehalten,<br />

hätte ich den Kopf des Mannes wie ein Ei zerquetscht. Soviel zu<br />

meiner Kraft, und jetzt zu den Tricks. Du kannst einen Bären<br />

nicht hereinlegen. Willst du den Beweis? Nimm einen Stock<br />

und fechte mit mir.«<br />

Begierig, es auszuprobieren, brach Lyra einen Zweig von<br />

einem dick verschneiten Busch ab, entfernte alle Triebe und<br />

ließ ihn probeweise wie einen Degen durch die Luft sausen.<br />

Iorek Byrnison setzte sich auf die Hinterbeine und wartete mit<br />

in den Schoß gelegten Vorderpfoten. Als Lyra fertig war, trat sie<br />

vor ihn, wollte aber nicht zustechen, weil er so friedlich dasaß.<br />

Sie fuchtelte also nur mit dem Zweig herum und täuschte<br />

Angriffe nach rechts und links vor, ohne Iorek wirklich treffen<br />

zu wollen. Er rührte sich nicht. Sie wiederholte ihre Manöver<br />

ein paarmal, aber er zuckte nicht einmal zusammen.<br />

255


Schließlich beschloß sie, ihm tatsächlich einen Stoß zu versetzen,<br />

aber nicht fest, sie wollte einfach nur mit dem Stock seinen<br />

Bauch anstupsen. Blitzschnell streckte er die Tatze aus und<br />

schlug den Stecken zur Seite.<br />

Überrascht versuchte sie es erneut — mit dem gleichen<br />

Ergebnis. Iorek bewegte sich viel schneller und sicherer als sie.<br />

Nun versuchte sie ihn ernsthaft zu treffen und schwang den<br />

Stock wie ein Florett, aber kein einziges Mal landete er auf seinem<br />

Körper. <strong>Der</strong> Bär schien im voraus zu wissen, was sie vorhatte:<br />

Wenn sie nach seinem Kopf stieß, fegte die große Tatze<br />

den Stock weg, und wenn sie nur einen Angriff vortäuschte,<br />

bewegte Iorek sich gar nicht erst.<br />

Erbittert stach, hieb, stieß und prügelte sie in einer wilden<br />

Attacke auf ihn ein, aber was sie auch anstellte, sie kam einfach<br />

nicht an seinen Tatzen vorbei. Sie schienen überall gleichzeitig<br />

zu sein, parierten jeden Stoß und schützten immer genau die<br />

richtige Stelle.<br />

Schließlich hielt sie eingeschüchtert inne. Sie schwitzte in<br />

ihren Pelzen, war außer Atem und erschöpft, und der Bär saß<br />

immer noch völlig ungerührt da. Selbst bei einem echten<br />

Schwert mit tödlicher Spitze hätte er keinen Kratzer abbekommen.<br />

»Ich wette, du könntest sogar Kugeln abfangen«, sagte sie<br />

und warf den Stock weg. »Wie schaffst du das bloß?«<br />

»Ich bin eben kein Mensch«, erwiderte Iorek. »Und deshalb<br />

könntest du auch nie einen Bären reinlegen. Tricks und Täuschungen<br />

sind für uns etwas so Sichtbares wie für andere Arme<br />

und Beine. Wir haben einen Blick, den die Menschen verlernt<br />

haben. Aber du kennst das ja, schließlich kannst du den Symboldeuter<br />

lesen.«<br />

»Das ist doch nicht dasselbe«, sagte Lyra. <strong>Der</strong> Bär flößte ihr<br />

jetzt mehr Angst ein als bei seinem Wutanfall.<br />

»Es ist dasselbe«, sagte er. »Soviel ich weiß, können Erwach­<br />

256


sene ihn nicht lesen. Was ich für Menschen bin, die gegen mich<br />

kämpfen, bist du mit dem Alethiometer für Erwachsene.«<br />

»Vielleicht hast du recht«, gab sie verwirrt und widerstrebend<br />

zu. »Heißt das etwa, ich kann das Alethiometer nicht<br />

mehr lesen, wenn ich älter bin?«<br />

»Wer weiß. Ich habe nie zuvor ein solches Instrument gesehen,<br />

geschweige denn jemanden, der es hätte lesen können.<br />

Vielleicht bist du ja anders als die anderen.«<br />

Er ließ sich wieder auf alle viere fallen und setzte seine Mahlzeit<br />

fort. Lyra hatte ihre Pelze aufgemacht, doch jetzt spürte sie<br />

die schneidende Kälte und mußte sie wieder zumachen. Sie war<br />

zutiefst verunsichert und hätte am liebsten an Ort und Stelle<br />

das Alethiometer befragt, aber dazu war es zu kalt, außerdem<br />

riefen die anderen nach ihr, denn es war Zeit aufzubrechen. Sie<br />

nahm die beiden Dosen, die Iorek Byrnison gemacht hatte,<br />

stopfte die leere in Farder Corams Seesack und die mit dem<br />

fliegenden Spion zusammen mit dem Alethiometer in ihre<br />

Bauchtasche. Sie war froh, daß es weiterging.<br />

Die Anführer hatten mit Lee Scoresby ausgemacht, bei der<br />

nächsten Rast den Ballon aufzublasen, damit er die Gegend aus<br />

der Luft auskundschaften konnte. Natürlich brannte Lyra darauf,<br />

mit ihm zu fliegen, und natürlich durfte sie nicht, aber sie<br />

fuhr auf dem Weg zur nächsten Rast auf seinem Schlitten mit<br />

und löcherte ihn mit Fragen.<br />

»Mr. Scoresby, wie würden Sie nach Svalbard fliegen?«<br />

»Man brauchte ein Luftschiff mit Gasmotor, zum Beispiel<br />

einen Zeppelin, oder man brauchte einen kräftigen Südwind.<br />

Aber Teufel noch mal, ich würde es nicht wagen. Kennst du<br />

Svalbard? Es ist das trostloseste, ödeste, unwirtlichste und gottverlassenste<br />

Nirgendwo.«<br />

»Ich habe bloß überlegt, ob Iorek Byrnison vielleicht zurück<br />

will…«<br />

257


»Man würde ihn töten. Iorek ist verbannt. Sobald er einen<br />

Fuß auf die Insel setzt, würden die Bären ihn in Stücke reißen.«<br />

»Wie wird Ihr Ballon eigentlich aufgeblasen, Mr. Scoresby?«<br />

»Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich kann Wasserstoff herstellen,<br />

indem ich Schwefelsäure auf Eisenspäne gieße. Das dabei freigesetzte<br />

Gas fange ich auf und fülle damit nach und nach den<br />

Ballon. Für die andere Möglichkeit müßte man in der Nähe<br />

einer Feuermine eine Erdgasquelle finden. Unter dem Boden<br />

hier gibt es jede Menge Gas und außerdem Erdöl. Notfalls<br />

könnte ich Gas aus Erdöl oder Kohle gewinnen, das ist nicht<br />

schwer. Aber am schnellsten geht es mit Erdgas. Bei einem<br />

guten Loch könnte man den Ballon in einer Stunde füllen.«<br />

»Wie viele Leute können Sie mitnehmen?«<br />

»Sechs, wenn es sein muß.«<br />

»Könnten Sie Iorek Byrnison samt seiner Rüstung mitnehmen?«<br />

»Das habe ich schon getan. Ich hab ihn einmal vor den Tataren<br />

gerettet. Sie hatten ihm den Rückzug abgeschnitten und<br />

wollten ihn aushungern — das war während des Tunguska-<br />

Feldzuges; ich bin hingeflogen und hab ihn da rausgeholt. Das<br />

klingt jetzt einfach, aber Teufel noch mal, ich mußte das<br />

Gewicht des alten Burschen schätzen. Und dann mußte ich darauf<br />

hoffen, daß ich unter der Eisburg, die er sich gebaut hatte,<br />

Erdgas finden würde. Aber da ich aus der Luft die Art des<br />

Bodens erkennen konnte, war ich mir eigentlich ziemlich<br />

sicher. Immerhin, um zu landen, muß ich Gas aus dem Ballon<br />

ablassen, aufsteigen kann ich aber nur wieder, wenn ich neues<br />

nachfülle. Na ja, jedenfalls haben wir es geschafft, mit Rüstung<br />

und allem.«<br />

»Wissen Sie, daß die Tataren Löcher in die Köpfe von Menschen<br />

bohren, Mr. Scoresby?«<br />

»Ja, natürlich. Das machen sie seit Tausenden von Jahren. Im<br />

Tunguska-Feldzug haben wir fünf Tataren gefangengenom­<br />

258


men, von denen drei ein Loch im Schädel hatten. Einer hatte<br />

sogar zwei.«<br />

»Sie bohren sich die Löcher gegenseitig in den Kopf?«<br />

»Allerdings. Zuerst schneiden sie einen Halbkreis in die<br />

Kopfhaut, damit sie einen Hautlappen hochklappen und den<br />

Knochen freilegen können. Dann schneiden sie ein kleines,<br />

kreisförmiges Stück Knochen aus dem Schädel, ganz vorsichtig,<br />

damit sie das Gehirn nicht beschädigen, und danach nähen sie<br />

die Kopfhaut wieder an.«<br />

»Ich dachte, sie tun das nur bei ihren Feinden!«<br />

»Teufel, nein! Das ist ein großes Privileg. Sie tun es, damit die<br />

Götter zu ihnen sprechen können.«<br />

»Haben Sie schon mal was von einem Forscher namens Stanislaus<br />

Grumman gehört?«<br />

»Grumman? Aber sicher. Ich traf einen aus seiner Mannschaft,<br />

als ich vor zwei Jahren über den Jenissei flog. Damals<br />

wollte er gerade zu den Tatarenstämmen da oben, um eine<br />

Weile bei ihnen zu leben. Ich glaube übrigens, er hatte auch ein<br />

solches Loch im Schädel, als Teil eines Initiationsritus. Aber der<br />

Mann, der mir davon erzählte, wußte nicht so genau Bescheid.«<br />

»Also… wenn er so was wie ein Ehrenbürger der Tataren war,<br />

hätten sie ihn doch bestimmt nicht getötet, oder?«<br />

»Wieso getötet? Ist er denn tot?«<br />

»Ja, ich habe seinen Kopf gesehen«, sagte Lyra stolz. »Mein<br />

Vater hat ihn gefunden. Ich habe ihn gesehen, als er ihn den<br />

Wissenschaftlern von Jordan College zeigte. Man hat ihn skalpiert<br />

und alles.«<br />

»Wer hat ihn skalpiert?«<br />

»Na ja, die Tataren. Das dachten jedenfalls die Wissenschaftler…<br />

Aber vielleicht stimmt es gar nicht.«<br />

»Vielleicht war es gar nicht der Kopf von Grumman«, sagte<br />

Lee Scoresby. »Vielleicht wollte dein Vater nur, daß die Wissenschaftler<br />

das glaubten.«<br />

259


»Könnte sein«, meinte Lyra nachdenklich. »Er wollte Geld<br />

von ihnen.«<br />

»Und gaben sie es ihm, als sie den Kopf sahen?«<br />

»Ja.«<br />

»Guter Trick. Die Leute erschrecken, wenn sie so was sehen,<br />

und sehen lieber nicht so genau hin.«<br />

»Vor allem Wissenschaftler«, sagte Lyra.<br />

»Hm, das weißt du besser als ich. Aber wenn es wirklich<br />

Grummans Kopf war, wette ich, daß es nicht die Tataren waren,<br />

die ihn skalpiert haben. Sie skalpieren ihre Feinde, nicht ihre<br />

Stammesangehörigen, und Grumman hatten sie ja in ihren<br />

Stamm aufgenommen.«<br />

Lyra dachte über all das nach, während sie weiterfuhren. Um<br />

sie herum gingen die unerklärlichsten Dinge vor: die grausamen<br />

Gobbler und ihre Angst vor dem Staub, die Stadt in der<br />

Aurora, ihr Vater in Svalbard, ihre Mutter… Welche Rolle<br />

spielte sie selbst dabei? Oder das Alethiometer oder die nordwärts<br />

fliegenden Hexen? Und der arme kleine Tony Makarios,<br />

der aufgezogene fliegende Spion und Iorek Byrnison mit seinem<br />

unheimlichen Geschick beim Fechten…<br />

Sie schlief ein. Und mit jeder Stunde kamen sie Bolvangar<br />

näher.<br />

260


Vierzehn<br />

Die Lichter von Bolvangar<br />

Die Tatsache, daß die Gypter noch nichts von Mrs. Coulter<br />

gehört oder gesehen hatten, beunruhigte Farder Coram und<br />

John Faa mehr, als sie Lyra merken ließen; sie wußten nicht, daß<br />

auch Lyra sich Sorgen machte. Lyra fürchtete sich vor Mrs.<br />

Coulter und mußte oft an sie denken. Im Unterschied zu Lord<br />

Asriel, der jetzt ihr Vater war, konnte sie Mrs. Coulter nicht als<br />

Mutter akzeptieren. Schuld daran war Mrs. Coulters Dæmon,<br />

der <strong>goldene</strong> Affe, den Pantalaimon so heftig verabscheute und<br />

der, wie Lyra vermutete, ihr nachspioniert und das Alethiometer<br />

entdeckt hatte.<br />

Außerdem waren sie hinter ihr her; es wäre dumm, etwas<br />

anderes zu glauben — der fliegende Spion war Beweis genug.<br />

Doch als der Feind dann zuschlug, war es nicht Mrs. Coulter.<br />

Die Gypter hatten beschlossen, anzuhalten und die Hunde<br />

ausruhen zu lassen, ein paar Schlitten zu reparieren und ihre<br />

Waffen für den Angriff auf Bolvangar vorzubereiten. John Faa<br />

hoffte, daß Lee Scoresby Erdgas zum Füllen des kleineren Ballons<br />

finden würde — offenbar hatte er zwei Ballons — und aufsteigen<br />

konnte, um die Gegend zu erkunden. <strong>Der</strong> Aeronaut, der<br />

das Wetter so sorgfältig wie ein Seemann beobachtete, prophezeite<br />

allerdings Nebel, und tatsächlich, kaum hatten sie angehalten,<br />

senkte sich dichter Nebel herab. Lee Scoresby wußte,<br />

261


daß er aus der Luft nichts sehen würde, er begnügte sich deshalb<br />

damit, seine Ausrüstung noch einmal durchzusehen, obwohl<br />

alles bereits in penibler Ordnung war. Dann, ohne jede Warnung,<br />

flog aus der Dunkelheit ein Hagel von Pfeilen.<br />

Drei Gypter wurden getroffen und starben so lautlos, daß<br />

niemand etwas hörte. Erst als sie über den Hundegeschirren<br />

zusammensackten und sich nicht mehr bewegten, merkten die<br />

Männer in ihrer Nähe, was geschah, doch da war es bereits zu<br />

spät, schon kamen weitere Pfeile angeflogen. Verwirrt sahen<br />

einige auf, als ringsum mit einem schnellen, unregelmäßigen<br />

Trommeln Pfeile auf Holz und gefrorenes Leinen prallten.<br />

Als erster kam John Faa wieder zu sich und brüllte den<br />

umstehenden Männern Befehle zu. Mit kalten Händen und<br />

starren Gliedern gehorchten sie, während die Pfeile wie ein<br />

tödlicher Platzregen auf sie niederprasselten.<br />

Lyra war im Freien, als die Pfeile über ihren Kopf schwirrten.<br />

Pantalaimon hörte sie zuerst, verwandelte sich in einen Leoparden<br />

und stieß Lyra um, damit sie kein so leichtes Ziel abgab. Sie<br />

wischte sich den Schnee aus den Augen, rollte auf den Bauch<br />

und versuchte zu erkennen, was geschah. Das Halbdunkel um<br />

sie drohte in Chaos und Lärm zu versinken. Sie hörte ein gewaltiges<br />

Brüllen und das Scheppern und Rasseln von Iorek Byrnisons<br />

Rüstung und sah gerade noch, wie er in seinem Panzer<br />

über die Schlitten sprang und im Nebel verschwand. Im nächsten<br />

Moment zerrissen Schreie die Luft, begleitet von Knurren<br />

und Fauchen, dumpfen Schlägen und knirschenden und reißenden<br />

Geräuschen. Angstschreie gellten auf, während der Bär<br />

im Nebel wütete.<br />

Aber wer waren ihre Gegner? Bis jetzt hatte Lyra noch keinen<br />

zu Gesicht bekommen. Die Gypter schwärmten umher, um die<br />

Schlitten zu verteidigen, gaben dadurch allerdings, wie sogar<br />

Lyra erkannte, noch bessere Zielscheiben ab. Handschuhe und<br />

Fäustlinge erschwerten es den Männern, die Gewehre abzufeu­<br />

262


ern; während der Pfeilhagel unausgesetzt anhielt, hatte Lyra<br />

erst vier oder fünf Schüsse gehört. Und ein Mann nach dem<br />

anderen fiel.<br />

Ach, John Faa! dachte sie angstvoll. Das hast du nicht vorhergesehen,<br />

und ich habe dir nicht geholfen!<br />

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da stieß<br />

Pantalaimon ein lautes Knurren aus, und schon stürzte sich<br />

etwas — ein fremder Dæmon — auf ihn und schlug ihn nieder,<br />

so daß auch Lyra um Atem ringen mußte. Sie spürte, wie Hände<br />

an ihr zerrten und sie hochgerissen wurde; jemand preßte ihr<br />

einen stinkenden Handschuh auf den Mund und warf sie durch<br />

die Luft in die Arme eines anderen, die sie der Länge nach wieder<br />

in den Schnee stießen, so daß ihr zugleich schwindlig<br />

wurde, die Luft wegblieb und alles weh tat. Ihre Arme wurden<br />

nach hinten gezerrt, bis es in den Schultern knackte, dann<br />

wurde ihr eine Kapuze über den Kopf gestülpt, um ihre Schreie<br />

zu ersticken, denn jetzt schrie sie aus vollem Halse.<br />

»Iorek! Iorek Byrnison! Hilf mir!«<br />

Ob er sie überhaupt hörte? Sie wußte es nicht. Sie wurde hin<br />

und her geworfen und schließlich auf etwas Hartes gedrückt,<br />

das sofort schlingernd und holpernd wie ein Schlitten losfuhr.<br />

Wilder Lärm drang an ihr Ohr. Sie bildete sich ein, das Brüllen<br />

von Iorek Byrnison zu hören, aber es klang weit entfernt, und<br />

weiter ging die Fahrt über den holprigen Boden, mit auf dem<br />

Rücken gefesselten Armen und geknebeltem Mund. Lyra<br />

begann vor lauter Wut und Angst zu schluchzen. Sie hörte<br />

fremde Stimmen.<br />

»Pan!« japste sie.<br />

»Ich bin hier, pst! Ich helfe dir, damit du wieder Luft<br />

bekommst. Sei still…«<br />

Mit Mäusepfoten zerrte er an der Kapuze über ihrem Mund,<br />

bis sie wieder besser atmen konnte. Gierig schnappte sie nach<br />

der eisigen Luft.<br />

263


»Wer ist das?« flüsterte sie.<br />

»Sie sehen aus wie Tataren. Ich glaube, John Faa ist getroffen<br />

worden.«<br />

»Nein…«<br />

»Ich habe gesehen, wie er hinfiel. Er hätte doch mit so einem<br />

Angriff rechnen müssen. Das war doch klar.«<br />

»Aber wir hätten ihm helfen müssen! Wir hätten das Alethiometer<br />

befragen sollen!«<br />

»Pst! Tu so, als wärst du bewußtlos.«<br />

Eine Peitsche knallte, und die Schlittenhunde jaul ten. So wie<br />

Lyra hin und her geschleudert wurde, mußten sie in einem<br />

Höllentempo fahren. Anstrengt lauschte sie auf Kampflärm. Sie<br />

hörte eine vereinzelte Salve von Schüssen, die sich in der Ferne<br />

verlor, und dann nur noch das Knarren des Schlittens und das<br />

leise Tappen der Pfoten im Schnee.<br />

»Sie bringen uns bestimmt zu den Gobblern«, flüsterte sie.<br />

Das Wort abgeschnitten fiel ihr ein. Schreckliche Angst packte<br />

sie, und Pantalaimon kuschelte sich ganz dicht an sie.<br />

»Ich werde kämpfen«, sagte er.<br />

»Ich auch. Ich bringe sie um.«<br />

»Das tut Iorek auch, wenn er uns findet. Er wird ihnen den<br />

Schädel eindrücken.«<br />

»Wie weit ist es bis Bolvangar?«<br />

Pantalaimon wußte es auch nicht, aber sie vermuteten beide,<br />

daß es keinen Tag mehr entfernt war. Die Fahrt schien endlos,<br />

und Lyra wurde schon von Krämpfen gepeinigt, als das Tempo<br />

auf einmal langsamer wurde und ihr jemand die Kapuze vom<br />

Kopf riß.<br />

Über sich, im flackernden Schein einer Laterne, erblickte sie<br />

ein breites, asiatisches Gesicht unter einer Kapuze aus Marderpelz.<br />

Die schwarzen Augen glitzerten zufrieden, besonders als<br />

Pantalaimon aus Lyras Anorak schlüpfte und fauchend die weißen<br />

Hermelinzähne bleckte. <strong>Der</strong> Dæmon des Mannes, ein gro­<br />

264


ßer, schwerer Marder, knurrte ebenfalls, aber Pantalaimon<br />

zuckte nicht zurück.<br />

<strong>Der</strong> Mann zerrte Lyra hoch und setzte sie an die seitliche<br />

Lehne des Schlittens. Doch sie kippte dauernd wieder um, weil<br />

ihre Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren, bis<br />

der Mann ihr schließlich die Füße zusammenband und die<br />

Handfesseln löste.<br />

Durch das Schneetreiben und den dichten Nebel sah sie, wie<br />

kräftig der Mann und auch der Fahrer des Schlittens waren, wie<br />

geschickt sie mit dem Schlitten umgingen und wie sehr sie in<br />

diesem Land zu Hause waren — im Unterschied zu den Gyptern.<br />

<strong>Der</strong> Mann begann zu sprechen, aber Lyra verstand natürlich<br />

kein Wort. Er probierte es in einer anderen Sprache — mit demselben<br />

Ergebnis. Dann versuchte er es mit Englisch.<br />

»Wie du heißen?«<br />

Pantalaimons Fell sträubte sich warnend, und Lyra begriff<br />

sofort, was er meinte. Die Männer wußten nicht, wer sie war!<br />

Sie hatten sie also nicht deshalb entführt, weil sie Mrs. Coulter<br />

kannte; vielleicht arbeiteten sie ja gar nicht für die Gobbler.<br />

»Lizzie Brooks«, antwortete sie.<br />

»Lissie Broogs«, wiederholte er. »Wir dich bringen an schönes<br />

Ort. Nette Leute.«<br />

»Wer seid ihr?«<br />

»Samojeden. Jäger.«<br />

»Wohin bringt ihr mich?«<br />

»Schönes Ort. Nette Leute. Du haben Panserbjørn?«<br />

»Als Schutz.«<br />

»Nix gut! Ha, ha, Bär nix gut! Wir dich gekriegt haben auch<br />

so!«<br />

Er lachte dröhnend. Lyra beherrschte sich und schwieg.<br />

»Wer sein andere Leute?« fragte der Mann und deutete in die<br />

Richtung, aus der sie gekommen waren.<br />

265


»Händler.«<br />

»Händler?… Was sie handeln mit?«<br />

»Felle, Schnaps. Tabak.«<br />

»Verkaufen Tabak, kaufen Felle?«<br />

»Ja.«<br />

<strong>Der</strong> Mann sprach mit seinem Begleiter, der kurz etwas erwiderte.<br />

Währenddessen raste der Schlitten unaufhaltsam weiter,<br />

und Lyra versuchte, sich bequemer hinzusetzen und zu erkennen,<br />

wohin sie fuhren. Doch der Schnee fiel in dichten Flocken,<br />

und der Himmel war dunkel, und bald wurde ihr zu kalt, um<br />

noch länger hinauszuspähen, und sie legte sich wieder hin. Sie<br />

und Pantalaimon konnten gegenseitig ihre Gedanken erfühlen<br />

und versuchten, ruhig zu bleiben, aber die Vorstellung, daß<br />

John Faa tot sein könnte… Und was war mit Farder Coram passiert?<br />

Ob Iorek es schaffen würde, die anderen Samojeden zu<br />

töten? Und ob sie Lyra je finden würden?<br />

Zum ersten Mal verspürte Lyra so etwas wie Selbstmitleid.<br />

Geraume Zeit später schüttelte der Mann sie an der Schulter<br />

und gab ihr einen Streifen getrocknetes Seehundfleisch zum<br />

Kauen. Es schmeckte ranzig und war zäh, aber sie hatte Hunger,<br />

und außerdem war es nahrhaft. Als sie es zerkaut hatte, ging es<br />

ihr ein wenig besser. Langsam schob sie die Hand unter ihre<br />

Pelze und vergewisserte sich, daß das Alethiometer noch da war.<br />

Dann zog sie vorsichtig die Dose mit dem fliegenden Spion<br />

heraus und steckte sie in ihren Pelzstiefel. Pantalaimon kroch<br />

als Maus hinterher und drückte die Dose so weit nach unten,<br />

wie er konnte, bis zum untersten Ende der Rentiergamasche.<br />

Dann machte Lyra die Augen zu. Die Angst hatte sie angestrengt,<br />

und bald fiel sie in unruhigen Schlaf.<br />

Sie erwachte, weil das Geholper plötzlich aufgehört hatte<br />

und der Schlitten weich dahinglitt. Als sie die Augen öffnete,<br />

sah sie über sich helle Lampen vorbeiziehen, die sie so sehr<br />

blendeten, daß sie zuerst die Kapuze ein Stück über den Kopf<br />

266


ziehen mußte, bevor sie erneut hinausspähen konnte. Ihre Glieder<br />

waren steif, und sie fror, aber es gelang ihr, sich so weit aufzurichten,<br />

daß sie sehen konnte, wie der Schlitten zwischen<br />

zwei Reihen hoher Masten mit grellen anbarischen Lampen<br />

entlangfuhr. Während sie noch um sich sah, fuhren sie durch<br />

ein geöffnetes Eisentor am Ende der Lichterallee auf eine große<br />

freie Fläche, die wie ein leerer Marktplatz oder ein Sportplatz<br />

aussah. Die Fläche war vollkommen eben, glatt und weiß und<br />

hatte einen Durchmesser von ungefähr hundert Metern. An<br />

ihrem Rand lief ein hoher Drahtzaun.<br />

Am anderen Ende des Platzes hielt der Schlitten vor einer<br />

Reihe niedriger Gebäude, auf denen dicker Schnee lag. Lyra<br />

hatte den Eindruck, daß die Gebäude durch Tunnel miteinander<br />

verbunden waren, die sie als Wülste unter dem Schnee zu<br />

erkennen meinte. Daneben stand ein dicker Eisenmast, der ihr<br />

bekannt vorkam, obwohl sie sich nicht erinnerte, woher.<br />

Bevor sie noch mehr erkennen konnte, schnitt der Mann im<br />

Schlitten die Schnur um ihre Knöchel durch und zerrte sie grob<br />

vom Schlitten herunter, während der Fahrer die Hunde<br />

anbrüllte, damit sie aufhörten zu bellen. In dem nur wenige<br />

Meter entfernten Gebäude öffnete sich eine Tür, eine anbarische<br />

Lampe ging an und richtete sich wie ein Suchscheinwerfer<br />

auf sie.<br />

Ohne Lyra loszulassen, stieß ihr Fänger sie wie eine Kriegsbeute<br />

vorwärts und sagte etwas. Eine Gestalt in einem wattierten<br />

Anorak aus Kohleseide antwortete in derselben Sprache.<br />

Lyra konnte das Gesicht des Mannes sehen: Er war kein Samojede<br />

oder Tatar; er hätte ein Wissenschaftler aus Jordan sein<br />

können. Er musterte Lyra, vor allem aber Pantalaimon.<br />

Wieder sagte der Samojede etwas, und der Mann aus Bolvangar<br />

fragte Lyra: »Sprichst du Englisch?«<br />

»Ja«, antwortete sie.<br />

»Hat dein Dæmon immer diese Gestalt?«<br />

267


Mit dieser Frage hatte Lyra am allerwenigsten gerechnet. Sie<br />

staunte und rührte sich nicht. Aber Pantalaimon antwortete auf<br />

seine Weise, indem er sich in einen Falken verwandelte und von<br />

Lyras Schulter auf den Dæmon des Mannes herunterstieß, ein<br />

großes Murmeltier, das sogleich mit einer flinken Bewegung<br />

nach Pantalaimon schlug und nach ihm spuckte, während er es<br />

mit schwungvollen Flügelschlägen umkreiste.<br />

»Ah, ich sehe schon«, sagte der Mann, als Pantalaimon auf<br />

Lyras Schulter zurückkehrte, und es klang zufrieden.<br />

Die Samojeden blickten erwartungsvoll, woraufhin der<br />

Mann nickte, einen Fäustling auszog und in eine Tasche griff. Er<br />

zog einen zugeschnürten Geldbeutel heraus und zählte den<br />

Jägern ein Dutzend schwere Münzen in die Hand.<br />

Die beiden Männer zählten das Geld nach, teilten es unter<br />

sich und verstauten es sorgfältig. Ohne einen Blick zurückzuwerfen,<br />

bestiegen sie ihren Schlitten. <strong>Der</strong> Fahrer knallte mit der<br />

Peitsche und trieb schreiend die Hunde an, und schon rasten sie<br />

über die weiße Arena und in die Lichterallee, immer schneller,<br />

bis sie schließlich in der Ferne in der Dunkelheit verschwanden.<br />

<strong>Der</strong> Mann machte die Tür hinter sich wieder auf.<br />

»Komm schnell rein«, sagte er. »Drinnen ist es warm und<br />

gemütlich. Bleib nicht draußen in der Kälte stehen. Wie heißt<br />

du?«<br />

Er sprach ein Englisch, aus dem Lyra keinen Akzent heraushören<br />

konnte, und er klang wie die Leute, die sie bei Mrs. Coulter<br />

kennengelernt hatte: klug, gebildet und wichtig.<br />

»Lizzie Brooks«, sagte sie.<br />

»Komm rein. Wir kümmern uns hier um dich, keine Sorge.«<br />

Obwohl sie viel länger draußen gewesen war, fror er mehr als<br />

sie und konnte es kaum erwarten, wieder ins Warme zu kommen.<br />

Sie beschloß, sich dumm und langsam zu stellen, und<br />

schlurfte zögernd über die hohe Schwelle ins Gebäude.<br />

Zwei Türen mit einem breiten Zwischenraum sorgten dafür,<br />

268


daß nicht zuviel Wärme entweichen konnte. Kaum hatte sich<br />

die innere Tür hinter ihnen geschlossen, meinte Lyra vor Hitze<br />

umzukommen. Sie mußte sofort ihre Pelze aufreißen und die<br />

Kapuze zurückschieben.<br />

Sie standen in einem etwa vier Quadratmeter großen Raum.<br />

Rechts und links zweigten Gänge ab, vor ihr befand sich eine<br />

Art Rezeption, wie man sie in Krankenhäusern sieht. Alles war<br />

hell erleuchtet, und überall blitzten glänzendweiße Oberflächen<br />

und rostfreier Stahl. Es roch nach Essen, ein vertrauter<br />

Geruch nach Speck und Kaffee, vermischt mit einem schwachen<br />

Geruch nach Krankenhaus, und von den Wänden ging ein<br />

leises, fast unhörbares Summen aus, eins von jenen Geräuschen,<br />

an die man sich entweder gewöhnt, oder man wird verrückt.<br />

Pantalaimon, der sich in einen Goldfink verwandelt hatte,<br />

flüsterte Lyra ins Ohr: »Stell dich ganz dumm. Tu so, als ob du<br />

überhaupt nichts kapierst.«<br />

Drei Erwachsene blickten zu ihr herunter: der Mann, der sie<br />

hereingebracht hatte, ein Mann in einem weißen Kittel und<br />

eine Frau in Schwesterntracht.<br />

»Engländer«, sagte der erste Mann. »Anscheinend Händler.«<br />

»Dieselben Jäger wie sonst? Dieselbe Geschichte?«<br />

»Vom selben Stamm, soweit ich das beurteilen kann. Schwester<br />

Clara, würden Sie die kleine… ähm, mitnehmen und sich<br />

um sie kümmern?«<br />

»Natürlich, Doktor. Komm mit, Schatz«, sagte die Schwester.<br />

Gehorsam folgte Lyra.<br />

Sie gingen einen kurzen Flur entlang, mit Türen auf der<br />

rechten Seite und einer Kantine auf der linken, aus der Besteckklappern,<br />

Stimmen und Essensgerüche drangen. Die Schwester<br />

mußte etwa genauso alt sein wie Mrs. Coulter, schätzte Lyra. Sie<br />

hatte ein munteres und verständiges, aber nichtssagendes<br />

Gesicht, konnte bestimmt eine Wunde nähen oder einen Verband<br />

wechseln, aber sicher keine Geschichten erzählen. Ihr<br />

269


Dæmon, ein weißes Hündchen, trottete brav hinter ihr her;<br />

Lyra fröstelte bei seinem Anblick kurz, doch schon einen<br />

Moment später wußte sie nicht mehr, weshalb eigentlich.<br />

»Wie heißt du denn, Schatz?« fragte die Schwester und öffnete<br />

eine schwere Tür.<br />

»Lizzie.«<br />

»Nur Lizzie?«<br />

»Lizzie Brooks.«<br />

»Und wie alt bist du?«<br />

»Elf.«<br />

Lyra hatte schon oft gehört, sie sei klein für ihr Alter, was<br />

auch immer das heißen mochte. Ihr Selbstbewußtsein hatte das<br />

nie erschüttert, und jetzt erkannte sie, daß diese Tatsache ihr<br />

helfen würde, sich in ein schüchternes, aufgeregtes und<br />

unscheinbares Mädchen zu verwandeln. Als sie das Zimmer<br />

betrat, machte sie sich deshalb noch etwas kleiner.<br />

Eigentlich hatte sie erwartet, daß Schwester Clara sie fragen<br />

würde, woher sie kam und wer sie gebracht hatte, und sich<br />

schon passende Antworten zurechtgelegt. Aber der Schwester<br />

fehlte es offenbar nicht nur an Phantasie, sondern auch an jeglicher<br />

Neugier. Sie war so desinteressiert, daß man hätte meinen<br />

können, Bolvangar läge am Stadtrand von London und nichts<br />

sei selbstverständlicher, als daß die ganze Zeit Kinder ankamen.<br />

Und genauso munter und teilnahmslos wie sie war auch ihr<br />

geschniegelter kleiner Dæmon, der ihr auf den Fersen folgte.<br />

In dem Zimmer, das sie betreten hatten, befanden sich eine<br />

Couch, ein Tisch, zwei Stühle, ein Aktenschrank, ein Glasschrank<br />

mit Medikamenten und Binden und ein Waschbecken.<br />

Die Schwester zog Lyra sofort den Anorak aus und ließ ihn auf<br />

den glänzenden Fußboden fallen.<br />

»Runter mit den restlichen Sachen, Schatz«, sagte sie. »Jetzt<br />

untersuchen wir dich kurz, damit wir auch sicher sind, daß du<br />

richtig gesund bist und weder Frostbeulen noch eine laufende<br />

270


Nase hast, und dann sehen wir mal, ob wir ein paar schöne, saubere<br />

Sachen zum Anziehen für dich finden. Und vorher stecken<br />

wir dich noch unter die Dusche«, fügte sie hinzu, denn Lyra<br />

hatte ihre Kleider seit Tagen nicht gewechselt und sich nicht<br />

gewaschen, was in der Wärme, die sie jetzt umgab, immer<br />

offensichtlicher wurde.<br />

Pantalaimon begehrte flatternd auf, aber Lyra unterdrückte<br />

seinen Protest mit einer Grimasse. Er ließ sich auf der Couch<br />

nieder, während Lyra ein Kleidungsstück nach dem anderen<br />

ausziehen mußte, sehr zu ihrem Ärger und ihrer Scham.<br />

Immerhin war sie so geistesgegenwärtig, das zu verbergen. Sie<br />

gehorchte willig und stellte sich weiter begriffsstutzig.<br />

»Jetzt noch den Gürtel mit dem Geld, Lizzie«, sagte die<br />

Schwester und öffnete ihn mit energischen Fingern. Sie wollte<br />

ihn schon auf den Haufen mit Lyras anderen Sachen werfen, als<br />

sie die Kante des Alethiometers spürte und innehielt.<br />

»Was ist denn das?« fragte sie und knöpfte den Beutel aus<br />

Ölzeug auf.<br />

»Nur ein Spielzeug«, antwortete Lyra. »Es gehört mir.«<br />

»Wir wollen es dir ja auch gar nicht wegnehmen, Schatz«,<br />

sagte Schwester Clara und faltete den schwarzen Samt auseinander.<br />

»Ach, ist das hübsch, wie ein Kompaß. Aber jetzt unter<br />

die Dusche mit dir.« Sie schlug einen Vorhang aus Kohleseide in<br />

der Ecke zurück.<br />

Widerwillig schlüpfte Lyra unter den warmen Wasserstrahl<br />

und seifte sich ein. Pantalaimon hockte währenddessen auf der<br />

Vorhangstange. Sie wußten beide, daß Pantalaimon nicht zu<br />

lebhaft wirken durfte, denn die Dæmonen von begriffsstutzigen<br />

Leuten sind ebenfalls etwas schwer von Begriff. Als Lyra<br />

sauber und trocken war, kontrollierte die Schwester ihre Temperatur<br />

und inspizierte Augen, Ohren und Hals. Anschließend<br />

maß sie noch Lyras Größe und stellte sie auf eine Waage und<br />

notierte dann etwas auf einem Klemmbrett. Dann gab sie Lyra<br />

271


einen Schlafanzug und einen Bademantel. Beides war sauber<br />

und von guter Qualität wie der Anorak von Tony Makarios,<br />

wirkte aber ebenfalls gebraucht. Lyra war sehr unbehaglich<br />

zumute.<br />

»Das sind nicht meine Sachen«, sagte sie.<br />

»Nein, Schatz. Deine Kleider müssen erst einmal gründlich<br />

gewaschen werden.«<br />

»Bekomme ich sie wieder?«<br />

»Ich denke doch. Ja, natürlich.«<br />

»Wo sind wir hier?«<br />

»In der sogenannten Versuchsstation.«<br />

Das war keine richtige Antwort, und Lyra wollte es schon<br />

sagen und weitere Fragen stellen, doch da fiel ihr ein, daß Lizzie<br />

Brooks das bestimmt nicht tun würde. Also nahm sie die Antwort<br />

schweigend hin und schlüpfte ergeben in die neuen Kleider.<br />

»Ich will mein Spielzeug wiederhaben«, sagte sie trotzig, als<br />

sie angezogen war.<br />

»Nimm es dir, Schatz«, sagte die Schwester. »Hättest du denn<br />

nicht lieber einen schönen Teddybären? Oder eine hübsche<br />

Puppe?«<br />

Sie zog eine Schublade auf, in der ein paar Spielsachen lagen<br />

— leblose Gegenstände. Lyra überwand sich und tat, als würde<br />

sie einen Moment überlegen, dann suchte sie sich eine Stoffpuppe<br />

mit großen, leeren Augen aus. Sie hatte nie gern mit<br />

Puppen gespielt, wußte aber, was von ihr erwartet wurde, und<br />

drückte sie geistesabwesend an die Brust.<br />

»Und mein Geldbeutel?« fragte sie. »Ich möchte mein Spielzeug<br />

hineintun.«<br />

»Nimm ihn dir, Schatz«, sagte Schwester Clara, die gerade ein<br />

rosafarbenes Formular ausfüllte.<br />

Lyra zog den ungewohnten Schlafanzug hoch und band sich<br />

den Beutel aus Ölzeug um die Taille.<br />

272


»Und mein Anorak und meine Stiefel?« fragte sie. »Und<br />

meine Handschuhe und die anderen Sachen?«<br />

»Wir waschen sie für dich«, sagte die Schwester zerstreut.<br />

Ein Telefon summte, und als die Schwester den Hörer<br />

abnahm, bückte sich Lyra schnell, griff nach der Dose, in der<br />

sich der fliegende Spion befand, und stopfte sie zum Alethiometer<br />

in den Beutel.<br />

»Komm mit, Lizzie«, sagte die Schwester und legte den<br />

Hörer auf. »Wir besorgen dir jetzt etwas zu essen. Du hast doch<br />

bestimmt Hunger.«<br />

Lyra folgte Schwester Clara zur Kantine, in der ein Dutzend<br />

runde weiße Tische standen, alle mit Krümeln übersät und voller<br />

klebriger Ringe von achtlos hingestellten Gläsern. Auf<br />

einem Teewagen stapelte sich schmutziges Geschirr. <strong>Der</strong> Raum<br />

hatte keine Fenster, statt dessen war, um Licht und Weite vorzutäuschen,<br />

eine Wand mit dem riesigen Photogramm eines<br />

tropischen Strandes mit strahlend blauem Himmel, weißem<br />

Sand und Kokospalmen bedeckt.<br />

<strong>Der</strong> Mann, der sie ins Haus geführt hatte, nahm ein volles<br />

Tablett aus der Durchreiche.<br />

»Iß«, forderte er Lyra auf.<br />

Es gab keinen Grund zu hungern, deshalb ließ sie sich den<br />

Eintopf mit Kartoffelbrei schmecken. Zum Nachtisch gab es<br />

Pfirsiche aus der Dose und Eis. Während sie aß, unterhielten<br />

sich der Mann und die Schwester leise an einem anderen Tisch,<br />

und als sie fertig war, brachte ihr die Schwester ein Glas warme<br />

Milch und nahm das Tablett fort.<br />

<strong>Der</strong> Mann setzte sich ihr gegenüber. Sein Dæmon, das Murmeltier,<br />

war nicht so desinteressiert und gleichgültig wie der<br />

Hund der Schwester, sondern saß höflich auf der Schulter des<br />

Mannes, beobachtete Lyra und hörte zu.<br />

»So, Lizzie«, sagte der Mann. »Bist du satt geworden?«<br />

»Ja, danke.«<br />

273


»Dann erzähle mir jetzt doch, woher du kommst. Kannst du<br />

das?«<br />

»Aus London«, sagte sie.<br />

»Und was suchst du so hoch im Norden?«<br />

»Ich bin mit meinem Vater hergekommen«, murmelte sie.<br />

Sie sah nach unten, um nicht dem forschenden Blick des Murmeltiers<br />

zu begegnen, und versuchte so zu wirken, als sei sie den<br />

Tränen nahe.<br />

»Mit deinem Vater? Verstehe. Und was macht er in diesem<br />

Teil der Welt?«<br />

»Er ist Händler. Wir sind mit einer Ladung Tabak aus Neudänemark<br />

gekommen und wollten Felle kaufen.«<br />

»War dein Vater allein?«<br />

»Nein, meine Onkel waren auch dabei, und noch andere<br />

Männer«, sagte sie unbestimmt, weil sie nicht wußte, was die<br />

samojedischen Jäger ihm erzählt hatten.<br />

»Wieso hat er dich auf eine solche Reise mitgenommen, Lizzie?«<br />

»Weil… Vor zwei Jahren hat er meinen Bruder mitgenommen<br />

und mir versprochen, daß er mich beim nächsten Mal mitnimmt.<br />

Dann hat er es doch nicht gemacht. Also habe ich<br />

immer wieder gefragt, bis er es endlich getan hat.«<br />

»Und wie alt bist du?«<br />

»Elf.«<br />

»Sehr gut. Also Lizzie, du hast wirklich Glück gehabt. An<br />

einen besseren Ort hätten die Jäger, die dich gefunden haben,<br />

dich gar nicht bringen können.«<br />

»Sie haben mich überhaupt nicht gefunden«, sagte sie argwöhnisch.<br />

»Wir mußten kämpfen. Sie waren in der Überzahl<br />

und schössen mit Pfeilen…«<br />

»Nein, das glaube ich nicht. Du hast dich sicher verirrt, weil<br />

du zu weit von den Leuten deines Vaters weggelaufen bist. Du<br />

warst mutterseelenallein, als die Jäger dich fanden, und sie<br />

274


haben dich auf dem schnellsten Weg hierher gebracht. So und<br />

nicht anders ist es gewesen, Lizzie.«<br />

»Ich habe aber gesehen, wie sie gekämpft haben«, sagte Lyra.<br />

»Sie haben mit Pfeilen geschossen und… Ich will zu meinem<br />

Papa.« Sie wurde lauter und merkte, daß sie zu weinen<br />

anfing.<br />

»Hier kann dir nichts passieren, bis er kommt«, sagte der<br />

Arzt.<br />

»Aber ich habe doch gesehen, daß sie mit Pfeilen geschossen<br />

haben!«<br />

»Das hast du dir bloß eingebildet. So etwas passiert in der<br />

eisigen Kälte oft, Lizzie. Man schläft ein und träumt schlecht,<br />

und hinterher weiß man nicht mehr, was wirklich passiert ist.<br />

Es gab keinen Kampf, sei ganz beruhigt. Dein Vater ist gesund<br />

und munter, und er sucht dich bestimmt schon und wird bald<br />

hier sein, denn das ist der einzige bewohnte Ort im Umkreis<br />

von Hunderten von Meilen. Und was glaubst du, wie überrascht<br />

er sein wird, wenn er dich hier wohlbehalten antrifft!<br />

Jetzt bringt Schwester Clara dich in den Schlafsaal, wo du noch<br />

andere kleine Mädchen und Jungen kennenlernen wirst, die<br />

sich genau wie du in der Wildnis verirrt haben. Also, ins Bett<br />

mit dir. Morgen früh unterhalten wir uns weiter.«<br />

Lyra stand auf, die Puppe fest in der Hand. Pantalaimon<br />

hüpfte ihr auf die Schulter, und die Schwester öffnete die Tür<br />

und führte sie hinaus.<br />

Wieder gingen sie durch Gänge. Lyra war todmüde, so<br />

müde, daß sie ununterbrochen gähnen mußte und kaum noch<br />

die Füße in den Wollpantoffeln, die man ihr gegeben hatte,<br />

heben konnte. Pantalaimon war so erschöpft, daß er sich in eine<br />

Maus verwandelte und in die Tasche ihres Bademantels kroch.<br />

Undeutlich nahm Lyra eine Reihe von Betten, Kindergesichter<br />

und ein Kopfkissen wahr, und dann war sie auch schon eingeschlafen.<br />

275


Jemand rüttelte sie. Als erstes faßte sie sich an die Taille — beide<br />

Dosen waren noch da, gut verpackt. Dann versuchte sie, die<br />

Augen zu öffnen, aber es fiel ihr unendlich schwer; noch nie<br />

war sie so schläfrig gewesen.<br />

»Wach auf! Wach auf!«<br />

Das Flüstern kam von verschiedenen Stimmen. Mit ungeheurer<br />

Anstrengung, als müßte sie einen Felsblock einen Berg<br />

hinaufschieben, zwang Lyra sich dazu, aufzuwachen.<br />

Im Dämmerschein einer anbarischen Funzel über der Tür<br />

sah sie drei Mädchen vor ihrem Bett stehen. Sie konnte nicht<br />

viel erkennen, denn sie sah alles unscharf, aber die Mädchen<br />

schienen ungefähr in ihrem Alter zu sein und sprachen Englisch.<br />

»Sie ist wach.«<br />

»Die haben ihr Schlaftabletten gegeben, ganz bestimmt…«<br />

»Wie heißt du?«<br />

»Lizzie«, murmelte Lyra schlaftrunken.<br />

»Ist wieder eine neue Ladung Kinder gekommen?« fragte<br />

eins der Mädchen.<br />

»Keine Ahnung. Nur ich.«<br />

»Woher haben sie dich denn dann?«<br />

Lyra versuchte, sich aufzusetzen. Sie konnte sich nicht erinnern,<br />

eine Schlaftablette genommen zu haben, aber vielleicht<br />

war in ihrem Getränk eine gewesen. Ihr Kopf fühlte sich wie<br />

Watte an, und hinter den Augen spürte sie einen schwachen,<br />

pochenden Schmerz.<br />

»Wo sind wir?«<br />

»Mitten im Nirgendwo. Sie sagen es uns nicht.«<br />

»Meistens werden mehrere Kinder auf einmal hergebracht…«<br />

Lyra brauchte eine Weile, bis sie ihre betäubten Sinne wieder<br />

halbwegs beisammen hatte. Neben ihr begann sich Pantalaimon<br />

zu regen. »Was passiert mit ihnen?« fragte sie schließlich.<br />

276


»Keine Ahnung«, sagte das Mädchen, das die meiste Zeit<br />

sprach. Es war groß, hatte rote Haare und einen ausgeprägten<br />

Londoner Akzent. Nervös gestikulierte es mit den Händen. »Sie<br />

machen irgendwelche Messungen mit uns und untersuchen<br />

uns und dann…«<br />

»Sie messen Staub«, sagte ein nett aussehendes, dickes Mädchen<br />

mit dunklen Haaren.<br />

»Das weißt du doch gar nicht«, sagte das erste Mädchen.<br />

»Doch«, sagte das dritte, ein verschüchtert wirkendes Kind,<br />

und drückte seinen Kaninchendæmon an sich. »Ich habe sie<br />

davon sprechen hören.«<br />

»Und dann bringen sie uns der Reihe nach weg«, sagte die<br />

Rothaarige. »Das ist alles, was wir wissen. Keiner kommt<br />

zurück.«<br />

»Aber der eine Junge glaubt…«, begann das dicke Mädchen.<br />

»Erzähl ihr das nicht!« sagte die Rothaarige. »Noch nicht.«<br />

»Gibt es denn hier auch Jungen?« fragte Lyra.<br />

»Ja. Wir sind ziemlich viele. Ungefähr dreißig, schätze ich.«<br />

»Mehr«, sagte das dicke Mädchen. »Eher vierzig.«<br />

»Aber sie bringen ständig welche weg«, sagte die Rothaarige.<br />

»Meistens bringen sie zuerst einen ganzen Haufen hierher,<br />

dann sind wir ziemlich viele, und dann verschwindet einer nach<br />

dem anderen wieder.«<br />

»Das sind Gobbler«, sagte das dicke Mädchen. »Du kennst<br />

doch bestimmt die Gobbler. Wir hatten alle Angst vor denen,<br />

und jetzt haben sie uns gefangen…«<br />

Lyra wurde immer wacher. Die Dæmonen der Mädchen<br />

saßen, von dem Kaninchen abgesehen, in der Nähe der Tür und<br />

horchten. Es wurde nur geflüstert. Lyra fragte sie nach ihren<br />

Namen. Das rothaarige Mädchen hieß Annie, das dunkelhaarige,<br />

dicke Bella und das unscheinbare Martha. Die Namen der<br />

meisten Jungen kannten sie nicht, denn sie hielten sich hauptsächlich<br />

woanders auf.<br />

277


Die Kinder wurden nicht schlecht behandelt.<br />

»Ist gar nicht so übel hier«, meinte Bella. »Es gibt nicht viel<br />

zu<br />

tun, außer wenn wir untersucht werden oder Gymnastik<br />

machen müssen oder wenn sie Staub und Fieber und so was<br />

messen. Eigentlich ist es nur langweilig.«<br />

»Außer wenn Mrs. Coulter kommt«, sagte Annie.<br />

Lyra unterdrückte einen Schrei, und Pantalaimon flatterte so<br />

heftig mit den Flügeln, daß die anderen Mädchen ihn mißtrauisch<br />

ansahen.<br />

»Er ist nervös«, sagte Lyra und beruhigte ihn. »Die haben<br />

uns anscheinend wirklich Schlaftabletten gegeben, wie ihr gesagt<br />

habt, wir sind jedenfalls ganz beduselt. Wer ist denn Mrs.<br />

Coulter?«<br />

»Sie hat uns in die Falle gelockt, jedenfalls die meisten von<br />

uns«, sagte Martha. »Alle Kinder sprechen von ihr. Wenn sie<br />

kommt, weiß jeder, daß wieder welche verschwinden.«<br />

»Es macht ihr Spaß, die Kinder zu beobachten, wenn einer<br />

von uns weggebracht wird; sie sieht sich gern an, was die hier<br />

mit uns anstellen. Dieser Simon glaubt, daß sie uns umbringen<br />

und daß Mrs. Coulter dabei zuschaut.«<br />

»Sie bringen uns um?« fragte Lyra und schauderte.<br />

»Bestimmt. Denn keiner kommt wieder.«<br />

»Mit den Dæmonen wird dasselbe gemacht«, sagte Bella. »Sie<br />

werden gewogen und gemessen und…«<br />

»Sie fassen eure Dæmonen an?«<br />

»Nein! Gott, nein! Sie holen eine Waage, und dein Dæmon<br />

muß sich draufstellen und die Gestalt wechseln, und davon<br />

machen sie dann Notizen und Fotos. Und dann stecken sie dich<br />

in so einen komischen Schrank und messen Staub. Immer und<br />

ewig messen sie Staub.«<br />

»Was für Staub?« fragte Lyra.<br />

»Keine Ahnung«, antwortete Annie. »Irgendwas aus dem<br />

Weltraum. Jedenfalls kein richtiger Staub. Wenn sie keinen<br />

278


Staub an einem messen, ist das gut. Aber zuletzt kriegt jeder<br />

Staub ab.«<br />

»Wißt ihr, was ich von Simon gehört habe?« sagte Bella. »Er<br />

hat gesagt, daß die Tataren Löcher in ihre Schädel bohren, um<br />

den Staub hineinzulassen.«<br />

»Ja, gerade der wird das wissen«, sagte Annie verächtlich.<br />

»Ich<br />

glaube, ich frage Mrs. Coulter, wenn sie kommt.«<br />

»Das traust du dich nicht!« sagte Martha bewundernd.<br />

»Doch.«<br />

»Wann kommt sie denn?« fragte Lyra.<br />

»Übermorgen«, sagte Annie.<br />

Lyra lief es vor Entsetzen kalt den Rücken hinunter, und<br />

Pantalaimon kroch ganz dicht an sie heran. Ihr blieb nur ein<br />

einziger Tag, um Roger zu finden und soviel wie möglich über<br />

diesen Ort herauszubekommen, ein Tag, um zu fliehen oder<br />

gerettet zu werden. Und wer würde den Kindern helfen, in der<br />

eisigen Wildnis zu überleben, wenn alle Gypter getötet worden<br />

waren?<br />

Die anderen Mädchen unterhielten sich weiter, während<br />

Lyra und Pantalaimon sich unter der Bettdecke aneinanderkuschelten<br />

und gegenseitig zu wärmen versuchten. Sie wußten,<br />

daß im Umkreis von Hunderten von Meilen die Angst regierte.<br />

279


Fünfzehn<br />

Die Dæmonenkäfige<br />

Lyra neigte nicht zum Grübeln. Sie war ein optimistisches und<br />

praktisch veranlagtes Kind und hatte außerdem nicht besonders<br />

viel Phantasie. Kein Kind mit Phantasie hätte es ernsthaft<br />

für möglich gehalten, daß es den weiten Weg hierher finden<br />

und seinen Freund Roger befreien könnte, oder es hätte sich<br />

zumindest die verschiedensten Einwände ausgemalt. Ein geübter<br />

Lügner zu sein bedeutet noch lange nicht, daß man auch viel<br />

Phantasie hat. Viele gute Lügner haben überhaupt keine Phantasie,<br />

und das macht ihre Lügen so überzeugend.<br />

Deshalb wurde Lyra nun, da sie in die Hände der Oblations-<br />

Behörde geraten war, auch nicht von panischer Angst über das<br />

Schicksal der Gypter gequält. Die Gypter waren alle gute<br />

Kämpfer, und auch wenn Pantalaimon gesehen haben wollte,<br />

daß John Faa niedergeschossen worden war, konnte er sich<br />

ebensogut geirrt haben, oder vielleicht war John Faa nicht<br />

ernsthaft verletzt worden. Daß sie den samojedischen Jägern in<br />

die Hände gefallen war, war Pech gewesen, aber die Gypter<br />

würden schon bald dasein, um sie zu befreien, und falls sie es<br />

wider Erwarten nicht schafften, würde Iorek Byrnison alles<br />

dransetzen, sie hier herauszuholen. Und dann würden sie im<br />

Ballon von Lee Scoresby nach Svalbard fliegen und Lord Asriel<br />

retten.<br />

280


So einfach stellte sie es sich wenigstens vor.<br />

Deshalb war sie, als sie am nächsten Morgen im Schlafsaal<br />

erwachte, neugierig und bereit, es mit allem aufzunehmen, was<br />

der Tag bringen würde. Sie konnte es kaum erwarten, Roger zu<br />

sehen — vor allem wollte sie ihn sehen, bevor er sie sah.<br />

Lyra mußte sich nicht lange gedulden. Um halb acht wurden<br />

die Kinder in den verschiedenen Schlafsälen von den für sie<br />

zuständigen Schwestern geweckt. Sie wuschen sich, zogen sich<br />

an und gingen dann mit den anderen zum Frühstück in die<br />

Kantine.<br />

Und dort war Roger.<br />

Er saß mit fünf anderen Jungen an einem Tisch gleich an der<br />

Tür. Die Schlange zur Durchreiche führte direkt an ihnen vorbei,<br />

und Lyra tat so, als sei ihr ein Taschentuch hinuntergefallen<br />

und als müsse sie sich danach bücken. Dabei kam sie Rogers<br />

Stuhl so nah, daß Pantalaimon mit Rogers Dæmon Salcilia<br />

sprechen konnte.<br />

Salcilia, ein Buchfink, flatterte so aufgeregt, als er Pantalaimon<br />

sah, daß Pantalaimon sich in Gestalt einer Katze auf ihn<br />

stürzen und ihn zu Boden drücken mußte, damit er ihm etwas<br />

zuflüstern konnte. Solche Rangeleien zwischen Dæmonen von<br />

Kindern waren glücklicherweise nichts Ungewöhnliches, deshalb<br />

achtete auch niemand besonders darauf, nur Roger wurde<br />

plötzlich bleich. Lyra hatte noch nie jemanden so weiß werden<br />

sehen. Er sah auf und begegnete ihrem hochmütig starren<br />

Blick, und dann strömte die Farbe in seine Wangen zurück, als<br />

sein Herz vor Hoffnung, Aufregung und Freude überfloß.<br />

Hätte Pantalaimon Salcilia nicht so energisch geschüttelt,<br />

Roger wäre mit einem Schrei aufgesprungen, um die Spielkameradin<br />

aus Jordan zu begrüßen.<br />

Mit größtmöglicher Verachtung sah Lyra weg und verdrehte<br />

vor ihren neuen Freundinnen abschätzig die Augen. Sie überließ<br />

es Pantalaimon, Salcilia alles zu erklären. Die vier Mädchen<br />

281


nahmen ihre Tabletts mit Cornflakes und Toast und setzten<br />

sich zusammen an einen Tisch, abseits von den anderen, um<br />

ungestört über diese tratschen zu können.<br />

Eine große Kinderschar an einem Ort muß pausenlos<br />

beschäftigt werden, deshalb ähnelte Bolvangar in mancher<br />

Hinsicht einer Schule mit Stundenplänen für Fächer wie Turnen<br />

und ›Kunst‹. Außer in den Pausen und bei den Mahlzeiten<br />

waren Jungen und Mädchen getrennt, so daß Lyra erst in der<br />

zweiten Hälfte des Vormittags, nach anderthalbstündigem<br />

Nähunterricht bei einer der Schwestern, Gelegenheit hatte, mit<br />

Roger zu sprechen. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin,<br />

daß es ganz natürlich aussehen mußte. Die Kinder waren alle<br />

mehr oder weniger in dem Alter, in dem Jungen nur mit Jungen<br />

und Mädchen nur mit Mädchen sprechen und jeder sich<br />

auffallende Mühe gibt, das andere Geschlecht zu übersehen.<br />

Die Gelegenheit bot sich wieder in der Kantine, als die Kinder<br />

sich dort zu einem kleinen Imbiß versammelten. Lyra<br />

schickte Pantalaimon als Fliege los, damit er an der Wand<br />

neben ihrem Tisch mit Salcilia sprach, während sie und Roger<br />

unauffällig bei ihren jeweiligen Freundinnen und Freunden<br />

saßen und ihre Milch schlürften. Weil es schwierig war, sich zu<br />

unterhalten, solange die Aufmerksamkeit des Dæmons auf<br />

etwas anderes gerichtet war, machte Lyra ein mürrisches und<br />

rebellisches Gesicht. Mit ihren Gedanken war sie halb bei dem<br />

leisen Gesumm der beiden Dæmonen, und sie hörte dem<br />

Gespräch der Mädchen kaum zu, als plötzlich eines mit auffallend<br />

hellblonden Haaren einen Namen erwähnte, der sie hochfahren<br />

ließ.<br />

Es war der Name von Tony Makarios. Als Lyras Aufmerksamkeit<br />

abgelenkt wurde, erstarb Pantalaimons Flüstern mit<br />

Rogers Dæmon, und die beiden Kinder lauschten dem blonden<br />

Mädchen.<br />

Aufgeregt steckten alle die Köpfe zusammen.<br />

282


»Nein, ich weiß, warum sie ihn weggebracht haben«, sagte<br />

das Mädchen. »Sein Dæmon hat sich nämlich nicht verwandelt.<br />

Sie hielten ihn für älter, als er aussah oder behauptete, und<br />

glaubten, er sei in Wirklichkeit gar kein kleines Kind mehr.<br />

Aber sein Dæmon hat sich deshalb nicht besonders oft verwandelt,<br />

weil sich Tony nie viel Gedanken über irgendwas gemacht<br />

hat. Ich habe mal gesehen, wie er sich verwandelt hat. Er hieß<br />

Ratter…«<br />

»Warum interessieren die Leute hier sich so für Dæmonen?«<br />

fragte Lyra.<br />

»Das weiß keiner«, antwortete das blonde Mädchen.<br />

»Doch, ich weiß es«, sagte ein Junge, der zugehört hatte. »Sie<br />

töten deinen Dæmon, um festzustellen, ob du dann auch<br />

stirbst.«<br />

»Aber warum machen sie das mit so vielen verschiedenen<br />

Kindern?« fragte jemand. »Dann würde doch eigentlich einmal<br />

reichen, oder?«<br />

»Ich weiß, was sie machen«, sagte das Mädchen.<br />

Alle sahen sie an. Aber weil sie nicht wollten, daß das Personal<br />

merkte, worüber sie sich unterhielten, wandten sie sich<br />

gleich wieder ab und taten gleichgültig und desinteressiert,<br />

während sie wie gebannt lauschten.<br />

»Woher?« fragte jemand.<br />

»Weil ich bei ihm war, als sie ihn abholten. Wir waren in der<br />

Wäschekammer.«<br />

Sie lief dunkelrot an. Aber die höhnischen Bemerkungen<br />

oder Hänseleien, die sie vielleicht erwartet hatte, blieben aus.<br />

Die Kinder waren still und grinsten nicht einmal.<br />

»Wir waren ganz leise«, fuhr das Mädchen fort, »und dann<br />

kam auf einmal die Schwester rein, die mit der sanften Stimme,<br />

und sagte: ›Komm mit, Tony, ich weiß, daß du hier bist. Komm<br />

mit, wir tun dir nicht weh…‹ Und er fragte: ›Was tun sie denn<br />

mit mir?‹ Und sie sagte: ›Du darfst ein bißchen schlafen, und<br />

283


wir machen eine kleine Operation, und dann wachst du gesund<br />

und munter wieder au£‹ Aber Tony glaubte ihr nicht. Er<br />

sagte…«<br />

»Die Löcher!« sagte jemand. »Ich wette, die machen einem ein<br />

Loch in den Kopf wie die Tataren!«<br />

»Sei still! Was hat die Schwester noch gesagt?« sagte jemand<br />

anders. Inzwischen drängten sich ein gutes Dutzend wißbegieriger<br />

Kinder mit ihren nicht weniger neugierigen Dæmonen<br />

um den Tisch des Mädchens und lauschten gespannt und mit<br />

aufgerissenen Augen.<br />

»Tony wollte wissen, was sie mit Ratter vorhatten«, sagte das<br />

Mädchen. »Die Schwester sagte: ›Er schläft auch, genau wie du.‹<br />

Und dann sagte Tony: ›Sie wollen ihn töten, stimmt’s? Ich weiß<br />

es. Das wissen wir doch alle.‹ Und die Schwester sagte: ›Nein,<br />

das ist nicht wahr. Es ist nur eine kleine Operation, ein kleiner<br />

Schnitt. Es tut nicht einmal weh. Daß wir dich dabei schlafen<br />

lassen, ist nur eine Vorsichtsmaßnahmen«<br />

Im ganzen Raum herrschte jetzt Totenstille. Die aufsichtführende<br />

Schwester war kurz hinausgegangen, und die Durchreiche<br />

zur Küche war geschlossen, so daß auch dort niemand<br />

etwas hören konnte.<br />

»Was denn für ein Schnitt?« fragte ein Junge mit leiser,<br />

ängstlicher Stimme. »Hat sie das gesagt?«<br />

»Sie hat nur gesagt, daß man davon schneller erwachsen<br />

würde. Und daß es bei jedem gemacht werden müßte und daß<br />

sich deswegen die Dæmonen von Erwachsenen nicht mehr verwandeln<br />

wie unsere. Also mit dem Schnitt kriegen sie hin, daß<br />

die Dæmonen für immer dieselbe Form behalten, und so wird<br />

man dann erwachsen.«<br />

»Aber…«<br />

»Heißt das…«<br />

»Wie? Haben alle Erwachsenen so einen Schnitt machen lassen?«<br />

284


»Was ist mit…«<br />

Plötzlich brachen die Stimmen ab, als wären auch sie abgeschnitten<br />

worden, und alle Augen richteten sich auf die Tür.<br />

Dort stand Schwester Clara, sanft und freundlich und sachlich,<br />

und neben ihr ein Mann in einem weißen Kittel, den Lyra noch<br />

nicht gesehen hatte.<br />

»Bridget McGinn«, rief er.<br />

Das blonde Mädchen stand zitternd auf. Sein Eichhörnchendæmon<br />

krallte sich an seine Brust.<br />

»Ja, Sir?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.<br />

»Trink aus und begleite Schwester Clara«, sagte er. »Ihr anderen<br />

geht in eure Klassen.«<br />

Gehorsam stapelten die Kinder ihre Becher auf dem Teewagen<br />

aus rostfreiem Stahl und gingen schweigend hinaus. Keiner<br />

außer Lyra sah Bridget an, und nur Lyra bemerkte die panische<br />

Angst im Gesicht des blonden Mädchens.<br />

Den restlichen Vormittag verbrachten sie beim Sport. Da<br />

Sport im Freien während der langen Polarnacht unmöglich<br />

war, gab es in der Station eine kleine Turnhalle, in der die verschiedenen<br />

Kindergruppen unter Aufsicht einer Schwester<br />

abwechselnd spielten. Sie mußten Mannschaften bilden und<br />

Ball spielen, und Lyra, die das noch nie in ihrem Leben getan<br />

hatte, wußte zunächst weder aus noch ein. Aber weil sie flink<br />

und sportlich und eine geborene Anführerin war, machte ihr<br />

das Spiel schon bald großen Spaß. Die kleine Turnhalle war von<br />

Kindergeschrei und dem Quietschen und Gejohle der Daemonen<br />

erfüllt, und bald waren alle ängstlichen Gedanken verscheucht<br />

— was natürlich der Zweck der Übung war.<br />

Als die Kinder zur Mittagszeit wieder in der Kantine anstanden,<br />

hörte Lyra, wie Pantalaimon jemand begrüßte, und als sie sich<br />

umdrehte, stand direkt hinter ihr Billy Costa.<br />

»Roger hat mir erzählt, du wärst hier«, murmelte er.<br />

285


»Dein Bruder kommt und John Faa und eine ganze Gruppe<br />

von Gyptern«, sagte Lyra. »Sie holen dich nach Hause.«<br />

Fast hätte Billy vor Freude aufgeschrieen, doch er konnte den<br />

Schrei gerade noch zu einem Husten unterdrücken.<br />

»Und du mußt mich Lizzie nennen«, sagte Lyra, »auf gar keinen<br />

Fall Lyra. Und du mußt mir alles erzählen, was du weißt,<br />

ja?«<br />

Sie setzten sich zusammen mit Roger an einen Tisch, was<br />

beim Mittagessen, wenn die Kinder häufig zwischen den<br />

Tischen und der Durchreiche hin- und hergingen und die<br />

Kantine überfüllt war, leichter war als sonst. Übertönt vom<br />

Geklapper des Bestecks und der Teller erzählten Billy und<br />

Roger alles, was sie wußten. Wie Billy von einer Schwester<br />

erfahren hatte, wurden die Kinder nach der Operation oft in<br />

weiter südlich gelegene Heime gebracht, was erklären konnte,<br />

wieso Tony Makarios in der Wildnis umhergeirrt war. Aber<br />

Roger hatte Lyra noch etwas Interessanteres zu berichten.<br />

»Ich habe ein Versteck entdeckt«, sagte er.<br />

»Was? Wo?«<br />

»Sieh dir mal das Bild an.« Er meinte das große Photogramm<br />

mit dem tropischen Strand. »Siehst du die Deckenplatte über<br />

der Ecke rechts oben?«<br />

Die Decke bestand aus großen rechteckigen Platten, befestigt<br />

in einem Gitter aus Metallstreben, und die Ecke der Platte über<br />

dem Bild war leicht angehoben.<br />

»Als ich das gesehen habe, dachte ich, daß es bei den anderen<br />

ähnlich sein könnte. Also habe ich sie angehoben, und sie sind<br />

tatsächlich alle locker. Sie lassen sich ganz einfach hochdrücken.<br />

Bevor dieser Junge weggebracht wurde, haben wir beide es einmal<br />

nachts in unserem Schlafsaal ausprobiert. Über den Platten<br />

ist ein Zwischenraum, in den man hineinkriechen kann…«<br />

»Wohin kommt man dann?«<br />

»Keine Ahnung. Wir sind nur ein kleines Stück hineingekro­<br />

286


chen. Wir haben gedacht, notfalls könnten wir uns dort oben<br />

verstecken, aber man würde uns wahrscheinlich finden.«<br />

Man konnte sich da oben nicht nur verstecken, dachte Lyra,<br />

sondern auch irgendwohin gelangen. Das war das Beste, was sie<br />

seit ihrer Ankunft gehört hatte. Aber bevor sie sich weiter<br />

unterhalten konnten, klopfte ein Arzt energisch mit einem<br />

Löffel auf den Tisch und begann zu sprechen.<br />

»Kinder«, sagte er, »hört mir bitte genau zu. Wir müssen ab<br />

und zu einen Probealarm durchführen. Dabei ist sehr wichtig,<br />

daß wir uns alle ordentlich anziehen und dann ganz ruhig nach<br />

draußen gehen. Deshalb üben wir heute nachmittag Feueralarm.<br />

Wenn die Klingel läutet, müßt ihr sofort alles unterbrechen,<br />

was ihr gerade macht, und tun, was die Erwachsenen in<br />

eurer Nähe sagen. Merkt euch, wohin ihr gebracht werdet.<br />

Dorthin müßt ihr nämlich gehen, wenn es wirklich einmal<br />

brennt.«<br />

Hm, dachte Lyra, keine schlechte Idee!<br />

Am frühen Nachmittag wurden Lyra und vier andere Mädchen<br />

nach Staub untersucht. Die Ärzte sagten das zwar nicht,<br />

doch war es leicht zu erraten. Die Mädchen wurden nacheinander<br />

in ein Labor geführt, und natürlich zitterten sie vor Angst.<br />

Wie schrecklich wäre es, dachte Lyra, wenn sie umkäme, bevor<br />

sie zuschlagen konnte! Aber offenbar sollte die Operation jetzt<br />

noch nicht durchgeführt werden.<br />

»Wir wollen ein paar Messungen vornehmen«, erklärte der<br />

Arzt. Es war schwer, diese Leute voneinander zu unterscheiden:<br />

Die Männer sahen sich in ihren weißen Kitteln und mit ihren<br />

Blöcken und Stiften zum Verwechseln ähnlich, und die Frauen<br />

wirkten in ihren Trachten und mit ihrem seltsam sanften und<br />

ruhigen Benehmen, als wären sie alle miteinander verwandt.<br />

»Ich bin doch gestern schon gemessen worden«, sagte Lyra.<br />

»Aber heute messen wir etwas anderes. Stell dich auf die<br />

Metallplatte — ach, zieh bitte zuerst die Schuhe aus. Deinen<br />

287


Dæmon kannst du ruhig festhalten. Die Augen nach vorn — ja,<br />

so — sieh genau auf das kleine grüne Licht. So ist es brav…«<br />

Es blitzte. <strong>Der</strong> Arzt drehte sie herum, dann nach links und<br />

nach rechts, und jedesmal klickte und blitzte es.<br />

»Ausgezeichnet. Jetzt tritt bitte an diesen Apparat und lege<br />

deine Hand in die Röhre. Es tut nicht weh, ich verspreche es.<br />

Streck die Finger aus. Gut so.«<br />

»Was messen Sie eigentlich?« fragte Lyra. »Staub?«<br />

»Wer hat dir denn das gesagt?«<br />

»Eins von den anderen Mädchen, ich weiß nicht, wie sie<br />

heißt. Sie hat gesagt, wir wären alle voller Staub. Aber ich bin<br />

nicht staubig, jedenfalls glaub ich das nicht. Ich hab erst gestern<br />

geduscht.«<br />

»Aber das ist eine andere Art von Staub. Mit den Augen<br />

kannst du ihn nicht sehen. Es ist ein besonderer Staub. Jetzt<br />

mach eine Faust — genau so. Gut. Wenn du da drin herumtastest,<br />

findest du eine Art Griff – hast du ihn? Halte ihn fest, so<br />

ist es brav. Und jetzt lege deine andere Hand hier drauf— auf<br />

diese Messingkugel. Gut. Ausgezeichnet. Jetzt spürst du gleich<br />

ein leichtes Kribbeln, nichts Schlimmes, nur eine kleine anbarische<br />

Spannung…«<br />

Pantalaimon strich, aufs äußerste gespannt und wachsam, in<br />

Gestalt einer Wildkatze mit mißtrauisch gehetztem Blick um<br />

den Apparat. Zwischendurch kehrte er immer wieder zu Lyra<br />

zurück, um sich an ihr zu reiben.<br />

Sie war mittlerweile überzeugt, daß die Operation jetzt noch<br />

nicht an ihr vorgenommen würde und daß ihre Tarnung als<br />

Lizzie Brooks sicher war. Deshalb riskierte sie eine Frage.<br />

»Wieso schneiden Sie den Menschen die Dæmonen ab?«<br />

»Was? Wer hat dir denn das erzählt?«<br />

»Das Mädchen, dessen Namen ich nicht weiß. Sie hat gesagt,<br />

Sie würden den Menschen die Dæmonen abschneiden.«<br />

»Unsinn…«<br />

288


Er war jedoch ziemlich erregt.<br />

»Weil Sie ein Kind nach dem anderen wegbringen und nie<br />

eins zurückkommt«, fuhr Lyra fort. »Einige sagen, daß Sie sie<br />

einfach töten, und andere sagen etwas anderes, und dieses Mädchen<br />

sagte, Sie schneiden…«<br />

»Das stimmt überhaupt nicht. Wenn wir Kinder fortbringen,<br />

dann nur deshalb, weil es Zeit für sie ist, woanders hinzugehen.<br />

Sie werden erwachsen. Deine Freundin regt sich leider ganz<br />

unbegründet auf. Nichts davon ist wahr! Denk gar nicht darüber<br />

nach. Wer ist denn deine Freundin?«<br />

»Ich bin erst gestern angekommen und kenne noch niemand<br />

beim Namen.«<br />

»Wie sieht sie denn aus?«<br />

»Hab ich vergessen. Ich glaube, sie hatte braune Haare… hellbraune<br />

vielleicht… keine Ahnung.«<br />

<strong>Der</strong> Arzt besprach leise etwas mit der Schwester. Während<br />

die beiden berieten, beobachtete Lyra ihre Dæmonen. Die<br />

Schwester hatte einen hübschen Vogel, der genauso gepflegt<br />

und teilnahmslos wirkte wie Schwester Claras Hund, und der<br />

Dæmon des Arztes war eine große, dicke Motte. Keiner von<br />

beiden rührte sich. Sie waren zwar wach, denn die Augen des<br />

Vogels glänzten und die Fühler der Motte bewegten sich träge,<br />

aber sie waren nicht so lebendig, wie Lyra eigentlich erwartet<br />

hätte. Sie schienen beide weder Sorge noch Neugier zu kennen.<br />

Kurz darauf kam der Arzt zurück, und sie setzten die Untersuchung<br />

fort: Lyra und Pantalaimon wurden einzeln gewogen,<br />

dann wurde Lyra hinter einem speziellen Wandschirm untersucht,<br />

ihr Puls wurde gemessen, und schließlich wurde sie unter<br />

eine Meine Düse gestellt, aus der es zischte und ein Geruch nach<br />

frischer Luft kam.<br />

Mitten in einer dieser Untersuchungen begann plötzlich<br />

eine Klingel zu schrillen. Das Klingeln hörte nicht mehr auf.<br />

289


»<strong>Der</strong> Feueralarm«, sagte der Arzt seufzend. »Also schön, Lizzie,<br />

dann geh mit Schwester Betty.«<br />

»Aber ihre warmen Sachen sind alle unten im Schlafsaal. So<br />

kann sie nicht raus. Finden Sie nicht, wir sollten zuerst hinuntergehen?«<br />

<strong>Der</strong> Arzt war verärgert, weil er seine Experimente hatte<br />

unterbrechen müssen, und schnippte wütend mit den Fingern.<br />

»Vermutlich sollen genau solche Dinge bei der Übung aufgedeckt<br />

werden«, sagte er. »Wie ärgerlich!«<br />

»Als ich gestern ankam«, sagte Lyra hilfsbereit, »hat Schwester<br />

Clara meine anderen Sachen in einen Schrank in dem Zimmer<br />

gelegt, in dem sie mich untersucht hat. Das Zimmer<br />

nebenan. Die könnte ich doch anziehen.«<br />

»Eine gute Idee!« sagte die Schwester. »Also dann, schnell.«<br />

Innerlich jubelnd eilte Lyra der Schwester nach, holte ihre<br />

eigenen Pelze, Gamaschen und Stiefel aus dem Schrank und zog<br />

sie rasch an, während die Schwester in einen Anorak aus Kohleseide<br />

schlüpfte.<br />

Dann hasteten sie hinaus. Auf dem weiten Platz vor den<br />

Hauptgebäuden befanden sich schon etwa hundert Erwachsene<br />

und Kinder; einige waren aufgeregt, andere ärgerlich und viele<br />

einfach nur verwirrt.<br />

»Sehen Sie?« sagte gerade ein Erwachsener. »Eine solche<br />

Übung lohnt sich schon allein deshalb, weil sie uns zeigt, was<br />

für ein Chaos bei einem wirklichen Feuer ausbrechen würde.«<br />

Jemand blies in eine Trillerpfeife und fuchtelte mit den<br />

Armen, aber niemand beachtete ihn. Lyra sah Roger und<br />

winkte ihn zu sich. Roger hakte Billy Costa unter, und bald liefen<br />

sie zu dritt durch das Gewühl der anderen Kinder.<br />

»Keiner merkt, wenn wir uns ein wenig umsehen«, sagte<br />

Lyra. »Sie brauchen eine Ewigkeit, um alle zu zählen, und wir<br />

sagen einfach, wir wären hinter jemand anders hergelaufen und<br />

hätten uns verirrt.«<br />

290


Sie warteten, bis die Erwachsenen in die andere Richtung<br />

sahen, dann kratzte Lyra mit den Händen etwas Schnee zusammen,<br />

klopfte ihn zu einem pulverigen Schneeball fest und<br />

schleuderte ihn aufs Geratewohl in die Menge. Im nächsten<br />

Augenblick taten alle Kinder dasselbe, und schon flogen lauter<br />

Schneebälle durch die Luft. Die Rufe, mit denen die Erwachsenen<br />

versuchten, die Ordnung wiederherzustellen, gingen in<br />

dem Gejohle völlig unter, und dann waren die drei Kinder auch<br />

schon um die Ecke verschwunden.<br />

Wegen des hohen Schnees kamen sie zwar nur langsam<br />

voran, doch da ihnen niemand folgte, war das nicht weiter<br />

schlimm. Sie kletterten über das gewölbte Dach eines Tunnels<br />

und standen plötzlich in einer seltsamen Mondlandschaft aus<br />

regelmäßig geformten Buckeln und Mulden, die weiß verhüllt<br />

unter dem schwarzen Himmel lagen, nur beleuchtet vom Licht<br />

der Lampen um den großen Platz.<br />

»Was suchen wir eigentlich?« fragte Billy.<br />

»Keine Ahnung. Wir sehen uns einfach mal um«, sagte Lyra<br />

und ging voraus zu einem etwas abseits stehenden, niedrigen,<br />

quadratischen Gebäude, an dessen Ecke eine schwache anbarische<br />

Lampe brannte.<br />

<strong>Der</strong> Tumult hinter ihnen war immer noch laut zu hören,<br />

kaum gedämpft durch die Entfernung. Die Kinder nutzten ihre<br />

Freiheit aus, und Lyra hoffte, sie würden es möglichst lange tun.<br />

Auf der Suche nach einem Fenster lief sie um das quadratische<br />

Gebäude herum. Das Haus war nur ungefähr zwei Meter hoch<br />

und im Unterschied zu den anderen Gebäuden nicht durch<br />

einen Tunnel mit der übrigen Station verbunden.<br />

Es gab zwar kein Fenster, aber sie entdeckte eine Tür. Darüber<br />

stand in roten Buchstaben: EINTRITT STRENG VERBO­<br />

TEN. Lyra wollte gerade ausprobieren, ob sich die Tür öffnen<br />

ließ, doch bevor sie noch die Klinke drücken konnte, rief Roger:<br />

»Seht mal! Ein Vogel! Oder…«<br />

291


Seinem Oder waren deutliche Zweifel anzuhören, denn was<br />

da vom Himmel herabstieß, war gar kein Vogel. Lyra hatte dieses<br />

Wesen schon einmal gesehen.<br />

»<strong>Der</strong> Dæmon der Hexe!«<br />

Die Gans landete mit ausgebreiteten Schwingen inmitten<br />

einer Schneewolke.<br />

»Sei gegrüßt, Lyra«, sagte sie. »Ich bin dir hierher gefolgt,<br />

auch wenn du mich nicht gesehen hast. Ich habe die ganze Zeit<br />

daraufgewartet, daß du ins Freie kommst. Was ist passiert?«<br />

Rasch berichtete Lyra ihr alles. »Wo sind die Gypter?« fragte<br />

sie dann. »Ist John Faa verletzt? Konnten sie die Samojeden<br />

abwehren?«<br />

»Den meisten geht es gut. John Faa wurde verwundet, allerdings<br />

nicht schwer. Die Männer, die dich entführt haben, waren<br />

Jäger, die oft Reisende überfallen und ausrauben, und sie sind<br />

allein natürlich schneller als eine große Gruppe. Die Gypter<br />

brauchen noch einen Tag, bis sie hier sind.«<br />

Die beiden Jungen starrten den Gänsedæmon ängstlich an.<br />

Sie staunten, daß Lyra ihn so gut kannte, denn natürlich hatten<br />

sie nie zuvor einen Dæmon ohne seinen Menschen gesehen<br />

und wußten fast nichts über Hexen.<br />

»Hört mal«, sagte Lyra zu ihnen, »haltet lieber Wache, ja?<br />

Billy, du gehst da rüber, und du, Roger, bewachst den Weg, den<br />

wir gekommen sind. Wir haben nicht viel Zeit.«<br />

Die beiden rannten sofort los, und Lyra wandte sich wieder<br />

der Tür zu.<br />

»Warum willst du da hinein?« fragte der Gänsedæmon.<br />

»Weil an diesem Ort schreckliche Dinge geschehen. Sie<br />

schneiden nämlich« — Lyra senkte die Stimme — »sie<br />

schneiden<br />

Menschen die Dæmonen ab. Den Kindern. Und vielleicht tun<br />

sie es hier drin. Jedenfalls ist hier etwas faul, und ich wollte<br />

nachsehen. Aber die Tür ist abgeschlossen…«<br />

»Ich kann sie aufmachen«, sagte die Gans und schlug ein<br />

292


paarmal mit den Flügeln. Schnee wirbelte gegen die Tür, und<br />

Lyra hörte, wie sich im Schloß etwas drehte.<br />

»Jetzt geh vorsichtig hinein«, sagte der Dæmon.<br />

Lyra zog die Tür gegen den Widerstand des Schnees auf und<br />

schlüpfte hinein. <strong>Der</strong> Gänsedæmon folgte ihr. Pantalaimon zitterte<br />

vor Angst, weil er aber dem Dæmon der Hexe seine Angst<br />

nicht zeigen wollte, suchte er Zuflucht an Lyras Brust und versteckte<br />

sich in ihren Pelzen.<br />

Sobald sich Lyras Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten,<br />

sah sie, weshalb: Auf Regalen an den Wänden standen Glasbehälter<br />

aufgereiht, in denen sich geisterhafte Wesen in Gestalt<br />

von Katzen, Vögeln, Ratten und anderen Tieren bewegten, alle<br />

zutiefst verstört, verängstigt und aschfahl: die Dæmonen der<br />

abgeschnittenen Kinder.<br />

<strong>Der</strong> Dæmon der Hexe stieß einen zornigen Laut aus, und<br />

Lyra drückte Pantalaimon an sich und sagte: »Sieh nicht hin!<br />

Sieh bloß nicht hin!«<br />

»Wo sind die Kinder dieser Dæmonen?« fragte der Gänsedämon.<br />

Er bebte vor Wut.<br />

Den Tränen nahe, erzählte Lyra von ihrer Begegnung mit<br />

dem kleinen Tony Makarios und sah dabei über die Schulter zu<br />

den armen, eingesperrten Dæmonen hin, die in ihren Behältern<br />

nach vorn gekommen waren und die bleichen Gesichter an die<br />

Scheiben preßten. Lyra hörte leise, qualvolle Schmerzensschreie.<br />

Im dämmrigen Licht einer schwachen anbarischen<br />

Birne sah sie, daß an der Vorderseite der Behälter Namensschilder<br />

angebracht waren, und wahrhaftig, da stand auch ein leerer<br />

Behälter mit dem Namen Tony Makarios. Es gab insgesamt fünf<br />

oder sechs leere Kästen mit Namensschildern.<br />

»Ich lasse diese armen Dinger frei!« sagte sie wild entschlossen.<br />

»Ich schlage die Scheiben ein und lasse sie hinaus…«<br />

Suchend sah sie sich nach einem geeigneten Werkzeug um,<br />

aber der Raum war völlig leer.<br />

293


»Warte«, sagte der Gänsedæmon.<br />

Er war nicht nur der Dæmon einer Hexe, sondern auch<br />

wesentlich älter und stärker als Lyra. Sie mußte tun, was er sagte.<br />

»Die Leute müssen glauben, jemand hätte vergessen, die Tür<br />

zu verriegeln und die Käfige zu schließen«, erklärte er. »Wenn<br />

sie Scherben und Fußstapfen im Schnee entdecken, erwischen<br />

sie dich schnell. Aber sie dürfen dir nicht auf die Spur kommen,<br />

bis die Gypter hier sind. Tu jetzt genau, was ich dir sage: Hole<br />

eine Handvoll Schnee, und wenn ich es sage, bläst du der Reihe<br />

nach ein wenig davon an jeden Käfig.«<br />

Lyra rannte hinaus. Roger und Billy standen noch Wache,<br />

und von dem großen Platz drang immer noch Geschrei und<br />

Gelächter herüber, denn in der Zwischenzeit war höchstens<br />

eine Minute vergangen.<br />

Lyra schaufelte sich die Hände voll Pulverschnee und kehrte<br />

in das Gebäude zurück, um zu tun, was die Gans gesagt hatte.<br />

Jedesmal, wenn sie etwas Schnee an einen Käfig blies, ließ die<br />

Gans ein schnalzendes Geräusch ertönen, und der Riegel an der<br />

Vorderseite der Behälter sprang auf.<br />

Als Lyra alle Käfige entriegelt hatte, hob sie die Klappe des<br />

ersten an, und die bleiche Gestalt eines Spatzen flatterte hinaus.<br />

Bevor der Spatz sich allerdings fangen und fliegen konnte, fiel<br />

er auf den Boden. Zärtlich beugte die Gans sich hinunter und<br />

stupste ihn mit dem Schnabel an, um ihn aufzurichten. Daraufhin<br />

verwandelte sich der Spatz in eine Maus, die verstört hin<br />

und her rannte. Pantalaimon sprang hinab, um die Maus zu<br />

beruhigen.<br />

Lyra beeilte sich, sosehr sie konnte, und innerhalb weniger<br />

Minuten waren alle Dæmonen befreit. Einige versuchten zu<br />

sprechen, sie scharten sich um ihre Füße oder versuchten sogar,<br />

an ihren Gamaschen zu zupfen, obwohl ein Tabu sie zurückhielt.<br />

Lyra verstand die armen Dinger; sie vermißten die<br />

Wärme und Geborgenheit ihrer Menschen und sehnten sich<br />

294


danach, sich an ein schlagendes Herz zu pressen. Pantalaimon<br />

wäre es nicht anders ergangen.<br />

»Nun aber schnell«, sagte die Gans. »Lauf wieder zu den<br />

anderen Kindern zurück, Lyra. Sei tapfer, Kind, die Gypter<br />

kommen, so schnell sie können. Ich muß jetzt diesen armen<br />

Dæmonen helfen, ihre Menschen wiederzufinden…« Sie kam<br />

näher und sagte leise: »Sie werden nie wieder mit ihnen eins<br />

werden. Sie sind für immer getrennt. Das ist wirklich die größte<br />

Schandtat, die ich je gesehen habe… Laß nur die Fußabdrücke,<br />

ich verwische sie schon. Beeil dich lieber…«<br />

»Bitte, noch eins, bevor du gehst! Die Hexen… Sie können<br />

doch fliegen, oder? Ich habe doch nicht geträumt, als ich sie<br />

neulich nachts fliegen sah?«<br />

»Ja, Kind. Warum?«<br />

»Könnten sie einen Ballon ziehen?«<br />

»Sicher, aber…«<br />

»Kommt Serafina Pekkala?«<br />

»Ich habe jetzt keine Zeit, um dir die Politik der Hexenvölker<br />

zu erklären. Dabei sind gewaltige Kräfte am Werk, und Serafina<br />

Pekkala muß die Interessen ihres Stammes wahren. Aber vielleicht<br />

ist das, was hier geschieht, ein Teil von dem, was<br />

anderswo geschieht. Jetzt lauf aber, Lyra, du wirst sicher schon<br />

vermißt. Lauf!«<br />

Lyra rannte los. Roger, der mit aufgerissenen Augen die bleichen<br />

Dæmonen aus dem Gebäude herausströmen sah, stapfte<br />

ihr mühsam durch den hohen Schnee entgegen.<br />

»Das sind — das sind ja Dæmonen! Wie in der Krypta in Jordan.«<br />

»Ja, aber pst! Sag Billy nichts davon. Sag es noch keinem!<br />

Komm, wir müssen zurück.«<br />

Hinter ihnen schlug die Gans mächtig mit den Flügeln und<br />

wehte Schnee über die Fußspuren der Kinder. Um sie herum<br />

sammelten sich die verlorenen Dæmonen, die vor Einsamkeit<br />

295


und Sehnsucht traurig piepsten. Als die Fußabdrücke verwischt<br />

waren, drehte die Gans sich um und trieb die bleichen Daemonen<br />

zusammen. Sie sprach zu ihnen, und nacheinander verwandelten<br />

sich alle in Vögel, wenn auch mit sichtlicher Anstrengung.<br />

Als wären sie gerade erst flügge geworden, flatterten und<br />

fielen und rannten sie durch den Schnee hinter dem Dæmon<br />

der Hexe her und hoben schließlich unter großen Mühen ab.<br />

Nacheinander stiegen sie auf, geisterhaft bleiche Wesen vor<br />

einem tiefschwarzen Himmel, und gewannen langsam an<br />

Höhe, auch wenn einige vor lauter Schwäche taumelten und<br />

andere aufgaben und wieder hinunterflatterten. Aber die große<br />

graue Gans umkreiste sie, stupste sie zurück und trieb sie sanft<br />

vorwärts, bis sie in der tiefen Dunkelheit verschwunden waren.<br />

Roger zerrte Lyra am Arm.<br />

»Schnell«, sagte er, »sie sind fast fertig.«<br />

Sie rannten stolpernd zu Billy, der ihnen von der Ecke des<br />

Hauptgebäudes aus zuwinkte. Entweder die Kinder waren<br />

mittlerweile müde geworden, oder die Erwachsenen hatten<br />

sich wieder durchgesetzt, jedenfalls bildeten sich unter großem<br />

Gedrängel und Geschubse am Haupteingang gerade unordentliche<br />

Reihen. Lyra und die beiden Jungen huschten aus dem<br />

Schatten der Ecke, um sich unter die Kinder zu mischen.<br />

»Sagt allen Kindern«, wies Lyra sie zuletzt noch an, »sie<br />

sollen<br />

sich bereit machen zur Flucht. Sie müssen wissen, wo ihre Wintersachen<br />

sind und sie sofort holen und ins Freie rennen, sobald<br />

wir ihnen das Zeichen geben. Sie dürfen aber niemandem etwas<br />

davon sagen, verstanden?«<br />

Billy nickte und Roger fragte: »Was für ein Zeichen?«<br />

»<strong>Der</strong> Feueralarm«, sagte Lyra. »Wenn es soweit ist, löse ich<br />

ihn aus.«<br />

Sie warteten darauf, abgezählt zu werden. Wenn ein Mitglied<br />

der Oblations-Behörde Erfahrung mit Schulkindern gehabt<br />

hätte, wäre wahrscheinlich alles besser organisiert worden. So<br />

296


aber mußte, da die Kinder nicht zu bestimmten Gruppen<br />

gehörten, jedes Kind einzeln von der gesamten, natürlich nicht<br />

alphabetisch geordneten Liste abgehakt werden, und da außerdem<br />

offensichtlich keiner der Erwachsenen gewohnt war, für<br />

Ordnung zu sorgen, herrschte, obwohl mittlerweile niemand<br />

mehr herumrannte, ein großes Durcheinander.<br />

Lyra beobachtete alles aufmerksam. Von Ordnung verstand<br />

man hier jedenfalls kaum etwas. So vieles war schlampig geregelt:<br />

Die Angestellten murrten über Probealarm, hatten keine<br />

Ahnung, wo die warmen Kleider aufbewahrt wurden, und<br />

brachten es nicht einmal fertig, daß Kinder sich in ordentlichen<br />

Reihen aufstellten. Vielleicht konnte sie sich diese Nachlässigkeit<br />

ja zunutze machen.<br />

Kurz bevor man mit dem Abzählen fertig war, kam eine<br />

neue Ablenkung, allerdings war, was jetzt geschah, aus Lyras<br />

Sicht das Schlimmste, was überhaupt passieren konnte.<br />

Sie hörte das Geräusch gleichzeitig mit den anderen Kindern.<br />

Köpfe drehten sich nach oben und suchten den Himmel<br />

nach dem Zeppelin ab, dessen pochender Gasmotor die Stille<br />

zerriß.<br />

Glücklicherweise kam der Zeppelin nicht aus der Richtung,<br />

in die der Gänsedæmon geflogen war, sondern aus der entgegengesetzten.<br />

Aber das war auch der einzige Trost. Wenig später<br />

war das Luftschiff in Sichtweite, und ein aufgeregtes Murmeln<br />

ging durch die Menge. <strong>Der</strong> elegant gewölbte, silberne Rumpf<br />

schwebte über die Lichterallee, und die Lichter am Bug und in<br />

der unterhalb des Rumpfes hängenden Gondel strahlten hell<br />

nach unten.<br />

<strong>Der</strong> Pilot drosselte die Geschwindigkeit und begann mit<br />

dem komplizierten Manöver der Landung. Nun erkannte Lyra<br />

auch den Zweck des dicken Mastes: Es war natürlich ein Ankermast.<br />

Während die Erwachsenen die Kinder, die immer wieder<br />

auf das Luftschiff zeigten und ihren Blick nicht davon losreißen<br />

297


konnten, ins Gebäude zurückführten, kletterte die Bodenmannschaft<br />

die Leitern im Mast hoch, um die Ankerseile entgegenzunehmen<br />

und zu befestigen. Die Motoren heulten,<br />

Schnee wirbelte auf, und an den Fenstern der Gondel erschienen<br />

die Gesichter der Passagiere.<br />

Lyra sah hinüber — nein, ein Irrtum war ausgeschlossen.<br />

Pantalaimon klammerte sich an sie, verwandelte sich in eine<br />

Wildkatze und fauchte haßerfüllt, denn aus einem der Fenster<br />

blickte neugierig der schöne, von dunklem Haar umrahmte<br />

Kopf von Mrs. Coulter, und auf ihrem Schoß saß der <strong>goldene</strong><br />

Affe.<br />

298


Sechzehn<br />

Die silberne Guillotine<br />

Sofort zog Lyra den Kopf unter die schützende Kapuze aus<br />

Marderpelz und schob sich mit den anderen Kindern durch die<br />

Doppeltüren. Was sie sagen wollte, wenn sie Mrs. Coulter<br />

gegenüberstand, konnte sie sich später noch überlegen, zuerst<br />

mußte sie ein anderes Problem lösen: Wo konnte sie ihre Kleider<br />

aus Fell verstecken, damit sie nicht um Erlaubnis fragen<br />

mußte, wenn sie sie brauchte?<br />

Zum Glück herrschte im Haus, wo die Erwachsenen die<br />

Kinder zur Eile antrieben, um den Weg für die Passagiere aus<br />

dem Zeppelin frei zu machen, ein solches Durcheinander, daß<br />

niemand Lyra weiter beachtete. Sie schlüpfte aus Anorak,<br />

Gamaschen und Stiefeln, wickelte alles zu einem möglichst<br />

kleinen Bündel zusammen und drängelte dann durch die überfüllten<br />

Gänge zu ihrem Schlafsaal.<br />

Dort schob sie rasch einen Spind in die Ecke, stieg hinauf und<br />

drückte gegen die Zimmerdecke. Die Platte ließ sich anheben,<br />

genau wie Roger gesagt hatte, und Lyra schob Stiefel und<br />

Gamaschen in den Zwischenraum darüber. Sie überlegte kurz,<br />

dann nahm sie auch das Alethiometer aus dem Beutel, versteckte<br />

es in der innersten Tasche des Anoraks und stopfte beides<br />

in dieselbe Lücke.<br />

Sie sprang vom Spind herunter, rückte ihn wieder an seinen<br />

299


Platz zurück und sagte flüsternd zu Pantalaimon: »Wir stellen<br />

uns einfach dumm, bis sie uns sieht, und dann sagen wir, wir<br />

wären entführt worden. Und kein Wort über die Gypter und<br />

schon gar nicht über Iorek Byrnison.«<br />

Denn jetzt merkte Lyra, wenn sie es nicht schon die ganze<br />

Zeit gewußt hatte, daß ihre ganze Angst sich auf Mrs. Coulter<br />

richtete wie eine Kompaßnadel auf den Pol. Mit all den anderen<br />

Dingen, die sie gesehen hatte, war sie fertig geworden, sogar mit<br />

der unmenschlich grausamen Interzision, denn sie war stark.<br />

Doch jedesmal, wenn sie an das freundliche Gesicht und die<br />

sanfte Stimme dachte und sich den verspielten, <strong>goldene</strong>n Affen<br />

vorstellte, krampfte sich ihr Magen zusammen, und sie wurde<br />

blaß und hätte sich am liebsten übergeben.<br />

Aber die Gypter waren ja auf dem Weg hierher. Daran<br />

mußte sie denken. Und an Iorek Byrnison. Und sie durfte sich<br />

nicht verraten. Langsam ging sie zur Kantine zurück, aus der ihr<br />

schon von weitem Lärm entgegenkam.<br />

Die Kinder standen Schlange nach heißen Getränken, einige<br />

von ihnen noch in den Anoraks aus Kohleseide. Alle Gespräche<br />

kreisten um den Zeppelin und seinen Passagier.<br />

»Sie war es, ich habe sie erkannt… mit dem Affendæmon…«<br />

»Hat sie dich auch hergelockt?«<br />

»Sie hat gesagt, sie schreibt meiner Mum und meinem Dad,<br />

aber ich wette, sie hat es nie getan…«<br />

»Daß Kinder umgebracht werden, hat sie nicht gesagt. Kein<br />

Wort davon.«<br />

»<strong>Der</strong> Affe, der ist wirklich am schlimmsten… er hat meine<br />

Karossa gefangen und hätte sie fast getötet… mir wurde ganz<br />

schlecht…«<br />

Die Kinder hatten genauso viel Angst wie Lyra. Sie entdeckte<br />

Annie und ihre Freundinnen und setzte sich zu ihnen an den<br />

Tisch.<br />

»Hört zu«, sagte sie, »könnt ihr ein Geheimnis bewahren?«<br />

300


»Klar!«<br />

Die drei blickten sie erwartungsvoll an.<br />

»Es gibt nämlich einen Fluchtplan«, sagte Lyra leise. »Und<br />

zwar kommen ein paar Leute her, um uns zu befreien. Sie müßten<br />

ungefähr in einem Tag hier sein, vielleicht auch schon früher.<br />

Jedenfalls müßt ihr euch bereit halten. Sobald das Zeichen<br />

gegeben wird, müssen alle sofort ihre Wintersachen holen und<br />

rausrennen. Ihr dürft dann nicht mehr warten und rumstehen,<br />

sondern müßt gleich losrennen. Aber ihr braucht unbedingt<br />

eure Anoraks und Stiefel, sonst kommt ihr in der Kälte um.«<br />

»Was für ein Zeichen?« fragte Annie.<br />

»<strong>Der</strong> Feueralarm, wie heute nachmittag. Es ist alles organisiert.<br />

Wir müssen allen Kindern Bescheid sagen, aber so, daß es<br />

die Erwachsenen nicht erfahren. Vor allem darf sie es nicht wissen.«<br />

Die Augen der Mädchen leuchteten vor Hoffnung und Aufregung.<br />

Nach und nach verbreitete sich die Nachricht in der<br />

ganzen Kantine, und Lyra spürte deutlich, wie die Stimmung<br />

umschlug. Draußen hatten die Kinder noch ausgelassen<br />

gespielt, und dann waren sie, kaum daß sie Mrs. Coulter gesehen<br />

hatten, vor unterdrückter Angst und Hysterie ganz außer<br />

sich gewesen; jetzt dagegen machten sie einen gefaßten und<br />

entschlossenen Eindruck. Lyra staunte, was Hoffnung alles<br />

bewirkte.<br />

Aufmerksam spähte sie durch die offene Tür, bereit, sich<br />

sofort zu ducken, denn auf dem Flur näherten sich Stimmen<br />

von Erwachsenen, und dann war Mrs. Coulter selbst kurz zu<br />

sehen, sie sah herein und lächelte den Kindern zu. Wie gut die<br />

Kleinen es hier doch hatten, im Warmen und mit heißen<br />

Getränken und Kuchen! Ein Schauer lief durch die Kantine,<br />

und die Kinder verstummten und starrten Mrs. Coulter an.<br />

Mrs. Coulter lächelte und ging weiter, ohne etwas zu sagen.<br />

Nach und nach wurden die Gespräche wiederaufgenommen.<br />

301


»Wohin gehen sie, wenn sie sich unterhalten wollen?« fragte<br />

Lyra.<br />

»Meistens ins Konferenzzimmer«, sagte Annie. »Einmal<br />

wurden wir da auch hingebracht«, fügte sie hinzu. Damit<br />

meinte sie sich und ihren Dæmon. »Es waren ungefähr zwanzig<br />

Erwachsene anwesend, und einer von ihnen hat einen Vortrag<br />

gehalten, und ich mußte mich hinstellen und tun, was er sagte,<br />

zum Beispiel ausprobieren, wie weit sich mein Kyrillion von<br />

mir entfernen konnte. Und dann hat er mich hypnotisiert und<br />

noch andere Sachen gemacht… Es ist ein großer Raum mit vielen<br />

Stühlen und Tischen und einem kleinen Podium; er liegt<br />

direkt hinter dem Empfangsbüro. He, ich wette, sie tun jetzt so,<br />

als ob der Probealarm wunderbar geklappt hätte. Ich könnte<br />

wetten, daß sie genauso Angst vor ihr haben wie wir…«<br />

Den Rest des Tages, beim Turnen, Nähen, Abendessen und<br />

beim anschließenden Spielen, hielt sich Lyra in der Nähe der<br />

anderen Mädchen auf, sprach wenig, sah aufmerksam um sich<br />

und verhielt sich möglichst unauffällig. Gespielt wurde im<br />

Gemeinschaftsraum, einem großen, heruntergekommenen<br />

Zimmer, in dem es Brettspiele, ein paar zerfledderte Bücher<br />

und eine Tischtennisplatte gab. Irgendwann bemerkten Lyra<br />

und die anderen Kinder, daß offenbar etwas nicht stimmte,<br />

denn die Erwachsenen hasteten aufgeregt ins Zimmer und wieder<br />

hinaus oder standen in besorgten Gruppen zusammen und<br />

redeten aufeinander ein. Sie hatten die Flucht der Dæmonen<br />

entdeckt, vermutete Lyra, und wunderten sich jetzt, wie das<br />

möglich war.<br />

Zu ihrer Erleichterung sah sie jedoch nirgends Mrs. Coulter.<br />

Als es Zeit zum Schlafengehen war, beschloß sie, die anderen<br />

Mädchen in ihren Plan einzuweihen.<br />

»Sagt mal«, fragte sie, »gehen die Schwestern eigentlich<br />

immer noch einmal durch die Zimmer und kontrollieren, ob<br />

wir schlafen?«<br />

302


»Sie sehen einmal rein«, sagte Bella, »und leuchten kurz mit<br />

der Laterne herum, schauen aber eigentlich nicht richtig nach.«<br />

»Gut. Ich will mich nämlich ein bißchen umsehen. Ein Junge<br />

hat mir gezeigt, daß es einen Gang über der Decke gibt…«<br />

Sie erklärte den Mädchen, was sie wußte, und noch ehe sie<br />

fertig war, sagte Annie: »Ich komme mit!«<br />

»Nein, besser nicht. Es fällt nicht so auf, wenn nur eine fehlt.<br />

Und ihr könnt dann alle sagen, ihr hättet geschlafen und wüßtet<br />

nicht, wo ich sei.«<br />

»Aber wenn ich mitkäme…«<br />

»Erwischen sie uns nur leichter«, sagte Lyra.<br />

Die beiden Dæmonen der Mädchen starrten sich an, Pantalaimon<br />

in Gestalt einer Wildkatze, Annies Kyrillion als Fuchs.<br />

Beide zitterten. Pantalaimon stieß sein leisestes Fauchen aus<br />

und bleckte die Zähne, worauf Kyrillion sich umdrehte und<br />

sich wie unbeteiligt zu putzen begann.<br />

»Na gut«, meinte Annie resigniert.<br />

Streitfälle zwischen Kindern wurden häufig dadurch<br />

geschlichtet, daß ein Dæmon nach kurzem Kräftemessen die<br />

Überlegenheit des anderen anerkannte. Da die Menschen eine<br />

solche Entscheidung meist ohne Groll akzeptierten, wußte<br />

Lyra, daß Annie tun würde, was sie von ihr verlangte.<br />

Alle steuerten Kleidungsstücke bei, um Lyras Bett so auszustopfen,<br />

als liege sie unter der Decke, und versprachen, so zu<br />

tun, als ob sie von nichts wußten. Lyra horchte an der Tür, um<br />

sicherzugehen, daß niemand kam, schwang sich auf den Spind,<br />

drückte die Deckenplatte nach oben und zog sich hinauf.<br />

»Verratet bloß nichts«, flüsterte sie den drei Gesichtern zu,<br />

die zu ihr heraufsahen.<br />

Sie ließ die Platte sacht an ihren Platz zurückgleiten und<br />

blickte sich um.<br />

Sie kauerte in einer schmalen Metallrinne, die von einem<br />

Gerüst von Trägern und Verstrebungen getragen wurde. Die<br />

303


Deckenplatten ließen etwas Licht von unten durch, und in ihm<br />

sah Lyra, daß sich der niedrige, nur gut einen halben Meter<br />

hohe Zwischenraum nach allen Richtungen ausdehnte. In dem<br />

Gewirr aus Leitungen und Rohren konnte man sich zwar leicht<br />

verirren, aber solange sie auf den Metall trägern blieb, die Platten<br />

nicht belastete und keinen Lärm machte, müßte sie eigentlich<br />

von einem Ende der Station zum anderen gelangen können.<br />

»Genau wie damals in Jordan, Pan«, flüsterte sie, »als wir uns<br />

ins Ruhezimmer geschlichen haben.«<br />

»Hättest du das nicht getan, wäre das alles nicht passiert«, flüsterte<br />

er zurück.<br />

»Dann muß ich das auch wiedergutmachen, findest du nicht,<br />

Pan?«<br />

Sie sah sich um, überlegte, wo das Konferenzzimmer liegen<br />

mußte, und machte sich auf den Weg. Es war alles andere als<br />

leicht. <strong>Der</strong> Zwischenraum war so niedrig, daß sie nur auf allen<br />

vieren kriechen konnte, und ab und zu mußte sie sich auch<br />

noch unter einem breiten Lüftungsschacht hindurchzwängen<br />

oder über Heizungsrohre rutschen. Soweit sie beurteilen<br />

konnte, verliefen die Metallrinnen, durch die sie kroch, auf den<br />

Mauern der Zimmerwände und machten einen vertrauenerweckend<br />

stabilen Eindruck Dafür waren sie sehr schmal und<br />

hatten so scharfe Kanten, daß sie sich Knöchel und Knie daran<br />

aufschnitt und nach kurzer Zeit überall wund, voller Staub und<br />

vom Bücken ganz verkrampft war.<br />

Aber sie wußte ungefähr, wo sie sich befand, und sah auch<br />

den dunklen Kleiderhaufen, den sie in die Decke über dem<br />

Schlafsaal gestopft hatte und der ihr als Orientierung für den<br />

Rückweg dienen konnte. Leere Zimmer erkannte sie an den<br />

dunklen Deckenplatten. Gelegentlich hörte sie Stimmen von<br />

unten und hielt inne, um zu lauschen, aber es waren nur die<br />

Angestellten in der Küche oder die Schwestern in ihrem Auf­<br />

304


enthaltsraum, wie Lyra mit ihren in Jordan gemachten Erfahrungen<br />

vermutete. Da sie über nichts Interessantes sprachen,<br />

kroch Lyra weiter.<br />

Schließlich kam sie an die Stelle, wo ihren Berechnungen<br />

nach das Konferenzzimmer sein mußte, und tatsächlich lag<br />

eine Fläche ohne Rohrleitungen vor ihr, ein großes Rechteck<br />

gleichmäßig erleuchteter Platten, an dessen Ende verschiedene<br />

Rohre für Klimaanlage und Heizung hinunterführten. Sie legte<br />

das Ohr auf eine Platte, und als sie leise Männerstimmen hörte,<br />

wußte sie, daß sie am Ziel war.<br />

Sie horchte eine Weile, dann schob sie sich zentimeterweise<br />

so nah es ging an die Sprechenden heran. Schließlich lag sie der<br />

Länge nach in der Metallrinne, den Kopf über den Rand<br />

gestreckt, um möglichst viel zu verstehen.<br />

Anscheinend aßen sie, während sie sich unterhielten, denn<br />

ab und zu klapperte Besteck, oder es klirrte ein Glas, wenn eingeschenkt<br />

wurde. Sie hörte vier Stimmen, einschließlich der<br />

von Mrs. Coulter. Die anderen drei waren Männerstimmen.<br />

Offenbar sprachen sie über die entflohenen Dæmonen.<br />

»Wer ist eigentlich für die Überwachung dieses Bereichs<br />

zuständig?« fragte die sanfte, melodische Stimme von Mrs.<br />

Coulter.<br />

»Einer unserer Forscher namens McKay«, antwortete einer<br />

der Männer. »Aber wir haben automatische Vorrichtungen eingebaut,<br />

um solche Vorfälle zu verhindern…«<br />

»Sie haben nicht funktioniert.«<br />

»Mit Verlaub, doch, Mrs. Coulter. Wie McKay uns versichert,<br />

hat er alle Käfige verriegelt, als er heute um elf das<br />

Gebäude verließ. Die Außentür war sowieso zu, da er wie<br />

immer durch die Tür im Inneren hinein- und hinausging. Um<br />

die Schlösser zu kontrollieren, muß ein Code in den Ordinator<br />

eingegeben werden, und daß er das getan hat, wurde aufgezeichnet.<br />

Wenn das nicht geschieht, wird ein Alarm ausgelöst.«<br />

305


»Aber der Alarm wurde nicht ausgelöst«, sagte sie.<br />

»Doch, nur leider waren in diesem Moment alle draußen<br />

und nahmen am Probealarm teil.«<br />

»Aber als Sie wieder hereinkamen…«<br />

»Dummerweise gehören beide Alarmsysteme zu ein und<br />

demselben Stromkreis, ein Konstruktionsfehler, der behoben<br />

werden muß. Folglich wurde nach der Übung nicht nur der<br />

Feueralarm, sondern zugleich auch der Alarm im Labor abgeschaltet.<br />

Doch selbst dann hätten wir es eigentlich noch entdekken<br />

müssen, da wir normalerweise nach jeder außerplanmäßigen<br />

Unterbrechung Kontrollen durchführen. Aber genau zu<br />

diesem Zeitpunkt sind Sie, Mrs. Coulter, unerwartet eingetroffen<br />

und wollten, wenn Sie sich erinnern, ausgerechnet das<br />

Laborpersonal sofort in Ihrem Zimmer sprechen. Deshalb kam<br />

erst einige Zeit später wieder jemand ins Labor.«<br />

»Ich verstehe«, sagte Mrs. Coulter kalt. »Also müssen die<br />

Dæmonen während des Probealarms befreit worden sein. Das<br />

heißt, daß alle Erwachsenen der Station zum Kreis der Verdächtigen<br />

gehören. Haben Sie das bedacht?«<br />

»Haben Sie daran gedacht, daß es auch ein Kind gewesen sein<br />

kann?« fragte eine andere Männerstimme.<br />

Mrs. Coulter schwieg, und der andere Mann fuhr fort: »Jeder<br />

Erwachsene hatte eine bestimmte Aufgabe, die seine ganze<br />

Konzentration erforderte, und alle Aufgaben wurden erfüllt.<br />

Deshalb kann unmöglich jemand vom Personal die Labortür<br />

geöffnet haben. Also ist entweder jemand von außerhalb ins<br />

Labor eingedrungen, oder eins der Kinder hat das Labor ausfindig<br />

gemacht und Tür und Käfige geöffnet, um anschließend<br />

unbemerkt auf den Platz vors Hauptgebäude zurückzukehren.«<br />

»Und wie wollen Sie das feststellen?« sagte Mrs. Coulter.<br />

»Nein, ich will es gar nicht wissen. Bitte, Doktor Cooper, verstehen<br />

Sie, daß ich Sie nicht aus Bösartigkeit kritisiere, aber wir<br />

müssen einfach extrem vorsichtig sein. Beide Alarmsysteme in<br />

306


denselben Stromkreis zu legen war ein ungeheuerlicher Fehler,<br />

der sofort behoben werden muß. Vielleicht kann der für die<br />

Wache zuständige tatarische Offizier Ihnen bei der Untersuchung<br />

helfen. Ich erwähne das lediglich als Möglichkeit. Wo<br />

waren überhaupt die Tataren während des Probealarms? Ich<br />

nehme an, Sie haben das bereits geklärt.«<br />

»Ja, das haben wir«, antwortete der Mann mißmutig. »Die<br />

Wachsoldaten waren vollzählig auf ihrer Runde durch das<br />

Gelände. Sie führen penibel Buch darüber.«<br />

»Ich bin überzeugt, daß Sie Ihr Bestes tun«, sagte Mrs. Coulter.<br />

»Tja, jetzt können wir es nicht mehr ändern. Ein Jammer!<br />

Aber gut, erzählen Sie mir lieber vom neuen Separator.«<br />

Lyra überlief ein Angstschauder. Das konnte nur eines<br />

bedeuten.<br />

»Jawohl«, sagte der als Doktor Cooper angesprochene Mann,<br />

offenbar erleichtert, daß die Unterhaltung zu einem anderen<br />

Thema wechselte. »Damit haben wir wirklich Fortschritte<br />

gemacht. Beim ersten Modell konnten wir das Risiko, daß der<br />

Patient an Schock starb, ja nicht völlig ausschalten, doch diese<br />

Schwachstelle haben wir nun entscheidend verbessert.«<br />

»Die Skrälinge waren mit der Hand besser«, meinte ein<br />

Mann, der bisher noch nichts gesagt hatte.<br />

»Jahrhundertelange Übung«, sagte der andere Mann.<br />

»Einfaches Auseinanderreißen war eben eine Zeitlang die einzige<br />

Möglichkeit«, sagte daraufhin der Wortführer, »so qualvoll<br />

das auch für die die Operation durchführenden Erwachsenen<br />

war. Wie Sie sich vielleicht erinnern, mußten wir eine beträchtliche<br />

Zahl von ihnen wegen streßbedingter Angstzustände entlassen.<br />

<strong>Der</strong> erste große Durchbruch gelang schließlich mit dem<br />

Einsatz des anbarischen Maystadt-Skalpells unter Narkose.<br />

Dadurch konnten wir die Sterblichkeitsrate durch operationsbedingten<br />

Schock auf unter fünf Prozent drücken.«<br />

»Und das neue Gerät?« fragte Mrs. Coulter.<br />

307


Lyra zitterte, und das Blut pochte in ihren Ohren. Pantalaimon<br />

preßte sich in Gestalt eines Hermelins an sie und flüsterte:<br />

»Pst, Lyra, das werden sie nicht tun — wir werden es nicht zulassen…«<br />

»Na ja, im Grunde verdanken wir die neue Methode einer<br />

merkwürdigen Entdeckung von Lord Asriel. Er fand heraus,<br />

daß Dæmonen sich mit einer Legierung aus Mangan und Titan<br />

vom menschlichen Körper isolieren lassen. Was ist eigentlich<br />

mit Lord Asriel passiert?«<br />

»Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört«, sagte Mrs. Coulter,<br />

»aber Lord Asriel wurde zum Tode verurteilt, die Strafe<br />

wurde allerdings noch ausgesetzt. Zu den Bedingungen seiner<br />

Verbannung nach Svalbard gehörte auch, daß er seine philosophische<br />

Arbeit völlig aufgab. Bedauerlicherweise gelang es ihm<br />

trotzdem, sich Bücher und Material zu beschaffen und seine<br />

ketzerischen Untersuchungen so weit voranzutreiben, daß es<br />

ausgesprochen gefährlich wäre, ihn am Leben zu lassen. Jedenfalls<br />

denkt das Geistliche Disziplinargericht inzwischen offenbar<br />

über die Vollstreckung des Urteils nach, und vermutlich<br />

wird es dazu kommen. Aber nun zu Ihrem neuen Gerät, Doktor.<br />

Erklären Sie mir, wie es funktioniert.«<br />

»Ach — zum Tode verurteilt, sagen Sie? Großer Gott… das<br />

tut mir aber leid. Tja, also das neue Gerät… Wir untersuchen<br />

gerade die Auswirkungen der Interzision bei nichtbetäubten<br />

Patienten, was natürlich mit dem Maystadt-Verfahren unmöglich<br />

war. Dazu haben wir eine Art… Guillotine entwickelt, wie<br />

man es nennen könnte, mit einer Klinge aus einer Mangan-<br />

Titan-Legierung. Kind und Dæmon kommen in zwei einzelne,<br />

aber miteinander verbundene Kabinen — kleine Zellen, sozusagen<br />

— aus einem Maschendraht aus derselben Legierung.<br />

Solange die beiden Kabinen miteinander verbunden sind,<br />

besteht natürlich auch die Verbindung zwischen Kind und<br />

Dæmon weiter, aber sobald die Klinge herunterfällt, wird die<br />

308


Verbindung abgeschnitten, und von da an sind sie getrennte<br />

Wesen.«<br />

»Das möchte ich mir ansehen«, sagte Mrs. Coulter, »und<br />

zwar möglichst bald. Doch jetzt bin ich müde und werde wohl<br />

schlafen gehen. Morgen will ich alle Kinder sehen. Wir finden<br />

schon heraus, wer diese Tür geöffnet hat.«<br />

Stühle wurden zurückgeschoben, dann wurden höfliche<br />

Abschiedsworte gewechselt und eine Tür geschlossen. Lyra<br />

hörte, wie die Männer sich wieder setzten und sich weiterunterhielten,<br />

allerdings leiser als zuvor.<br />

»Was hat Lord Asriel vor?«<br />

»Er hat meiner Meinung nach eine grundsätzlich andere<br />

Auffassung vom Wesen des Staubes. Weil aber das Geistliche<br />

Disziplinargericht natürlich nur die offizielle Deutung zuläßt,<br />

macht er sich damit im höchsten Maße der Ketzerei schuldig.<br />

Außerdem plant er Experimente…«<br />

»Experimente? Mit Staub?«<br />

»Pst! Nicht so laut…«<br />

»Glauben Sie, daß Mrs. Coulter einen negativen Bericht<br />

schreibt?«<br />

»Nein, nein. Ich finde, Sie sind sehr geschickt mit ihr umgegangen.«<br />

»Ihre Einstellung macht mir Sorgen…«<br />

»Sie halten sie für unphilosophisch?«<br />

»Genau. Sie verfolgt persönliche Interessen. Ich sage es nur<br />

ungern, aber ich finde das fast schon makaber.«<br />

»Das ist doch übertrieben.«<br />

»Aber erinnern Sie sich denn nicht mehr an die ersten Versuche,<br />

als sie es kaum erwarten konnte, zu sehen, wie sie auseinandergerissen<br />

wurden…«<br />

Unwillkürlich entfuhr Lyra ein Aufschrei. Sie zuckte am<br />

ganzen Körper zusammen und stieß mit dem Fuß gegen einen<br />

Eisenträger.<br />

309


»Was war das?«<br />

»In der Decke…«<br />

»Schnell!«<br />

Man hörte Stühlerücken und hastige Schritte, und ein Tisch<br />

wurde über den Boden geschoben. Lyra versuchte rückwärts<br />

wegzukriechen, aber es war zu eng, und sie hatte erst ein kleines<br />

Stück zurückgelegt, als die Deckenplatte vor ihr hochgestoßen<br />

wurde und sie direkt in das entsetzte Gesicht eines Mannes<br />

blickte. Es war so nah, daß sie jedes einzelne Haar seines<br />

Schnurrbartes erkennen konnte. <strong>Der</strong> Mann erschrak genauso<br />

wie sie. Aber er konnte sich freier bewegen als sie. Er streckte<br />

seinen Arm aus und bekam Lyras Handgelenk zu fassen.<br />

»Ein Kind!«<br />

»Halten Sie es fest…«<br />

Lyra grub die Zähne in die große sommersprossige Hand.<br />

<strong>Der</strong> Mann schrie auf, ließ aber nicht los, auch dann nicht, als sie<br />

Blut schmeckte. Pantalaimon knurrte und spuckte, aber es<br />

nützte nichts, der Mann war viel stärker als Lyra und zerrte<br />

unerbittlich an ihr, bis sie den Eisenträger, den sie verzweifelt<br />

mit der anderen Hand umklammerte, loslassen mußte und<br />

kopfüber ins Zimmer hinunterrutschte.<br />

Immer noch blieb sie stumm. Die Beine in den scharfen<br />

Rand der Metallrinne über ihr eingehakt, wehrte sie sich, mit<br />

dem Kopf nach unten hängend, in verzweifelter Wut. Sie<br />

kratzte, biß, boxte und spuckte, und die Männer keuchten vor<br />

Anstrengung und stöhnten vor Schmerzen auf, aber sie zogen<br />

immer weiter. Und auf einmal verließen Lyra all ihre Kräfte.<br />

Als hätte eine fremde Hand tief in sie hineingegriffen, dorthin,<br />

wo keine Hand etwas zu suchen hatte, und etwas gepackt, was<br />

ihr unendlich viel bedeutete.<br />

Vor Schock war sie wie gelähmt, und ihr wurde schwindlig<br />

und übel.<br />

Einer der Männer hielt Pantalaimon fest<br />

310


Mit seinen menschlichen Händen hatte er Lyras Dæmon<br />

gepackt, und der arme Pan, vor Entsetzen und Ekel ganz außer<br />

sich, zitterte jämmerlich. Sein Wildkatzenfell verlor im einen<br />

Augenblick vor Schwäche allen Glanz, dann wieder sprühte es<br />

anbarische Funken… Er streckte sich zu Lyra hinüber, und Lyra<br />

streckte beide Hände nach ihm aus…<br />

Dann gaben sie auf. Sie waren gefangen.<br />

Diese Hände… Lyra spürte sie wie an ihrem eigenen Körper<br />

… Dabei war es doch verboten… Man durfte Dæmonen nicht<br />

berühren… ein Frevel.<br />

»War sie allein?«<br />

Ein Mann spähte in den Zwischenraum über der Decke.<br />

»Scheint so…«<br />

»Wer ist sie?«<br />

»Das neue Kind.«<br />

»Das die samojedischen Jäger…«<br />

»Ja.«<br />

»Meinen Sie nicht, daß sie vielleicht… die Dæmonen…«<br />

»Durchaus möglich. Aber doch wohl kaum allein.«<br />

»Sollten wir Mrs. Coulter davon…«<br />

»Das würde das Faß zum Überlaufen bringen, meinen Sie<br />

nicht auch?«<br />

»Doch. Besser, sie erfährt überhaupt nichts davon.«<br />

»Aber was machen wir mit dem Mädchen?«<br />

»Sie kann unmöglich wieder zu den anderen Kindern<br />

zurück.«<br />

»Ausgeschlossen!«<br />

»Mir scheint, wir haben nur eine Möglichkeit.«<br />

»Jetzt gleich?«<br />

»Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir können es nicht auf<br />

morgen verschieben. Sie will doch dabei zusehen.«<br />

»Wir könnten es einfach tun, ohne daß jemand etwas davon<br />

erfährt.«<br />

311


<strong>Der</strong> dritte Mann, anscheinend der Vorgesetzte der anderen<br />

beiden, die Lyra und Pantalaimon festhielten, schlug sich<br />

unschlüssig mit dem Daumennagel an die Zähne. Unruhig<br />

schössen seine Augen hin und her. Schließlich nickte er.<br />

»Also gut, jetzt, tun Sie es jetzt«, sagte er. »Sonst redet sie<br />

noch. <strong>Der</strong> Schock wird das wenigstens verhindern. Sie wird sich<br />

nicht erinnern können, wer sie ist und was sie gesehen und<br />

gehört hat… Los!«<br />

Lyra brachte keinen Ton heraus und bekam kaum Luft. Hilflos<br />

mußte sie zulassen, daß sie durch die Station getragen<br />

wurde, durch weiße, menschenleere Gänge, vorbei an Räumen,<br />

in denen anbarischer Strom summte, vorbei an den Schlafsälen,<br />

in denen die Kinder schlummerten, neben sich auf den Kopfkissen<br />

ihre Dæmonen, von denen sie nicht einmal beim Träumen<br />

getrennt waren; und keine Sekunde ließ sie Pantalaimon<br />

aus den Augen, und auch er blickte sie ununterbrochen an und<br />

streckte die Pfote nach ihr aus.<br />

Schließlich blieben sie vor einer Tür stehen, die mit Hilfe<br />

eines großen Rades geöffnet wurde; Luft zischte, und dann<br />

standen sie in einem hell erleuchteten Raum mit blendend weißen<br />

Kacheln und glänzendem Stahl. Die Angst verursachte Lyra<br />

beinahe körperliche Schmerzen, und dann tat es wirklich weh,<br />

als sie und Pantalaimon zu einem großen Käfig aus silbrigem<br />

Maschendraht gezerrt wurden, über dem eine große, glänzende<br />

Klinge schwebte, die sie für immer und ewig trennen würde.<br />

Endlich fand sie ihre Stimme wieder und schrie. Ohrenbetäubend<br />

hallte ihr Geschrei von den glänzenden Wänden und<br />

Oberflächen wider, doch da hatte sich die schwere Tür schon<br />

zischend geschlossen. Lyra konnte schreien, solange sie wollte —<br />

kein Laut würde nach außen dringen.<br />

Aber als Antwort auf ihr Schreien wand Pantalaimon sich aus<br />

den verhaßten Händen und stürzte sich fauchend, kratzend und<br />

beißend auf die Männer, die gar nicht so schnell reagieren<br />

312


konnten, wie er sich verwandelte: Als Löwe mit nadelspitzen<br />

Krallen, als Adler mit wild schlagenden Schwingen, dann als<br />

Wolf, als Bär oder als Iltis sprang und flog er so rasch von einem<br />

Ort zum anderen, daß sie mit ihren Händen ins Leere griffen.<br />

Doch natürlich hatten auch sie Dæmonen, und so kämpften<br />

nicht zwei gegen drei, sondern zwei gegen sechs. Die Dæmonen<br />

der Männer, ein Dachs, eine Eule und ein Pavian, versuchten<br />

alle gleichzeitig, Pantalaimon zu Boden zu drücken. »Warum?<br />

Warum tut ihr das?« schrie Lyra verzweifelt. »So helft uns doch!<br />

Wie könnt ihr denen helfen?«<br />

Und sie trat und biß noch heftiger als zuvor, bis der Mann,<br />

der sie festhielt, aufschrie und einen Moment lang losließ.<br />

Schon war sie frei, und Pantalaimon sprang wie ein Blitz zu ihr,<br />

und sie preßte ihn heftig atmend an die Brust. Tief grub er seine<br />

Wildkatzenkrallen in ihr Fleisch, doch der stechende Schmerz<br />

war wie Balsam für ihre Seele.<br />

»Nein! Nein! Nein!« schrie sie, und mit dem Rücken zur<br />

Wand war sie bereit, Pantalaimon bis zum letzten Blutstropfen<br />

zu verteidigen.<br />

Aber dann fielen sie wieder über sie her, die drei großen,<br />

brutalen Männer, und sie war doch nur ein verschrecktes und<br />

verängstigtes Kind. Sie entrissen ihr Pantalaimon, stießen sie in<br />

den einen Teil des Drahtkäfigs und sperrten ihn, der sich noch<br />

immer drehte und wand, in den anderen. Auch wenn sie jetzt<br />

durch Maschendraht voneinander getrennt waren — noch war<br />

er ein Teil von ihr, noch waren sie miteinander verbunden. Für<br />

eine Sekunde, vielleicht auch für zwei, war er noch ihre Seele.<br />

Über dem Keuchen der Männer, ihrem eigenen Schluchzen<br />

und dem gellenden Heulen ihres Dæmons hörte Lyra ein summendes<br />

Geräusch. Sie sah, wie ein aus der Nase blutender Mann<br />

eine Reihe von Schaltern betätigte. Die beiden anderen Männer<br />

blickten nach oben. Lyra folgte ihrem Blick. Langsam fuhr die<br />

große, helle Silberklinge zur Decke; sie blitzte und funkelte in<br />

313


dem grellen Licht. <strong>Der</strong> letzte Augenblick ihres Lebens würde<br />

bei weitem der schlimmste sein.<br />

»Was geht hier vor?« fragte eine helle, melodische Stimme —<br />

ihre Stimme. Alle erstarrten.<br />

»Was machen Sie denn da? Und was ist das für ein Kind…«<br />

Sie sprach das Wort Kind nicht zu Ende, denn in diesem<br />

Moment erkannte sie Lyra. Durch einen Tränenschleier sah<br />

Lyra, wie sie zu einer Bank wankte und sich daran festklammerte.<br />

Das so schöne und beherrschte Gesicht wirkte auf einmal<br />

grau und eingefallen und von namenlosem Grauen<br />

gezeichnet.<br />

»Lyra«, flüsterte sie.<br />

Wie der Blitz schoß der <strong>goldene</strong> Affe von ihrer Schulter und<br />

zerrte Pantalaimon aus dem Drahtkäfig, während Lyra sich aus<br />

eigener Kraft befreite. Pantalaimon strampelte sich sofort aus<br />

den fürsorglichen Affenpfoten und taumelte in Lyras Arme.<br />

»Nie, nie«, hauchte sie in sein Fell, und er preßte sein klopfendes<br />

Herz an ihre Brust.<br />

Wie Schiffbrüchige, die an einer einsamen Küste gestrandet<br />

waren, klammerten sie sich zitternd aneinander. Lyra hörte<br />

Mrs. Coulter mit den Männern sprechen, aber so undeutlich,<br />

daß sie nicht wußte, ob sie ärgerlich war oder nicht. Dann verließen<br />

sie den schrecklichen Raum. Auf dem Flur mußte Mrs.<br />

Coulter Lyra halb tragen, und schließlich kamen sie zu einer<br />

Tür und betraten ein Schlafzimmer. Das Licht war gedämpft,<br />

Parfüm hing in der Luft.<br />

Sanft legte Mrs. Coulter Lyra auf das Bett. Lyra hielt Pantalaimon<br />

so fest umklammert, daß ihr Arm zitterte. Zärtlich<br />

strich eine Hand ihr über den Kopf.<br />

»Mein liebes Kind«, sagte die melodische Stimme. »Wie<br />

kommst du denn hierher?«<br />

314


Siebzehn<br />

Die Hexen<br />

Lyra stöhnte und zitterte so unbeherrscht, als sei sie gerade halb<br />

erfroren aus eisigem Wasser gezogen worden. Pantalaimon war<br />

in ihre Kleider gekrochen, lag ganz ruhig an ihre Haut<br />

geschmiegt und brachte Lyra mit seiner Liebe langsam wieder<br />

zu sich, ohne dabei jedoch Mrs. Coulter aus den Augen zu lassen,<br />

die damit beschäftigt war, ein Getränk zuzubereiten, und<br />

erst recht beobachtete er den <strong>goldene</strong>n Affen, dessen ledrige<br />

kleine Finger in einem Moment, in dem nur Pantalaimon sie<br />

sah, über Lyras Körper gehuscht waren und an ihrer Taille nach<br />

dem Beutel aus Ölzeug und seinem Inhalt getastet hatten.<br />

»Setz dich, Liebes, und trink das hier.« Sanft schlang Mrs.<br />

Coulter ihren Arm um Lyras Rücken, um sie aufzurichten.<br />

Lyra zuckte zusammen, entspannte sich jedoch sofort wieder,<br />

als Pantalaimon ihr in Gedanken zu verstehen gab: Denk<br />

dran, wir müssen uns verstellen, sonst kriegen die alles raus. Sie<br />

schlug die Augen auf, stellte fest, daß sie voller Tränen waren,<br />

und begann zu ihrer eigenen Überraschung und Beschämung,<br />

heftig zu schluchzen.<br />

Sogleich redete Mrs. Coulter ihr tröstend zu. Sie drückte<br />

dem Affen das Getränk in die Hände und tupfte Lyras Augen<br />

mit einem parfürmierten Taschentuch trocken.<br />

»Weine nur, soviel du willst, Schatz«, sagte die sanfte Stimme,<br />

315


und Lyra beschloß, so schnell wie möglich damit aufzuhören.<br />

Sie versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten, preßte<br />

die Lippen zusammen und würgte die Schluchzer hinunter,<br />

von denen sie noch immer geschüttelt wurde.<br />

Pantalaimon verwandelte sich in eine Maus, kroch aus Lyras<br />

Ärmel und schnupperte ängstlich an dem Getränk, das der Affe<br />

in den Pfoten hielt. Aber es war nur harmloser Kamillentee,<br />

nichts weiter. Er krabbelte auf Lyras Schulter und flüsterte: »Du<br />

kannst es trinken.«<br />

Lyra setzte sich auf, nahm die heiße Tasse in beide Hände<br />

und blies und schlürfte abwechselnd. Dabei hielt sie den Blick<br />

gesenkt. Sie mußte sich jetzt verstellen, wie sie es noch nie in<br />

ihrem Leben getan hatte.<br />

»Lyra, Liebes«, murmelte Mrs. Coulter und strich ihr übers<br />

Haar. »Ich dachte schon, wir hätten dich für immer verloren!<br />

Was ist bloß passiert? Hast du dich verlaufen? Hat dich jemand<br />

aus der Wohnung entführt?«<br />

»Ja«, flüsterte Lyra.<br />

»Wer war das, Liebes?«<br />

»Ein Mann und eine Frau.«<br />

»Waren es Gäste auf der Party?«<br />

»Ich glaube, ja. <strong>Der</strong> Mann sagte, Sie brauchten etwas von<br />

unten, und als ich es holen wollte, packten sie mich und brachten<br />

mich mit einem Auto weg. Aber als sie anhielten, bin ich<br />

schnell rausgesprungen und weggerannt, und sie haben mich<br />

nicht mehr erwischt. Aber ich wußte überhaupt nicht, wo ich<br />

war…«<br />

Wieder wurde Lyra von einem kurzen Weinkrampf<br />

geschüttelt, wenn auch nicht mehr so heftig wie am Anfang,<br />

und sie tat so, als habe ihre Geschichte ihn ausgelöst.<br />

»Und als ich dann überlegte, wie ich wieder zu Ihnen<br />

zurückfinden konnte, haben mich die Gobbler gefangen… und<br />

316


mich zusammen mit anderen Kindern in einen Lieferwagen<br />

gesperrt und irgendwohin gebracht, in ein großes Gebäude,<br />

aber wo es war, weiß ich nicht.«<br />

Mit jeder Sekunde, die verging, und mit jedem Satz, den sie<br />

sprach, spürte sie deutlicher, wie ihre Kräfte zurückkehrten.<br />

Was sie jetzt tat, war schwierig und vertraut zugleich und<br />

zudem unberechenbar — nämlich lügen. Es gab ihr eine gewisse<br />

Überlegenheit, dasselbe Gefühl der Kompetenz, das sie beim<br />

Lesen des Alethiometers empfand. Sie mußte aufpassen, daß sie<br />

nichts offensichtlich Unmögliches sagte; in manchen Dingen<br />

durfte sie sich nur vage ausdrücken, in anderen dagegen mußte<br />

sie glaubhafte Einzelheiten erfinden; kurzum, sie mußte ein<br />

Könner sein.<br />

»Wie lange haben sie dich denn in dem Gebäude festgehalten?«<br />

fragte Mrs. Coulter.<br />

Lyras Reise auf den Kanälen und ihr Aufenthalt bei den<br />

Gyptern hatten Wochen gedauert; für diese Zeit mußte sie sich<br />

etwas einfallen lassen. Sie erfand eine Reise mit den Gobblern<br />

nach Trollesund und dann eine Flucht, die sie mit allen Einzelheiten<br />

spickte, die sie von der Stadt noch in Erinnerung hatte;<br />

sie erzählte, daß sie in Einarssons Bar eine Zeitlang Mädchen<br />

für alles gewesen sei und danach eine Weile bei einer Bauernfamilie<br />

im Landesinnern gearbeitet habe, wo sie schließlich von<br />

den Samojeden gefangen und nach Bolvangar gebracht worden<br />

sei.<br />

»Und vorhin wollten sie uns gerade — auseinander…«<br />

»Pst, Liebes, pst! Ich werde schon herausfinden, was da passiert<br />

ist.«<br />

»Aber warum wollten die das machen? Ich habe doch gar<br />

nichts Schlimmes getan! Alle Kinder haben Angst vor dem, was<br />

hier passiert, aber niemand weiß, was das ist. Aber es ist schrecklich.<br />

Schlimmer als alles… Warum tun die das, Mrs. Coulter?<br />

Wie können die so grausam sein?«<br />

317


»Ist ja gut…Jetzt kann dir nichts mehr passieren, Liebes. Sie<br />

werden es nie wieder tun. Du bist doch jetzt bei mir und in<br />

Sicherheit, und du wirst nie wieder in Gefahr sein. Niemand<br />

wird dir etwas tun, Lyra, Liebling. Niemand wird dir jemals<br />

weh tun…«<br />

»Aber sie machen es bei den anderen Kindern! Warum?«<br />

»Ach, Liebes…«<br />

»Wegen Staub, stimmt’s?«<br />

»Haben sie dir das erzählt? Haben die Ärzte das gesagt?«<br />

»Die Kinder wissen es. Alle Kinder reden darüber, aber niemand<br />

weiß es genau! Und fast hätten sie es bei mir gemacht —<br />

Sie müssen mir sagen, warum! Sie haben kein Recht, es geheimzuhalten,<br />

jetzt nicht mehr!«<br />

»Ach, Lyra… Lyra, Lyra. Liebling, Staub und all diese Dinge<br />

sind viel zu kompliziert, als daß sich Kinder darum kümmern<br />

sollten. Aber glaube mir, was die Ärzte tun, dient nur dem<br />

Wohl der Kinder. Staub ist etwas sehr Schlechtes, ein heimtükkisches<br />

Übel. Erwachsene und ihre Dæmonen sind bereits so<br />

stark damit infiziert, daß für sie jede Hilfe zu spät kommt…<br />

Kinder können durch eine kleine Operation davor bewahrt<br />

werden. Dann haftet der Staub nicht mehr an ihnen, sie sind<br />

immun und glücklich und…«<br />

Lyra dachte an den kleinen Tony Makarios, und plötzlich<br />

beugte sie sich vor und übergab sich. Mrs. Coulter ließ sie los<br />

und wich zurück.<br />

»Ist dir übel, Liebes? Geh ins Badezimmer…«<br />

Lyra schluckte heftig und wischte sich die Tränen weg.<br />

»Sie brauchen das nicht zu tun«, sagte sie. »Lassen Sie uns<br />

doch einfach in Ruhe. Ich wette, Lord Asriel würde das niemals<br />

zulassen. Wenn er mit Staub infiziert ist und Sie und der Rektor<br />

von Jordan und alle anderen Erwachsenen, kann Staub doch gar<br />

nicht schlimm sein. Wenn ich hier rauskomme, sage ich das<br />

allen Kindern auf der Welt. Und außerdem, wenn es so gut ist,<br />

318


wieso haben Sie diese Männer dann daran gehindert, es bei mir<br />

zu machen? Wenn es gut ist, hätten Sie es zulassen sollen. Sie<br />

hätten sich darüber freuen müssen.«<br />

Mrs. Coulter schüttelte den Kopf und lächelte traurig und<br />

wissend.<br />

»Liebling«, sagte sie, »es ist nun einmal so, daß manches von<br />

dem, was gut für uns ist, uns gleichzeitig ein bißchen weh tut,<br />

und natürlich macht es andere unglücklich, wenn du unglücklich<br />

bist… Aber das heißt doch nicht, daß dir dein Dæmon weggenommen<br />

wird. Er bleibt bei dir! Meine Güte, bei vielen<br />

Erwachsenen hier wurde die Operation durchgeführt. Und die<br />

Schwestern wirken doch eigentlich ganz glücklich, oder?«<br />

Lyra starrte sie an, und plötzlich begriff sie, warum die<br />

Schwestern so seltsam leere und gleichgültige Gesichter hatten<br />

und ihre Dæmonen zu schlafwandeln schienen.<br />

Bloß nichts sagen, dachte sie und preßte die Lippen zusammen.<br />

»Liebling, kein Mensch würde auch nur im Traum daran<br />

denken, an einem Kind eine Operation vorzunehmen, die nicht<br />

vorher getestet wurde. Und in tausend Jahren würde niemand<br />

einem Kind den Dæmon ganz wegnehmen! Es wird lediglich<br />

ein kleiner Schnitt gemacht, und alles hat seine Ruhe, und zwar<br />

für immer! Weißt du, solange du jung bist, ist ein Dæmon ein<br />

wunderbarer Freund und Kamerad. Aber in dem Alter, das man<br />

Pubertät nennt, und in das du auch bald kommst, bringen einen<br />

die Dæmonen auf alle möglichen dummen Gedanken und<br />

Gefühle, und dadurch kann Staub in den Körper eindringen.<br />

Eine schnelle kleine Operation, und schon ist man alle Probleme<br />

für immer los. Und dein Dæmon bleibt ja bei dir, nur…<br />

nicht mehr mit dir verbunden. Er ist dann wie ein… wie ein<br />

kleines Schäfchen, wenn du willst. Das liebste Schäfchen der<br />

Welt! Wäre das nicht toll?«<br />

Diese gemeine Lügnerin! Wie schamlos sie log! Selbst wenn<br />

319


Lyra nicht gewußt hätte, daß es Lügen waren, und wenn sie<br />

weder Tony Makarios noch die eingesperrten Dæmonen gesehen<br />

hätte, hätte sie sie aus tiefstem Herzen verabscheut. Ihre<br />

Seele, ihr allerliebster Freund sollte abgeschnitten und zu<br />

einem flauschigen Kuscheltier degradiert werden? Lyra glühte<br />

geradezu vor Haß, und Pantalaimon verwandelte sich in ihren<br />

Armen in einen fauchenden Iltis, seine häßlichste und bösartigste<br />

Gestalt überhaupt.<br />

Aber sie sagten beide nichts. Lyra hielt Pantalaimon fest und<br />

duldete, daß Mrs. Coulter ihr übers Haar strich.<br />

»Trink deinen Kamillentee aus«, sagte Mrs. Coulter sanft.<br />

»Wir lassen hier noch ein Bett für dich aufstellen. Meine kleine<br />

Assistentin braucht doch nicht in einem Schlafsaal mit vielen<br />

anderen Mädchen zu schlafen, jetzt, wo ich sie endlich wiederhabe.<br />

Meine liebste Assistentin! Die beste Assistentin der Welt.<br />

Weißt du, daß wir ganz London nach dir abgesucht haben, Liebes?<br />

Und wir haben die Polizei alle Städte nach dir durchsuchen<br />

lassen. Wie sehr ich dich vermißt habe! Ich kann dir gar<br />

nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß ich dich wiedergefunden<br />

habe…«<br />

<strong>Der</strong> <strong>goldene</strong> Affe strich die ganze Zeit unruhig umher; hatte<br />

er gerade noch mit nervös zuckendem Schwanz auf dem Tisch<br />

gehockt, klammerte er sich schon im nächsten Moment an Mrs.<br />

Coulter und zwitscherte ihr leise etwas ins Ohr, um kurz darauf<br />

mit erhobenem Schwanz über den Fußboden zu marschieren.<br />

Deutlicher hätte er Mrs. Coulters Ungeduld kaum verraten<br />

können, und schließlich konnte sie sich nicht länger beherrschen.<br />

»Lyra, Liebes«, sagte sie, »der Rektor von Jordan hat dir vor<br />

deiner Abreise doch etwas gegeben, oder? Ein Alethiometer.<br />

Das Problem ist nur, daß er das gar nicht hätte tun dürfen, denn<br />

es gehörte ihm nicht, sondern war ihm nur zur Aufbewahrung<br />

anvertraut worden. Weißt du, es ist wirklich viel zu wertvoll,<br />

320


um durch die Gegend getragen zu werden, denn es gibt nur<br />

zwei oder drei davon auf der Welt! Ich nehme an, der Rektor<br />

hat es dir in der Hoffnung gegeben, es würde Lord Asriel in die<br />

Hände fallen. Hat er dir nicht auch gesagt, du solltest mir nichts<br />

davon erzählen?«<br />

Lyra verzog den Mund.<br />

»Aha, es stimmt also. Aber mach dir nichts draus, Liebes, du<br />

hast es mir ja nicht gesagt, oder? Also hast du dein Wort auch<br />

nicht gebrochen. Aber hör zu, Liebes, auf so etwas muß man<br />

wirklich gut aufpassen. Es ist leider so selten und empfindlich,<br />

daß wir ab jetzt unbedingt besser darauf achtgeben müssen.«<br />

»Warum soll Lord Asriel es nicht bekommen?« fragte Lyra,<br />

ohne sich zu bewegen.<br />

»Wegen seiner Pläne. Du weißt doch, daß er verbannt wurde,<br />

weil er etwas Gefährliches und Böses vorhat. Um sein Vorhaben<br />

zu vollenden, braucht er das Alethiometer, aber glaub mir, Liebes,<br />

er darf es unter gar keinen Umständen bekommen. <strong>Der</strong><br />

Rektor von Jordan hat sich leider geirrt. Aber jetzt, wo du alles<br />

weißt, wäre es nicht besser, wenn du es mir geben würdest? Es<br />

würde dir die Sorge ersparen, es immer mit dir herumtragen<br />

und darauf aufpassen zu müssen — es ist dir sicher sowieso ein<br />

Rätsel, wozu so ein dummes altes Ding gut sein soll…«<br />

Lyra fragte sich, wie sie diese Frau jemals faszinierend und<br />

klug hatte finden können.<br />

»Wenn du es also hast, Liebes, gib es besser zur Aufbewahrung<br />

mir. Es steckt doch in dem Gürtel um deinen Bauch, ja?<br />

Wie schlau von dir, es dort zu verstecken…«<br />

Lyra spürte ihre Hände an ihrem Rock, und dann öffnete sie<br />

das steife Ölzeug. Lyra spannte alle Muskeln an. <strong>Der</strong> <strong>goldene</strong><br />

Affe kauerte am Fuß des Bettes, hatte die kleinen, schwarzen<br />

Hände vor den Mund geschlagen und zitterte vor Erwartung.<br />

Mrs. Coulter zog den Gürtel von Lyras Taille und knöpfte den<br />

Beutel auf. Ihr Atem ging schneller. Sie nahm das schwarze<br />

321


Samtpäckchen und wickelte die Blechdose aus, die Iorek Byrnison<br />

angefertigt hatte.<br />

Pantalaimon war inzwischen wieder eine Katze und duckte<br />

sich sprungbereit. Lyra zog die Beine an und schwang sie an<br />

Mrs. Coulter vorbei auf den Boden, so daß auch sie rechtzeitig<br />

losrennen konnte.<br />

»Was ist denn das?« fragte Mrs. Coulter belustigt. »Was für<br />

eine komische alte Dose! War das als Schutz gedacht, Liebes?<br />

Und all das Moos… Du warst wirklich vorsichtig. Da ist ja noch<br />

eine Dose drin! Sogar verlötet! Wer hat das gemacht, Liebes?«<br />

Aber sie wartete die Antwort gar nicht ab, so begierig war sie,<br />

die Dose zu öffnen. Sie holte ein Messer aus ihrer Handtasche,<br />

an dem sich noch andere Werkzeuge befanden, klappte eine<br />

Klinge auf und bohrte sie unter den Deckel.<br />

Sofort ertönte ein wütendes Summen.<br />

Lyra und Pantalaimon bewegten sich nicht. Verblüfft und<br />

neugierig bog Mrs. Coulter den Deckel hoch, und der <strong>goldene</strong><br />

Affe beugte sich interessiert über die Dose.<br />

Bevor sie begriffen, wie ihnen geschah, kam ein schwarzes<br />

Etwas, der fliegende Spion, aus der Dose geschossen und knallte<br />

mit voller Wucht in das Gesicht des Affen.<br />

Schreiend warf sich der Affe nach hinten, und Mrs. Coulter,<br />

die natürlich dasselbe spürte wie er, stimmte vor Schmerzen<br />

und Angst in das Geschrei ein. Und dann schwirrte der kleine<br />

mechanische Teufel an ihrer Brust und ihrer Kehle vorbei zu<br />

ihrem Gesicht hinauf.<br />

Lyra zögerte keine Sekunde. Pantalaimon sprang zur Tür,<br />

und sie war mit einem Satz bei ihm, riß die Tür auf und rannte<br />

so schnell wie noch nie in ihrem Leben.<br />

Pantalaimon flog vor ihr her und kreischte: »Feueralarm!«<br />

An der nächsten Ecke sah sie einen Feuermelder, und mit<br />

einem verzweifelten Faustschlag zertrümmerte sie das Glas und<br />

drückte den Knopf. Dann rannte sie weiter in die Richtung der<br />

322


Schlafsäle und zerschmetterte das Glas von zwei weiteren Feuermeldern.<br />

Immer mehr Menschen traten auf die Gänge und<br />

hielten nach dem Feuer Ausschau.<br />

Kurz vor der Küche brachte Pantalaimon Lyra auf eine Idee,<br />

und sie stürzte hinein. Im nächsten Augenblick hatte sie alle<br />

Gashähne aufgedreht und warf ein Streichholz auf die nächste<br />

Brennstelle. Anschließend zog sie ein Päckchen Mehl aus einem<br />

Regal und schleuderte es gegen eine Tischkante, so daß es aufplatzte<br />

und sich eine weiße Wolke ausbreitete; sie hatte nämlich<br />

gehört, Mehlstaub würde in der Nähe von Feuer explodieren.<br />

Dann rannte sie hinaus und so schnell sie konnte zu ihrem<br />

Schlafsaal. Die Gänge hatten sich inzwischen gefüllt. Kinder<br />

rannten aufgeregt hin und her, denn das Wort Flucht hatte sich<br />

mittlerweile herumgesprochen. Die Älteren trieben die Jüngeren<br />

eilig vor sich her zu den Kammern, in denen die Kleider<br />

aufbewahrt wurden. Erwachsene versuchten, die Übersicht zu<br />

behalten, aber keiner wußte, was eigentlich los war. Überall<br />

brüllten, schubsten, schrien und drängelten Menschen.<br />

Wie Fische schössen Lyra und Pantalaimon durch dieses<br />

Durcheinander in Richtung Schlafsaal, und in dem Moment, in<br />

dem sie ihn erreichten, ließ eine dumpfe Explosion hinter<br />

ihnen das Gebäude erzittern.<br />

Die anderen Mädchen mußten schon geflohen sein, denn<br />

der Raum war leer. Lyra schob den Spind in die Ecke, schwang<br />

sich hinauf, zerrte ihre Pelze aus dem Spalt über der Decke und<br />

tastete nach dem Alethiometer. Es war noch da. Hastig warf sie<br />

sich die Pelze über und zog die Kapuze über den Kopf, und als<br />

Pantalaimon, der als Spatz an der Tür saß, »Jetzt!« rief, rannte sie<br />

hinaus. Zum Glück rannten gerade ein paar Kinder, die bereits<br />

warme Kleider gefunden hatten, den Flur entlang in Richtung<br />

Haupteingang, und Lyra schloß sich ihnen an. Sie schwitzte, ihr<br />

Herz hämmerte wild, und sie wußte, daß es jetzt fliehen hieß<br />

oder sterben.<br />

323


Doch der Weg war blockiert. Das Feuer in der Küche hatte<br />

sich in Windeseile ausgebreitet, und das explodierende Mehl<br />

oder Gas hatte Teile des Daches zum Einstürzen gebracht. Kinder<br />

und Erwachsene kletterten über umgeknickte Pfeiler und<br />

Balken nach oben, um in die bitterkalte Luft hinauszukommen.<br />

<strong>Der</strong> Gasgeruch war durchdringend. Dann kam es erneut zu<br />

einer Explosion, lauter und näher als die erste. Ihre Wucht warf<br />

mehrere Leute um, und Angst- und Schmerzensschreie gellten<br />

durch die Luft.<br />

Lyra rappelte sich auf und stieg über die Trümmer, immer<br />

hinter Pantalaimon her, der ihr über das Geschrei und Geflatter<br />

der anderen Dæmonen hinweg zurief, wohin sie gehen sollte.<br />

Die Luft, die sie einatmete, war eisig, und sie hoffte, daß die<br />

anderen Kinder warme Kleider aufgetrieben hatten, denn was<br />

hatte es für einen Sinn, zu fliehen, wenn man dann draußen<br />

erfror.<br />

Die Flammen des Feuers loderten mächtig auf. Als Lyra auf<br />

dem Dach stand, über sich den nächtlichen Himmel, sah sie,<br />

wie die Flammen an den Rändern eines großen Loches in der<br />

Wand des Gebäudes leckten. Wie bereits am Nachmittag hatte<br />

sich am Haupteingang eine Schar von Kindern und Erwachsenen<br />

versammelt, nur waren diesmal die Erwachsenen aufgeregter<br />

und die Kinder ängstlicher, viel ängstlicher.<br />

»Roger!« rief Lyra. »Roger!« Pantalaimon, der mit scharfen<br />

Eulenaugen um sich spähte, krächzte, er hätte ihn entdeckt.<br />

Einen Moment später standen sie voreinander.<br />

»Sag den Kindern, sie sollen mir folgen!« brüllte Lyra ihm ins<br />

Ohr.<br />

»Sie wollen nicht — sie haben viel zuviel Angst…«<br />

»Dann sag ihnen, was mit den Kindern passiert, die verschwinden!<br />

Daß man ihnen mit einem großen Messer die<br />

Dæmonen abschneidet! Erzähl ihnen, was du heute nachmittag<br />

gesehen hast — die vielen Dæmonen, die wir freigelassen<br />

324


haben! Sag ihnen, daß ihnen dasselbe passiert, wenn sie hierbleiben!«<br />

Roger starrte sie mit offenem Mund entsetzt an, doch dann<br />

riß er sich zusammen und rannte zu einer Gruppe von Kindern,<br />

die unschlüssig in der Nähe standen. Dasselbe tat Lyra, und als<br />

die Nachricht die Runde machte, schrien einige Kinder auf und<br />

drückten angstvoll ihre Dæmonen an sich.<br />

»Kommt mit!« brüllte Lyra. »Bald werden wir gerettet! Wir<br />

müssen aus dem Lager raus! Los, vorwärts!«<br />

Als die Kinder das hörten, folgten sie ihr und rannten über<br />

den Platz auf die Lichterallee zu. Ihre Stiefel knirschten bei<br />

jedem Schritt im festgetretenen Schnee.<br />

Hinter ihnen brüllten Erwachsene Befehle, und dann stürzte<br />

polternd und krachend ein weiterer Teil des Gebäudes ein.<br />

Funken stoben in die Luft, und das Prasseln der aus dem Haus<br />

schlagenden Flammen klang, als würde Stoff zerrissen. Dann<br />

schnitt plötzlich ein anderes Geräusch durch diesen Lärm,<br />

schrecklich nah und bedrohlich. Auch wenn Lyra es nie zuvor<br />

gehört hatte, erkannte sie es sofort: Es war das Geheul der<br />

Wolfsdæmonen der tatarischen Wachen. Sie war wie gelähmt.<br />

Viele Kinder wollten vor Angst gleich wieder kehrtmachen,<br />

blieben jedoch stolpernd stehen, denn da kam bereits mit<br />

geschmeidigen Schritten der erste tatarische Wachsoldat angelaufen,<br />

ein Gewehr in den Händen und neben sich den grauen<br />

Schatten seines Dæmons.<br />

Hinter ihm folgten weitere Soldaten, alle in gefütterten Panzern<br />

und scheinbar ohne Augen — zumindest konnte man sie<br />

hinter den Schneeschlitzen ihrer Helme nicht sehen. Die einzigen<br />

Augen, die man sehen konnte, waren die schwarzen Mündungen<br />

ihrer Gewehre und die gelb glühenden Augen der<br />

Wolfsdæmonen über ihren geifernden Fängen.<br />

Lyra stockte. Nicht einmal im Traum hätte sie sich die Wölfe<br />

so schrecklich vorgestellt. Und jetzt, da sie wußte, wie unge­<br />

325


ührt die Menschen in Bolvangar das große Tabu brachen,<br />

schauderte sie beim Gedanken an diese geifernden Zähne<br />

zurück.<br />

Die Tataren stellten sich am Tor zum Eingang der Lichterallee<br />

in einer Reihe auf, Seite an Seite mit ihren disziplinierten<br />

und militärisch ausgebildeten Dæmonen. Immer mehr Soldaten<br />

strömten herbei, und im nächsten Moment hatte sich<br />

bereits eine zweite Reihe gebildet. Kinder können nicht gegen<br />

Soldaten kämpfen, dachte Lyra voller Verzweiflung. Das war<br />

etwas anderes als die Kämpfe in den Lehmgruben von Oxford,<br />

wo die Kinder aus der Stadt die Kinder der Ziegelbrenner mit<br />

Lehmklumpen beworfen hatten.<br />

Oder war es vielleicht doch dasselbe? Sie erinnerte sich<br />

daran, wie sie einem Ziegelbrennerjungen, der sie zu Boden<br />

geworfen hatte, eine Handvoll Lehm in das breite Gesicht<br />

geschleudert hatte. Sofort hatte er sie losgelassen, um sich den<br />

Lehm aus den Augen zu reiben, und die Stadtkinder hatten sich<br />

auf ihn gestürzt. Damals hatte sie im Matsch gestanden, jetzt<br />

stand sie im Schnee.<br />

Wie am Nachmittag, diesmal jedoch in tödlichem Ernst,<br />

kratzte sie eine Handvoll Schnee zusammen und schleuderte<br />

dem nächstbesten Soldaten einen Schneeball ins Gesicht.<br />

»Werft sie in ihre Augen!« brüllte sie und warf schon den<br />

nächsten Schneeball.<br />

Andere Kinder folgten ihrem Beispiel, und plötzlich kam ein<br />

Dæmon auf die Idee, als Mauersegler neben den Schneebällen<br />

herzufliegen und ein wenig nachzuhelfen, damit sie genau in<br />

die Augenschlitze der Opfer drangen. Jetzt machten alle mit,<br />

und kurz darauf stolperten die Tataren spuckend und fluchend<br />

umher und versuchten den festgedrückten Schnee aus den<br />

Schlitzen vor ihren Augen zu kratzen.<br />

»Vorwärts!« brüllte Lyra und stürzte durch das Tor in die<br />

Lichterallee.<br />

326


Alle Kinder strömten ihr nach, wichen den schnappenden<br />

Mäulern der Wölfe aus und rannten, so schnell sie konnten,<br />

durch die Allee auf die schützende Dunkelheit zu.<br />

Hinter ihnen brüllte ein Offizier einen barschen Befehl, und<br />

auf der Stelle wurden Dutzende von Gewehren durchgeladen.<br />

Ein weiteres Kommando ertönte, dann war es totenstill. Nur<br />

noch das Trampeln der Füße und das Keuchen der fliehenden<br />

Kinder waren zu hören.<br />

Die Männer legten an. Sie würden ihr Ziel nicht verfehlen.<br />

Doch noch ehe die Tataren schießen konnten, stieß einer ein<br />

würgendes Röcheln aus, und ein anderer schrie überrascht<br />

auf.<br />

Lyra blieb stehen und drehte sich um. Im Schnee lag ein<br />

Mann mit einem graugefiederten Pfeil im Rücken. Zuckend<br />

wand er sich auf dem Boden und hustete Blut. Die anderen Soldaten<br />

sahen sich suchend nach allen Seiten um, aber von dem<br />

Schützen war keine Spur zu sehen.<br />

Und dann kam ein Pfeil senkrecht vom Himmel herunter<br />

und traf einen Tataren im Genick. Er ging sofort zu Boden. <strong>Der</strong><br />

Offizier brüllte etwas, und alle sahen zum dunklen Himmel<br />

hinauf.<br />

»Hexen!« rief Pantalaimon.<br />

Und da waren sie: bizarre, stromlinienförmige Schatten auf<br />

Wolkenkiefernzweigen, die pfeifend durch den Wind schnitten.<br />

Lyra sah, wie eine Hexe herabstieß und einen Pfeil abschoß.<br />

Ein weiterer Mann fiel.<br />

Die Tataren zielten mit ihren Gewehre nach oben und feuerten<br />

in die Dunkelheit, aber sie schössen auf nichts, auf Schatten<br />

und Wolken, und immer mehr Pfeile regneten auf sie herab.<br />

Doch da merkte ihr Befehlshaber, daß die Kinder schon fast<br />

entkommen waren, und befahl einigen Soldaten, hinter ihnen<br />

herzurennen. Und plötzlich begannen einige Kinder zu<br />

schreien, und dann schrien immer mehr und weigerten sich<br />

327


weiterzugehen und wandten sich völlig verstört um, denn zu<br />

ihrem Entsetzen raste eine unheimliche Gestalt aus dem Dunkel<br />

hinter der Lichterallee auf sie zu.<br />

»Iorek Byrnison!« schrie Lyra außer sich vor Freude.<br />

<strong>Der</strong> angreifende Panzerbär schien das Gewicht seiner<br />

Rüstung überhaupt nicht zu spüren. Wie der Blitz schoß er an<br />

Lyra vorbei und krachte in die tatarischen Reihen. Soldaten,<br />

Dæmonen und Gewehre flogen nach allen Seiten. Dann wirbelte<br />

er herum und streckte mit zwei gewaltigen Hieben nach<br />

rechts und links die ihm am nächsten stehenden Soldaten nieder.<br />

Ein Wolfsdæmon stürzte sich auf ihn, wurde aber mitten im<br />

Sprung von einem Schlag des Bären getroffen. Helle Flammen<br />

loderten aus seinem Körper, als er in den Schnee fiel und sich<br />

zischend und heulend auflöste. Im selben Moment starb der<br />

Mensch des Dæmons.<br />

Angesichts dieses doppelten Angriffs verlor der Tatarenoffizier<br />

keine Zeit. Er brüllte mit sich überschlagender Stimme<br />

zahlreiche Befehle, und seine Armee teilte sich auf: Eine Abteilung<br />

sollte die Hexen in Schach halten, die andere, größere, den<br />

Bären überwältigen. Die Soldaten waren überaus mutig. In<br />

Vierergruppen knieten sie sich hin, feuerten die Gewehre ab, als<br />

seien sie auf dem Schießplatz, und wichen keinen Zentimeter<br />

zurück, als der riesige Bär auf sie zuraste. Im nächsten Augenblick<br />

waren sie tot.<br />

Wütend knurrend kämpfte der Bär mit seinen Pranken weiter,<br />

während ihm die Kugeln wie Wespen oder Fliegen um die<br />

Ohren flogen, ohne ihm etwas anhaben zu können. Lyra trieb<br />

die Kinder vorwärts, hinaus in die Dunkelheit jenseits der Lichter.<br />

Sie mußten hier weg, denn so gefährlich die Tataren waren,<br />

noch viel gefährlicher waren die Erwachsenen von Bolvangar.<br />

Deshalb rief, winkte und schubste sie, um die Kinder anzutreiben.<br />

Sie liefen die langen Schatten entlang, die die Lichter<br />

328


hinter ihnen auf den Schnee warfen, und Lyras Herz klopfte vor<br />

Freude angesichts der tiefen Dunkelheit der arktischen Nacht<br />

und der klaren Kälte. Mit neuer Kraft stürmte sie voran, und<br />

Pantalaimon sprang fröhlich als Hase um sie herum.<br />

»Wohin gehen wir?« fragte jemand.<br />

»Hier kommt doch nur noch Schnee!«<br />

»Eine Rettungsmannschaft ist auf dem Weg«, erklärte Lyra,<br />

»mindestens fünfzig Gypter. Ich wette, daß auch Verwandte von<br />

euch dabei sind; alle gyptischen Familien, die ein Kind vermissen,<br />

haben nämlich jemanden losgeschickt.«<br />

»Ich bin aber kein Gypter«, sagte ein Junge.<br />

»Das macht nichts. Sie nehmen dich trotzdem mit.«<br />

»Wohin?« fragte jemand verdrossen.<br />

»Nach Hause«, antwortete Lyra. »Ich bin doch hergekommen,<br />

um euch zu retten, und ich hab die Gypter mitgebracht,<br />

damit sie euch wieder nach Hause bringen. Wir müssen nur<br />

noch ein kleines Stückchen weitergehen, dann treffen wir sie.<br />

<strong>Der</strong> Bär war bei ihnen, also können sie nicht weit weg sein.«<br />

»Habt ihr diesen Bären gesehen!« sagte ein Junge. »Als er den<br />

Dæmon aufschlitzte, starb der Mann, als ob ihm jemand das<br />

Herz herausgerissen hätte, einfach so!«<br />

»Ich wußte gar nicht, daß man Dæmonen töten kann«,<br />

meinte jemand anders.<br />

Alle redeten jetzt durcheinander; Aufregung und Erleichterung<br />

hatten ihnen die Zunge gelöst. Und warum sollten sie sich<br />

nicht unterhalten, solange sie dabei nicht stehenblieben.<br />

»Stimmt es eigentlich, tun sie das wirklich in der Station?«<br />

fragte ein Mädchen.<br />

»Ja«, sagte Lyra. »Ich hätte nie gedacht, daß ich je einen Menschen<br />

ohne Dæmon sehen würde. Aber auf dem Weg nach Bolvangar<br />

haben wir einen Jungen entdeckt, der ganz allein war,<br />

ohne Dæmon. Er hat dauernd gefragt, wo sein Dæmon sei und<br />

ob er ihn wiederfinden würde. Er hieß Tony Makarios.«<br />

329


»Den kenne ich!« rief jemand, und andere stimmten ein: »Ja,<br />

sie haben ihn vor ungefähr einer Woche weggebracht…«<br />

»Sie haben seinen Dæmon abgeschnitten«, erzählte Lyra. Sie<br />

wußte, wie schrecklich die Kinder diese Vorstellung finden<br />

würden. »Kurz nachdem wir ihn gefunden haben, ist er gestorben.<br />

Die abgeschnittenen Dæmonen haben sie in Käfigen in<br />

einem viereckigen Gebäude dahinten eingesperrt.«<br />

»Das stimmt«, sagte Roger. »Und Lyra hat sie während des<br />

Feueralarms freigelassen.«<br />

»Ja, ich war auch dabei!« sagte Billy Costa. »Zuerst wußte ich<br />

gar nicht, was das ist, aber dann habe ich gesehen, wie sie mit<br />

dieser Gans weggeflogen sind.«<br />

»Aber wieso tun sie das?« fragte ein Junge. »Wieso schneiden<br />

sie den Menschen die Dæmonen ab? Das ist doch Folter!<br />

Warum tun sie so was?«<br />

»Staub«, meinte jemand unsicher.<br />

<strong>Der</strong> Junge lachte verächtlich. »Staub!« sagte er. »Daß ich nicht<br />

lache! Den haben die doch bloß erfunden! Ich glaub jedenfalls<br />

nicht dran.«<br />

»Da, seht mal, was mit dem Zeppelin passiert!« rief jemand.<br />

Alle sahen zurück. Das große Luftschiffjenseits der blendenden<br />

Lichter, unter denen der Kampf noch immer tobte,<br />

schwebte nicht mehr oben an seinem Ankermast; sein freies<br />

Ende hing schlaff herab, und dahinter stieg ein riesiger Ball<br />

auf…<br />

»<strong>Der</strong> Ballon von Lee Scoresby!« rief Lyra und klatschte vor<br />

Freude in die Hände, die in dicken Fausthandschuhen steckten.<br />

Die anderen Kinder starrten sie verblüfft an, aber Lyra trieb<br />

sie weiter. Sie war erstaunt, daß der Aeronaut mit seinem Ballon<br />

so weit gekommen war. Was er jetzt machte, war klar — eine<br />

großartige Idee: Er füllte den Ballon mit dem Gas des Zeppelins<br />

und schüttelte so ihre Verfolger ab!<br />

»Los, lauft weiter, sonst erfriert ihr«, rief Lyra, denn einige<br />

330


Kinder zitterten und jammerten schon vor Kälte, und ihre<br />

Dæmonen gaben ein hohes, schwaches Wimmern von sich.<br />

Das ärgerte Pantalaimon, und in der Gestalt eines Marders<br />

fuhr er barsch einen Eichhörnchendæmon an, der leise weinend<br />

auf der Schulter eines Mädchens lag: »Kriech gefälligst in<br />

ihren Mantel! Pluster dich dort auf und wärme sie!«<br />

<strong>Der</strong> Dæmon des Mädchens erschrak und kroch sofort in den<br />

Anorak aus Kohleseide.<br />

Das Problem war, daß diese Anoraks, auch wenn sie noch so<br />

dick mit hohlen Fasern aus Kohleseide gefüttert waren, lange<br />

nicht so warm hielten wie richtige Felle. Einige der Kinder<br />

sahen aus wie wandelnde Riesenboviste, so unförmig waren sie,<br />

aber trotzdem bot ihre Kleidung kaum Schutz vor der Kälte,<br />

denn sie stammte aus Fabriken und Labors einer Gegend, in der<br />

keine derartigen Temperaturen herrschten. Lyras Pelze sahen<br />

zwar zerlumpt aus und stanken, aber sie hielten wenigstens<br />

warm.<br />

»Wenn wir die Gypter nicht bald finden, halten die anderen<br />

Kinder nicht durch«, flüsterte sie Pantalaimon zu.<br />

»Sorge dafür, daß sie weiterlaufen«, flüsterte er zurück.<br />

»Sobald sie sich hinlegen, ist es aus mit ihnen. Du weißt, was<br />

Farder Coram gesagt hat…«<br />

Farder Coram hatte Lyra oft von seinen Reisen in den Norden<br />

erzählt — genau wie Mrs. Coulter, wenn sie nicht gelogen<br />

hatte —, und eines hatten beide immer wieder betont: Man<br />

durfte auf keinen Fall stehenbleiben.<br />

»Wie weit ist es denn noch?« fragte ein kleiner Junge.<br />

»Die bringt uns doch nur von der Station weg, um uns zu<br />

töten«, sagte ein Mädchen.<br />

»Ich bin trotzdem lieber hier draußen als dort«, sagte jemand.<br />

»Ich nicht! In der Station ist es warm, und es gibt zu essen<br />

und heiße Getränke und überhaupt alles.«<br />

»Aber die brennt doch lichterloh!«<br />

331


»Und was sollen wir hier draußen? Hier verhungern wir<br />

doch…«<br />

Viele Fragen schössen Lyra durch den Kopf, dunkel und<br />

unfaßbar wie Hexen, aber rief im Innersten, an einer Stelle, an<br />

die sie mit ihren Gedanken nicht kam, empfand sie einen Stolz<br />

und eine Begeisterung, die sie sich nicht erklären konnte.<br />

Aber dieses Gefühl beflügelte ihre Kräfte, und sie zog ein<br />

Mädchen aus einer Schneewehe und schubste einen trödelnden<br />

Jungen vorwärts. »Geht weiter!« rief sie den Kindern zu. »Folgt<br />

den Spuren des Bären! Er ist zusammen mit den Gyptern<br />

gekommen, also führen seine Spuren uns direkt zu ihnen! Geht<br />

ihnen einfach nach!«<br />

Es begann in dicken Flocken zu schneien, und bald würde<br />

der Schnee Iorek Byrnisons Spuren zudecken. Die Lichter von<br />

Bolvangar waren verschwunden und das Flammenmeer nur<br />

noch ein schwaches Glühen in der Ferne. Das einzig Helle war<br />

der matt schimmernde Schnee auf dem Boden. Dicke Wolken<br />

bedeckten den Himmel, so daß weder Mond noch Nordlicht<br />

leuchteten, aber wenn die Kinder sich anstrengten, konnten sie<br />

noch die tiefe Spur erkennen, wo Iorek Byrnison den Schnee<br />

durchpflügt hatte. Und wo immer es nötig war, war Lyra zur<br />

Stelle, ermutigte, kommandierte und beschwor die Kinder,<br />

stieß und schob oder zog sie vorwärts, stützte sie und half ihnen<br />

vorsichtig wieder auf die Beine, wenn sie hingefallen waren.<br />

Pantalaimon, der wußte, wie den Dæmonen zumute war, sagte<br />

Lyra, was jeweils zu tun war.<br />

Ich bringe sie zu den Gyptern, redete sie sich immer wieder<br />

ein. Ich bin gekommen, um sie zu holen, und ich hole sie, verflucht<br />

noch mal!<br />

Roger folgte ihrem Beispiel, während Billy, der schärfere<br />

Augen als die meisten hatte, ihnen den Weg wies. Bald fiel der<br />

Schnee so dicht, daß sie sich aneinander festhalten mußten,<br />

damit niemand verlorenging. Vielleicht wenn alle sich dicht<br />

332


nebeneinander legten und sich gegenseitig wärmten, dachte<br />

Lyra… und Löcher in den Schnee gruben…<br />

Sie glaubte verschiedene Geräusche zu hören. Irgendwo<br />

brummte ein Motor, aber es klang nicht wie das tiefe Dröhnen<br />

des Zeppelins, sondern höher, eher wie das Summen einer Hornisse.<br />

Im einen Augenblick war das Geräusch da, dann war es<br />

wieder weg.<br />

Und Geheul… Hunde? Schlittenhunde? Aber auch dieses<br />

Geräusch, gedämpft durch Millionen von Schneeflocken und<br />

von Windböen hin und her geweht, war zu weit entfernt, um es<br />

eindeutig zu bestimmen. Vielleicht waren es tatsächlich die<br />

Schlittenhunde der Gypter, aber es konnten auch die wilden<br />

Geister der Tundra sein oder die befreiten Dæmonen, die um<br />

die verlorenen Kinder weinten.<br />

Auch glaubte sie, Lichter zu sehen… Leuchtete da nicht<br />

etwas im Schnee? Auch das mußten Geister sein… wenn sie<br />

nicht sowieso im Kreis gelaufen und nach Bolvangar zurückgekehrt<br />

waren.<br />

Aber das war schwaches gelbes Licht von Laternen, nicht das<br />

grelle Weiß anbarischer Lampen. Außerdem bewegten die<br />

Lichter sich, und das Heulen kam näher, und ehe Lyra noch mit<br />

Sicherheit wußte, ob sie nicht eingeschlafen war, war sie bereits<br />

von vertrauten Gestalten umgeben und wurde von in Pelze vermummten<br />

Männern umarmt. John Faa hob sie mit seinen starken<br />

Armen hoch in die Luft, und Farder Coram lachte vor<br />

Freude; und soweit Lyra durch den Schneesturm sehen konnte,<br />

hoben überall Gypter Kinder in die Schlitten, deckten sie mit<br />

Fellen zu und gaben ihnen Seehundfleisch zum Kauen. Und da<br />

war ja auch Tony Costa. Er umarmte Billy und versetzte ihm<br />

einen sanften Rippenstoß, nur um ihn gleich wieder in die<br />

Arme zu nehmen und vor lauter Freude zu schütteln. Und<br />

Roger…<br />

»Roger kommt mit uns«, sagte Lyra zu Farder Coram.<br />

333


»Schließlich bin ich vor allem seinetwegen gekommen. Wenn<br />

alles vorbei ist, gehen wir wieder nach Jordan zurück. Was ist<br />

das für ein Lärm…«<br />

Wieder ertönte das seltsame Motorgebrumm, ähnlich dem<br />

manischen Summen des fliegenden Spions, nur tausendmal<br />

lauter.<br />

Jemand versetzte ihr einen Schlag, der sie der Länge nach<br />

umwarf. Pantalaimon konnte sie nicht verteidigen, denn der<br />

<strong>goldene</strong> Affe…<br />

Mrs. Coulter…<br />

Erbittert rangen die beiden Dæmonen miteinander. <strong>Der</strong> <strong>goldene</strong><br />

Affe biß und kratzte Pantalaimon, und Lyras Dæmon, der<br />

kaum zu sehen war, so schnell wechselte er die Gestalt, wehrte<br />

sich nach Kräften und fiel stechend, schlagend und zerrend<br />

über den Affen her. Unterdessen versuchte Mrs. Coulter, deren<br />

von Pelzen eingerahmtes Gesicht zu einer haßerfüllten Maske<br />

verzerrt war, Lyra auf den Rücksitz ihres Motorschlittens zu<br />

zerren, aber Lyra kämpfte mit der gleichen Verbissenheit wie<br />

ihr Dæmon. <strong>Der</strong> Schnee fiel so dicht, daß sie isoliert von den<br />

anderen in einem eigenen kleinen Schneesturm gefangen<br />

schien. Nur die direkt vor ihrer Nase tanzenden Flocken waren<br />

im anbarischen Scheinwerferlicht des Schlittens zu sehen.<br />

»Hilfe!« schrie Lyra. Die Gypter mußten ganz in der Nähe<br />

sein, konnten sie aber nicht sehen. »Hilfe! Farder Coram! Lord<br />

Faa! O Gott, Hilfe!«<br />

Mit scharfer Stimme erteilte Mrs. Coulter in der Sprache der<br />

Nordtataren einen Befehl. <strong>Der</strong> Wirbel aus Schnee lichtete sich<br />

kurz, und da standen sie: ein ganzer Trupp Tataren, mit Gewehren<br />

bewaffnet und knurrende Wolfsdæmonen an der Seite. Als<br />

der Anführer sah, wie Mrs. Coulter sich abmühte, hob er Lyra<br />

mit einer Hand hoch, als wäre sie eine Puppe, und warf sie in<br />

den Schlitten, wo sie vor Schrecken wie benommen liegenblieb.<br />

Als die Gypter merkten, was geschah, knallte ein Schuß und<br />

334


kurz darauf noch einer. Aber auf ein unsichtbares Ziel zu schießen<br />

ist gefährlich, wenn man auch die eigenen Leute nicht sieht.<br />

Die Tataren, die einen dichten Ring um den Schlitten gebildet<br />

hatten, konnten nach Belieben in den Schnee feuern, aber die<br />

Gypter wagten nicht zurückzuschießen, aus Angst, sie könnten<br />

Lyra treffen.<br />

Lyra war verbittert und müde.<br />

Benommen und mit dröhnendem Kopf richtete sie sich auf<br />

und sah, daß Pantalaimon immer noch verzweifelt mit dem<br />

Affen kämpfte. Mit seinen Marderzähnen hielt er einen <strong>goldene</strong>n<br />

Arm fest. Er verwandelte sich jetzt nicht mehr, sondern<br />

blieb einfach an dem Arm hängen.<br />

Dann kam Roger, der Mrs. Coulter mit Fäusten und Füßen<br />

traktierte und seinen Kopf gegen ihren Kopf stieß. Aber schon<br />

im nächsten Moment wurde er von einem Tataren beiseite<br />

gewischt, als wäre er eine Fliege. Was folgte, war wie ein Traum,<br />

ein Wirbel aus Schwarz und Weiß, ein grünes Etwas, das vor<br />

Lyras Augen vorbeischoß, bizarre Schatten, ein Lichtblitz…<br />

Ein gewaltiger Luftstoß riß den Schneevorhang auf, und mitten<br />

hinein in die Lücke sprang Iorek Byrnison. Die Eisenplatten<br />

seiner Rüstung quietschten und schepperten, und seine gewaltigen<br />

Kiefer schnappten nach rechts und links, eine Tatze<br />

schlitzte eine gepanzerte Brust auf, weiße Zähne, schwarzes<br />

Eisen, ein rotes, nasses Fell…<br />

Lyra wurde mit einem kräftigen Ruck hochgezogen, und sie<br />

konnte gerade noch Roger packen und ihn den Händen Mrs.<br />

Coulters entreißen. Die Dæmonen der beiden Kinder, zwei<br />

Vögel, kreischten erstaunt auf und flatterten aufgeregt um sie<br />

herum, während über ihnen etwas anderes, Größeres flatterte.<br />

Und dann sah Lyra neben sich in der Luft zum Anfassen nah<br />

eine Hexe, einen jener stromlinienförmigen, bizarren Schatten,<br />

die sie am Himmel gesehen hatte. Die Hexe hielt einen Bogen<br />

in ihren bloßen Händen, spannte kraftvoll die Sehne — ihre<br />

335


Arme waren nackt, trotz der beißenden Kälte — und schoß<br />

einen Pfeil genau in den nur ein oder zwei Schritt entfernten<br />

Augenschlitz eines furchteinflößenden Tatarenhelms…<br />

<strong>Der</strong> Pfeil durchbohrte den Schädel und kam hinten zur<br />

Hälfte wieder heraus, und der Wolfsdæmon des Mannes löste<br />

sich mitten im Sprung auf, noch ehe er wieder auf dem Boden<br />

aufsetzte.<br />

Lyra und Roger wurden hinaufgerissen und klammerten<br />

sich mit zitternden Fingern an den Wolkenkiefernzweig, auf<br />

dem aufrecht und anmutig die junge Hexe saß. Wenig später<br />

senkte sie den Zweig bereits wieder, machte eine Kurve nach<br />

links, etwas Großes kam bedrohlich näher — und schon waren<br />

sie wieder auf dem Boden.<br />

Sie purzelten in den Schnee neben den Korb von Lee Scoresbys<br />

Ballon.<br />

»Rein mit dir«, rief der Texaner, »und bring deinen Freund<br />

mit. Hast du den Bären gesehen?«<br />

Lyra sah, daß drei Hexen ein um einen Felsblock geschlungenes<br />

Seil hielten, damit der mächtige Auftrieb den gasgefüllten<br />

Ballon nicht in die Höhe riß.<br />

»Steig ein!« brüllte sie Roger zu, kletterte über den mit Leder<br />

verkleideten Rand des Korbes und fiel drinnen auf einen<br />

Schneehaufen. Einen Augenblick später landete Roger auf ihr,<br />

und dann ließ ein gewaltiger Lärm, ein schnarrendes Gebrüll<br />

den Erdboden erzittern.<br />

»Auf, Iorek, Kamerad! An Bord mit dir!« schrie Lee Scoresby,<br />

und der Bär stieg über den Rand, so daß Weidenruten und Holz<br />

sich bogen und häßlich knarrten.<br />

Wieder wirbelte ein Luftstoß für einen Moment Nebel und<br />

Schnee auseinander, und in der plötzlich klaren Luft sah Lyra,<br />

was um sie herum geschah. Eine Gruppe Gypter, angeführt von<br />

John Faa, verfolgte die tatarische Nachhut und trieb sie zu den<br />

glühenden Überresten von Bolvangar zurück, andere Gypter<br />

336


halfen einem Kind nach dem anderen, in die Schlitten zu steigen,<br />

und deckten sie mit warmen Fellen zu, Farder Coram<br />

blickte sich, auf seinen Stock gestützt, besorgt um, während sein<br />

braun<strong>goldene</strong>r Dæmon suchend durch den Schnee sprang.<br />

»Farder Coram!« schrie Lyra. »Ich bin hier!«<br />

<strong>Der</strong> alte Mann hörte sie, drehte sich um und sah erstaunt zu<br />

dem am Seil zerrenden Ballon und den Hexen, die ihn am<br />

Boden hielten. Lyra winkte ihm wie wild aus dem Korb zu.<br />

»Lyra!« schrie er. »Alles in Ordnung, Kind? Bist du in dem<br />

Ballon gut aufgehoben?«<br />

»So gut wie noch nie!« brüllte sie zurück. »Auf Wiedersehen,<br />

Farder Coram! Auf Wiedersehen! Bringen Sie die Kinder heil<br />

nach Hause!«<br />

»Das werden wir, so wahr ich lebe! Leb wohl, Kind — leb<br />

wohl — leb wohl, Liebes…«<br />

In diesem Moment senkte der Aeronaut den Arm als Zeichen<br />

für die Hexen, die daraufhin das Seil losließen.<br />

Sofort hob der Ballon ab und strebte mit einer Geschwindigkeit,<br />

die Lyra nie für möglich gehalten hätte, inmitten des<br />

Schneegestöbers nach oben. Kurz darauf war der Erdboden im<br />

Nebel verschwunden, und sie stiegen immer schneller. Schneller<br />

als jede Rakete, dachte Lyra. Die Beschleunigung drückte sie<br />

auf den Korbboden, wo sie sich an Roger festhielt.<br />

Lee Scoresby schrie und lachte und stieß wilde texanische<br />

Freudenschreie aus. Iorek Byrnison zog in aller Ruhe seine<br />

Rüstung aus; geschickt hakte er eine Klaue in die Verschlüsse<br />

und zog sie auf, dann stapelte er die einzelnen Teile zu einem<br />

Haufen. Von irgendwo draußen war das Pfeifen und Rauschen<br />

der Wolkenkiefernzweige und Hexenkleider im Wind zu<br />

hören, offenbar begleiteten die Hexen sie bis in die höheren<br />

Luftschichten.<br />

Allmählich kam Lyra wieder zu Atem. Ihr Puls verlangsamte<br />

sich, sie wurde ruhiger. Sie setzte sich auf und blickte um sich.<br />

337


<strong>Der</strong> Korb war viel größer, als sie gedacht hatte. An den Rändern<br />

waren philosophische Instrumente festgebunden, außerdem<br />

gab es stapelweise Felle, Sauerstoffflaschen und eine Reihe<br />

anderer Dinge, die zu klein waren oder zu unübersichtlich aufeinanderlagen,<br />

um sie in dem dichten Nebel, durch den sie aufstiegen,<br />

erkennen zu können.<br />

»Ist das eine Wolke?« fragte Lyra.<br />

»Was sonst? Wickel deinen Freund in ein paar Felle, bevor er<br />

sich in einen Eiszapfen verwandelt. Es ist kalt hier, und es wird<br />

noch kälter.«<br />

»Wie haben Sie uns gefunden?«<br />

»Die Hexen. Hier ist übrigens eine Hexendame, die sich mit<br />

dir unterhalten möchte. Sobald wir aus der Wolke raus sind und<br />

die Lage gepeilt haben, können wir ein wenig miteinander<br />

plaudern.«<br />

»Iorek«, sagte Lyra, »danke, daß du gekommen bist.«<br />

<strong>Der</strong> Bär grunzte und ließ sich nieder, um das Blut aus seinem<br />

Fell zu lecken. Weil er so schwer war, neigte sich der Korb nach<br />

seiner Seite, aber das machte nichts. Roger hielt Abstand von<br />

ihm, aber Iorek Byrnison schenkte ihm nicht mehr Beachtung<br />

als einer Schneeflocke. Zufrieden hielt Lyra sich am Rand des<br />

Korbes fest, der ihr bis ans Kinn reichte, wenn sie stand, und sah<br />

mit großen Augen in die Wolke, die sie einschloß.<br />

Schon wenige Augenblicke später kam der Ballon aus der<br />

Wolke heraus und stieg, immer noch sehr schnell, zum Himmel<br />

empor.<br />

Was für eine Aussicht!<br />

Direkt über ihnen blähte sich das gewaltige Rund des Ballons.<br />

Über und vor ihnen schimmerte die Aurora mit einem<br />

Glanz und einer Pracht, wie Lyra es noch nie gesehen hatte. Sie<br />

waren fast vollständig von der Aurora umgeben, geradezu ein<br />

Teil von ihr. Riesige, gleißende Schwaden standen zitternd vor<br />

ihnen und teilten sich, als würden Engel mit den Flügeln schla­<br />

338


gen; Kaskaden kalt leuchtender Pracht stürzten über unsichtbare<br />

Klippen in schäumende Bassins oder hingen wie gewaltige<br />

Wasserfalle vom Himmel herab.<br />

<strong>Der</strong> Anblick verschlug Lyra den Atem. Doch dann sah sie<br />

unter ihnen etwas, das beinahe noch wunderbarer war.<br />

In alle Richtungen dehnte sich, so weit das Auge reichte, ein<br />

weißes Wolkenmeer bis ans Ende des Horizonts aus. Hier und<br />

da erhoben sich sanfte Gipfel oder gähnten dampfende Spalten,<br />

doch der größte Teil sah aus wie eine kompakte Eismasse.<br />

Und von ihm stiegen einzeln, zu zweit oder in größeren<br />

Gruppen kleine schwarze Schatten auf, bizarre, stromlinienförmige<br />

Gestalten — die Hexen auf ihren Wolkenkiefernzweigen.<br />

Rasch und mühelos flogen sie zum Ballon empor; ihre<br />

Zweige steuerten sie, indem sie sich mal nach dieser, mal nach<br />

jener Seite lehnten. Eine von ihnen, die Schützin, die Lyra vor<br />

Mrs. Coulter gerettet hatte, kam direkt neben den Ballon, und<br />

nun konnte Lyra sie zum erstenmal deutlich sehen.<br />

Sie war noch jung — jünger als Mrs. Coulter — und sehr<br />

schön, und sie hatte leuchtend grüne Augen. Wie die anderen<br />

Hexen war auch sie mit schwarzen Seidentüchern bekleidet<br />

und trug weder Pelze noch Kapuze oder Handschuhe. Doch sie<br />

schien überhaupt nicht zu frieren. Um ihre Stirn wand sich eine<br />

einfache Kette aus kleinen roten Blumen. Sie ritt ihren Wolkenkiefernzweig,<br />

als wäre er ein feuriges Pferd, das sie knapp<br />

einen Meter vor Lyras staunenden Augen zugehe.<br />

»Lyra?«<br />

»Ja! Bist du Serafina Pekkala?«<br />

»Die bin ich.«<br />

Lyra begriff, warum Farder Coram diese Hexe liebte und<br />

warum diese Liebe ihm das Herz gebrochen hatte, obwohl sie<br />

von diesen Dingen eigentlich noch gar nichts wußte. Farder<br />

Coram war alt geworden, ein alter gebrochener Mann, und die<br />

Hexe würde noch viele Menschenalter jung bleiben.<br />

339


»Hast du den Symboldeuter?« fragte die Hexe. Ihre Stimme<br />

klang wie der hohe, wilde Gesang der Aurora, so melodisch, daß<br />

Lyra den Sinn der Frage fast überhört hätte.<br />

»Ja, in meiner Tasche. Dort ist er sicher.«<br />

Sie hörte das Sausen mächtiger Schwingen, und schon glitt<br />

der graue Gänsedæmon neben sie. Er sprach kurz mit der Hexe,<br />

drehte dann wieder ab und kreiste in großem Abstand um den<br />

noch immer aufsteigenden Ballon.<br />

»Die Gypter haben Bolvangar verwüstet«, sagte Serafina Pekkala.<br />

»Sie haben zweiundzwanzig Wächter und neun Angestellte<br />

getötet und alles angezündet, was von den Gebäuden<br />

noch stand. Sie wollen die Anlage vollständig zerstören.«<br />

»Was ist mit Mrs. Coulter passiert?«<br />

»Sie ist spurlos verschwunden.«<br />

Die Hexe stieß einen wilden Schrei aus, und einige andere<br />

Hexen kamen angeflogen und umkreisten den Ballon.<br />

»Mr. Scoresby«, sagte sie, »das Seil, wenn ich bitten darf.«<br />

»Meine Dame, ich bin Ihnen sehr dankbar. Noch steigen wir,<br />

und ich schätze, das werden wir auch noch eine Weile tun. Wie<br />

viele von Ihnen sind denn nötig, um uns nach Norden zu ziehen?«<br />

»Wir sind stark«, sagte Serafina Pekkala nur.<br />

Lee Scoresby befestigte eine Rolle mit einem dicken Seil an<br />

dem lederüberzogenen Eisenring, in dem die den Ballon<br />

umspannenden Seile zusammenliefen und an dem der Korb<br />

aufgehängt war. Dann warf er das lose Ende des Seiles über<br />

Bord, und sofort schössen sechs Hexen darauf zu, packten es,<br />

trieben ihre Wolkenkiefernzweige an und zogen den Ballon in<br />

Richtung Polarstern.<br />

Als sie den Ballon auf Kurs gebracht hatten, hockte sich Pantalaimon<br />

in Gestalt einer Seeschwalbe auf den Korbrand. Auch<br />

Rogers Dæmon warf einen kurzen Blick hinaus, kroch aber<br />

bald wieder zurück, denn Roger schlief genau wie Iorek Byrni­<br />

340


son rief und fest. Nur Lee Scoresby war wach, kaute gelassen auf<br />

einem Zigarillo und wachte über die Instrumente.<br />

»Lyra«, sagte Serafina Pekkala, »warum willst du eigentlich<br />

zu Lord Asriel?«<br />

Lyra war überrascht. »Ich will ihm natürlich das Alethiometer<br />

bringen.«<br />

Sie hatte nie über diese Frage nachgedacht, so klar war die<br />

Antwort. Dann fiel ihr auf einmal ihr ursprüngliches Anliegen<br />

ein. Fast hätte sie es vergessen, so viel Zeit war inzwischen vergangen.<br />

»Oder eigentlich… wollten wir ihm bei der Flucht helfen. Ja,<br />

genau, wir wollen ihm helfen zu fliehen.«<br />

Aber als sie das sagte, merkte sie, wie absurd es klang. Aus<br />

Svalbard fliehen? Unmöglich!<br />

»Oder es jedenfalls versuchen«, setzte sie trotzig hinzu.<br />

»Warum?«<br />

»Ich glaube, ich muß dir vorher noch ein paar Dinge sagen«,<br />

sagte Serafina Pekkala.<br />

»Über Staub?«<br />

»Ja, unter anderem. Aber du bist jetzt müde, und es wird ein<br />

langer Flug. Wir unterhalten uns, wenn du geschlafen hast.«<br />

Lyra gähnte. Es war ein tiefes, herzhaftes Gähnen, das ihre<br />

Kiefern knacken ließ und gar nicht mehr aufhören wollte, und<br />

sosehr Lyra auch gegen ihre Müdigkeit kämpfte, sie konnte ihr<br />

zuletzt nicht widerstehen. Serafina Pekkala streckte eine Hand<br />

über den Korbrand und strich ihr über die Augen. Als Lyra auf<br />

den Boden sank, flatterte auch Pantalaimon hinunter, verwandelte<br />

sich in ein Hermelin und kroch zu seinem Schlafplatz an<br />

ihrem Hals.<br />

Die Hexe richtete sich wieder auf und flog dann ruhig auf<br />

ihrem Zweig neben dem Korb her in Richtung Norden — nach<br />

Svalbard.<br />

341


342


III<br />

Svalbard<br />

343


344


Achtzehn<br />

Nebel und Eis<br />

Lee Scoresby deckte Lyra mit einigen Fellen zu. Das Mädchen<br />

kuschelte sich an Roger, und so schliefen sie Seite an Seite, während<br />

der Ballon weiter in Richtung Pol flog. <strong>Der</strong> Aeronaut<br />

überprüfte von Zeit zu Zeit seine Instrumente, kaute auf der<br />

Zigarre, die er angesichts des feuergefährlichen Wasserstoffes<br />

nicht angezündet hatte, und zog seine eigenen Felle noch fester<br />

um sich.<br />

»Das kleine Mädel ist ziemlich wichtig, wie?« fragte er nach<br />

einer Weile.<br />

»Wichtiger, als sie weiß«, erwiderte Serafina Pekkala.<br />

»Heißt das, wir müssen uns auf einen Waffengang gefaßt<br />

machen? Verstehen Sie mich richtig, ich spreche als praktisch<br />

denkender Mensch, der sein Brot verdienen muß. Ich kann mir<br />

nicht leisten, mir die Knochen brechen oder mich in Stücke<br />

schießen zu lassen, ohne daß vorher irgendeine Kompensation<br />

vereinbart wurde. Ich will nicht kleinlich erscheinen, wirklich<br />

nicht, aber das Honorar, das John Faa und die Gypter mir zahlen,<br />

deckt nur Zeitaufwand, Leistung und die normale Abnutzung<br />

des Ballons, nicht mehr. Es schließt keine Versicherung<br />

gegen kriegerische Handlungen ein. Und ich sage Ihnen eins,<br />

Madame: Wenn wir mit Iorek Byrnison auf Svalbard landen,<br />

dann ist das eine kriegerische Handlung.«<br />

345


Er spuckte geschickt einige Krümel Tabak über Bord.<br />

»Und deshalb wüßte ich gern, was wir in puncto Krawall<br />

und Schlägerei zu erwarten haben«, schloß er.<br />

»Es kann zu Kämpfen kommen«, sagte Serafina Pekkala.<br />

»Aber Sie haben doch auch in der Vergangenheit gekämpft.«<br />

»Sicher, wenn ich bezahlt wurde. Tatsache ist, daß ich in diesem<br />

Fall von einer einfachen Personenbeförderung ausging und<br />

eine entsprechende Rechnung stellte. Und nach dem kleinen<br />

Zusammenstoß da unten, ja, da frage ich mich, wozu ich verpflichtet<br />

bin. Ob man zum Beispiel von mir erwarten kann, daß<br />

ich in einem Krieg der Bären Leben und Ausrüstung riskiere.<br />

Oder ob das Kind auf Svalbard ähnlich heißblütige Feinde hat<br />

wie in Bolvangar. Ich erwähne das lediglich, weil wir gerade<br />

darüber sprechen.«<br />

»Ich wünschte, ich könnte Ihre Frage beantworten, Mr. Scoresby«,<br />

sagte die Hexe. »Ich kann nur sagen, daß wir alle, Menschen,<br />

Hexen und Bären, uns bereits mitten in einem Krieg<br />

befinden, auch wenn das nicht alle wissen. Ob Sie nun auf Svalbard<br />

am Krieg teilnehmen oder vorher wegfliegen, Sie sind<br />

Rekrut, Soldat.«<br />

»Hm, das scheint mir doch etwas voreilig. Ich finde, man<br />

sollte selbst entscheiden können, ob man kämpft oder nicht.«<br />

»Das kann man genausowenig, wie man entscheiden kann,<br />

ob man geboren wird oder nicht.«<br />

»Aber ich treffe gern Entscheidungen«, sagte er. »Ich entscheide<br />

gern selbst, welchen Auftrag ich annehme, wohin ich<br />

gehe, was ich esse und mit welchen Freunden ich zusammen<br />

bin. Geht Ihnen das manchmal nicht auch so?«<br />

Serafina Pekkala dachte einen Augenblick nach und sagte<br />

dann: »Vielleicht meinen wir nicht dasselbe, Mr. Scoresby.<br />

Hexen haben keinen Besitz, es interessiert uns deshalb auch<br />

nicht, einen Wert zu erhalten oder Gewinn zu machen. Und<br />

was die Wahl zwischen zwei Dingen angeht: Wer viele hundert<br />

346


Jahre lebt, weiß, daß jede Gelegenheit wiederkehrt. Wir haben<br />

andere Bedürfnisse. Ich sehe ein, daß Sie Ihren Ballon reparieren<br />

und instand halten müssen und daß das Zeit und Arbeit<br />

kostet, aber wir brauchen zum Fliegen nur den Zweig einer<br />

Wolkenkiefer abzureißen, einen beliebigen Zweig, und davon<br />

gibt es genügend. Wir frieren nicht, also brauchen wir keine<br />

warmen Kleider. Wir können nichts austauschen außer gegenseitiger<br />

Hilfe. Wenn eine Hexe etwas braucht, dann wird eine<br />

andere es ihr geben. Wenn ein Krieg ansteht, spielen bei unserer<br />

Entscheidung, ob wir kämpfen sollen oder nicht, die Kosten<br />

keine Rolle. Wir kennen auch keinen Ehrenkodex wie zum<br />

Beispiel Bären. Für einen Bären ist eine Kränkung eine tödliche<br />

Sache. Für uns ist das… unvorstellbar. Wie kann man eine Hexe<br />

kränken? Was würde es ausmachen?«<br />

»Gut, soweit versteh ich Sie. Über Worte läßt sich trefflich<br />

streiten, aber sie sind den Streit nicht wert. Aber, Madame, ich<br />

hoffe, Sie verstehen mein Dilemma. Ich bin ein einfacher Aeronaut<br />

und würde meine Tage gern in Frieden beschließen. Mir<br />

vielleicht eine kleine Farm kaufen, mit ein paar Kühen, einigen<br />

Pferden… Wohlgemerkt, kein Luxus. Kein Palast, keine Sklaven<br />

oder Berge von Gold. Nur der Abendwind über dem Gras, eine<br />

Zigarre und ein Glas Bourbon. Das Problem ist nur, das alles<br />

kostet Geld. Also fliege ich für Geld, und nach jedem Auftrag<br />

schicke ich einen Teil an die Wells Fargo Bank, und wenn ich<br />

genug habe, verkaufe ich diesen Ballon und buche einen Platz<br />

auf einem Dampfer nach Port Galveston, und dann bleibe ich<br />

für immer am Boden.«<br />

»Auch darin unterscheiden wir uns, Mr. Scoresby. Eine Hexe<br />

könnte das Fliegen genausowenig aufgeben wie das Atmen. Erst<br />

beim Fliegen sind wir ganz wir selbst.«<br />

»Ich verstehe und beneide Sie, Madame, aber diese Art der<br />

Selbstverwirklichung ist mir nicht zugänglich. Fliegen ist für<br />

mich ein Job, ich bin nur ein Handwerker. Ich könnte genauso­<br />

347


gut irgendwelche Ventile einstellen oder anbarische Leitungen<br />

verlegen. Aber ich habe mich für meinen Beruf entschieden.<br />

Aus freien Stücken. Und deshalb sagt mir die Vorstellung eines<br />

Krieges, von dem ich nichts weiß, wenig zu.«<br />

»Auch Iorek Byrnisons Streit mit seinem König gehört zu<br />

diesem Krieg«, sagte die Hexe. »Dem Mädchen ist es bestimmt,<br />

dabei eine Rolle zu spielen.«<br />

»Sie sprechen von Bestimmung«, sagte Lee Scoresby, »als ob<br />

alles schon entschieden sei. Das gefällt mir im Grunde genausowenig<br />

wie ein Krieg, an dem ich teilnehme, ohne es zu wissen.<br />

Wo bleibt bitte schön mein freier Wille? Ich habe übrigens den<br />

Eindruck, Lyra hat mehr freien Willen als alle, die ich kenne.<br />

Wollen Sie denn sagen, das Mädchen sei nur eine Art mechanisches<br />

Spielzeug, das man aufzieht und dann in eine Richtung<br />

marschieren läßt, an der es nichts ändern kann?«<br />

»Wir sind alle dem Schicksal unterworfen«, sagte die Hexe,<br />

»aber wir müssen so tun, als seien wir es nicht, sonst würden wir<br />

vor Verzweiflung sterben. Diesem Mädchen geht eine merkwürdige<br />

Prophezeiung voraus: Es ist ihr Schicksal, das Ende des<br />

Schicksals herbeizuführen. Sie muß das jedoch tun, ohne zu<br />

wissen, was sie tut, als sei es in ihrer Natur angelegt und nicht<br />

vom Schicksal bestimmt. Sagte man ihr, was sie tun muß, wäre<br />

alles vergebens; es wäre der Sieg des Todes in allen Welten und<br />

der Triumph der Verzweiflung für alle Zeiten. Die Welten<br />

wären nur noch ein Räderwerk, blind und ohne Geist, Gefühl,<br />

Leben…«<br />

Sie sahen auf Lyra nieder, deren Stirn — soweit unter der<br />

Kapuze sichtbar — noch im Schlaf leicht gerunzelt war.<br />

»Ich glaube, ein Teil von ihr weiß das«, sagte der Aeronaut.<br />

»Jedenfalls wirkt sie irgendwie vorbereitet. Aber der kleine<br />

Junge? Wissen Sie, daß das Mädchen nur deshalb herkam, um<br />

ihn vor diesen Teufeln zu retten? Die beiden waren Spielkameraden,<br />

in Oxford oder sonstwo. Wußten Sie das?«<br />

348


»Ja. Lyra hat etwas von ungeheurem Wert bei sich, und<br />

offenbar hat das Schicksal sie dazu ausersehen, dieses Etwas<br />

ihrem Vater zu überbringen. Sie kam auf der Suche nach ihrem<br />

Freund hierher, ohne zu wissen, daß ihr Freund vom Schicksal<br />

in den Norden geführt wurde, damit sie ihm folgen und ihrem<br />

Vater etwas bringen kann.«<br />

»Das ist Ihre Deutung, oder?«<br />

Die Hexe wirkte zum erstenmal verunsichert. »Es scheint<br />

jedenfalls so zu sein… Aber wir können das Dunkel nicht lesen,<br />

Mr. Scoresby. Es ist durchaus möglich, daß ich mich irre.«<br />

»Was haben Sie eigentlich mit dieser Sache zu tun, wenn ich<br />

fragen darf?«<br />

»Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß das, was die Menschen<br />

in Bolvangar tun, falsch ist. Lyra ist ihr Feind, also sind<br />

wir ihre Freunde. Mehr wissen wir nicht. Aber dazu kommt<br />

noch, daß mein Clan mit den Gyptern befreundet ist; diese<br />

Freundschaft geht auf jene Zeit zurück, als Farder Coram mir<br />

das Leben rettete. Wir handeln auf die Bitte der Gypter hin,<br />

und sie wiederum sind Lord Asriel verpflichtet.«<br />

»Verstehe. Sie schleppen den Ballon also den Gyptern zuliebe<br />

nach Svalbard. Geht diese Freundschaft so weit, daß Sie uns<br />

auch auf dem Rückweg helfen? Oder müssen wir dann warten,<br />

bis der Wind günstig steht, und bis dahin hoffen, daß die Bären<br />

ein Einsehen haben? Noch einmal, Madame, ich frage in aller<br />

Freundschaft und lediglich aus Neugier.«<br />

»Wenn wir Ihnen nach Trollesund zurückhelfen können,<br />

Mr. Scoresby, werden wir das tun. Wir wissen allerdings nicht,<br />

was uns auf Svalbard erwartet. <strong>Der</strong> neue König der Bären hat<br />

vieles geändert, und alte Bräuche sind in Verruf geraten. Es<br />

könnte eine schwierige Landung werden. Außerdem weiß ich<br />

nicht, wie Lyra zu ihrem Vater gelangen soll und was Iorek<br />

Byrnison vorhat. Ich weiß nur, daß sein Schicksal mit ihrem<br />

verknüpft ist.«<br />

349


»Auch ich weiß nicht mehr, Madame. Ich glaube, Iorek hat<br />

sich dem Mädchen als eine Art Beschützer angeschlossen. Sie<br />

hat ihm geholfen, seine Rüstung zurückzubekommen. Wer<br />

weiß schon, was Bären fühlen? Aber wenn je ein Bär einen<br />

Menschen geliebt hat, dann er sie. — Auf Svalbard zu landen<br />

war noch nie leicht. Immerhin, wenn ich mich darauf verlassen<br />

kann, daß Sie mich in die richtige Richtung ziehen, beruhigt<br />

mich das einigermaßen. Wenn ich mich dafür irgendwie revanchieren<br />

kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Nur zu meiner<br />

Information: Könnten Sie mir sagen, auf wessen Seite ich in<br />

diesem unsichtbaren Krieg stehe?«<br />

»Wir stehen beide auf Lyras Seite.«<br />

»Oh, das bestimmt.«<br />

Sie flogen weiter. Wie schnell sie flogen, war aufgrund der<br />

Wolken unter ihnen nicht zu sehen. Während man in einem<br />

Ballon den Wind normalerweise nicht spürt, weil er mit der<br />

Geschwindigkeit des Windes dahintreibt, bewegte er sich jetzt,<br />

gezogen von den Hexen, durch die Luft statt mit ihr. <strong>Der</strong> Luftwiderstand<br />

war dabei beträchtlich, da der gasgefüllte Ball nicht<br />

so stromlinienförmig und glatt war wie ein Zeppelin. Als Folge<br />

schwang der Korb hin und her und wurde viel stärker durchgeschüttelt<br />

als bei einem normalen Flug.<br />

Lee Scoresby sorgte sich freilich weniger um seine Bequemlichkeit<br />

als vielmehr um seine Instrumente, deshalb überzeugte<br />

er sich, daß sie fest an den Verstrebungen des Korbes vertäut<br />

waren. Dem Höhenmesser zufolge befanden sie sich in zehntausend<br />

Fuß Höhe. Die Temperatur betrug minus zwanzig Grad.<br />

Lee Scoresby hatte schon kältere Temperaturen überstanden,<br />

allerdings nicht viel kältere, und er wollte nicht, daß sie noch<br />

weiter abfiel. Deshalb entrollte er die Zeltplane, die er für ein<br />

Notbiwak dabeihatte, und breitete sie vor den schlafenden Kindern<br />

als Windschutz aus. Dann legte er sich Rücken an Rücken<br />

mit seinem alten Waffenbruder Iorek Byrnison und schlief ein.<br />

350


Als Lyra aufwachte, stand der Mond hoch am Himmel, und um<br />

sie herum war alles wie mit Silber übergössen, von der unter ihr<br />

dahingleitenden Wolkendecke bis zu den Eiszapfen an den Leinen<br />

des Ballons.<br />

Roger schlief noch, ebenso wie Lee Scoresby und der Bär.<br />

Doch neben dem Korb flog unermüdlich die Hexenkönigin.<br />

»Wie weit ist es noch bis Svalbard?« sagte Lyra.<br />

»Wenn wir keinen stärkeren Gegenwind bekommen, sind<br />

wir in zwölf Stunden dort.«<br />

»Wo landen wir?«<br />

»Das hängt vom Wetter ab. Natürlich werden wir die Felsenküste<br />

möglichst meiden. Dort leben Kreaturen, die alles fressen,<br />

was sich bewegt. Wenn es geht, setzen wir euch im Inneren ab,<br />

weit weg von Iofur Raknisons Palast.«<br />

»Was geschieht, wenn ich Lord Asriel finde? Kommt er mit<br />

mir nach Oxford zurück? Ich weiß gar nicht, ob ich ihm sagen<br />

soll, daß ich weiß, daß er mein Vater ist. Vielleicht will er weiter<br />

so tun, als sei er mein Onkel. Ich kenne ihn ja kaum.«<br />

»Er kommt sicher nicht mit nach Oxford, Lyra. Offenbar<br />

gibt es in einer anderen Welt etwas zu tun, und Lord Asriel ist<br />

der einzige, der die Kluft zwischen dieser anderen und unserer<br />

Welt überwinden kann. Allerdings braucht er dabei Hilfe.«<br />

»Das Alethiometer!« rief Lyra. »<strong>Der</strong> Rektor von Jordan hat es<br />

mir gegeben, und ich hatte das Gefühl, er wollte etwas über<br />

Lord Asriel sagen, nur kam er dann nicht dazu. Ich wußte, daß<br />

er ihn nicht wirklich vergiften wollte. Vielleicht braucht Lord<br />

Asriel das Instrument, um zu erfahren, wie er die Verbindung<br />

zur anderen Welt herstellen kann. Ich wette, ich kann ihm<br />

dabei helfen. Ich lese das Instrument inzwischen wahrscheinlich<br />

so gut wie sonst kaum jemand.«<br />

»Hm«, sagte Serafina Pekkala. »Wie er die Verbindung herstellen<br />

will und was seine genaue Aufgabe sein wird, wissen wir<br />

nicht. Es gibt Mächte, die zu uns sprechen, und Mächte über<br />

351


diesen, und es gibt Dinge, die selbst den höchsten Mächten verborgen<br />

sind.«<br />

»Das Alethiometer würde es mir sagen! Ich kann es ja gleich<br />

probieren…«<br />

Aber es war zu kalt, Lyra hätte das Instrument nicht in der<br />

Hand halten können. Sie wickelte ihren Pelz fester um sich und<br />

zog die Kapuze wegen des eisigen Windes so weit zu, bis nur<br />

noch ein Schlitz zum Durchsehen offen war. Vom Korbring des<br />

Ballons erstreckte sich ein langes Seil weit nach vorn; an ihm<br />

zogen sechs oder sieben Hexen, die auf Ästen aus Wolkenkiefer<br />

saßen. Die Sternen funkelten hell, kalt und hart wie Diamanten.<br />

»Warum friert ihr Hexen nicht, Serafina Pekkala?«<br />

»Wir spüren die Kälte, aber sie macht uns nichts aus, denn sie<br />

schadet uns nicht. Wenn wir uns gegen die Kälte warm anziehen<br />

würden, könnten wir andere Dinge nicht mehr spüren, das<br />

Kribbeln der Sterne oder die Musik der Aurora oder am besten<br />

von allem die seidige Glätte des Mondlichtes auf der Haut.<br />

Dafür lohnt es sich, die Kälte zu ertragen.«<br />

»Kann ich das auch spüren?«<br />

»Nein, du würdest ohne deine warmen Kleider sterben.<br />

Behalte sie also an.«<br />

»Wie alt werden Hexen, Serafina Pekkala? Farder Coram<br />

sagt, viele hundert Jahre. Aber du siehst überhaupt nicht alt<br />

aus.«<br />

»Ich bin dreihundert Jahre alt oder älter. Unsere älteste<br />

Hexenmutter ist fast tausend. Eines Tages wird Yambe-Akka sie<br />

holen, und eines Tages auch mich. Sie ist die Göttin der Toten.<br />

Wenn sie freundlich lächelnd zu dir kommt, weißt du, daß es<br />

Zeit ist, zu sterben.«<br />

»Sind auch Männer Hexen? Oder nur Frauen?«<br />

»Es gibt Männer, die uns dienen, wie der Konsul in Trollesund.<br />

Und andere Männer sind unsere Liebhaber und Gefährten.<br />

Du bist noch jung, Lyra, zu jung, um das zu verstehen, aber<br />

352


ich sage es dir trotzdem, dann verstehst du es später: Männer<br />

kommen und gehen vor unseren Augen wie Schmetterlinge,<br />

Geschöpfe einer kurzen Jahreszeit. Wir lieben sie; sie sind tapfer,<br />

stolz, schön und klug und sterben gleich wieder. Sie sterben<br />

so schnell, daß der Kummer uns ständig das Herz zerreißt. Wir<br />

gebären ihre Kinder; aus den Mädchen werden Hexen, aus den<br />

Jungen Menschen wie du; und dann, im nächsten Augenblick,<br />

haben sie uns schon wieder verlassen, niedergestreckt, tot, verloren.<br />

Auch unsere Söhne. Wenn ein kleiner Junge heranwächst,<br />

hält er sich für unsterblich. Seine Mutter weiß, daß er es<br />

nicht ist. Das ist von Mal zu Mal schmerzhafter, bis uns schließlich<br />

das Herz bricht. Vielleicht ist das der Augenblick, in dem<br />

uns Yambe-Akka holt. Sie ist älter als die Tundra. Vielleicht ist<br />

für sie ein Hexenleben so kurz wie für uns ein Menschenleben.«<br />

»Hast du Farder Coram geliebt?«<br />

»Ja. Weiß er es?«<br />

»Keine Ahnung, aber ich weiß, daß er dich liebt.«<br />

»Als er mich rettete, war er jung und stark und stolz und<br />

schön. Ich verliebte mich auf Anhieb in ihn. Ich hätte mein<br />

Wesen geändert, ich hätte auf das Kribbeln der Sterne und die<br />

Musik der Aurora verzichtet, auf das Fliegen — all das hätte ich<br />

aufgegeben, sofort und ohne nachzudenken, um eine gyptische<br />

Bootsfrau zu werden, für ihn zu kochen, das Bett mit ihm zu<br />

teilen und seine Kinder zu gebären. Aber man kann nicht<br />

ändern, was man ist, nur was man tut. Ich bin eine Hexe, er ist<br />

ein Mensch. Ich blieb lange genug bei ihm, um ihm ein Kind zu<br />

gebären…«<br />

»Das hat er nie erzählt! War es ein Mädchen? Eine Hexe?«<br />

»Nein, ein Junge. Er starb an der großen Seuche, die vor vierzig<br />

Jahren aus dem Osten kam, der Arme. Er trat ins Leben und<br />

mußte gleich wieder gehen, wie eine Eintagsfliege. Es zerriß<br />

mir schier das Herz, wie jedesmal. Coram war verzweifelt. Und<br />

dann wurde ich aufgefordert, zu meinem Volk zurückzukeh­<br />

353


en, weil Yambe-Akka meine Mutter geholt hatte und ich<br />

Clan-Königin geworden war. Ich mußte also gehen.«<br />

»Und du hast Farder Coram nie wieder gesehen?«<br />

»Nie wieder. Ich hörte von seinen Taten. Ich hörte, daß ein<br />

vergifteter Pfeil der Skrälinge ihn verwundet hatte, und<br />

schickte Kräuter und Zaubermittel zu seiner Genesung, aber<br />

ich war nicht stark genug, ihn zu besuchen. Ich hörte, daß er<br />

danach ein gebrochener Mann war und daß seine Weisheit<br />

wuchs, weil er viel studierte und las, und ich war stolz auf ihn<br />

und die guten Dinge, die er tat. Aber ich hielt mich fern von<br />

ihm, denn es waren gefährliche Zeiten für meinen Clan.<br />

Hexenkriege drohten, und außerdem glaubte ich, er würde<br />

mich vergessen und eine Frau unter den Menschen finden…«<br />

»Das würde er nie«, sagte Lyra entschieden. »Du mußt ihn<br />

besuchen. Er liebt dich immer noch, ganz bestimmt.«<br />

»Aber er würde sich für sein Alter schämen, und das will ich<br />

nicht.«<br />

»Vielleicht. Aber ich finde, dann solltest du ihm wenigstens<br />

eine Nachricht schicken.«<br />

Serafina Pekkala schwieg lange Zeit. Pantalaimon verwandelte<br />

sich in eine Seeschwalbe und flog auf ihren Ast, um ihr zu<br />

verstehen zu geben, daß Lyra sie nicht hatte kränken wollen.<br />

Schließlich sagte Lyra: »Warum haben eigentlich alle Menschen<br />

Dæmonen, Serafina Pekkala?«<br />

»Das fragen alle, und keiner weiß eine Antwort. Solange es<br />

Menschen gibt, gibt es auch Dæmonen. Das unterscheidet uns<br />

von den Tieren.«<br />

»Stimmt! Von denen unterscheiden wir uns wirklich… Zum<br />

Beispiel von den Bären. Seltsame Tiere, die Bären, oder? Man<br />

denkt, sie sind ja wie Menschen, und dann tun sie plötzlich<br />

etwas so Seltsames oder Grausames, daß man das Gefühl hat,<br />

man wird sie nie verstehen… Aber Iorek, weißt du, also Iorek<br />

sagte zu mir, daß seine Rüstung für ihn dasselbe bedeutet wie<br />

354


für die Menschen ihr Dæmon. Sie ist seine Seele, sagt er. Aber<br />

das ist auch wieder anders als bei uns, weil er seine Rüstung<br />

selbst gemacht hat. Seine erste Rüstung wurde ihm weggenommen,<br />

als man ihn in die Verbannung schickte, er hat sich also<br />

einige Stücke Himmelseisen zusammengesucht und daraus<br />

eine neue Rüstung gemacht, also eine neue Seele. Wir können<br />

unsere Dæmonen ja nicht selber machen. Und die Leute in<br />

Trollesund, also die haben ihn mit Alkohol betrunken gemacht<br />

und ihm dann die Rüstung gestohlen, und ich habe herausgefunden,<br />

wo sie ist, und er hat sie wiederbekommen… Aber was<br />

ich nicht verstehe: Warum kommt er mit nach Svalbard? Sie<br />

werden gegen ihn kämpfen. Vielleicht töten sie ihn sogar… Ich<br />

habe Iorek lieb. Ich habe ihn so lieb, daß ich wünschte, er käme<br />

nicht mit.«<br />

»Hat er dir gesagt, wer er ist?«<br />

»Nur seinen Namen. Und den hat uns der Konsul in Trollesund<br />

gesagt.«<br />

»Er ist von vornehmer Abstammung, ein Prinz. Wenn er<br />

nicht ein schweres Verbrechen begangen hätte, wäre er jetzt<br />

sogar König der Bären.«<br />

»Aber er sagte mir, der König der Bären sei Iofur Raknison.«<br />

»Iofur Raknison wurde König, als Iorek Byrnison verbannt<br />

wurde. Natürlich ist Iofur auch ein Prinz, sonst hätte er nicht<br />

König werden dürfen; aber er ist schlau nach Art der Menschen.<br />

Er schließt Bündnisse und Verträge, er lebt nicht wie andere<br />

Bären in Eisburgen, sondern in einem neuen Palast, und er<br />

redet davon, mit den Nationen der Menschen Botschafter auszutauschen<br />

und mit Hilfe menschlicher Ingenieure die Feuerminen<br />

auf Svalbard zu erschließen… Er ist sehr geschickt und<br />

listig. Einige sagen, er hätte Iorek zu der Tat provoziert, für die<br />

er verbannt wurde, andere sagen, auch wenn er das nicht getan<br />

hat, hat er zumindest das Gerücht gefordert, weil man ihn dann<br />

für noch raffinierter und listiger hält.«<br />

355


»Aber was genau hat Iorek denn getan? Ich mag Iorek nämlich<br />

auch deshalb, weil mein Vater dasselbe getan hat wie er und<br />

auch dafür bestraft wurde. Ich finde, daß die beiden sich darin<br />

gleichen. Iorek hat mir erzählt, er habe einen anderen Bären<br />

umgebracht, aber er hat nicht gesagt, warum.«<br />

»<strong>Der</strong> Kampf ging um eine Bärin. <strong>Der</strong> Bär, den Iorek tötete,<br />

wollte sich nicht mit seiner Niederlage abfinden, als klar war,<br />

daß Iorek stärker war. Bären erkennen bei allem Stolz immer<br />

an, wenn ein anderer Bär ihnen überlegen ist, und unterwerfen<br />

sich, aber dieser Bär tat das aus irgendeinem Grund nicht.<br />

Einige meinen, Iofur Raknison hätte ihn dazu angestiftet oder<br />

ihm Kräuter zu essen gegeben, die seinen Verstand verwirrten.<br />

Jedenfalls wollte der junge Bär nicht einlenken, und Iorek<br />

Byrnison verlor die Beherrschung. <strong>Der</strong> Fall war klar: Er hätte<br />

den Bären nur verwunden dürfen, nicht töten.«<br />

»Dann wäre er jetzt König«, sagte Lyra. »Ich habe schon vom<br />

Palmer-Professor in Jordan von Iofur Raknison gehört; der<br />

Professor ist im Norden gewesen und hat ihn kennengelernt. Er<br />

sagte… wenn ich mich bloß erinnern könnte, was er sagte… Ich<br />

glaube, Iofur sei durch irgendwelche Intrigen auf den Thron<br />

gekommen… Dabei hat Iorek mir einmal gesagt, Bären könne<br />

man nicht überlisten, und er zeigte mir, daß ich ihn nicht reinlegen<br />

konnte. Anscheinend sind beide reingelegt worden, er<br />

und der andere Bär. Vielleicht können nur Bären andere Bären<br />

überlisten, nicht Menschen. Außer… Die Leute in Trollesund,<br />

die haben ihn doch überlistet, nicht wahr? Indem sie ihn<br />

betrunken gemacht und seine Rüstung gestohlen haben.«<br />

»Wenn Bären sich wie Menschen verhalten, kann man sie<br />

vielleicht überlisten«, sagte Serafina Pekkala, »und wenn sie sich<br />

wie Bären verhalten, vielleicht nicht. Normalerweise trinkt<br />

kein Bär Alkohol. Iorek Byrnison trank, um die Schande seiner<br />

Verbannung zu vergessen, und nur deshalb konnten die Menschen<br />

in Trollesund ihn überlisten.«<br />

356


»Genau«, sagte Lyra und nickte. Diese Erklärung leuchtete<br />

ihr vollkommen ein. Sie bewunderte Iorek fast grenzenlos und<br />

war froh, seine edle Gesinnung bestätigt zu finden. »Du bist<br />

wirklich klug«, sagte sie. »Darauf wäre ich nie gekommen,<br />

wenn du es mir nicht gesagt hättest. Wahrscheinlich bist du<br />

noch klüger als Mrs. Coulter.«<br />

Sie flogen weiter. Lyra kaute auf einem Stück Seehundfleisch,<br />

das sie in ihrer Tasche gefunden hatte.<br />

»Serafina Pekkala«, sagte sie nach einer Weile, »was ist dieser<br />

Staub? Denn mir scheint, daß es bei dem ganzen Streit immer<br />

um Staub geht, nur will mir keiner sagen, was das ist.«<br />

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Serafina Pekkala. »Die Hexen<br />

hat das nie interessiert. Ich weiß nur, daß man überall dort, wo<br />

es Priester gibt, Angst vor Staub hat. Mrs. Coulter ist natürlich<br />

keine Priesterin, aber dafür eine mächtige Agentin des Magisteriums.<br />

Sie hat die Oblations-Behörde gegründet und die Kirche<br />

dazu überredet, Bolvangar zu finanzieren, weil sie sich für<br />

Staub interessiert. Wir verstehen zwar nicht, warum, aber es<br />

gibt viele Dinge, die wir nicht verstehen. Wenn wir sehen, daß<br />

die Tataren sich Löcher in die Schädel bohren, können wir uns<br />

nur wundern. Staub mag also eine merkwürdige Sache sein, die<br />

wir nicht verstehen, aber wir geraten deshalb nicht in Panik und<br />

reißen Dinge auseinander, um dem Phänomen auf die Spur zu<br />

kommen. Das überlassen wir der Kirche.«<br />

»<strong>Der</strong> Kirche?« rief Lyra. Ihr war eingefallen, wie sie mit Pantalaimon<br />

in den Fens darüber gerätselt hatte, was wohl die<br />

Nadel des Alethiometers bewegte. Sie hatten sich an die Photomühle<br />

auf dem Hochaltar von Gabriel College erinnert, deren<br />

kleine Flügel von Elementarteilchen bewegt wurden. <strong>Der</strong> dortige<br />

Fürsprecher hatte ganz eindeutig von einem Zusammenhang<br />

zwischen Elementarteilchen und Religion gesprochen.<br />

»Könnte sein«, sagte sie und nickte. »Die Kirche hält ja so viele<br />

Sachen geheim. Aber dabei handelt es sich meist um ganz alte<br />

357


Dinge, und dazu gehört Staub nicht, soviel ich weiß. Ich frage<br />

mich, ob Lord Asriel mir mehr darüber sagen kann…«<br />

Sie gähnte.<br />

»Ich lege mich lieber wieder hin«, sagte sie zu Serafina Pekkala,<br />

»sonst erfriere ich wahrscheinlich noch. Ich hab schon<br />

drunten auf der Erde gefroren, aber so kalt wie jetzt war mir<br />

noch nie. Ich glaube, ich sterbe, wenn mir noch kälter wird.«<br />

»Dann leg dich hin und wickle dich gut in die Pelze ein.«<br />

»Das mach ich. Aber wenn ich sterben müßte, dann viel lieber<br />

hier oben als unten. Als wir uns unter dieses Messer stellen<br />

mußten, glaubte ich schon, das sei das Ende… Wir glaubten es<br />

beide. Es war schrecklich. Aber jetzt legen wir uns hin. Weck<br />

uns, wenn wir ankommen.« Unbeholfen und mit vor Kälte<br />

starren und schmerzenden Gliedern legte Lyra sich auf die am<br />

Boden ausgebreiteten Felle und kuschelte sich so dicht wie<br />

möglich an den schlafenden Roger.<br />

Und schlafend schwebten die vier Reisenden in ihrem eisverkrusteten<br />

Ballon weiter auf die Felsen und Gletscher, die<br />

Feuerminen und Eisburgen von Svalbard zu.<br />

Serafina Pekkala rief Lee Scoresby etwas zu, und dieser fuhr aus<br />

dem Schlaf hoch, noch ganz benommen vor Kälte. Er merkte<br />

sofort an der Bewegung des Ballons, daß etwas nicht stimmte.<br />

Geschüttelt von starken Böen, schwang der Ballon heftig hin<br />

und her, und die Hexen konnten das Seil, an dem sie ihn zogen,<br />

kaum noch halten. Wenn sie losließen, würde der Ballon sofort<br />

abgetrieben werden, und ein kurzer Blick auf den Kompaß<br />

sagte dem Aeronauten, daß sie dann mit einer Geschwindigkeit<br />

von fast hundert Meilen pro Stunde auf Nowaja Semlja zurasen<br />

würden.<br />

»Wo sind wir?« hörte Lyra ihn rufen. Die heftigen Bewegungen<br />

hatten sie aus dem Schlaf gerissen, und ihre Glieder waren<br />

taub vor Kälte.<br />

358


Sie hörte nicht, was die Hexe antwortete, aber durch ihre<br />

halbgeschlossene Kapuze sah sie im Schein einer anbarischen<br />

Laterne, wie Lee Scoresby sich an eine Verstrebung klammerte<br />

und an einem Seil zog, das vom Ballon herunterhing. Er zog<br />

einmal kräftig daran, als ob es sich verklemmt hätte, sah in das<br />

von Windstößen durchtobte Dunkel hinauf und schlang das<br />

Seil dann um einen Pflock am Korbring.<br />

»Ich lasse etwas Gas ab«, rief er Serafina Pekkala zu. »Wir<br />

müssen runter, wir fliegen viel zu hoch.«<br />

Die Hexe rief etwas als Antwort, aber wieder konnte Lyra<br />

nichts verstehen. Neben ihr wachte Roger auf. Das Knarren des<br />

Korbes hätte den tiefsten Schläfer geweckt, von dem heftigen<br />

Schaukeln und Rütteln ganz zu schweigen. Rogers Dæmon und<br />

Pantalaimon klammerten sich wie Krallenaffen aneinander,<br />

und Lyra versuchte, ganz ruhig liegenzubleiben und nicht in<br />

Panik zu geraten.<br />

»Alles bestens«, sagte Roger fröhlich, während Lyra gar nicht<br />

wohl in ihrer Haut war. »Sobald wir unten sind, machen wir<br />

Feuer und wärmen uns auf. Ich habe ein paar Streichhölzer in<br />

der Tasche, die ich in Bolvangar aus der Küche geklaut habe.«<br />

<strong>Der</strong> Ballon sank tatsächlich, denn im nächsten Augenblick<br />

umhüllte sie eine dicke, eisige Wolke. Nebelfetzen flogen<br />

durch den Korb, und plötzlich wurde alles dunkel. Es war der<br />

dickste Nebel, den Lyra je erlebt hatte. Dann hörten sie wieder<br />

Serafina Pekkala etwas rufen, und der Aeronaut wickelte das<br />

Seil vom Pflock und ließ es los. Es sprang durch seine Hände<br />

nach oben, und Lyra hörte oder spürte über dem Knarren des<br />

Korbes und dem Rütteln und Heulen des Windes in den Leinen<br />

irgendwo weit oben einen gewaltigen, dumpfen Schlag.<br />

Lee Scoresby sah Lyras aufgerissene Augen.<br />

»Das ist das Gasventil«, rief er. »Es arbeitet mit einer Feder<br />

und hält das Gas im Ballon. Wenn ich daran ziehe, entweicht<br />

oben Gas, und wir verlieren an Auftrieb und sinken.«<br />

359


»Sind wir denn schon…«<br />

Lyra konnte den Satz nicht beenden, denn etwas Schreckliches<br />

geschah. Eine Kreatur, halb so groß wie ein Mensch, mit<br />

ledrigen Flügeln und gebogenen Klauen kroch über den Rand<br />

des Korbes und auf Lee Scoresby zu. Sie hatte einen flachen<br />

Kopf, hervorquellende Augen und ein breites, froschähnliches<br />

Maul und sonderte Schwaden eines entsetzlichen Gestanks ab.<br />

Bevor Lyra schreien konnte, hatte Iorek Byrnison die Tatze ausgestreckt<br />

und die Kreatur weggeschubst. Sie fiel aus dem Korb<br />

und verschwand mit einem gellenden Schrei.<br />

»Ein Klippenalp«, sagte Iorek kurz.<br />

Im nächsten Moment erschien Serafina Pekkala und hielt<br />

sich am Rand des Korbes fest.<br />

»Die Klippenalpe greifen an«, sagte sie eindringlich. »Wir<br />

bringen den Ballon jetzt nach unten, und dann müssen wir uns<br />

verteidigen. Sie sind…«<br />

<strong>Der</strong> Rest ihrer Worte ging in einem markerschütternden<br />

Reißgeräusch unter, dann kippte alles zur Seite. Ein furchtbarer<br />

Schlag wirbelte die drei Menschen an die Wand des Korbes, an<br />

der Iorek Byrnisons Rüstung lag. Iorek streckte seine mächtige<br />

Tatze aus, um zu verhindern, daß sie hinausfielen, denn der<br />

Korb schwankte immer heftiger. Serafina Pekkala war verschwunden.<br />

<strong>Der</strong> Lärm war ohrenbetäubend, und über allem<br />

war das Kreischen der Klippenalpe zu hören. Lyra sah, wie sie<br />

um den Korb schössen, und roch ihren faulen Gestank.<br />

Dann folgte ein zweiter Schlag, so plötzlich, daß er sie wieder<br />

auf den Boden warf, und der Korb begann, sich um die eigene<br />

Achse drehend, mit furchterregender Geschwindigkeit zu sinken.<br />

Es war, als hätte er sich vom Ballon losgerissen und fiel<br />

nun, durch nichts mehr gehalten, ins Bodenlose. Eine weitere<br />

Serie von Schlägen und Stößen folgte, und der Korb wurde so<br />

schnell von einer Seite zur anderen geworfen, als springe er<br />

zwischen zwei Felswänden hin und her.<br />

360


Als letztes sah Lyra, wie Lee Scoresby mit einer langen Pistole<br />

mitten in das Gesicht eines Klippenalps feuerte. Dann machte<br />

sie die Augen fest zu und hielt sich in panischer Angst an Iorek<br />

Byrnisons Fell fest. Gellende Schreie, das Peitschen und Pfeifen<br />

des Windes und das Knarren des Korbes wie eine gequälte<br />

Kreatur erfüllten die turbulente Luft mit einem entsetzlichen<br />

Lärm.<br />

Ein gewaltiger Ruck erschütterte den Korb, und Lyra verlor<br />

jeden Halt und wurde hinausgeschleudert. <strong>Der</strong> Aufprall verschlug<br />

ihr den Atem, und sie wußte nicht mehr, wo oben und<br />

unten war. Ihr Gesicht in der fest zugezogenen Kapuze war<br />

über und über mit einem Pulver bedeckt, das aus trockenen,<br />

kalten Kristallen bestand…<br />

Es war Schnee; sie war in einer Schneewehe gelandet. Sie war<br />

so zerschlagen, daß sie kaum denken konnte. Einige Sekunden<br />

lang blieb sie wie tot liegen, dann begann sie kraftlos, den<br />

Schnee in ihrem Mund auszuspucken, und genauso kraftlos<br />

schneuzte sie sich, um wenigstens etwas Luft durch die Nase zu<br />

bekommen. Sie schien nicht verletzt zu sein, sie fühlte sich<br />

lediglich völlig ausgepumpt. Vorsichtig bewegte sie Hände,<br />

Füße, Arme und Beine und hob den Kopf.<br />

Sie konnte nichts sehen, weil ihre Kapuze immer noch mit<br />

Schnee gefüllt war. Mit großer Anstrengung, als ob jede ihrer<br />

Hände eine Tonne schwer sei, wischte sie sich den Schnee aus<br />

den Augen und spähte nach draußen. Sie sah eine Welt ganz in<br />

Grau, in hellen und dunklen Grautönen und in Schwarz, durch<br />

die geisterhafte Nebelschwaden waberten.<br />

Die einzigen Geräusche, die sie hörte, waren die entfernten<br />

Schreie der Klippenalpe hoch über ihr und in einiger Entfernung<br />

das Donnern einer Brandung.<br />

»Iorek!« rief sie. Ihre Stimme war schwach und zittrig. Sie<br />

versuchte es noch einmal, aber niemand antwortete. Dann rief<br />

sie nach Roger, doch ebenfalls vergeblich.<br />

361


Sie hätte allein auf der Welt sein können, was sie natürlich<br />

nicht war, denn in diesem Augenblick kroch Pantalaimon in<br />

Gestalt einer Maus aus ihrem Anorak, um ihr Gesellschaft zu<br />

leisten.<br />

»Ich habe das Alethiometer überprüft«, sagte er, »es funktioniert<br />

noch. Es ist nichts zerbrochen.«<br />

»Wir sind verloren, Pan!« sagte Lyra. »Hast du die Klippenalpe<br />

gesehen? Und wie Mr. Scoresby auf sie schoß? Wenn die<br />

uns hier entdecken, dann gnade uns Gott…«<br />

»Vielleicht sollten wir den Korb suchen«, sagte Pantalaimon.<br />

»Wir dürfen nicht rufen«, sagte sie. »Ich habe es gerade getan,<br />

aber die Klippenalpe könnten uns hören. Wenn ich nur wüßte,<br />

wo wir sind.«<br />

»Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir es nicht wissen«, sagte<br />

Pantalaimon. »Vielleicht sitzen wir am Fuß eines Felsens, zu<br />

dem kein Weg hinaufführt, und sind den Klippenalpen ausgeliefert,<br />

sobald sich der Nebel lichtet.«<br />

Lyra ruhte noch einige Minuten aus, dann tastete sie durch<br />

den Nebel und stellte fest, daß sie in einem Spalt zwischen zwei<br />

eisbedeckten Felsen gelandet war. Eisiger Nebel hüllte alles ein.<br />

Die Brandung auf der einen Seite schien, dem Lärm nach zu<br />

schließen, etwa fünfzig Meter entfernt, die Schreie der Klippenalpe<br />

über ihr schienen etwas leiser geworden zu sein. Lyra<br />

konnte nicht weiter als zwei bis drei Schritte sehen, und sogar<br />

Pantalaimon war trotz seiner Eulenaugen hilflos.<br />

Mühsam und immer wieder ausrutschend und stolpernd,<br />

kletterte Lyra über die unebenen Felsen von der Brandung weg<br />

den Strand hinauf. Wohin sie auch sah, sie erblickte nur Felsen<br />

und Schnee, von dem Ballon und seinen Passagieren keine Spur.<br />

»Sie können doch nicht spurlos verschwunden sein«, flüsterte<br />

sie.<br />

Pantalaimon sprang in Gestalt einer Katze über die Felsen<br />

neben ihr und stieß dabei auf vier schwere Sandsäcke, die aufge­<br />

362


platzt waren. <strong>Der</strong> ausgelaufene Sand war bereits steinhart<br />

gefroren.<br />

»Ballast«, sagte Lyra. »Lee Scoresby muß die Säcke abgeworfen<br />

haben, um wieder aufzusteigen.«<br />

Sie schluckte hart, um den Klumpen in ihrer Kehle oder die<br />

Angst in ihrer Brust oder beides nicht aufsteigen zu lassen.<br />

»Mein Gott, ich hab Angst«, sagte sie. »Hoffentlich ist ihnen<br />

nichts Schlimmes passiert.«<br />

Pantalaimon sprang auf ihren Arm und verschwand in<br />

Gestalt einer Maus in ihrer Kapuze. Lyra hörte ein Geräusch,<br />

wie ein Kratzen auf Stein, und drehte sich um.<br />

»Iorek!«<br />

Aber sie brach mitten im Wort ab, denn das war nicht Iorek<br />

Byrnison, sondern ein fremder Bär in einer glänzenden<br />

Rüstung. Die Wassertropfen auf der Rüstung waren gefroren,<br />

und auf dem Helm wippte ein Federbusch.<br />

<strong>Der</strong> Bär blieb etwa zwei Meter vor ihr stehen, und Lyra hielt<br />

ihr Ende für gekommen.<br />

Dann riß der Bär das Maul auf und brüllte. Die Klippen warfen<br />

das Echo zurück, und das Kreischen über ihr verstärkte sich.<br />

Aus dem Nebel tauchte ein zweiter Bär auf, und dann noch<br />

einer. Lyra erstarrte und ballte ihre kleinen Fäuste.<br />

Die Bären bewegten sich nicht. Dann sagte der erste:<br />

»Name?«<br />

»Lyra.«<br />

»Woher kommst du?«<br />

»Vom Himmel.«<br />

»In einem Ballon?«<br />

»Ja.«<br />

»Komm mit. Du bist unsere Gefangene. Los jetzt! Schnell!«<br />

Müde und verängstigt stolperte Lyra hinter dem Bären über<br />

die harten, rutschigen Felsen. Sie wußte nicht, wie sie sich aus<br />

dieser Situation je wieder herausreden sollte.<br />

363


Neunzehn<br />

Gefangen<br />

Die Bären führten Lyra eine Felsrinne hinauf, in der der Nebel<br />

noch dicker lag als an der Küste. Die Schreie der Klippenalpe<br />

und das Donnern der Wellen wurden leiser, je höher sie stiegen,<br />

und bald war nur noch das ewige Schreien der Seevögel zu<br />

hören. Schweigend stiegen sie über Felsen und Schneewehen,<br />

und obwohl Lyra angestrengt in das sie umgebende Grau starrte<br />

und auf ein Geräusch ihrer Freunde lauschte, hatte sie das<br />

Gefühl, der einzige Mensch auf Svalbard zu sein. Und Iorek war<br />

vielleicht tot.<br />

<strong>Der</strong> Bärenfeldwebel sagte nichts, bis sie ebenes Gelände<br />

erreicht hatten. Dort hielten sie an. Dem Geräusch der Brandung<br />

nach zu schließen, standen sie oben auf den Klippen, aber<br />

Lyra wagte es nicht, wegzurennen, aus Furcht, dabei über den<br />

Rand zu fallen.<br />

»Schau nach oben«, sagte der Bär, als ein leichter Wind aufkam<br />

und den dichten Nebel vor ihnen teilte.<br />

Zwar wurde es dadurch nicht viel heller, aber Lyra blickte<br />

gehorsam nach oben und sah, daß sie am Fuß eines gewaltigen<br />

steinernen Gebäudes stand. Es war mindestens so hoch wie der<br />

höchste Turm von Jordan College, hatte aber viel dickere Mauern<br />

und war über und über mit kriegerischen Darstellungen<br />

bedeckt, mit Bären in Siegerpose und unterworfenen Skrälin­<br />

364


gen, mit Tataren in Ketten, die als Sklaven in den Feuerminen<br />

arbeiteten, und mit aus aller Welt eintreffenden Zeppelinen,<br />

die Geschenke und Tributzahlungen zum König der Bären<br />

brachten, zu Iofur Raknison. — Zumindest erklärte der Bärenfeldwebel<br />

die Aussage der Reliefs so. Lyra mußte ihm glauben,<br />

denn auf jedem Vorsprung und Sims der behauenen Fassade<br />

hockten krächzend und kreischend Raubmöwen und Tölpel,<br />

und weitere Vögel kreisten ständig über ihnen, und ihre Exkremente<br />

bedeckten das Gebäude über und über mit einer dicken,<br />

schmutzigweißen Schicht.<br />

Die Bären schienen den Dreck freilich gar nicht zu sehen<br />

und gingen Lyra voraus über den vereisten, ebenfalls mit Vogelkot<br />

verdreckten Boden durch einen riesigen Torbogen. Dahinter<br />

folgten ein Hof, steile Treppen und weitere Tore, und überall<br />

waren Bären in Rüstungen postiert, die die Ankömmlinge<br />

anhielten und nach der Parole fragten. Ihre Panzer waren<br />

poliert und glänzten, und alle hatten Federbüsche auf ihren<br />

Helmen. Unwillkürlich verglich Lyra jeden Bär, den sie sah, mit<br />

Iorek Byrnison, und der Vergleich fiel immer zu seinen Gunsten<br />

aus. Er war stärker und geschmeidiger, und seine Rüstung<br />

war eine wirkliche Rüstung, befleckt mit Rost und Blut und<br />

vom Kampf eingedellt, nicht gepflegt und dekorativ bemalt<br />

wie die meisten, die sie hier sah.<br />

Je weiter sie gingen, desto wärmer wurde es, und noch etwas<br />

anderes nahm zu. In Iofurs Palast stank es erbärmlich nach ranzigem<br />

Seehundfett, Blut und allen möglichen Abfällen. Lyra<br />

schob die Kapuze zurück, um sich Kühlung zu verschaffen, und<br />

rümpfte unwillkürlich die Nase. Sie hoffte nur, daß Bären die<br />

menschliche Mimik nicht lesen konnten. Alle paar Meter<br />

steckte in einem eisernen Halter eine Tranlampe, in deren flakkerndem<br />

Licht man nicht immer sah, wohin man trat.<br />

Schließlich blieben sie vor einer schweren Eisentür stehen.<br />

Eine Wache schob einen massiven Riegel zurück, und der Feld­<br />

365


webel versetzte Lyra mit dem Kopf einen so plötzlichen Stoß,<br />

daß sie vornüber durch die Tür stolperte. Bevor sie sich aufrappeln<br />

konnte, hörte sie, wie die Tür hinter ihr verriegelt wurde.<br />

Es war stockdunkel, aber Pantalaimon verwandelte sich in<br />

ein Glühwürmchen und verbreitete einen schwachen Schein.<br />

Sie befanden sich in einer engen Zelle mit Wänden, von denen<br />

das Wasser tropfte. Das einzige Möbelstück war eine Steinbank,<br />

und in der Ecke gegenüber lag ein Haufen Lumpen, die offensichtlich<br />

das Bett darstellten. Mehr konnte Lyra nicht sehen.<br />

Mit Pantalaimon auf der Schulter setzte sie sich und tastete in<br />

ihren Kleidern nach dem Alethiometer.<br />

»Es hat ganz schön viele Stöße abbekommen, Pan«, flüsterte<br />

sie. »Hoffentlich funktioniert es noch.«<br />

Pantalaimon flog auf ihr Handgelenk, um dort zu leuchten,<br />

während Lyra versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. In einer<br />

entfernten Ecke ihres Bewußtseins wunderte sie sich, wie sie<br />

hier inmitten der schrecklichsten Gefahr so ruhig dasitzen und<br />

sich auf das Alethiometer konzentrieren konnte; und doch war<br />

das Lesen des Alethiometers inzwischen so sehr ein Teil von ihr<br />

geworden, daß die kompliziertesten Fragen sich wie von selbst<br />

in die ihnen zugeordneten Symbole auflösten; ein Vorgang, der<br />

beinahe so natürlich war, wie Lyras Muskeln ihre Glieder<br />

bewegten. Sie brauchte kaum darüber nachzudenken.<br />

Sie drehte die Zeiger und formulierte in Gedanken die Frage:<br />

»Wo ist Iorek?«<br />

Die Antwort ließ nicht auf sich warten: »Eine Tagesreise entfernt.<br />

<strong>Der</strong> Ballon brachte ihn nach eurem Zusammenstoß dorthin,<br />

aber er ist bereits auf dem Weg hierher.«<br />

»Und Roger?«<br />

»Ist bei ihm.«<br />

»Was hat Iorek vor?«<br />

»Er will in den Palast eindringen und dich trotz aller Schwierigkeiten<br />

befreien.«<br />

366


Lyra verstaute das Alethiometer wieder. Sie hatte jetzt noch<br />

mehr Angst als zuvor.<br />

»Sie werden ihn nicht hereinlassen«, sagte sie. »Sie sind in der<br />

Überzahl. Ich wünschte, ich wäre eine Hexe, Pan, dann könntest<br />

du wegfliegen, ihn suchen und ihm eine Botschaft überbringen<br />

und so weiter, und wir könnten uns einen Plan ausdenken…«<br />

Dann erschrak sie, wie sie noch nie erschrocken war.<br />

Aus dem Dunkel ertönte, nur wenige Meter von ihr entfernt,<br />

die Stimme eines Mannes. »Wer ist da?«<br />

Mit einem entsetzten Schrei sprang Lyra auf. Pantalaimon<br />

verwandelte sich augenblicklich in eine Fledermaus und flog<br />

kreischend um ihren Kopf, während sie zur Wand zurückwich.<br />

»Hm? Hm?« sagte der Mann wieder. »Wer ist da? Sag doch!<br />

Raus mit der Sprache!«<br />

»Sei wieder ein Glühwürmchen, Pan«, flüsterte Lyra mit zittriger<br />

Stimme. »Aber fliege nicht zu dicht ran.«<br />

Ein kleiner, flimmernder Lichtpunkt tanzte durch das Dunkel<br />

und umkreiste den Kopf des Sprechers. Was Lyra gesehen<br />

hatte, war kein Lumpenhaufen, sondern ein graubärtiger, an<br />

die Wand geketteter Mann mit wirren, schulterlangen Haaren,<br />

dessen Augen in Pantalaimons Schein glänzten. Sein Dæmon,<br />

eine trübe dreinblickende Schlange, lag in seinem Schoß; nur<br />

ihre Zunge schoß ab und zu heraus, wenn Pantalaimon in ihre<br />

Nähe kam.<br />

»Wie heißen Sie?« fragte Lyra.<br />

»Jotham Santelia«, erwiderte er. » Ich bin Regius-Professor<br />

für Kosmologie an der Universität Gloucester. Und du?«<br />

»Lyra Belacqua. Weshalb hat man Sie hier eingesperrt?«<br />

»Aus Bosheit und Eifersucht… Wo kommst du denn her?<br />

Hm?«<br />

»Aus Jordan College«, sagte Lyra.<br />

»Was? Aus Oxford?«<br />

»Ja.«<br />

367


»Ist dieser Schurke Trelawney immer noch dort, hm?«<br />

»<strong>Der</strong> Palmer-Professor? Ja.«<br />

»Tatsächlich, bei Gott! Hm? Man hätte ihn schon längst zum<br />

Rücktritt zwingen sollen. Den miesen Plagiator! Den dreisten<br />

Narr!«<br />

Lyra murmelte etwas Unbestimmtes.<br />

»Hat er seinen Artikel über die Gammastrahlen-Photonen<br />

schon veröffentlicht?« Das Gesicht des Professors befand sich<br />

auf einmal dicht unter dem Lyras, und sie wich zurück.<br />

»Keine Ahnung«, sagte sie, und dann fuhr sie aus reiner<br />

Gewohnheit fort: »Nein, jetzt erinnere ich mich. Er sagte, er<br />

müsse noch einige Zahlen überprüfen. Und… er sagte, er würde<br />

auch über Staub schreiben, genau.«<br />

»Schurke! Dieb! Erpresser! Gauner!« rief der alte Mann und<br />

zitterte so heftig, daß Lyra schon fürchtete, er könnte einen<br />

Anfall haben. Sein Dæmon glitt träge von seinem Schoß, als der<br />

Professor begann, sich mit den Fäusten auf die Schenkel zu<br />

schlagen. Speicheltropfen flogen ihm aus dem Mund.<br />

»Ja«, sagte Lyra, »ich habe ihn auch immer für einen Dieb<br />

gehalten. Und einen Gauner und alles andere.«<br />

Wie unwahrscheinlich es war, daß ein schmutzstarrendes<br />

kleines Mädchen in seiner Zelle auftauchen und seinen Intimfeind<br />

kennen sollte, fiel dem Regius-Professor gar nicht auf. Er<br />

war verrückt, der Arme, kein Wunder, aber vielleicht, so hoffte<br />

Lyra, konnte er ihr trotzdem mit einigen nützlichen Informationen<br />

weiterhelfen. Sie setzte sich vorsichtig in seine Nähe,<br />

nicht so nah, daß er sie berühren konnte, aber nah genug, daß<br />

sie ihn deutlich sah, wenn Pantalaimon leuchtete.<br />

»Professor Trelawney«, sagte sie, »hat immer besonders gern<br />

damit angegeben, wie gut er den König der Bären kennt…«<br />

»Angegeben! Hm? Hm? Das will ich meinen! <strong>Der</strong> eitle<br />

Geck! Und Pirat! Von wegen eigene Forschung! Alles von größeren<br />

Geistern geklaut!«<br />

368


»Tja, stimmt«, gab Lyra ernsthaft zu. »Und wenn er mal selbst<br />

was tut, macht er alles verkehrt!«<br />

»Ja! Ja! Absolut! Kein Talent, keine Phantasie, ein Schwindler<br />

von Kopf bis Fuß!«<br />

»Ich wette zum Beispiel«, sagte Lyra, »daß Sie viel mehr über<br />

Bären wissen als er.«<br />

»Bären«, sagte der Alte, »ha! Darüber könnte ich Bücher<br />

schreiben! Deshalb haben sie mich doch hier eingesperrt!«<br />

»Ach ja?«<br />

»Ich weiß zuviel über sie, und sie trauen sich nicht, mich<br />

umzubringen. Trauen sich nicht, auch wenn sie gerne wollten.<br />

Das weiß ich genau. Ich habe Freunde, ja! Mächtige Freunde.«<br />

»Ach so«, sagte Lyra. »Und ich wette, Sie sind ein ausgezeichneter<br />

Lehrer, bei so viel Wissen und Erfahrung.«<br />

Sogar in den Abgründen seiner Verrücktheit schlummerte<br />

noch ein kleiner Rest gesunder Menschenverstand, und er sah<br />

sie scharf an, fast als argwöhne er Ironie. Aber Lyra hatte ihr<br />

ganzes Leben mit mißtrauischen und verschrobenen Wissenschaftlern<br />

zugebracht, und sie starrte ihn mit einer solch<br />

unschuldigen Bewunderung an, daß er besänftigt war.<br />

»Lehrer«, sagte er, »Lehrer…Ja, ich könnte unterrichten. Verschaffe<br />

mir den richtigen Schüler, und ich setze seine Gedanken<br />

in Brand!«<br />

»Ihr Wissen darf schließlich nicht einfach verlorengehen«,<br />

sagte Lyra ermutigend. »Es muß weitergegeben werden, damit<br />

die Menschen sich an Sie erinnern.«<br />

»Ja«, sagte er und nickte ernst. »Ein kluger Gedanke, Kind.<br />

Wie heißt du?«<br />

»Lyra«, sagte sie noch einmal. »Könnten Sie mich nicht über<br />

die Bären unterrichten?«<br />

»Die Bären…«, sagte er zweifelnd.<br />

»Ich wüßte wirklich gern mehr über Kosmologie und Staub<br />

und all das, aber dazu bin ich nicht schlau genug. Dafür brau­<br />

369


chen Sie wirklich gescheite Schüler. Aber das mit den Bären<br />

könnte ich lernen. Darin könnten Sie mich unterrichten. Und<br />

vielleicht können wir dabei üben und uns bis zum Staub hocharbeiten.«<br />

Er nickte wieder. »Ja«, sagte er, »ja, ich glaube, du hast recht.<br />

Es besteht ein Zusammenhang zwischen Mikrokosmos und<br />

Makrokosmos! Die Sterne leben, Kind. Wußtest du das? Da<br />

draußen ist alles lebendig, und im All hat alles Sinn und Zweck!<br />

Das Universum steckt voller Absichten, mußt du wissen. Alles<br />

geschieht zu einem Zweck. Dein Zweck ist es, mich daran zu<br />

erinnern. Gut, gut — ich hatte es in meiner Verzweiflung schon<br />

vergessen. Gut! Ausgezeichnet, Kind!«<br />

»Haben Sie den König denn schon einmal gesehen? Iofur<br />

Raknison?«<br />

»Ja, o ja. Ich kam doch auf seine Einladung hierher. Er wollte<br />

eine Universität gründen und mich zu ihrem Vizekanzler<br />

machen. Das hätte das Royal Arctic Institute ins Mark getroffen,<br />

hm! Hm? Und diesen Schurken Trelawney! Ha!«<br />

»Was ist passiert?«<br />

»Ich wurde von Geringeren verraten, unter ihnen natürlich<br />

Trelawney. Er war hier, mußt du wissen, hier in Svalbard. Verbreitete<br />

Lügen und Verleumdungen über mich. Verleumdungen!<br />

Diffamierungen! Wer hat denn den letzten Beweis für die<br />

Barnard-Stokes-Hypothese erbracht, hm? Hm? Richtig, das<br />

war Santelia. Trelawney hat das nicht verkraftet. Log, daß sich<br />

die Balken bogen. Und Iofur Raknison ließ mich hier einsperren.<br />

Aber eines Tages bin ich wieder draußen und Vizekanzler,<br />

o ja. Dann soll Trelawney vor mir um Gnade winseln! Und der<br />

Publikationsausschuß des Royal Arctic Institute soll es ruhig<br />

wagen, meine Beiträge abzulehnen! Ha! Demütigen werde ich<br />

sie alle!«<br />

»Ich denke, Iorek Byrnison wird Ihnen glauben, wenn er<br />

wiederkommt«, sagte Lyra.<br />

370


»Iorek Byrnison? Darauf warte ich lieber nicht. <strong>Der</strong> kommt<br />

nie wieder.«<br />

»Er ist auf dem Weg hierher.«<br />

»Dann werden sie ihn töten. Er ist kein Bär, mußt du wissen,<br />

sondern ein Ausgestoßener, wie ich. Degradiert, ohne Recht auf<br />

die Privilegien, die die anderen Bären haben.«<br />

»Mal angenommen, Iorek Byrnison käme doch wieder«,<br />

sagte Lyra. »Und angenommen, er forderte Iofur Raknison zum<br />

Kampf heraus…«<br />

»Das würden die Bären nie zulassen«, sagte der Professor verächtlich.<br />

»Und Iofur Raknison würde nie zugeben, daß Iorek<br />

Byrnison überhaupt das Recht hat, gegen ihn zu kämpfen. Er ist<br />

völlig rechtlos. Genauso gut könnte er statt eines Bären ein Seehund<br />

sein oder ein Walroß. Oder noch schlimmer ein Tatar<br />

oder ein Skräling. Sie würden nicht ehrenhaft gegen ihn kämpfen;<br />

sie würden ihn mit Flammenwerfern töten, bevor er ihnen<br />

zu nahe kommen könnte. Aussichtslos, gnadenlos.«<br />

»Oh«, sagte Lyra, und tiefe Verzweiflung überkam sie. »Und<br />

was ist mit den anderen Gefangenen der Bären? Wissen Sie, wo<br />

man sie gefangen hält?«<br />

»Andere Gefangene?«<br />

»Ja, wie… Lord Asriel.«<br />

Schlagartig veränderte sich das Verhalten des Professors. Er<br />

zuckte zurück und schüttelte warnend den Kopf.<br />

»Pst! Still! Sie könnten dich hören!« flüsterte er.<br />

»Warum dürfen wir nicht von Lord Asriel sprechen?«<br />

»Verboten! Sehr gefährlich! Iofur Raknison duldet nicht, daß<br />

man von ihm spricht!«<br />

»Aber warum?« sagte Lyra und kam näher. Sie flüsterte jetzt<br />

selbst, um den Professor nicht zu erschrecken.<br />

»Lord Asriel gefangenzuhalten ist ein besonderer Auftrag,<br />

den Iofur von der Oblations-Behörde bekommen hat«, flüsterte<br />

der alte Mann zurück. »Mrs. Coulter kam persönlich zu<br />

371


Besuch und bot Iofur alle möglichen Belohnungen an, wenn er<br />

Lord Asriel in Verwahrung nähme. Ich weiß das deshalb, weil<br />

ich zu dieser Zeit selbst noch bei Iofur in Gnade stand. Ich lernte<br />

Mrs. Coulter kennen, jawohl! Ich hatte ein langes Gespräch mit<br />

ihr. Iofur war ganz vernarrt in sie. Er redete unaufhörlich von<br />

ihr, daß er alles für sie tun würde. Wenn sie wollte, daß Lord<br />

Asriel in völliger Abgeschiedenheit gefangengehalten wurde,<br />

bitte sehr. Für Mrs. Coulter alles, wirklich alles. Wußtest du, daß<br />

er seine Hauptstadt nach ihr benennen will?«<br />

»Er läßt also niemanden zu Lord Asriel?«<br />

»Nein! Niemanden! Aber zugleich fürchtet er ihn. Iofur<br />

spielt ein schwieriges Spiel, aber er ist schlau. Er will es mit beiden<br />

nicht verderben. Er läßt niemanden zu Lord Asriel, um<br />

Mrs. Coulter zu gefallen, und er stellt Lord Asriel alle Instrumente<br />

zur Verfügung, die er haben will, um ihm zu gefallen.<br />

Eine prekäres Gleichgewicht. Instabil. Es beiden Seiten recht<br />

machen wollen, hm? Die Situation wird sich hochschaukeln,<br />

und das wird schon bald zum Zusammenbruch führen, das<br />

weiß ich aus verläßlicher Quelle.«<br />

»Wirklich?« Lyra war mit ihren Gedanken anderswo gewesen<br />

und versuchte sich zu erinnern, was er gesagt hatte.<br />

»Ja. Mein Dæmon kann mit seiner Zunge schmecken, was<br />

wahrscheinlich ist.«<br />

»Meiner auch. Wann bekommen wir zu essen, Professor?«<br />

»Zu essen?«<br />

»Sie müssen uns doch ab und zu etwas bringen, sonst würden<br />

wir verhungern. Und auf dem Boden liegen Knochen, wahrscheinlich<br />

von Seehunden, oder?«<br />

»Seehunde… ich weiß nicht. Vielleicht.«<br />

Lyra stand auf und tastete sich zur Tür. Natürlich hatte die<br />

Tür keinen Griff und auch kein Schlüsselloch, und sie schloß<br />

unten und oben so dicht, daß kein Licht durchschien. Lyra<br />

preßte ihr Ohr dagegen, aber sie hörte nichts. Hinter ihr mur­<br />

372


melte der alte Mann etwas zu sich selbst. Sie hörte seine Kette<br />

rasseln, als er sich erschöpft auf die andere Seite legte, und bald<br />

begann er zu schnarchen.<br />

Sie tastete sich zur Bank zurück. Pantalaimon, der es müde<br />

war, zu leuchten, war wieder eine Fledermaus geworden, was<br />

ihn zu amüsieren schien. Leise quietschend flatterte er herum,<br />

während Lyra auf der Bank saß und an einem Fingernagel<br />

kaute. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, fiel ihr ein, was sie den<br />

Palmer-Professor damals im Ruhezimmer hatte sagen hören.<br />

Irgend etwas hatte in ihr rumort, seit sie von Iorek Byrnison<br />

zum erstenmal Iofurs Namen gehört hatte, und jetzt wußte sie,<br />

was es war: Am meisten, hatte der Professor gesagt, wünsche<br />

Iofur Raknison sich einen Dæmon.<br />

Natürlich hatte sie nicht verstanden, was er meinte; er hatte<br />

von Panserbjørne gesprochen, statt das englische Wort zu benutzen,<br />

deshalb hatte sie nicht gewußt, daß er von Bären sprach,<br />

und keine Ahnung gehabt, daß Iofur Raknison kein Mensch<br />

war. Ein Mensch hätte ja auch einen Dæmon gehabt, die Worte<br />

des Professors hatten für Lyra also keinen Sinn ergeben.<br />

Aber jetzt war es klar, und alles, was sie über den Bärenkönig<br />

gehört hatte, fügte sich zusammen: <strong>Der</strong> größte Wunsch des<br />

mächtigen Iofur Raknison war es, ein Mensch zu sein, ein<br />

Mensch mit einem eigenen Dæmon.<br />

Und als Lyra das verstand, wuchs in ihr ein Plan, wie sie Iofur<br />

Raknison dazu bringen konnte, etwas zu tun, das er sonst nie<br />

tun würde, wie sie Iorek Byrnison zu dem ihm zustehenden<br />

Thron verhelfen konnte und wie sie schließlich an den Ort<br />

gelangen konnte, an den man Lord Asriel verschleppt hatte, um<br />

ihm das Alethiometer zu überbringen.<br />

Noch schillerte die Idee unwirklich wie eine Seifenblase, und<br />

Lyra wagte nicht, sie zu genau zu betrachten, damit sie nicht<br />

zerplatzte. Aber sie war mit solchen Ideen vertraut, und so ließ<br />

sie sie schillern und sah weg und dachte an etwas anderes.<br />

373


Sie war fast eingeschlafen, als die Riegel klapperten und die Tür<br />

aufging. Licht fiel herein, und Lyra sprang auf. Pantalaimon<br />

hatte sie schnell noch in ihrer Tasche versteckt.<br />

Als der Bär, der ihnen das Essen brachte, den Kopf senkte,<br />

um die Seehundlende aufzuheben und in die Zelle zu werfen,<br />

stand Lyra neben ihm.<br />

»Bring mich zu Iofur Raknison«, sagte sie. »Wenn du es nicht<br />

tust, bekommst du Schwierigkeiten. Es ist dringend.«<br />

<strong>Der</strong> Bär ließ das Fleisch fallen und sah auf. Es war nicht<br />

leicht, die Miene eines Bären zu lesen, aber er wirkte verärgert.<br />

»Es geht um Iorek Byrnison«, sagte Lyra schnell. »Ich weiß<br />

etwas von ihm, das der König wissen muß.«<br />

»Sag mir, was es ist, und ich richte es ihm aus«, sagte der Bär.<br />

»Das wäre nicht richtig, denn niemand darf es wissen, bevor<br />

der König es weiß«, sagte Lyra. »Tut mir leid, ich will nicht<br />

unhöflich sein, aber es ist nun mal so, daß der König alles zuerst<br />

wissen muß.«<br />

<strong>Der</strong> Bär schien etwas begriffsstutzig. Jedenfalls hielt er eine<br />

Weile inne, dann warf er das Fleisch in die Zelle. »Also gut«,<br />

sagte er schließlich. »Komm mit.«<br />

Er ging mit ihr ins Freie, wofür sie dankbar war. <strong>Der</strong> Nebel<br />

hatte sich gelichtet, und am Himmel über dem von hohen<br />

Mauern umschlossenen Hof glitzerten Sterne. Die Wache<br />

sprach mit einem anderen Bären, der daraufhin auf Lyra<br />

zukam. »Du kannst nicht mit Iofur Raknison sprechen, wann es<br />

dir beliebt«, sagte er. »Du mußt warten, bis er mit dir sprechen<br />

will.«<br />

»Aber was ich ihm zu sagen habe, ist dringend«, erwiderte sie.<br />

»Es geht um Iorek Byrnison. Ich bin sicher, daß Seine Majestät<br />

es wissen will, aber ich kann es leider niemand anders sagen,<br />

verstehst du? Es wäre nicht höflich. Und er würde sich mächtig<br />

ärgern, wenn er erfahren würde, daß wir nicht höflich waren.«<br />

374


Das schien den Bären immerhin zu beeindrucken oder<br />

zumindest zu verwirren. Lyra war überzeugt, daß sie zum richtigen<br />

Mittel gegriffen hatte: Iofur Raknison hatte so viele neue<br />

Verhaltensregeln eingeführt, daß kein Bär wußte, wie er sich<br />

benehmen sollte, und diese Verunsicherung konnte sie sich<br />

zunutze machen, um zu Iofur vorgelassen zu werden.<br />

<strong>Der</strong> zweite Bär zog sich zurück, um mit dem nächsthöheren<br />

Bären zu sprechen, und bald wurde Lyra wieder in den Palast<br />

geholt, diesmal allerdings in die Staatsgemächer. Dort war es<br />

nicht sauberer als in der Zelle, und die Luft war sogar noch stikkiger,<br />

denn zu dem natürlichen Gestank kam noch ein aufdringliches,<br />

klebrig süßes Parfüm. Lyra mußte im Gang warten,<br />

dann in einem Vorzimmer und zuletzt vor einer großen Tür,<br />

und während die Bären ihren Fall erörterten und geschäftig hin<br />

und her eilten, hatte sie Zeit, sich ihre protzig aufgedonnerte<br />

Umgebung anzusehen: Die Wände waren überreich mit vergoldetem<br />

Stuck verziert, der aber zum Teil bereits abblätterte<br />

oder in der Feuchtigkeit zerbröselte, und die mit Mustern überladenen<br />

Teppiche starrten vor Schmutz.<br />

Endlich ging die große Tür von innen auf. Dahinter erstrahlten<br />

ein halbes Dutzend Kronleuchter, auf dem Boden lag ein<br />

karmesinroter Teppich, und die Luft war geschwängert von<br />

dem klebrigen Parfüm. Die Gesichter etwa eines Dutzend<br />

Bären waren auf Lyra gerichtet; die Bären trugen keine<br />

Rüstung, aber jeder war auf irgendeine Weise geschmückt —<br />

mit einer <strong>goldene</strong>n Halskette, einem Kopfputz aus purpurroten<br />

Federn oder einer karmesinroten Schärpe. Seltsamerweise war<br />

der Raum auch mit Vögeln bevölkert; Tölpel und Raubmöwen<br />

hockten auf den Stucksimsen und schössen immer wieder hinunter,<br />

um Fischstückchen aufzuschnappen, die aus den Nestern<br />

in den Kronleuchtern fielen.<br />

Auf einer Plattform am anderen Ende des Raumes erhob sich<br />

ein gewaltiger Thron. Er bestand aus einem massiven Granit­<br />

375


lock, war aber wie so viele andere Dinge in Iofurs Palast überreich<br />

mit Girlanden und Gehängen verziert, die an dem granitenen<br />

Gebirge wie läppischer Flitterkram wirkten.<br />

Auf dem Thron saß der größte Bär, den Lyra je gesehen hatte,<br />

Iofur Raknison war sogar noch größer und massiger als Iorek,<br />

und sein Gesicht war viel beweglicher und ausdrucksvoller; es<br />

hatte beinahe menschliche Züge, wie Lyra sie bei Iorek nie<br />

bemerkt hatte. Wenn Iofur sie ansah, wirkte er wie einer der<br />

Männer, die sie bei Mrs. Coulter kennengelernt hatte, wie ein<br />

geschickter, machtgewohnter Politiker. Um den Hals trug er<br />

eine schwere Goldkette, an der ein bunter Edelstein hing, und<br />

seine gut fünfzehn Zentimeter langen Klauen waren mit Blattgold<br />

überzogen. Er strahlte eine ungeheure Stärke, Tatkraft und<br />

Verschlagenheit aus, und zu ihm paßte der groteske Pomp; an<br />

ihm wirkte er nicht aufgesetzt, sondern verstärkte noch den<br />

Eindruck einer barbarischen Urgewalt.<br />

Lyras Mut sank. Ihr Plan schien ihr plötzlich albern.<br />

Doch als sie ein paar Schritte nach vorn machte, sah sie, daß<br />

Iofur etwas auf den Knien hielt, dort, wo bei Menschen manchmal<br />

eine Katze sitzt — oder ein Dæmon.<br />

Es war eine große, ausgestopfte Puppe, ein Männchen mit<br />

einem leeren menschlichen Gesicht. Die Puppe war wie Mrs.<br />

Coulter angezogen und hatte auch sonst eine gewisse Ähnlichkeit<br />

mit ihr. Iofur tat so, als habe er einen Dæmon! In diesem<br />

Augenblick wußte Lyra, daß ihr nichts passieren konnte.<br />

Sie ging bis vor den Thron und verbeugte sich rief, während<br />

Pantalaimon in ihrer Tasche saß und keinen Mucks machte.<br />

»Ich entbiete Euch unsere Grüße, großer König«, sagte sie<br />

feierlich. »Oder besser gesagt, meine Grüße, nicht seine.«<br />

»Nicht wessen Grüße?« fragte Iofur. Seine Stimme war heller,<br />

als Lyra erwartet hatte, aber geschmeidig und ausdrucksvoll.<br />

Beim Sprechen wedelte er mit der Pfote vor dem Mund, um die<br />

Fliegen zu verscheuchen, die sich dort versammelt hatten.<br />

376


»Iorek Byrnisons Grüße, Eure Majestät«, sagte sie. »Ich muß<br />

Euch ein sehr wichtiges Geheimnis mitteilen, aber ich glaube,<br />

ich sollte es Euch unter vier Augen sagen.«<br />

»Etwas über Iorek Byrnison?«<br />

Sie trat dicht vor ihn hin, wobei sie vorsichtig über den auf<br />

dem Boden verteilten Vogelkot stieg, und verscheuchte die<br />

Fliegen, die um ihr Gesicht summten.<br />

»Über Dæmonen«, sagte sie so, daß nur er es hören konnte.<br />

Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Lyra konnte ihn nicht<br />

lesen, aber der Bärenkönig schien zweifellos mächtig interessiert.<br />

Plötzlich machte er einen Schritt nach vorn, so daß sie zur<br />

Seite springen mußte, und brüllte einen Befehl an die anderen<br />

Bären. Sie verbeugten sich und verschwanden rückwärts durch<br />

die Tür. Die Vögel, die erschrocken aufgeflogen waren, flatterten<br />

noch eine Weile kreischend unter der Decke hin und her,<br />

bevor sie sich wieder auf ihre Nester setzten.<br />

Als der Thronsaal bis auf Iofur Raknison und Lyra leer war,<br />

wandte sich der König aufmerksam Lyra zu.<br />

»Also?« sagte er. »Sag mir, wer du bist. Was willst du mir<br />

über<br />

Dæmonen sagen?«<br />

»Ich bin ein Dæmon, Eure Majestät«, sagte sie.<br />

Er erstarrte. »Wessen Dæmon?« fragte er.<br />

»<strong>Der</strong> von Iorek Byrnison.«<br />

Es war das Gefährlichste, das sie je gesagt hatte. Sie merkte<br />

genau, daß er sie nur deshalb nicht auf der Stelle tötete, weil er<br />

so verblüfft war. Sie sprach sofort weiter.<br />

»Bitte, Eure Majestät, hört mich an, bevor Ihr mir etwas<br />

antut. Ich bin auf eigene Gefahr hierhergekommen, wie Ihr<br />

seht, und ich kann Euch nicht gefährlich werden. Im Gegenteil,<br />

ich bin gekommen, weil ich Euch helfen will. Iorek Byrnison<br />

hat als erster Bär einen Dæmon bekommen, aber eigentlich<br />

hättet Ihr der erste sein sollen. Ich will viel lieber Euer Dæmon<br />

sein als seiner, deshalb bin ich hier.«<br />

377


»Wie?« sagte der Bärenkönig atemlos. »Wie kommt ein Bär<br />

zu einem Dæmon? Und warum ausgerechnet er? Und wie<br />

kommt es, daß du dich so weit von ihm entfernen kannst?«<br />

Die Fliegen flogen von seinem Mund auf wie winzige<br />

Wörter.<br />

»Ganz einfach: Ich kann mich von ihm entfernen, weil ich<br />

wie der Dæmon einer Hexe bin. Wißt Ihr, daß Hexendæmonen<br />

sich viele hundert Meilen von ihren menschlichen Partnern<br />

entfernen können? So ist es. Und bekommen hat Iorek mich in<br />

Bolvangar. Ihr habt sicher von Bolvangar gehört. Mrs. Coulter<br />

muß Euch davon erzählt haben, aber sie hat Euch wahrscheinlich<br />

nicht alles gesagt, was dort vorgeht.«<br />

»Das Schneiden…«, sagte er.<br />

»Ja, unter anderem das, das Schneiden. Aber man macht dort<br />

außerdem noch alle möglichen Dinge, zum Beispiel künstliche<br />

Dæmonen. Oder Experimente mit Tieren. Als Iorek Byrnison<br />

davon hörte, bot er sich selbst als Versuchskaninchen an, um<br />

einen Dæmon zu bekommen, und es gelang. <strong>Der</strong> Dæmon war<br />

ich. Ich heiße Lyra. So wie Menschen Tiere als Dæmonen<br />

haben, haben Bären Dæmonen in Menschengestalt. Und ich<br />

bin sein Dæmon. Ich kann seine Gedanken lesen und weiß<br />

genau, was er tut, wo er ist und…«<br />

»Wo ist er jetzt?«<br />

»Auf Svalbard. Er befindet sich auf dem schnellstmöglichen<br />

Weg hierher.«<br />

»Warum? Was will er? Er ist doch verrückt! Wir reißen ihn<br />

in Stücke!«<br />

»Er will mich. Er kommt, um mich zu holen. Aber ich will<br />

nicht sein Dæmon sein, Iofur Raknison, sondern Eurer. Denn<br />

als die Leute in Bolvangar sahen, wie mächtig ein Bär mit<br />

Dæmon ist, beschlossen sie, dieses Experiment nie mehr durchzuführen,<br />

Iorek Byrnison sollte der einzige Bär bleiben, der<br />

einen Dæmon hat. Und mit meiner Hilfe könnte er an der<br />

378


Spitze der anderen Bären gegen Euch kämpfen. Deshalb ist er<br />

nach Svalbard gekommen.«<br />

<strong>Der</strong> Bärenkönig brüllte vor Wut. Er brüllte so laut, daß die<br />

Kristalle in den Kronleuchtern klirrten, die Vögel im Saal<br />

kreischten und Lyra die Ohren sausten.<br />

Aber sie war ihm ebenbürtig.<br />

»Deshalb mag ich Euch von allen am meisten«, sagte sie zu<br />

Iofur Raknison, »weil Ihr so leidenschaftlich und stark seid und<br />

außerdem so klug. Ich mußte einfach herkommen und Euch<br />

alles sagen, weil ich nicht will, daß er König der Bären wird. Das<br />

steht allein Euch zu. Es gäbe da natürlich eine Möglichkeit, wie<br />

Ihr mich von ihm losbekommen und zu Eurem Dæmon<br />

machen könntet, aber ich müßte Euch schon sagen, wie, sonst<br />

kämpft Ihr gegen ihn wie gegen andere verbannte Bären, also<br />

ich meine, Ihr kämpft dann nicht richtig, sondern tötet ihn mit<br />

Flammenwerfern oder so was. Und wenn Ihr das tut, würde ich<br />

wie eine Kerze ausgehen und mit ihm sterben.«<br />

»Aber du — wie kann…«<br />

»Doch, ich kann Euer Dæmon werden«, sagte sie, »aber nur,<br />

wenn Ihr Iorek Byrnison im Zweikampf besiegt. Dann geht<br />

seine Kraft auf Euch über und meine Gedanken verbinden sich<br />

mit Euren, und wir werden wie eine Person sein und denken,<br />

was der andere denkt. Ihr könnt mich dann als Eure Spionin<br />

weit weg schicken oder mich in der Nähe behalten, wie es Euch<br />

beliebt. Und wenn Ihr wollt, helfe ich Euch, an der Spitze der<br />

Bären Bolvangar zu erobern und die Wissenschaftler zu zwingen,<br />

Dæmonen für Eure Freunde zu machen. Oder wenn Ihr<br />

lieber der einzige Bär seid, der einen Dæmon hat, könnten wir<br />

Bolvangar für immer zerstören. Zusammen, Iofur Raknison,<br />

wären wir unschlagbar!«<br />

Die ganze Zeit über hatte Lyra ihre zitternde Hand um Pantalaimon<br />

in ihrer Tasche gelegt, und Pantalaimon, der sich in<br />

die kleinste Maus verwandelt hatte, in deren Gestalt er je<br />

379


geschlüpft war, verhielt sich so still, wie er nur konnte. Iofur<br />

Raknison, der vor Erregung zu bersten schien, marschierte auf<br />

und ab.<br />

»Zweikampf?« sagte er. »Ich? Ich soll gegen Iorek Byrnison<br />

kämpfen? Unmöglich! Er ist geächtet! Wie soll das also möglich<br />

sein? Wie kann ich gegen ihn kämpfen? Geht es denn nur<br />

so?«<br />

»Nur so«, sagte Lyra, obwohl sie wünschte, es gäbe eine<br />

andere Möglichkeit, weil Iofur Raknison ihr mit jeder Minute<br />

größer und wilder erschien. Sosehr sie Iorek liebhatte und<br />

sosehr sie an ihn glaubte, sie konnte sich nicht vorstellen, daß er<br />

diesen riesigsten aller Bären je bezwingen würde. Aber es war<br />

ihre einzige Chance. Wenn Iorek aus der Ferne von Feuerwerfern<br />

niedergestreckt wurde, war alles aus.<br />

Iofur Raknison fuhr plötzlich herum.<br />

»Beweise es!« sagte er. »Beweise, daß du ein Dæmon bist!«<br />

»Also gut«, sagte sie, »das ist nicht schwer. Ich kann alles in<br />

Erfahrung bringen, was nur Ihr wißt und sonst niemand, Dinge,<br />

die nur ein Dæmon herausfinden kann.«<br />

»Dann sage mir, wer das erste Wesen war, das ich umgebracht<br />

habe.«<br />

»Ich muß dazu allein sein«, sagte Lyra. »Wenn ich erst Euer<br />

Dæmon bin, könnt Ihr dabeisein, wenn ich es mache, aber bis<br />

dahin muß ich allein sein.«<br />

»Hinter diesem Zimmer befindet sich ein Vorzimmer. Geh<br />

da rein und komm wieder, sobald du die Antwort hast.«<br />

Lyra öffnete die Tür und betrat einen nur von einer Fackel<br />

erleuchteten Raum, der bis auf einen kleinen Mahagonischrank<br />

mit angelaufenen Silberbeschlägen leer war. Sie holte das Alethiometer<br />

heraus und fragte: »Wie lange braucht Iorek noch?«<br />

»Noch vier Stunden. Er beeilt sich inzwischen noch mehr als<br />

vorhin.«<br />

380


»Wie stelle ich es an, daß er von meinem Plan erfährt?«<br />

»Vertraue ihm.«<br />

Besorgt überlegte sie, wie müde Iorek sein würde. Aber dann<br />

fiel ihr ein, daß sie ja nicht tat, was das Alethiometer ihr soeben<br />

geraten hatte: Iorek vertrauen.<br />

Sie verdrängte den Gedanken an Iorek und fragte das Instrument,<br />

was Iofur Raknison wissen wollte. Wer war sein erstes<br />

Opfer?<br />

Die Antwort ließ nicht auf sich warten: sein eigener Vater.<br />

Lyra fragte weiter und erfuhr, daß Iofur bei seinem ersten<br />

Jagdausflug auf dem Eis als junger Bär einem anderen Bären<br />

begegnet war, der wie er allein war. Die beiden hatten gestritten<br />

und gekämpft, und Iofur hatte den anderen getötet. Als er<br />

danach erfuhr, daß er seinen Vater getötet hatte — da Bären bei<br />

ihren Müttern aufwuchsen, sahen sie ihre Väter selten —, verheimlichte<br />

er, was er getan hatte. Außer ihm wußte es niemand.<br />

Lyra steckte das Alethiometer weg und überlegte, wie sie<br />

Iofur die Antwort mitteilen sollte.<br />

»Schmeichle ihm!« flüsterte Pantalaimon. »Dann ist er<br />

zufrieden.«<br />

Lyra machte die Tür auf und sah, daß Iofur Raknison bereits<br />

ungeduldig auf sie wartete. In seiner Miene mischten sich Triumph,<br />

Verschlagenheit, Mißtrauen und Gier.<br />

»Also?«<br />

Lyra kniete vor ihm nieder und verbeugte sich, bis ihr Kopf<br />

seine linke, stärkere Vordertatze berührte — denn die Bären<br />

waren Linkshänder.<br />

»Ich bitte Euch um Verzeihung, Iofur Raknison!« sagte sie.<br />

»Ich wußte nicht, daß Ihr so stark und mächtig seid!«<br />

»Was soll das heißen? Beantworte meine Frage!«<br />

»Euer erstes Opfer war Euer Vater. Ihr müßt ein neuer Gott<br />

sein, Iofur Raknison, ganz bestimmt. Nur ein Gott hätte die<br />

Kraft, das zu tun.«<br />

381


»Du weißt es! Du bist eine Hellseherin!«<br />

»Ja, eben weil ich ein Dæmon bin, wie ich gesagt habe.«<br />

»Dann sage mir noch etwas. Was hat Lady Coulter mir versprochen,<br />

als sie hier war?«<br />

Wieder ging Lyra in das leere Zimmer und befragte das Alethiometer.<br />

Dann kehrte sie mit der Antwort zurück.<br />

»Sie hat Euch versprochen, daß sie vom Magisterium in Genf<br />

die Erlaubnis einholt, daß Ihr als Christ getauft werdet, obwohl<br />

Ihr damals noch keinen Dæmon hattet. Hm, ich fürchte, sie hat<br />

das nicht getan, Iofur Raknison, und ich glaube ehrlich gesagt<br />

auch nicht, daß das Magisterium dem zustimmen würde,<br />

solange Ihr keinen Dæmon habt. Ich glaube, Mrs. Coulter<br />

wußte das auch und hat Euch nicht die Wahrheit gesagt. Aber<br />

wenn Ihr mich erst als Euren Dæmon habt, könnt Ihr Euch taufen<br />

lassen, wenn Ihr wollt, denn dann kann keiner mehr etwas<br />

dagegen haben. Ihr könntet es einfach verlangen, und niemand<br />

könnte es Euch abschlagen.«<br />

»Ja… stimmt genau, das hat sie gesagt. Wort für Wort. Und<br />

sie hat mich getäuscht? Ich habe ihr vertraut, und sie hat mich<br />

getäuscht?«<br />

»Ja, das hat sie, aber das ist jetzt nicht wichtig. Entschuldigt<br />

bitte, Iofur Raknison, ich will nicht unhöflich erscheinen, aber<br />

Iorek Byrnison ist nur noch vier Stunden von hier entfernt, und<br />

vielleicht sagt Ihr besser Euren Wachen, daß sie ihn nicht<br />

angreifen sollen, wie sie es normalerweise tun würden. Wenn<br />

Ihr mit Iorek Byrnison um mich kämpfen wollt, müßt Ihr ihn<br />

in den Palast kommen lassen.«<br />

»Ja, natürlich…«<br />

»Und wenn er kommt, tue ich am besten so, als sei ich immer<br />

noch sein Dæmon. Ich könnte ja sagen, ich hätte mich verirrt<br />

oder so. Er wird mir glauben. Ich täusche ihn einfach. Werdet<br />

Ihr den anderen Bären sagen, daß ich Ioreks Dæmon bin und<br />

Euch gehöre, sobald Ihr ihn besiegt habt?«<br />

382


»Ich weiß nicht… Soll ich das tun?«<br />

»Ich finde, Ihr solltet noch warten. Wenn wir erst zusammen<br />

sind, Ihr und ich, können wir uns überlegen, was wir am besten<br />

tun, und uns entsprechend entscheiden. Jetzt müßt Ihr den<br />

anderen Bären erst einmal erklären, warum Ihr Euch Iorek im<br />

Zweikampf stellt, obwohl er doch geächtet ist, sonst verstehen<br />

sie das nicht. Ich meine, sie werden natürlich in jedem Fall tun,<br />

was Ihr sagt, aber wenn sie auch noch begreifen, warum sie es<br />

tun, werden sie Euch noch mehr bewundern.«<br />

»Ja. Was sollen wir ihnen sagen?«<br />

»Sagt ihnen… Sagt ihnen, Ihr hättet Iorek Byrnison zum<br />

Zweikampf herbestellt, um Eure Stellung als König für immer<br />

zu sichern; denn der Sieger solle für alle Zeiten über die Bären<br />

herrschen. Wenn sie glauben, er komme auf Euer Geheiß und<br />

nicht aus eigenem Willen, werden sie wirklich beeindruckt<br />

sein. Sie werden denken, Ihr seid imstande, ihn von weit weg<br />

hierher zu rufen. Sie werden glauben, daß Ihr alles könnt.«<br />

»Ja…«<br />

Hilflos stand der große Bär vor ihr. Lyra war wie berauscht<br />

von ihrer Macht über ihn, und wenn Pantalaimon sie nicht<br />

kräftig in die Hand gezwickt hätte, um sie an die Gefahr zu<br />

erinnern, in der sie beide nach wie vor schwebten, hätte Lyra<br />

sich womöglich noch um Kopf und Kragen geredet.<br />

Aber sie kam zu sich und hielt sich bescheiden im Hintergrund,<br />

während die Bären nach Iofurs aufgeregten Anweisungen<br />

den Ort für den Zweikampf mit Iorek Byrnison absteckten.<br />

Zur gleichen Zeit kam Iorek immer näher, ohne zu wissen, daß<br />

er bald um sein Leben würde kämpfen müssen. Lyra wünschte,<br />

sie hätte ihn irgendwie warnen können.<br />

383


Zwanzig<br />

Auf Messers Schneide<br />

Kämpfe zwischen Bären waren nichts Ungewöhnliches und<br />

Gegenstand zahlreicher Rituale. Daß ein Bär den anderen dabei<br />

tötete, war allerdings selten; wenn das passierte, war es im allgemeinen<br />

ein Unfall oder ein Mißverständnis, wie im Fall Iorek<br />

Byrnisons. Noch seltener war der unverblümte Mord, wie<br />

Iofurs Mord an seinem Vater.<br />

Gelegentlich kam es freilich auch vor, daß ein Streit nur<br />

durch einen Kampf um Leben und Tod gelöst werden konnte.<br />

In diesem Fall war ein umfangreiches Zeremoniell vorgeschrieben.<br />

Sobald Iofur angekündigt hatte, daß Iorek Byrnison auf dem<br />

Weg nach Svalbard sei und ein Zweikampf stattfinden würde,<br />

wurde der Kampfplatz gekehrt und geglättet, und aus den Feuerminen<br />

kamen Waffenmeister herauf, um Iofurs Rüstung zu<br />

überprüfen. Jede Niete wurde untersucht, jedes Gelenk getestet<br />

und die Platten mit feinem Sand poliert. Dieselbe Sorgfalt<br />

wurde seinen Klauen gewidmet. Das Blattgold wurde abgerieben,<br />

dann wurde jede fünfzehn Zentimeter lange Klaue so spitz<br />

zugefeilt, bis sie eine tödliche Waffe war. Lyras Magen begann<br />

zu revoltieren, als sie diese Vorbereitungen sah. Um Iorek<br />

Byrnison kümmerte sich niemand; er war seit fast vierundzwanzig<br />

Stunden ohne Pause und ohne etwas zu essen auf dem<br />

384


Eis unterwegs, und vielleicht hatte er sich bei dem Zusammenstoß<br />

verletzt. Und sie hatte ihm diesen Zweikampf eingebrockt,<br />

ohne daß er davon wußte. Als Iofur Raknison dann noch die<br />

Schärfe seiner Krallen an einem frisch getöteten Walroß<br />

erprobte, dessen Haut er wie Papier aufschlitzte, und anschließend<br />

die Wucht seiner Schläge am Schädel des Walrosses<br />

demonstrierte, den er mit zwei Schlägen zertrümmerte wie ein<br />

Ei, verließ Lyra Iofur unter einem Vorwand, um allein zu sein;<br />

diesmal weinte sie vor Angst.<br />

Nicht einmal Pantalaimon, der Lyra sonst immer aufheiterte,<br />

fiel etwas ein, das ihr Hoffnung machen konnte. Sie<br />

konnte lediglich das Alethiometer noch einmal befragen. Iorek<br />

werde in einer Stunde hier sein, sagte es, und dann sagte es noch<br />

einmal, Lyra müsse ihm vertrauen. Lyra hatte sogar das Gefühl<br />

— allerdings war das schwerer zu lesen —, das Alethiometer<br />

tadle sie dafür, dieselbe Frage zweimal gestellt zu haben.<br />

Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Zweikampf überall<br />

verbreitet, und auf dem dafür vorgesehenen Platz wimmelte es<br />

von Bären. Hochrangige Bären besetzten die besten Plätze, und<br />

ein besonderer Bereich war für die Bärinnen, darunter natürlich<br />

Iofurs Frauen, abgeteilt worden. Lyra hätte zu gern mehr<br />

über die Bärinnen gewußt, aber jetzt war nicht die Zeit, herumzugehen<br />

und Fragen zu stellen. Statt dessen hielt sie sich in Iofur<br />

Raknisons Nähe. Sie beobachtete, wie die Höflinge in seiner<br />

Umgebung ihren Rang gegenüber gewöhnlichen Bären von<br />

außerhalb herauskehrten, und versuchte, die Bedeutung der<br />

verschiedenen Helmbüsche, Spangen und Abzeichen zu erraten,<br />

die alle Bären zu tragen schienen. Einige der höchstrangigen<br />

Bären trugen kleine Stoffpuppen mit sich herum, die wie<br />

Iofurs Ersatzdæmon aussahen; vielleicht wollten sie sich bei<br />

ihm einschmeicheln, indem sie die von ihm initiierte Mode<br />

nachahmten. Lyra empfand eine hämische Freude, als sie sah,<br />

wie ratlos die Bären waren, sobald sie merkten, daß Iofur seine<br />

385


Puppe weggelegt hatte. Sollten sie ihre Puppen auch wegwerfen?<br />

Waren sie jetzt in Ungnade gefallen? Wie sollten sie sich<br />

benehmen?<br />

Denn das war die bei Hofe vorherrschende Stimmung, wie<br />

Lyra allmählich erkannte: Niemand wußte, woran er war. Diese<br />

Bären waren nicht charakterfest und standhaft wie Iorek Byrnison;<br />

sie lebten in einer Atmosphäre ständiger Verunsicherung.<br />

Jeder beobachtete den anderen, und alle beobachteten Iofur.<br />

Und sie beobachteten Lyra mit unverhüllter Neugier. Lyra<br />

hielt sich bescheiden neben Iofur, sagte nichts und schlug die<br />

Augen nieder, wenn ein Bär sie ansah.<br />

<strong>Der</strong> Nebel hatte sich inzwischen gelichtet, und die Luft war<br />

klar. Zufällig war die kurze Spanne um Mittag, in der es etwas<br />

heller wurde, auch die Zeit, in der Iorek nach Lyras Schätzung<br />

eintreffen mußte. Zitternd stand sie auf einer kleinen Anhöhe<br />

aus festgetretenem Schnee am Rand des Kampfplatzes, sah zu<br />

dem hellen Schein am Himmel hinauf und wünschte sich mit<br />

der ganzen Macht ihres Herzens, eine Schar zerzauster schwarzer<br />

Gestalten möge vom Himmel herabkommen und sie mitnehmen<br />

oder die geheimnisvolle Stadt in der Aurora würde vor<br />

ihr erscheinen und sie könnte in aller Ruhe im hellen Sonnenschein<br />

über die breiten Boulevards schlendern. Oder Ma Costa<br />

würde sie in ihre starken Arme schließen, wo es warm nach<br />

ihrem Körper und nach Essen roch…<br />

Lyra merkte, daß ihr Tränen über die Wangen liefen, Tränen,<br />

die fast sofort gefroren und die sie unter Schmerzen wieder<br />

wegkratzen mußte. Sie hatte solche Angst. Bären weinten nicht<br />

und verstanden deshalb auch nicht, wie Lyra zumute war; sie<br />

hielten es für eine menschliche Eigentümlichkeit, die keine<br />

weitere Bedeutung hatte. Und Pantalaimon konnte Lyra natürlich<br />

nicht trösten, wie er es sonst tat, obwohl sie die Hand in der<br />

Tasche fest um die warme, kleine Maus geschlossen hatte und er<br />

mit seiner Nase ihre Finger liebkoste.<br />

386


Neben ihr legten die Schmiede letzte Hand an Iofur Raknisons<br />

Rüstung. Iofur ragte in die Höhe wie ein Turm aus glänzend<br />

poliertem Stahl. Die einzelnen Platten waren mit Golddraht<br />

eingelegt, der Helm umschloß den oberen Teil seines<br />

Kopfes wie eine gleißende Hülle in Silbergrau mit tiefen<br />

Augenschlitzen, und der untere Teil seines Körpers war durch<br />

ein eng anliegendes Kettenhemd geschützt. Als Lyra diese<br />

Rüstung sah, wurde ihr klar, daß sie Iorek Byrnison verraten<br />

hatte, denn Iorek hatte nichts Vergleichbares. Seine Rüstung<br />

schützte nur Rücken und Seiten. Wieder sah Lyra Iofur Raknison<br />

an, diese elegante, kraftvolle Erscheinung, und sie spürte in<br />

sich eine tiefe Verzweiflung, eine Mischung aus Schuld und<br />

Angst.<br />

»Entschuldigt, Eure Majestät«, sagte sie, »vielleicht erinnert<br />

Ihr Euch, was ich vorher gesagt habe…«<br />

Ihr Stimme zitterte und klang im Freien dünn und schwach.<br />

Abgelenkt von dem toten Seehund, den drei Bären vor ihm<br />

hochhielten, damit er ihn mit seinen spitz zugefeilten Krallen<br />

zerfetzen konnte, wandte Iofur Raknison ihr seinen mächtigen<br />

Kopf zu.<br />

»Ja? Was ist denn?«<br />

»Erinnert Ihr Euch, daß ich vorhin sagte, ich müßte zuerst<br />

mit Iorek Byrnison sprechen und so tun, als…«<br />

Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als lautes Gebrüll von<br />

den Bären auf dem Wachturm kam. Die anderen Bären wußten,<br />

was das bedeutete, und stimmten triumphierend in das<br />

Gebrüll ein. Iorek war gesichtet worden.<br />

»Ja?« drängte Lyra. »Ich halte ihn also zum Narren, Ihr werdet<br />

sehen.«<br />

»Ja, ja. Geh schon. Geh und rede ihm gut zu!«<br />

Iofur Raknison war so durcheinander vor Zorn und Aufregung,<br />

daß er kaum sprechen konnte.<br />

Allein ging Lyra über den leergeräumten Kampfplatz, hinter<br />

387


sich im Schnee eine Spur kleiner Fußstapfen. Die Bären auf der<br />

anderen Seite machten Platz, um sie durchzulassen. Zwischen<br />

ihren massigen Körpern kam im fahlen Dämmerlicht der<br />

Horizont in Sicht. Wo war Iorek Byrnison? Sie konnte ihn nicht<br />

sehen, aber natürlich war der Wachturm hoch, und von dort<br />

sah man weiter. Sie konnte nur weiter durch den Schnee stapfen.<br />

Er sah sie, bevor sie ihn sah. Ein letzter Satz und lautes Klappern<br />

von Metall, dann stand inmitten einer Schneewolke Iorek<br />

Byrnison vor ihr.<br />

»Iorek! Ich habe etwas Schreckliches getan! Du mußt gegen<br />

Iofur Raknison kämpfen, und du bist überhaupt nicht vorbereitet<br />

— du bist müde und hungrig, und deine Rüstung ist…«<br />

»Was hast du Schreckliches getan?«<br />

»Ich habe ihm gesagt, daß du kommst, weil ich es auf dem<br />

Symboldeuter gelesen habe. Er will unbedingt wie ein Mensch<br />

sein und einen Dæmon haben, um jeden Preis. Also habe ich so<br />

getan, als sei ich dein Dæmon und als wollte ich dich verlassen<br />

und statt dessen sein Dæmon werden, aber damit das passieren<br />

könne, müsse er gegen dich kämpfen. Weil sonst, Iorek, sonst<br />

hätten sie dich gar nicht kämpfen lassen, sie wollten dich einfach<br />

verbrennen, bevor du ihnen zu nahe kommen kannst…«<br />

»Du hast Iofur Raknison überlistet?«<br />

»Ja. Ich habe ihn dazu überredet, daß er gegen dich kämpft,<br />

statt dich einfach wie einen Geächteten zu töten, und der Sieger<br />

soll dann König der Bären sein. Ich mußte das tun, weil…«<br />

»Belacqua? Nein, Lyra die Listenreiche solltest du heißen«,<br />

sagte er. »Ich will nichts anderes als gegen ihn kämpfen. Komm<br />

mit, kleiner Dæmon.«<br />

Sie sah Iorek Byrnison an, wie er hager und wild in seiner<br />

zerbeulten Rüstung vor ihr stand, und ihr Herz wollte platzen<br />

vor Stolz.<br />

Nebeneinander marschierten sie auf den gewaltig vor ihnen<br />

388


aufragenden Palast Iofurs zu, vor dessen Mauern sich der<br />

Kampfplatz erstreckte. Auf den Zinnen drängten sich Bären,<br />

weiße Gesichter füllten jedes Fenster, und um den Platz standen<br />

Bären wie eine dichte, trübweiße Mauer mit schwarzen Punkten<br />

für Augen und Nasen. Als sie näher kamen, teilten die<br />

Bären sich in zwei Reihen, um Iorek Byrnison und seinen<br />

Dæmon durchzulassen. Die Augen sämtlicher Bären waren auf<br />

sie gerichtet.<br />

Auf dem Platz angekommen, stellte sich Iorek vor Iofur<br />

Raknison. <strong>Der</strong> König stieg von der Anhöhe aus festgetretenem<br />

Schnee herunter, und die beiden Bären blickten sich aus einigen<br />

Metern Entfernung an.<br />

Lyra stand so dicht neben Iorek, daß sie ein Zittern in ihm<br />

spürte wie das eines großen Dynamos, der anbarische Energie<br />

erzeugte. Sie berührte ihn kurz am Hals unter dem Rand seines<br />

Helms und sagte: »Alles Gute, Iorek, mein Lieber. Du bist der<br />

wirkliche König, nicht er. Er ist nichts.«<br />

Dann trat sie zurück.<br />

»Bären!« brüllte Iorek Byrnison. Laut hallte das Echo von den<br />

Palastwänden zurück und schreckte die Vögel aus ihren<br />

Nestern. »Die Bedingungen dieses Zweikampfes sind die folgenden:<br />

Wenn Iofur Raknison mich tötet, wird er für immer<br />

König sein, und keine Herausforderung und kein Zweifel können<br />

ihm dann noch etwas anhaben. Wenn ich Iofur Raknison<br />

töte, werde ich euer König. Als erstes werde ich euch befehlen,<br />

diesen Palast einzureißen, dieses geschleckte und parfümierte<br />

Narrenhaus, und das ganze Gold und den Marmor ins Meer zu<br />

kippen. Das Metall der Bären ist Eisen, nicht Gold. Iofur Raknison<br />

hat Svalbard beschmutzt. Ich bin hier, um es zu reinigen,<br />

Iofur Raknison, ich fordere dich hiermit zum Kampf heraus.«<br />

Iofur machte einen Satz nach vorn, als könne er sich kaum<br />

noch bezähmen.<br />

»Bären!« brüllte er seinerseits. »Iorek ist zurückgekommen,<br />

389


weil ich ihn dazu aufgefordert habe. Ich habe ihn kommen lassen.<br />

Deshalb stelle ich in diesem Zweikampf die Bedingungen,<br />

und sie lauten so: Wenn ich Iorek Byrnison töte, soll er in<br />

Stücke gerissen und sein Fleisch den Klippenalpen vorgeworfen<br />

werden. Sein Kopf wird auf den Zinnen meines Palastes ausgestellt.<br />

Jede Erinnerung an ihn wird gelöscht. Seinen Namen auszusprechen<br />

wird mit dem Tode bestraft…«<br />

Er sprach noch eine Weile weiter, und dann kam wieder<br />

Iorek an die Reihe und nach ihm noch einmal Iofur. Rede und<br />

Gegenrede erfolgten nach einer festen Formel, einem getreulich<br />

befolgten Ritual. Lyra beobachtete die beiden so grundverschiedenen<br />

Bären mit gespannter Aufmerksamkeit: den<br />

geschniegelten, vor Kraft und Gesundheit strotzenden Iofur in<br />

seiner prächtigen Rüstung, eine stolze, königliche Erscheinung,<br />

und den etwas kleineren Iorek, obwohl Lyra nie gedacht hätte,<br />

daß er ihr je klein vorkommen würde, in seiner schäbigen<br />

Rüstung, dem rostigen und zerbeulten Panzer. Aber Ioreks<br />

Rüstung war seine Seele. Er hatte sie gemacht, und sie paßte<br />

ihm wie angegossen. Er war eins mit ihr, während Iofur nicht<br />

mit seiner Rüstung zufrieden war. Iofur wollte noch eine<br />

andere Seele. Er war ruhelos, während Iorek in sich ruhte.<br />

Lyra merkte, daß auch die Bären einen ähnlichen Vergleich<br />

anstellten. Iorek und Iofur waren mehr als nur zwei Bären. Sie<br />

standen für zwei entgegengesetzte Arten des Bärentums, für<br />

zweierlei Zukunft, zwei verschiedene Schicksale. Iofur hatte die<br />

Bären in die eine Richtung geführt, Iorek würde sie in eine<br />

andere führen, und wenn die Entscheidung für die eine<br />

Zukunft gefallen wäre, würde der Weg in die andere für immer<br />

versperrt sein.<br />

Allmählich ging das Kampfritual in die zweite Runde. Die<br />

beiden Bären begannen, unruhig und mit hin und her schwingenden<br />

Köpfen auf dem Schnee auf und ab zu gehen und sich<br />

langsam einander zu nähern. Die Zuschauer erstarrten, nur ihre<br />

390


Augen folgten ihnen. Dann sprangen die Bären mit lautem<br />

Gebrüll und inmitten einer Wolke aufgewirbelten Schnees aufeinander<br />

zu. Wie zwei große Felsmassen auf benachbarten Berggipfeln,<br />

die, durch ein Erdbeben losgerissen, mit wachsender<br />

Geschwindigkeit talwärts rollen, über Gletscherspalten hinwegfegen<br />

und Bäume zu Splittern zermalmen und zuletzt mit elementarer<br />

Wucht aufeinanderprallen und in Staub und Gesteinssplittern<br />

zerstieben: so stießen die beiden Bären aufeinander. <strong>Der</strong><br />

Aufprall erschütterte den Boden, und gewaltig donnernd kam<br />

das Echo von den Palastmauern zurück. Die Bären zerbrachen<br />

allerdings nicht, wie Stein zerbrochen wäre. Sie fielen beide auf<br />

die Seite, und als erster erhob sich Iorek wieder. Geschmeidig<br />

sprang er auf und stürzte sich erneut auf Iofur, dessen Rüstung<br />

durch den Zusammenstoß beschädigt worden war und der den<br />

Kopf nicht mehr richtig heben konnte. Iorek versuchte, an den<br />

verwundbaren Spalt in Iofurs Hals zu kommen. Mit der Tatze<br />

fuhr er durch das weiße Fell, dann hakte er seine Krallen unter<br />

dem Rand von Iofurs Helm ein und bog ihn nach vorn.<br />

Iofur merkte die Gefahr und schüttelte sich fauchend, wie<br />

Lyra Iorek sich am Ufer in Trollesund hatte schütteln sehen;<br />

Fontänen von Wassertropfen waren damals hoch in die Luft<br />

gespritzt. Iorek verlor das Gleichgewicht und fiel um, und Iofur<br />

stellte sich auf die Hinterbeine; die stählernen Rückenplatten<br />

seiner Rüstung kreischten, als er sie durch schiere Körperkraft<br />

geradebog. Dann stürzte er sich wie eine Lawine auf Iorek, der<br />

immer noch am Boden lag.<br />

Die Wucht des Aufpralls verschlug Lyra den Atem. Sogar die<br />

Erde unter ihr bebte. Wie konnte Iorek das überstehen? Er<br />

drehte und wand sich zwar mit aller Macht und suchte nach<br />

einem festen Halt am Boden, aber er lag auf dem Rücken, und<br />

Iofur hatte sich in der Nähe seiner Kehle verbissen. Blutstropfen<br />

flogen durch die Luft, und einer landete auf Lyras Pelz. Sie<br />

preßte ihre Hand darauf wie auf ein Liebespfand.<br />

391


Dann schlug Iorek seine hinteren Tatzen in die Glieder von<br />

Iofurs Kettenhemd und riß es auf. <strong>Der</strong> ganze vordere Teil ging<br />

ab, und Iofur sprang zur Seite, um den Schaden zu begutachten,<br />

während Iorek sich wieder aufrappelte.<br />

Um Atem ringend standen die beiden Bären einander<br />

gegenüber. Das Kettenhemd bot keinen Schutz mehr, sondern<br />

behinderte Iofur; es hing immer noch an seinem Hinterteil fest,<br />

so daß er es um die Hinterbeine nachzog. Iorek war allerdings<br />

schlimmer dran. Er blutete heftig aus einer Wunde am Hals<br />

und keuchte schwer.<br />

Doch sprang er Iofur an, bevor der König sich aus dem Kettenhemd<br />

befreien konnte, warf ihn um und war mit einem Satz<br />

an der Blöße am Hals, wo er den Rand des Helmes verbogen<br />

hatte. Iofur warf ihn ab, und wieder rollten die beiden Bären<br />

über den Boden. Fontänen von Schnee spritzten nach allen Seiten,<br />

so daß zwischendurch nicht zu sehen war, wer die Oberhand<br />

hatte.<br />

Lyra wagte kaum zu atmen und preßte ihre Hände so stark<br />

zusammen, daß sie schmerzten. Sie meinte zu sehen, wie Iofur<br />

eine Wunde in Ioreks Bauch riß, aber das konnte nicht sein,<br />

denn im nächsten Augenblick, nach einer weiteren, gewaltigen<br />

Explosion von Schnee, standen beide Bären aufrecht wie Boxer<br />

da, und Iorek schlug mit seinen mächtigen Pranken nach Iofurs<br />

Gesicht, während Iofur genauso wild zurückschlug.<br />

Die Wucht der Schläge ließ Lyra erzittern. Es war, als ob ein<br />

Riese mit einem Schmiedehammer zuschlüge, einem Hammer,<br />

der mit fünf stählernen Spitzen besetzt war…<br />

Eisen prallte auf Eisen, Zähne schlugen aneinander, der<br />

Atem ging stoßweise, und Füße stampften über die gefrorene<br />

Erde. <strong>Der</strong> Schnee war mit Rot bespritzt und meterweit zu<br />

einem karmesinroten Matsch zertrampelt.<br />

Iofurs Rüstung war inzwischen in einem erbärmlichen<br />

Zustand. Die Panzerplatten waren aufgerissen und zerbeult, der<br />

392


Golddraht hing heraus oder war dick mit Blut beschmiert, den<br />

Helm hatte er verloren. Ioreks Rüstung befand sich, so unansehnlich<br />

sie war, in besserem Zustand. Eingedellt, aber intakt,<br />

hielt sie den wuchtigen Hammerschlägen des Bärenkönigs<br />

stand, und die brutalen, fünfzehn Zentimeter langen Krallen<br />

glitten an ihr ab.<br />

Auf der anderen Seite war Iofur größer und stärker als Iorek,<br />

und Iorek war müde und hungrig und hatte mehr Blut verloren.<br />

Er war am Bauch verwundet, an beiden Armen und am<br />

Hals, während Iofur nur am Unterkiefer blutete. Lyra<br />

wünschte, sie könnte ihrem Freund helfen, aber was konnte sie<br />

tun?<br />

Und es stand jetzt zunehmend schlechter um Iorek. Er<br />

hinkte, und jedesmal, wenn er die Vorderpfote aufsetzte, sah<br />

man, daß sie sein Gewicht kaum trug. Er schlug damit nicht<br />

mehr zu, und die Schläge seiner rechten Hand wurden auch<br />

schwächer; sie wirkten eher wie ein Tätscheln, verglichen mit<br />

den mächtigen Hieben, die er wenige Minuten zuvor ausgeteilt<br />

hatte.<br />

Auch Iofur bemerkte das. Er begann Iorek zu verspotten,<br />

beschimpfte ihn als lahme Ente, winselnden Welpen, rostzerfressenes<br />

Wrack und einen dem Tod Geweihten und deckte ihn<br />

die ganze Zeit mit Schlägen von rechts und links ein, die Iorek<br />

nicht mehr parieren konnte. Schritt für Schritt mußte Iorek<br />

zurückweichen, und immer tiefer duckte er sich unter dem<br />

Hagel von Schlägen, den der Bärenkönig mit höhnischen<br />

Bemerkungen auf ihn niedergehen ließ.<br />

Lyra war in Tränen aufgelöst. Ihr tapferer und furchtloser<br />

Beschützer würde sterben, und sie durfte ihn nicht verraten,<br />

indem sie wegblickte, denn wenn er sie ansah, sollte er ihre<br />

strahlenden Augen voller Liebe und Glauben sehen, kein feige<br />

verhülltes Gesicht oder eine furchtsam abgewandte Schulter.<br />

Also sah sie hin, aber durch den Tränenschleier sah sie nicht,<br />

393


was wirklich geschah, und vielleicht hätte sie es sowieso nicht<br />

erkannt. Iofur jedenfalls sah es ganz sicher nicht.<br />

Denn Iorek wich nur deshalb zurück, weil er festen, trockenen<br />

Boden unter den Füßen brauchte und einen Felsblock, von<br />

dem er sich abdrücken konnte; der nutzlos herunterhängende<br />

linke Arm war in Wirklichkeit ausgeruht und stark. Einen<br />

Bären hätte er nicht hereinlegen können, aber Lyra hatte ihm ja<br />

gesagt, daß Iofur kein Bär sein wollte, sondern ein Mensch; deshalb<br />

konnte Iorek ihn überlisten.<br />

Schließlich fand er, was er brauchte: einen festen, tief im<br />

geforenen Boden verankerten Felsen. Er stellte sich mit dem<br />

Rücken dagegen, sammelte alle Kraft in den Beinen und paßte<br />

den richtigen Augenblick ab.<br />

<strong>Der</strong> Augenblick kam, als Iofur sich hoch aufrichtete, in Triumphgeheul<br />

ausbrach und den Kopf höhnisch nach links auf<br />

Ioreks scheinbar schwache Seite drehte.<br />

Jetzt erwachte Iorek zum Leben. Wie eine Welle, die sich im<br />

Meer über Tausende von Kilometern aufbaut und im tiefen<br />

Wasser nicht zu sehen ist, sich aber dann, wenn sie das seichte<br />

Küstengewässer erreicht, himmelhoch auftürmt und die Menschen<br />

an der Küste in Angst und Schrecken versetzt, bevor sie<br />

mit unwiderstehlicher Kraft an Land kracht — so erhob sich<br />

Iorek Byrnison gegen Iofur, stieß sich mit Urgewalt von dem<br />

festen, trockenen Felsen ab und versetzte mit seiner entfesselten<br />

linken Pranke dem ungeschützten Kiefer Iofur Raknisons<br />

einen gewaltigen Schlag.<br />

Die Wucht, mit der er zuschlug, war grauenhaft. <strong>Der</strong> untere<br />

Teil des Kiefers wurde abgerissen, flog durch die Luft und<br />

bespritzte den Schnee meterweit mit Blut.<br />

Iofurs Zunge quoll rot über die aufgerissene Kehle. Auf einmal<br />

war der Bärenkönig stumm, hilflos und konnte nicht mehr<br />

beißen. Darauf hatte Iorek gewartet. Er machte einen Satz nach<br />

vorn und grub seine Zähne in Iofurs Kehle. Er schüttelte ihn<br />

394


hierhin und dorthin, hob den gewaltigen Körper auf und<br />

schmetterte ihn zu Boden, als sei Iofur ein Seehund.<br />

Dann riß er seinen Kopf nach oben, und Iofur Raknison<br />

hauchte unter dem Biß seiner Zähne sein Leben aus.<br />

Noch ein letztes Ritual mußte vollzogen werden. Iorek<br />

schlitzte die ungeschützte Brust des toten Königs auf und zog<br />

das Fell zurück, bis man die dicht nebeneinander liegenden<br />

weißen Rippen sah wie die Spanten eines umgekippten Bootes,<br />

Iorek faßte in die Rippen, riß Iofurs rotes, dampfendes Herz<br />

heraus und verschlang es an Ort und Stelle, vor Iofurs Untertanen.<br />

Dann ertönte Beifallsgeschrei. Ein Höllenlärm entstand, und<br />

die Bären stürzten nach vorn, um Iofurs Bezwinger ihre Ehrerbietung<br />

zu erweisen.<br />

Iorek Byrnison erhob seine Stimme über den Lärm.<br />

»Bären! Wer ist euer König?«<br />

Die Antwort war ein Schrei wie das Donnern sämtlicher<br />

Brandungen an allen Stranden der Welt in einem Orkan.<br />

»Iorek Byrnison!«<br />

Die Bären wußten, was sie jetzt zu tun hatten. Sie entledigten<br />

sich sofort sämtlicher Abzeichen, Schärpen und Krönchen,<br />

trampelten verächtlich mit den Füßen darauf herum und hatten<br />

sie im nächsten Moment schon vergessen. Sie waren jetzt<br />

Ioreks Bären, und zwar richtige Bären, keine Möchtegernmenschen,<br />

die sich immer ihrer Minderwertigkeit bewußt waren.<br />

Sie strömten zum Palast und begannen, von den Türmen große<br />

Marmorblöcke herunterzuwerfen, und sie rüttelten mit ihren<br />

mächtigen Tatzen an den zinnengekrönten Mauern, bis sich die<br />

Steine lösten, und schleuderten sie dann über die Klippen hinunter,<br />

wo sie auf der Anlegestelle einige hundert Meter tiefer<br />

auftrafen.<br />

Iorek beachtete sie nicht weiter, sondern hakte seinen Panzer<br />

los, um sich die Wunden zu lecken. Doch noch bevor er das tun<br />

395


konnte, war Lyra neben ihm, stampfte mit dem Fuß auf dem<br />

gefrorenen, tiefroten Schnee auf und rief den Bären zu, sie sollten<br />

aufhören, den Palast einzureißen, weil sich drinnen Gefangene<br />

befänden. Die Bären hörten sie nicht, wohl aber Iorek, und<br />

als er einen Befehl brüllte, hielten die Bären mit ihrem Zerstörungswerk<br />

sofort inne.<br />

»Menschen?« fragte er.<br />

»Ja… Iofur Raknison hat sie ins Verließ geworfen… man muß<br />

sie befreien und woanders hinbringen, so werden sie durch die<br />

herunterfallenden Steine getötet.«<br />

Iorek gab schnell entsprechende Anweisungen, und einige<br />

Bären eilten in den Palast, um die Gefangenen freizulassen. Lyra<br />

wandte sich Iorek zu.<br />

»Laß mich dir helfen… lieber Iorek, hoffentlich bist du nicht<br />

zu schlimm verletzt… oh, wenn ich doch wenigstens etwas zum<br />

Verbinden hätte! <strong>Der</strong> Schnitt auf deinem Bauch sieht ja<br />

schrecklich aus…«<br />

Ein Bär legte einen Mundvoll eines steifgefrorenen grünen<br />

Zeugs auf den Boden vor Ioreks Füßen.<br />

»Blutmoos«, sagte Iorek. »Lege es für mich auf die Wunden,<br />

Lyra. Dann lege die Haut darüber zusammen und halte Schnee<br />

darauf, bis es gefroren ist.«<br />

Bären ließ er nicht an sich heran, auch wenn sie beflissen ihre<br />

Hilfe anboten. Außerdem hatte Lyra geschickte Hände, und sie<br />

wollte unbedingt helfen. Das kleine Mädchen beugte sich also<br />

über den großen Bärenkönig, häufte das Blutmoos auf seine<br />

Wunden und kühlte das rohe Fleisch, bis es aufhörte zu bluten.<br />

Als sie fertig war, waren ihre Fäustlinge blutgetränkt, doch<br />

Iorek blutete nicht mehr.<br />

Inzwischen waren die Gefangenen herausgekommen — ein<br />

zitterndes Häuflein von Männern, die verwirrt um sich sahen.<br />

Es hatte keinen Zweck, mit dem Professor zu reden, dachte<br />

Lyra, denn der Arme war ja verrückt. Zwar hätte sie gern<br />

396


gewußt, wer die anderen waren, aber es gab so viele wichtige<br />

Dinge zu tun. Und sie wollte Iorek nicht stören, der in rascher<br />

Folge Befehle erteilte und Bären hierhin und dorthin schickte.<br />

Sie hatte Angst um Roger und Lee Scoresby und um die Hexen,<br />

und sie war hungrig und müde… Vielleicht war es das Beste, im<br />

Moment nicht im Weg herumzustehen.<br />

In einer ruhigen Ecke des Kampfplatzes rollte sie sich<br />

zusammen; Pantalaimon hatte sie sich als Marder wärmend um<br />

die Schultern gelegt. Dann deckte sie sich mit Schnee zu, wie es<br />

die Bären taten, und schlief ein.<br />

Jemand berührte sie am Fuß, und eine fremde Bärenstimme<br />

sagte: »Lyra Listenreich, der König möchte dich sprechen.«<br />

Lyra war fast tot vor Kälte und konnte die Augen nicht öffnen,<br />

weil sie zugefroren waren. Erst als Pantalaimon sie leckte,<br />

schmolz das Eis auf den Lidern, und bald sah sie vor sich im<br />

Mondlicht den jungen Bären, der zu ihr gesprochen hatte.<br />

Sie versuchte aufzustehen, fiel aber zweimal wieder um.<br />

»Reite auf mir«, sagte der Bär und kniete sich hin. Sie stieg<br />

auf seinen breiten Rücken und hielt sich schwankend fest, während<br />

er sie zu einer tiefen Senke brachte, in der sich viele Bären<br />

versammelt hatten.<br />

Unter den Bären befand sich eine kleine Gestalt, die jetzt auf<br />

Lyra zurannte und deren Dæmon aufsprang, um Pantalaimon<br />

zu begrüßen.<br />

»Roger!« schrie Lyra.<br />

»Iorek Byrnison hat gesagt, ich solle im Schnee warten, bis er<br />

dich holt — wir sind aus dem Ballon gefallen, Lyra! Nachdem<br />

du rausgefallen warst, sind wir noch viele Meilen weitergeflogen,<br />

und dann hat Mr. Scoresby noch mehr Gas herausgelassen,<br />

und wir sind mit einem Berg zusammengestoßen, und dann<br />

sind wir einen Hang hinuntergepurzelt, der so steil war, wie du<br />

dir gar nicht vorstellen kannst! Und ich weiß nicht, wo Mr. Sco­<br />

397


esby jetzt ist oder die Hexen. Da waren nur ich und Iorek<br />

Byrnison. Er machte sich sofort auf den Weg, um dich zu<br />

suchen. Ich habe von dem Kampf gehört…«<br />

Lyra sah sich um. Die Gefangenen bauten auf Anweisung<br />

eines älteren Bären aus Treibholz und Leinwandfetzen einen<br />

Unterstand. Sie schienen froh, daß sie etwas zu tun hatten. Einer<br />

versuchte mit einem Feuerstein, Feuer zu machen.<br />

»Da ist etwas zu essen«, sagte der junge Bär, der Lyra aufgeweckt<br />

hatte.<br />

Auf dem Schnee lag ein frischer Seehund. <strong>Der</strong> Bär schlitzte<br />

ihn mit einer Kralle auf und zeigte Lyra, wo die Nieren waren.<br />

Lyra aß eine davon roh; sie war warm und weich und schmeckte<br />

unvorstellbar köstlich.<br />

»Iß auch den Speck«, sagte der Bär und riß ein Stück für sie<br />

ab. <strong>Der</strong> Speck schmeckte nach Sahne mit Haselnüssen. Roger<br />

zögerte, folgte dann aber Lyras Beispiel. Gierig aßen sie, und<br />

schon wenige Minuten später war Lyra ganz wach, und die<br />

Wärme kehrte in ihre Glieder zurück.<br />

Sie wischte sich den Mund ab und sah sich um, aber Iorek<br />

war nirgends zu sehen.<br />

»Iorek Byrnison bespricht sich mit seinen Beratern«, sagte<br />

der junge Bär. »Er möchte dich sehen, sobald du gegessen hast.<br />

Komm mit.«<br />

Er führte sie über eine Anhöhe im Schnee zu einer Stelle, wo<br />

Bären aus Eisblöcken eine Mauer errichteten. Iorek saß inmitten<br />

einer Gruppe älterer Bären und stand auf, um sie zu begrüßen.<br />

»Lyra Listenreich«, sagte er, »komm und höre, was man mir<br />

berichtet.«<br />

Er erklärte den anderen Bären nicht, wer sie war; vielleicht<br />

wußten sie es ja schon. Jedenfalls machten sie ihr Platz und<br />

behandelten sie mit ausgesuchter Höflichkeit, als sei sie eine<br />

Königin. Lyra platzte fast vor Stolz darüber, unter den Strahlen<br />

398


der Aurora am Polarhimmel neben ihrem Freund Iorek Byrnison<br />

zu sitzen und an dem Gespräch der Bären teilzunehmen.<br />

Wie sich herausstellte, war Iofur Raknisons Herrschaft wie<br />

ein böser Zauber gewesen. Einige machten dafür den Einfluß<br />

von Mrs. Coulter verantwortlich, die Iofur schon vor Ioreks<br />

Verbannung besucht hatte, ohne daß Iorek davon wußte, und<br />

Iofur verschiedene Dinge geschenkt hatte.<br />

»Sie gab ihm eine Droge«, sagte ein Bär, »die er heimlich<br />

Hjalmur Hjalmurson gab und die Hjalmur den Verstand verwirrte.«<br />

Hjalmur Hjalmurson, schloß Lyra, mußte der Bär sein, den<br />

Iorek getötet hatte und dessen Tod schuld an Ioreks Verbannung<br />

war. Also steckte Mrs. Coulter auch dahinter! Aber das<br />

war noch längst nicht alles.<br />

»Einige von den Dingen, die sie vorhatte, sind nach den<br />

Gesetzen der Menschen verboten, aber diese Gesetze gelten<br />

nicht auf Svalbard. Sie wollte hier eine Station wie Bolvangar<br />

einrichten, nur noch schlimmer, und Iofur wollte ihr das erlauben,<br />

allem Bärenbrauch zuwider; denn Menschen kommen<br />

zwar als Besucher oder Gefangene nach Svalbard, sie haben hier<br />

aber nie gelebt und gearbeitet. Mrs. Coulter wollte ihre Macht<br />

über Iofur Raknison und seine Macht über uns nach und nach<br />

immer weiter ausdehnen, bis wir nur noch ihre Geschöpfe<br />

wären, ihre Befehle ausführten und ihr ermöglichten, ihre<br />

schrecklichen Pläne auszuführen…«<br />

<strong>Der</strong> alte Bär, der das sagte, hieß Søren Eisarson. Er war ein<br />

Berater des Königs, einer, der unter Iofur Raknison sehr gelitten<br />

hatte.<br />

»Was macht Mrs. Coulter jetzt, Lyra?« fragte Iorek Byrnison.<br />

»Und was wird sie tun, wenn sie von Iofurs Tod erfährt?«<br />

Lyra holte das Alethiometer heraus. Das Licht war so<br />

schlecht, daß man die Symbole kaum sah, und Iorek befahl, eine<br />

Fackel zu bringen.<br />

399


»Was ist mit Mr. Scoresby passiert?« fragte Lyra, während sie<br />

warteten. »Und mit den Hexen?«<br />

»Die Hexen wurden von einem anderen Hexenclan angegriffen.<br />

Ich weiß nicht, ob dieser andere Clan mit den Kinderabschneidern<br />

verbündet war, jedenfalls griffen sie scharenweise<br />

an, als der Sturm ausbrach. Ich habe nicht gesehen, was mit<br />

Serafina Pekkala passierte. Was Lee Scoresby angeht, so stieg der<br />

Ballon wieder auf, nachdem der Junge und ich herausgefallen<br />

waren, und nahm ihn mit. Aber dein Symboldeuter sagt dir<br />

sicher, was den beiden zugestoßen ist.«<br />

Ein Bär kam mit einem Schlitten, auf dem ein Kessel mit<br />

glühender Holzkohle stand. Er stieß einen harzigen Ast hinein,<br />

der sofort Feuer fing, und im Licht der Flammen drehte Lyra<br />

die Zeiger des Alethiometers und befragte es nach Lee Scoresby.<br />

Wie sich herausstellte, war er immer noch in der Luft, und<br />

die Winde trugen ihn nach Nowaja Semlja. Die Klippenalpe<br />

hatten ihm nichts anhaben können, den anderen Hexenclan<br />

hatte er erfolgreich abgewehrt.<br />

Lyra sagte das Iorek, und Iorek nickte zufrieden.<br />

»In der Luft ist er sicher«, sagte er. »Und Mrs. Coulter?«<br />

Die Antwort darauf war schwieriger. Lyra mußte lange über<br />

die Reihenfolge nachdenken, in der die Nadel von Symbol zu<br />

Symbol schwang. Die Bären starrten sie neugierig an, hielten<br />

sich aber höflich zurück aus Achtung vor Iorek Byrnison und<br />

weil sie wußten, daß Iorek Byrnison seinerseits Lyra achtete.<br />

Lyra verdrängte die Anwesenheit der Bären aus ihrem Bewußtsein<br />

und versenkte sich in das Alethiometer.<br />

Endlich verstand sie den Zusammenhang der verschiedenen<br />

Symbole. Es war eine schlimme Botschaft.<br />

»Es sagt, daß Mrs. Coulter… Sie hat erfahren, daß wir hierher<br />

geflogen sind, und sie hat einen mit Maschinengewehren<br />

bewaffneten Transportzeppelin organisiert — wenn ich die<br />

Symbole richtig lese —, und sie sind in diesem Augenblick auf<br />

400


dem Weg nach Svalbard. Natürlich weiß sie noch nicht, daß<br />

Iofur Raknison geschlagen ist, aber sie wird es bald wissen,<br />

weil… Ach ja, weil einige Hexen es ihr sagen werden, die es von<br />

den Klippenalpen wissen. <strong>Der</strong> Himmel ist anscheinend voller<br />

Spione, Iorek. Sie kommt, weil sie… angeblich weil sie Iofur<br />

Raknison helfen will, aber in Wirklichkeit will sie die Macht<br />

von ihm übernehmen mit Hilfe eines Tatarenregiments, das<br />

mit dem Schiff unterwegs ist. Sie könnten schon in wenigen<br />

Stunden hier sein.<br />

Und sobald sie kann, wird sie Lord Asriel in seinem Gefängnis<br />

aufsuchen und ihn töten lassen. Weil…Jetzt wird mir etwas<br />

klar, das ich bisher nie verstanden habe, Iorek! Nämlich warum<br />

sie Lord Asriel töten will: Weil sie weiß, was er vorhat, und<br />

davor Angst hat, und weil sie es selber tun will und die Macht an<br />

sich reißen will, bevor er es kann… Es muß die Stadt am Himmel<br />

sein, ja! Sie will sie als erste erreichen! Und da lese ich noch<br />

etwas anderes…«<br />

Lyra beugte sich über das Instrument und konzentrierte sich<br />

verbissen auf die Nadel, die hierhin und dorthin zuckte, so<br />

rasch, daß man ihr kaum folgen konnte. Roger, der Lyra über<br />

die Schulter blickte, sah nicht einmal, wo sie jeweils stehenblieb;<br />

er sah lediglich ein schnelles Wechselspiel zwischen Lyras<br />

Fingern, die an den Zeigern drehten, und der darauf antwortenden<br />

Nadel. Das Ganze schien mit einer Sprache sowenig zu<br />

tun zu haben wie das Nordlicht.<br />

»Ja«, sagte Lyra schließlich, sie ließ das Instrument in den<br />

Schoß sinken und seufzte und sah sich verwirrt um, als sie aus<br />

ihrer tiefen Versenkung erwachte. »Ja, jetzt verstehe ich das. Sie<br />

ist wieder hinter mir her. Sie will etwas, das ich habe, weil Lord<br />

Asriel es auch will. Sie braucht es für dieses… dieses Experiment,<br />

was immer es ist.«<br />

Lyra brach ab und holte tief Luft. Etwas machte ihr zu schaffen,<br />

und sie wußte nicht, was. Sie war überzeugt, daß dieses<br />

401


Etwas, das so wichtig war, das Alethiometer war. Schließlich<br />

hatte Mrs. Coulter das Alethiometer doch haben wollen, und<br />

was konnte es sonst sein? Zugleich konnte es nicht das Alethiometer<br />

sein, denn das Alethiometer drückte sich anders aus,<br />

wenn es von sich selbst sprach, nicht so.<br />

»Wahrscheinlich ist es das Alethiometer«, sagte sie unglücklich.<br />

»Das vermute ich schon lange. Ich muß es unbedingt Lord<br />

Asriel geben, bevor sie es an sich bringt. Wenn sie es bekommt,<br />

müssen wir alle sterben.«<br />

Als sie das sagte, war sie so erschöpft, allem überdrüssig und<br />

traurig bis ins Mark, daß der Tod eine Erlösung gewesen wäre.<br />

Aber das Beispiel Ioreks hinderte sie daran, das zuzugeben. Sie<br />

steckte das Alethiometer ein und setzte sich auf.<br />

»Wann wird sie hier sein?« fragte Iorek.<br />

»In wenigen Stunden. Ich denke, ich sollte Lord Asriel das<br />

Alethiometer so schnell wie möglich bringen.«<br />

»Ich komme mit«, sagte Iorek.<br />

Lyra widersprach nicht. Während Iorek Befehle erteilte und<br />

eine bewaffnete Truppe zusammenstellte, die sie auf dem letzten<br />

Teil ihrer Reise in den Norden begleiten sollte, saß sie ganz<br />

ruhig da und versuchte, ihre Kräfte zu sammeln. Sie hatte das<br />

Gefühl, daß das Lesen des Alethiometers sie ihre letzte Kraft<br />

gekostet hatte. Dann machte sie die Augen zu und schlief ein,<br />

doch schon wenig später wurde sie geweckt, und sie brachen<br />

auf.<br />

402


Einundzwanzig<br />

Lord Asriels Willkommen<br />

Lyra ritt auf einem starken jungen Bären, neben ihr Roger auf<br />

einem anderen, während Iorek unermüdlich vorauslief und<br />

eine mit einem Feuerwerfer bewaffnete Truppe die Nachhut<br />

bildete.<br />

<strong>Der</strong> Weg war lang und beschwerlich. Das Innere von Svalbard<br />

war gebirgig, mit schroffen Gipfeln und zerklüfteten<br />

Bergkämmen, durchschnitten von tiefen Schluchten und steilen<br />

Tälern, und die Kälte war ungeheuerlich. Sehnsüchtig<br />

dachte Lyra an die weich dahingleitenden Schlitten der Gypter<br />

auf dem Weg nach Bolvangar; wie schnell und bequem ihr<br />

diese Art zu reisen jetzt erschien. Hier war die Luft noch eisiger<br />

als alles, was sie je erlebt hatte; oder vielleicht war auch nur der<br />

Bär, auf dem sie ritt, nicht so leichtfüßig wie Iorek, oder sie war<br />

einfach vollkommen erschöpft und ausgelaugt. Jedenfalls war<br />

die Reise furchtbar anstrengend.<br />

Lyra wußte weder, in welcher Richtung ihr Ziel lag, noch,<br />

wie weit es weg war. Sie wußte nur, was der alte Bär Sören Eisarson<br />

ihr erzählt hatte, als sie den Feuerwerfer für die Reise vorbereitet<br />

hatten. Eisarson hatte an den Verhandlungen mit Lord<br />

Asriel über die Bedingungen seiner Haft teilgenommen und<br />

erinnerte sich noch lebhaft daran.<br />

Zuerst, sagte er, hätten die Bären von Svalbard keinen Unter­<br />

403


schied zwischen Lord Asriel und den anderen Politikern, Königen<br />

und Unruhestiftern festgestellt, die auf ihre öde Insel verbannt<br />

wurden. Solche Gefangenen seien immer wichtig, sonst<br />

hätten ihre Landsleute sie gleich umgebracht; sie könnten eines<br />

Tages also auch für die Bären wichtig werden, wenn ihr politisches<br />

Schicksal umschlug und sie in ihren Ländern wieder an<br />

die Macht kamen. Es konnte sich für die Bären also auszahlen,<br />

sie nicht grausam oder verächtlich zu behandeln.<br />

Deshalb hatte Lord Asriel auf Svalbard weder schlechtere<br />

noch bessere Bedingungen angetroffen als Hunderte Verbannte<br />

vor ihm. Bestimmte Umstände hatten allerdings dazu geführt,<br />

daß seine Wächter bei ihm wachsamer waren als bei anderen<br />

Gefangenen. Eine Aura des Geheimnisvollen und spirituell<br />

Verderblichen umgab alles, was mit Staub zu tun hatte; auf den<br />

Gesichtern derer, die Lord Asriel gebracht hatten, hatte ganz<br />

deutlich Panik gestanden; und schließlich gab es noch die privaten<br />

Gespräche von Mrs. Coulter mit Iofur Raknison.<br />

Außerdem hatten die Bären noch nie jemanden mit Lord<br />

Asriels hochmütigem und gebieterischem Wesen kennengelernt,<br />

gegen das sogar Iofur Raknison nicht angekommen war.<br />

Nachdrücklich und sprachgewandt hatte Lord Asriel den<br />

Bärenkönig dazu überredet, ihn selbst entscheiden zu lassen,<br />

wo er wohnen wollte.<br />

Die ihm zuerst zugewiesene Wohnung liege zu tief, hatte er<br />

gesagt. Er brauche eine hochgelegene Wohnung über dem<br />

Rauch und dem Lärm der Feuerminen und Schmieden. Er<br />

zeichnete den Bären auf, wie die Wohnung aussehen sollte, und<br />

sagte ihnen, wo sie liegen sollte. Dann bestach er sie mit Gold<br />

und schmeichelte und drohte Iofur Raknison so lange, bis die<br />

Bären verwirrt gehorchten und sich an die Arbeit machten.<br />

Schon bald erhob sich auf einer nach Norden gerichteten Landzunge<br />

ein großes, festes Haus mit offenen Kaminen, in denen in<br />

großen Stücken die von den Bären geförderte und herbeige­<br />

404


schaffte Kohle brannte, und mit großen Fenstern aus echtem<br />

Glas. Dort residierte er, der Gefangene, wie ein König.<br />

Und dort ging er daran, ein Laboratorium zusammenzustellen.<br />

Mit verbissenem Eifer bestellte er Bücher, Instrumente, Chemikalien<br />

und die verschiedensten Werkzeuge und sonstigen<br />

Ausrüstungsgegenstände. Und irgendwie hatte er alles bekommen,<br />

aus den verschiedensten Quellen, zum Teil offen, zum<br />

Teil eingeschmuggelt von Besuchern, auf deren Besuch er als<br />

ihm zustehend gedrungen hatte. Über Land, zu Wasser und auf<br />

dem Luftweg hatte Lord Asriel seine Materialien zusammengetragen,<br />

und ein halbes Jahr nach seiner Gefangennahme hatte er<br />

alles, was er brauchte.<br />

Und nun arbeitete, dachte, plante und rechnete er und wartete<br />

nur noch auf das eine, das er brauchte, um die Aufgabe zu<br />

vollenden, vor der die Oblations-Behörde solche Angst hatte.<br />

Und dieses Letzte, das er brauchte, war bereits zu ihm unterwegs.<br />

Lyra sah das Gefängnis ihres Vaters zum erstenmal, als Iorek<br />

Byrnison am Fuß eines Gebirgskammes anhielt, damit die Kinder<br />

ihre Glieder bewegen und strecken konnten, da sie gefährlich<br />

ausgekühlt und steif gefroren waren.<br />

»Sieh, da oben«, sagte er.<br />

Ein breiter, zerfurchter und mit Eis- und Felsbrocken übersäter<br />

Hang, in den man mühsam einen Pfad gehauen hatte,<br />

führte zu einer Felsnase, die sich schwarz und spitz vor dem<br />

Himmel abhob. Die Aurora schien nicht, aber die Sterne glitzerten.<br />

Auf dem Gipfel der Felsnase stand ein großes Gebäude,<br />

das hell durch die Nacht leuchtete. Was Lyra sah, war weder das<br />

rußige, unruhige Flackern von Tranlampen noch das grelle<br />

Weiß anbarischer Scheinwerfer, sondern das warme, cremefarbene<br />

Licht von Naphthalampen.<br />

405


Auch die Fenster, durch die das Licht schien, zeigten, wie<br />

mächtig Lord Asriel war. Glas war teuer, und durch große Fensterscheiben<br />

verschwendete man in diesen extremen Breiten<br />

Unmengen von Heizmaterial. Lord Asriels Haus zeugte von<br />

einem noch größeren Reichtum und Einfluß als Iofur Raknisons<br />

aufgedonnerter Palast.<br />

Sie stiegen zum letzten mal auf ihre Bären, und Iorek ging<br />

ihnen voraus den Pfad zum Haus hinauf. Oben gelangten sie in<br />

einen tief verschneiten Hof, um den eine niedrige Mauer lief.<br />

Als Iorek das Tor aufstieß, hörten sie drinnen im Haus eine<br />

Klingel.<br />

Lyra kletterte von ihrem Bären herunter; sie konnte kaum<br />

noch stehen. Dann half sie Roger beim Absteigen, und sich<br />

gegenseitig stützend stolperten die Kinder durch den bis zu den<br />

Oberschenkeln reichenden Schnee zur Eingangstreppe.<br />

Wie warm es im Haus sein würde! Wie ruhig und friedlich!<br />

Lyra streckte die Hand nach der Klingel aus, doch noch<br />

bevor sie klingeln konnte, ging die Tür auf. Dahinter erschien<br />

ein kleiner, schwach erleuchteter Flur, der die Wärme im Haus<br />

halten sollte, und unter der Flurlampe stand jemand, den Lyra<br />

kannte: Lord Asriels Diener Thorold mit seinem Dæmon<br />

Anfang, einem Pinscher.<br />

Erschöpft schlug Lyra die Kapuze zurück.<br />

»Wer…«, begann Thorold, doch als er sah, wer es war, rief er:<br />

»Doch nicht Lyra? Die kleine Lyra? Träum ich denn?«<br />

Er langte hinter sich, um die innere Tür zu öffnen.<br />

Die Tür führte in einen saalartigen Raum, in dessen steinernem<br />

Kamin ein Kohlenfeuer loderte. Warmes Naphthalicht<br />

schien auf Teppiche, Ledersessel und poliertes Holz… Lyra<br />

hatte so etwas nicht mehr gesehen, seit sie Jordan College verlassen<br />

hatte, und sie spürte plötzlich einen Kloß im Hals.<br />

Lord Asriels Dæmon, die Schneeleopardin, knurrte.<br />

Dann stand auf einmal ihr Vater da, mit seinem energischen<br />

406


Gesicht mit den dunklen Augen, aus denen wilde Entschlossenheit,<br />

Triumph und Tatkraft blitzten. Doch dann wich plötzlich<br />

alle Farbe aus seinem Gesicht, und seine Augen weiteten sich in<br />

namenlosem Entsetzen, als er seine Tochter erkannte.<br />

»Nein! Nein!«<br />

Er stolperte zurück und hielt sich am Kaminsims fest. Lyra<br />

war wie gelähmt.<br />

»Verschwinde!« schrie Lord Asriel. »Dreh dich um und verschwinde,<br />

los! Ich habe nicht nach dir geschickt.«<br />

Lyra konnte nicht sprechen. Sie öffnete den Mund zweimal,<br />

dreimal, und dann brachte sie heraus: »Nein, nein, ich bin doch<br />

hier, weil…«<br />

Er schüttelte nur fortwährend den Kopf und streckte die<br />

Hände aus, wie um sie abzuwehren. Lyra wollte ihren Augen<br />

nicht trauen.<br />

In der Absicht, ihn zu beruhigen, trat sie einen Schritt auf ihn<br />

zu, und Roger folgte ihr nervös. Ihre Dæmonen flatterten in die<br />

Wärme, und einen Augenblick später strich sich Lord Asriel<br />

mit der Hand über die Schläfe. Er schien sich etwas erholt zu<br />

haben, und die Farbe kehrte allmählich in seine Wangen<br />

zurück, als er auf die beiden Kinder heruntersah.<br />

»Lyra«, sagte er. »Bist du es, Lyra?«<br />

»Ja, Onkel Asriel«, sagte sie. Jetzt schien nicht der richtige<br />

Zeitpunkt, ihre wirkliche verwandtschaftliche Beziehung zu<br />

erörtern. »Ich bringe dir das Alethiometer des Rektors von Jordan<br />

College.«<br />

»Ja, natürlich«, sagte er. »Wer ist das?«<br />

»Das ist Roger Parslow«, erwiderte sie, »der Küchenjunge<br />

von Jordan College. Aber…«<br />

»Wie seid ihr hergekommen?«<br />

»Ich wollte es gerade sagen. Draußen wartet Iorek Byrnison,<br />

er hat uns hergebracht. Er hat mich den ganzen Weg von Trollesund<br />

herbegleitet, und wir haben Iofur überlistet…«<br />

407


»Wer ist Iorek Byrnison?«<br />

»Ein gepanzerter Bär. Er hat uns hergebracht.«<br />

»Thorold«, rief Lord Asriel, »laß für die Kinder ein heißes<br />

Bad einlaufen, und gib ihnen etwas zu essen. Dann müssen sie<br />

schlafen. Ihre Kleider sind schmutzig; suche ihnen etwas zum<br />

Anziehen heraus. Bitte gleich, während ich mit diesem Bären<br />

spreche.«<br />

Lyra spürte, wie in ihrem Kopf alles verschwamm. Vielleicht<br />

war es die Wärme, vielleicht die Erleichterung. Sie sah zu, wie<br />

der Diener sich verbeugte und hinausging und wie Lord Asriel<br />

in den Flur trat und die Tür hinter sich schloß. Dann sank sie in<br />

den nächsten Sessel.<br />

Im nächsten Augenblick, so schien ihr, sprach Thorold sie an.<br />

»Folgen Sie mir, Miss«, sagte er, und sie stemmte sich hoch<br />

und folgte ihm mit Roger in ein warmes Badezimmer, in dem<br />

an einem beheizten Halter weiche Handtücher hingen und im<br />

Naphthalicht eine mit Wasser gefüllte Wanne dampfte.<br />

»Geh du zuerst rein«, sagte Lyra. »Ich bleibe hier, dann können<br />

wir uns unterhalten.«<br />

Also stieg Roger in die Wanne, um sich zu waschen. Er<br />

zuckte zusammen und keuchte, so heiß war das Wasser. Sie<br />

waren schon oft nackt zusammen schwimmen gewesen und<br />

hatten in der Isis oder im Cherwell mit anderen Kindern<br />

getobt, aber das hier war anders.<br />

»Ich hab Angst vor deinem Onkel«, sagte Roger durch die<br />

offene Tür. »Ich meine, vor deinem Vater.«<br />

»Nenne ihn lieber weiter meinen Onkel. Ich habe manchmal<br />

auch vor ihm Angst.«<br />

»Als wir vorhin hereinkamen, sah er mich überhaupt nicht.<br />

Er sah nur dich und war entsetzt, bis er auch mich sah. Dann<br />

beruhigte er sich sofort.«<br />

»Er war einfach überrascht«, sagte Lyra. »Das würde jedem so<br />

gehen, der plötzlich jemanden sieht, den er nicht erwartet hat.<br />

408


Er hat mich zuletzt damals im Ruhezimmer gesehen. Das muß<br />

doch ein Schock sein.«<br />

»Nein«, sagte Roger, »das war nicht nur ein Schock. Er sah<br />

mich an wie ein Wolf oder so was.«<br />

»Das bildest du dir nur ein.«<br />

»Nein. Ich hab mehr Angst vor ihm als damals vor Mrs.<br />

Coulter, wirklich.«<br />

Roger seifte sich ein, und Lyra holte das Alethiometer heraus.<br />

»Soll ich den Symboldeuter danach fragen?« sagte Lyra.<br />

»Hm, weiß nicht. Es gibt Dinge, die ich gar nicht wissen will.<br />

Ich hab das Gefühl, daß ich, seit die Gobbler nach Oxford<br />

gekommen sind, immer nur von schlechten Dingen höre. Es ist<br />

nichts Schönes dabei, höchstens mal etwas ganz Kleines in der<br />

unmittelbaren Zukunft, wie das schöne Bad hier oder das<br />

warme Handtuch. Und wenn ich mich abgetrocknet habe,<br />

freue ich mich vielleicht auf etwas zu essen, aber weiter denke<br />

ich nicht. Und wenn ich gegessen habe, freue ich mich vielleicht<br />

auf ein bequemes Bett, in dem ich pennen kann. Aber was<br />

danach kommt: Ich weiß nicht, Lyra. Wir haben schreckliche<br />

Dinge erlebt, oder? Und sehr wahrscheinlich stehen uns noch<br />

mehr schreckliche Dinge bevor. Ich denke mir also, am besten<br />

man weiß gar nicht, was die Zukunft bringt. Ich halte mich an<br />

die Gegenwart.«<br />

»Ja«, sagte Lyra müde. »Manchmal geht es mir genauso.«<br />

Sie behielt das Alethiometer zwar noch eine Weile in der<br />

Hand, aber nur um sich zu trösten. Sie drehte nicht an den Zeigern<br />

und achtete nicht auf das Ausschwingen der Nadel. Pantalaimon<br />

beobachtete das Instrument stumm.<br />

Nachdem sie sich beide gewaschen und ein Käsebrot gegessen<br />

und mit warmem Wasser verdünnten Wein getrunken hatten,<br />

sagte der Diener Thorold: »<strong>Der</strong> Junge soll schlafen gehen;<br />

ich zeige ihm, wo. Sie, Miss Lyra, bittet seine Lordschaft noch zu<br />

sich in die Bibliothek.«<br />

409


Er führte Lyra in ein Zimmer, durch dessen große Fenster<br />

man weit unten das gefrorene Meer sah. Auch hier brannte in<br />

einem großen Kamin ein Kohlenfeuer, und eine Naphthalampe<br />

war so heruntergedreht, daß der Blick aus dem Zimmer<br />

nach draußen auf das öde, nur von Sternen beschienene Panorama<br />

kaum durch störende Spiegelungen beeinträchtigt wurde.<br />

Lord Asriel saß in einem großen Armsessel auf der einen Seite<br />

des Feuers und bedeutete Lyra, sich in den anderen Sessel ihm<br />

gegenüber zu setzen.<br />

»Dein Freund Iorek Byrnison ruht sich draußen aus«, sagte<br />

er. »Er ist lieber in der Kälte.«<br />

»Hat er dir von dem Zweikampf mit Iofur Raknison<br />

erzählt?«<br />

»Nur in groben Zügen. Wenn ich ihn richtig verstehe, ist er<br />

jetzt König von Svalbard. Stimmt das?«<br />

»Natürlich. Iorek lügt nie.«<br />

»Er scheint sich zu deinem Beschützer ernannt zu haben.«<br />

»Nein, John Faa hat ihm gesagt, er solle sich um mich kümmern,<br />

deshalb tut er es. Er befolgt nur die Anweisungen John<br />

Faas.«<br />

»Was hat John Faa damit zu tun?«<br />

»Das sag ich dir, wenn du mir was anderes sagst. Du bist mein<br />

Vater, nicht wahr?«<br />

»Ja. Warum?«<br />

»Du hättest mir das schon früher sagen sollen, deshalb. Du<br />

darfst solche Sachen anderen Leuten nicht verschweigen, weil<br />

sie sich dann, wenn sie es herausfinden, dumm vorkommen,<br />

und das ist gemein. Was macht es denn, wenn ich weiß, daß ich<br />

deine Tochter bin? Du hättest es mir schon Vorjahren sagen<br />

können. Du hättest es mir sagen können, und du hättest mich<br />

bitten können, es geheimzuhalten, und wenn du mich darum<br />

gebeten hättest, hätte ich das auch getan, egal wie alt ich gewesen<br />

wäre. Ich wäre so stolz gewesen, daß niemand das Geheim­<br />

410


nis von mir erfahren hätte. Aber das hast du nicht. Du hast es<br />

anderen gesagt, aber nicht mir.«<br />

»Wer behauptet das?«<br />

»John Faa.«<br />

»Hat er dir gesagt, wer deine Mutter ist?«<br />

»Ja.«<br />

»Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Und ich lasse mich<br />

nicht von einer frechen kleinen Rotznase ausfragen und<br />

beschimpfen. Ich will hören, was du auf dem Weg hierher gesehen<br />

und getan hast.«<br />

»Ich habe dir doch das blöde Alethiometer gebracht, oder?«<br />

platzte Lyra heraus, den Tränen nahe. »Auf dem ganzen Weg<br />

von Jordan bis hierher habe ich darauf aufgepaßt, es versteckt<br />

und behütet, egal was passierte, und ich habe gelernt, wie man<br />

es liest, und es den ganzen Weg hergebracht, obwohl ich auch<br />

hätte zu Hause bleiben und es mir bequem machen können,<br />

und du bedankst dich nicht mal und zeigst durch nichts, daß du<br />

dich freust, mich zu sehen. Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt<br />

getan hab. Aber ich hab’s getan, und ich hab immer weitergemacht,<br />

auch in Iofur Raknisons stinkendem Palast unter<br />

all den Bären hab ich weitergemacht, ganz allein, und ich hab<br />

Iofur durch eine List dazu überredet, daß er mit Iorek kämpft,<br />

damit ich deinetwegen hierherkommen kann… Und als du<br />

mich dann gesehen hast, bist du fast ohnmächtig umgefallen,<br />

als ob ich eine schreckliche Sache wäre, die du nie wieder sehen<br />

willst. Du bist kein Mensch, Lord Asriel. Du bist nicht mein<br />

Vater. Mein Vater würde mich nicht so behandeln. Väter lieben<br />

ihre Töchter doch. Du liebst mich nicht, und ich liebe dich<br />

nicht, und dabei bleibt es. Ich hab Farder Coram lieb, und ich<br />

hab Iorek Byrnison lieb; ich hab einen Panzerbären lieber als<br />

meinen Vater. Und ich wette, Iorek Byrnison hat mich lieber als<br />

du.«<br />

»Du hast eben selbst gesagt, daß er nur einen Befehl John<br />

411


Faas ausführt. Wenn du jetzt sentimental wirst, verschwende<br />

ich meine Zeit nicht damit, mit dir zu reden.«<br />

»Dann nimm doch dein blödes Alethiometer, und ich geh<br />

mit Iorek wieder.«<br />

»Wohin denn?«<br />

»Zum Palast zurück. Er kann gegen Mrs. Coulter und die<br />

Oblations-Behörde kämpfen, wenn sie kommen. Wenn er verliert,<br />

sterbe ich auch, aber das ist mir egal. Wenn er gewinnt,<br />

holen wir Lee Scoresby, und ich fahre in seinem Ballon weg<br />

und…«<br />

»Wer ist Lee Scoresby?«<br />

»Ein Aeronaut. Er hat uns hergebracht, und dann hatten wir<br />

einen Zusammenstoß. Bitte schön, hier hast du das Alethiometer.<br />

Es ist alles heil.«<br />

Lord Asriel machte keine Anstalten, das Instrument zu nehmen,<br />

deshalb legte Lyra es auf das Messinggitter der Feuerstelle.<br />

»Und eigentlich müßte ich dir auch sagen, daß Mrs. Coulter<br />

auf dem Weg nach Svalbard ist, und sobald sie hört, was mit<br />

Iofur Raknison passiert ist, kommt sie sicher hierher, in einem<br />

Zeppelin zusammen mit ganz vielen Soldaten. Und dann werden<br />

sie uns alle töten, auf Befehl des Magisteriums.«<br />

»Sie bekommen uns nicht in die Hände«, sagte Lord Asriel<br />

gelassen.<br />

Er wirkte so ruhig und gelöst, daß Lyras wilde Empörung<br />

schrumpfte.<br />

»Das weißt du nicht«, sagte sie unsicher.<br />

»Doch.«<br />

»Heißt das, du hast noch ein anderes Alethiometer?«<br />

»Dazu brauche ich kein Alethiometer. Jetzt will ich von deiner<br />

Reise hierher hören, Lyra. Bitte von Anfang an und ohne<br />

etwas auszulassen.«<br />

Lyra gehorchte. Sie begann damit, wie sie sich im Ruhezimmer<br />

versteckt hatte, und erzählte, wie die Gobbler Roger ent­<br />

412


führt hatten, wie sie zu Mrs. Coulter gekommen und was<br />

danach passiert war.<br />

Es war eine lange Geschichte, und als sie fertig war, sagte sie:<br />

»Eines wüßte ich gern, und ich finde, ich hab ein Recht darauf,<br />

es zu wissen, wie ich das Recht hatte zu wissen, wer ich bin. Und<br />

da du mir das nicht gesagt hast, beantworte mir zum Ausgleich<br />

jetzt meine Frage. Also: Was ist Staub? Und warum<br />

haben alle solche Angst davor?«<br />

Er sah sie an, als überlege er, ob sie verstehen würde, was er<br />

ihr sagen wollte. Noch nie hatte er sie so ernst angesehen,<br />

dachte sie; bis jetzt war er immer wie ein Erwachsener gewesen,<br />

der nachsichtig auf die Streiche eines Kindes herabsieht. Jetzt<br />

dagegen schien er sie einer Antwort für würdig zu halten.<br />

»Staub ist das, was das Alethiometer antreibt«, sagte er.<br />

»Ah… habe ich mir fast gedacht! Aber was noch? Wie hat<br />

man ihn entdeckt?«<br />

»Die Kirche wußte im Grunde schon immer davon. Dort<br />

predigt man seit Jahrhunderten von Staub, nur nannte man es<br />

anders. Aber vor einigen Jahren entdeckte ein Moskowiter<br />

namens Boris Michailowitsch Rusakow ein neues Elementarteilchen.<br />

Hast du von Elektronen, Photonen, Neutrinos und<br />

solchen Dingen gehört? Man nennt sie Elementarteilchen, weil<br />

man sie nicht weiter aufspalten kann; sie enthalten nur sich<br />

selbst. Gut, und dieses neue Elementarteilchen ließ sich zwar<br />

auch nicht aufspalten, aber es war nur sehr schwer meßbar, weil<br />

es auf keine der üblichen Arten reagierte. Am schwierigsten war<br />

für Rusakow zu verstehen, warum das neue Teilchen sich überall<br />

dort zu konzentrieren schien, wo Menschen waren, als ob es<br />

von uns angezogen würde, ganz besonders von Erwachsenen.<br />

Zwar zogen auch Kinder es an, aber nicht annähernd so stark,<br />

solange ihre Dæmonen noch keine feste Gestalt angenommen<br />

hatten. In der Zeit der Pubertät beginnen sie den Staub dann<br />

stärker anzuziehen, bis er sich genauso stark an sie heftet wie an<br />

413


Erwachsene. Nun haben alle Entdeckungen dieser Art Auswirkungen<br />

auf die Lehre der Kirche und müssen deshalb durch das<br />

Magisterium in Genf abgesegnet werden. Rusakows Entdekkung<br />

war aber so unwahrscheinlich und seltsam, daß der<br />

Inspektor des Geistlichen Disziplinargerichts argwöhnte, Rusakow<br />

sei vom Teufel besessen. Er führte in seinem Labor eine<br />

Teufelsaustreibung durch und verhörte Rusakow nach den<br />

Regeln der Inquisition, doch schließlich mußte die Kirche sich<br />

damit abfinden, daß Rusakow weder ein Lügner noch ein<br />

Betrüger war: Staub existierte tatsächlich.<br />

Damit standen sie vor dem Problem, daß sie entscheiden<br />

mußten, was Staub war. Und angesichts des Wesens der Kirche<br />

konnten sie nur eine Entscheidung treffen. Das Magisterium<br />

entschied, Staub sei der physikalische Beweis der Erbsünde.<br />

Weißt du, was das ist?«<br />

Lyra nagte auf ihren Lippen. Sie fühlte sich an Jordan erinnert,<br />

wenn sie Fragen zu etwas gestellt bekam, von dem sie im<br />

Unterricht einmal gehört hatte.<br />

»So ungefähr«, sagte sie.<br />

»Nein, du weißt es nicht. Geh an das Regal neben dem<br />

Schreibtisch und bringe mir die Bibel.«<br />

Lyra gehorchte und gab ihrem Vater das große, schwarze<br />

Buch.<br />

»Kennst du die Geschichte von Adam und Eva?«<br />

»Klar«, sagte sie. »Eva durfte den Apfel nicht essen, aber die<br />

Schlange führte sie in Versuchung, und dann tat sie es doch.«<br />

»Und was geschah dann?«<br />

»Hm… Sie wurden rausgeworfen. Gott warf sie aus dem<br />

Paradies heraus.«<br />

»Gott hatte ihnen verboten, von der Frucht zu essen, weil sie<br />

sonst sterben würden. Sie waren ja nackt im Garten, sie waren<br />

wie Kinder, und ihre Dæmonen konnten jede beliebige Gestalt<br />

annehmen. Die Geschichte geht so.«<br />

414


Er schlug das dritte Kapitel der Genesis auf und las:<br />

»Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den<br />

Früchten der Bäume im Garten;<br />

aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten<br />

hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie nicht an, daß<br />

ihr nicht sterbet!<br />

Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs<br />

des Todes sterben,<br />

sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset,<br />

werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie<br />

Gott und wissen, was gut und böse ist.<br />

Und das Weib sah, daß von dem Baum gut zu essen<br />

wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend,<br />

weil er dem Dæmon des Menschen seine wahrhafte<br />

Gestalt gab. Und sie nahm von der Frucht und aß<br />

und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er<br />

aß.<br />

Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie<br />

sahen die wahre Gestalt ihrer Dæmonen und sprachen<br />

mit ihnen.<br />

Doch als der Mann und das Weib ihre Dæmonen<br />

erkannten, wußten sie, daß ein großer Wandel über sie<br />

gekommen war, denn bis dahin waren sie eins gewesen<br />

mit den Geschöpfen der Erde und der Luft, und es hatte<br />

keinen Unterschied zwischen ihnen gegeben.<br />

Und sie sahen den Unterschied und wußten, was gut<br />

und böse war; sie schämten sich und flochten Feigenblätter<br />

zusammen und machten sich Schurze, um ihre Blöße<br />

zu bedecken.«<br />

Lord Asriel klappte das Buch zu.<br />

»Und so kam die Sünde in die Welt«, sagte er, »die Sünde, die<br />

Scham und der Tod. Das alles kam in dem Augenblick, in dem<br />

ihre Dæmonen eine feste Gestalt annahmen.«<br />

415


»Aber…« Lyra suchte nach Worten. »Aber die Geschichte ist<br />

doch gar nicht wahr, oder? Nicht wahr wie Chemie oder<br />

Maschinenbau, nicht diese Art von wahr. Adam und Eva gab es<br />

doch nicht wirklich? <strong>Der</strong> Cassington-Stipendiat meinte, das sei<br />

nur eine Art Märchen.«<br />

»Das Cassington-Stipendium wird der Tradition gemäß<br />

einem Freidenker verliehen; seine Aufgabe ist, den Glauben der<br />

anderen Wissenschaftler herauszufordern. Also sagt er natürlich<br />

so was. Aber stelle dir Adam und Eva als imaginäre Zahlen<br />

vor, wie die Wurzel aus minus eins: Man kann ihre Existenz<br />

letztlich nicht beweisen, aber wenn man sie in Gleichungen<br />

einbezieht, kann man alle möglichen Dinge rechnen, die man<br />

ohne sie nicht rechnen könnte. Jedenfalls lehrt die Kirche das<br />

seit Tausenden von Jahren. Und als Rusakow den Staub entdeckte,<br />

gab es endlich auch einen physikalischen Beweis dafür,<br />

daß sich etwas verändert, wenn Unschuld zu Erfahrung wird.<br />

Übrigens kommt die Bezeichnung Staub auch aus der Bibel.<br />

Zuerst sprach man von Rusakow-Teilchen, aber dann machte<br />

jemand auf einen merkwürdigen Vers gegen Ende des dritten<br />

Kapitels der Genesis aufmerksam, in dem Gott Adam verflucht,<br />

weil er von der Frucht gegessen hat.«<br />

Lord Asriel schlug die Bibel auf und zeigte Lyra das Stelle. Sie<br />

las:<br />

»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen,<br />

bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.<br />

Denn du bist Staub und sollst zu Staub werden.«<br />

»Den kirchlichen Gelehrten hat die Übersetzung dieses Verses<br />

immer Kopfzerbrechen bereitet«, sagte Lord Asriel. »Einige<br />

meinen, es dürfe nicht heißen ›du sollst zu Staub werden‹, sondern<br />

›du sollst Staub unterworfen sein‹, andere sagen, in Wirklichkeit<br />

handle es sich um das Eingeständnis Gottes, daß er<br />

selbst mit einem Teil seines Wesens ein Sünder sei. Jeder sagt<br />

etwas anderes, und das kann auch gar nicht anders sein, denn<br />

416


der Text ist verdorben. Aber es war ein so schönes Wort, deshalb<br />

nannte man die Teilchen kurzerhand Staub.«<br />

»Und wer sind die Gobbler?« fragte Lyra.<br />

»Die General-Oblations-Behörde… die Komplizen deiner<br />

Mutter. Wirklich klug von ihr, sich genau zum richtigen Zeitpunkt<br />

eine eigene Machtbasis zu schaffen, aber sie ist ja auch<br />

eine intelligente Frau, wie du sicher schon gemerkt hast. Das<br />

Magisterium hat nichts dagegen, wenn es alle möglichen verschiedenen<br />

Behörden gibt. Es kann sie gegeneinander ausspielen;<br />

wenn eine Behörde erfolgreich ist, tut man im Magisterium<br />

so, als habe man sie schon die ganze Zeit unterstützt, und wenn<br />

eine scheitert, tut man so, als handle es sich um lauter Verräter,<br />

die sowieso ohne Genehmigung gearbeitet hätten.<br />

Deine Mutter hat immer nach Macht gestrebt, mußt du wissen.<br />

Zuerst wollte sie sie auf normale Weise erlangen, durch<br />

Heirat, aber das klappte nicht, wie du wahrscheinlich gehört<br />

hast. Also mußte sie sich an die Kirche wenden. Natürlich<br />

konnte sie nicht denselben Weg einschlagen wie ein Mann und<br />

Priester werden und so weiter — sie brauchte eine besondere<br />

Methode. Sie mußte eine eigene Ordnung gründen, Beziehungen<br />

aufbauen, die sie dann spielen lassen konnte. Sich auf Staub<br />

zu spezialisieren war ein kluger Schachzug. Davor hatten alle<br />

Angst, und niemand wußte, was er dagegen tun konnte. Als sie<br />

also anbot, eine Untersuchung zu leiten, war man im Magisterium<br />

so erleichtert, daß man sie mit Geld und allen notwendigen<br />

Hilfsmitteln unterstützte.«<br />

»Aber sie schneiden —« Lyra brachte es nicht über sich, weiterzusprechen,<br />

es würgte sie regelrecht. »Du weißt, was sie getan<br />

haben! Warum hat die Kirche das zugelassen?«<br />

»Es gibt einen Präzedenzfall. Etwas Ähnliches wurde schon<br />

einmal gemacht. Weißt du, was das Wort Kastration bedeutet?<br />

Es bedeutet, daß man einem Jungen die Geschlechtsorgane<br />

abschneidet, so daß er sich nicht zu einem normalen Mann ent­<br />

417


wickeln kann. Ein Kastrat hat sein Leben lang eine hohe<br />

Sopranstimme, und die Kirche hatte auch nichts gegen diese<br />

Praxis: Kastraten hörten sich in der Kirchenmusik so schön an.<br />

Einige wurden große Sänger, wunderbare Künstler. Viele wurden<br />

aber nur dicke, aufgedunsene Männer, die eigentlich gar<br />

keine waren, und einige starben auch an den Folgen der Operation.<br />

Die Kirche schreckt vor einem kleinen Schnitt jedenfalls<br />

nicht zurück, und es gibt einen Präzedenzfall. Und heute kann<br />

man das ja viel hygienischer machen als damals, als man weder<br />

Betäubungsmittel noch sterile Verbände, noch entsprechende<br />

Pflege kannte. Es wäre eine vergleichsweise harmlose Sache.«<br />

»Ist es nicht!« sagte Lyra heftig. »Wirklich nicht!«<br />

»Nein, natürlich nicht. Deshalb mußten sie sich ja auch hoch<br />

im Norden verstecken, wo es dunkel und neblig ist. Die Kirche<br />

war natürlich froh, daß so jemand wie dein Mutter das Unternehmen<br />

leitete. Wer hätte einer so charmanten, reizenden und<br />

vernünftigen Frau mit so guten Beziehungen mißtrauen können?<br />

Zugleich war das Unternehmen ja geheim und inoffiziell,<br />

deshalb konnte das Magisterium im Bedarfsfall auch jede Verbindung<br />

mit ihr bestreiten.«<br />

»Aber wer kam überhaupt auf die Idee mit dem Schneiden?«<br />

»Das war deine Mutter. Sie vermutete, daß es einen Zusammenhang<br />

zwischen zwei Ereignissen zur Zeit der Pubertät gab:<br />

zwischen der Änderung der Gestalt des Dæmons und der Tatsache,<br />

daß die Jugendlichen Staub anzogen. Wenn man nun den<br />

Dæmon vom Körper trennte, würden wir dem Staub — der<br />

Erbsünde — vielleicht nicht mehr unterworfen sein. Die Frage<br />

war, ob es möglich ist, Dæmon und Körper zu trennen, ohne<br />

daß der Mensch stirbt. Deine Mutter hat viele Reisen unternommen<br />

und alle möglichen Dinge gesehen. Sie ist auch in<br />

Afrika gewesen. Die Afrikaner haben eine Methode, durch die<br />

sie Menschen zu Sklaven machen, zu sogenannten Zombies. Das<br />

sind willenlose Geschöpfe, die Tag und Nacht arbeiten, ohne<br />

418


wegzurennen oder sich zu beklagen. Sie sehen aus wie Leichen…«<br />

»Menschen ohne Dæmon!«<br />

»Genau. Deine Mutter wußte also, daß es möglich war, beides<br />

zu trennen.«<br />

»Und… Tony Costa hat mir von schrecklichen Gespenstern<br />

erzählt, die es in den Wäldern im Norden gibt. Wahrscheinlich<br />

sind das auch Menschen ohne Dæmon.«<br />

»Richtig. Jedenfalls entstand aus solchen Ideen und aus der<br />

Besessenheit der Kirche mit der Erbsünde die General-Oblations-Behörde.«<br />

Lord Asriels Dæmon zuckte mit den Ohren, und er legte der<br />

Leopardin die Hand auf den schönen Kopf.<br />

»Noch etwas geschah, wenn sie den Schnitt machten«, fuhr<br />

er fort, »auch wenn sie es nicht merkten. Die Energie, die Körper<br />

und Dæmon verbindet, ist ungeheuer stark. Wird der<br />

Schnitt gemacht, wird diese Energie im Bruchteil einer<br />

Sekunde freigesetzt. Man hat das nicht bemerkt, weil man diese<br />

Energie falsch als Schock, Abscheu oder moralische Empörung<br />

interpretierte und sich antrainierte, dabei nichts zu empfinden.<br />

Man begriff also nicht, was man mit dieser Energie anstellen<br />

konnte, und dachte nicht daran, sie nutzbar zu machen…«<br />

Lyra konnte nicht mehr stillsitzen. Sie stand auf, ging zum<br />

Fenster und starrte blicklos in die weite, dunkle Ödnis hinaus.<br />

Es gab so viel Grausamkeit. Egal, wie wichtig es war, das mit der<br />

Erbsünde herauszufinden: Was man Tony Makarios und den<br />

anderen Kindern angetan hatte, war zu grausam. Dafür gab es<br />

keine Rechtfertigung.<br />

»Und was hast du getan?« fragte sie. »Hast du auch Daemonen<br />

abgeschnitten?«<br />

»Ich interessiere mich für etwas ganz anderes. Ich glaube, die<br />

Oblations-Behörde geht nicht weit genug. Ich möchte zur<br />

Quelle des Staubes vorstoßen.«<br />

419


»Zur Quelle? Wo kommt der Staub denn her?«<br />

»Von jenem anderen Universum, das wir durch die Aurora<br />

sehen können.«<br />

Lyra drehte sich zu ihm um. Entspannt lehnte ihr Vater in<br />

seinem Sessel, aber aus seinen Augen sprachen eine ungezügelte<br />

Kraft und eine Wildheit, die der seines Dæmons ebenbürtig<br />

war. Sie liebte ihn nicht, und sie konnte ihm nicht trauen, aber<br />

sie bewunderte ihn und den extravaganten Luxus, den er in dieser<br />

Einöde zusammengetragen hatte, und seinen gewaltigen<br />

Ehrgeiz.<br />

»Was ist das für ein anderes Universum?« fragte sie.<br />

»Eine von Milliarden von Welten, die nebeneinander existieren.<br />

Die Hexen wissen seit Jahrhunderten davon, aber die ersten<br />

Theologen, die die Existenz dieser Welten mathematisch<br />

bewiesen, wurden vor gut fünfzig Jahren exkommuniziert.<br />

Dabei existieren sie, unbestreitbar. Allerdings hielt es bisher<br />

keiner für möglich, von einer Welt in die andere hinüberzutreten.<br />

Dadurch, so glaubten wir, würden elementare Gesetze verletzt.<br />

Nun, wir hatten unrecht. Es gelang uns, die Welt da oben<br />

zu sehen. Und wenn Licht dort hinüberkommt, können wir das<br />

auch. Wir mußten einfach erst lernen, diese Welt zu sehen, Lyra,<br />

wie du gelernt hast, das Alethiometer zu benutzen.<br />

Diese Welt entstand nun wie jede andere Welt als Folge einer<br />

Möglichkeit. Es ist, als würde man eine Münze werfen: Sie kann<br />

mit Kopf oder Zahl herunterfallen, aber wir wissen es erst,<br />

wenn sie heruntergefallen ist. Liegt der Kopf oben, heißt das,<br />

die Möglichkeit, daß die Zahl oben liegt, ist ausgeschieden. Bis<br />

zu diesem Moment waren beide Möglichkeiten gleichberechtigt.<br />

Aber in einer anderen Welt liegt die Zahl oben. Wenn das<br />

geschieht, brechen die beiden Welten auseinander. Ich verwende<br />

das Beispiel mit der Münze zur Veranschaulichung. Daß<br />

bestimmte Möglichkeiten ausscheiden, passiert auch auf der<br />

420


Ebene der Elementarteilchen auf genau dieselbe Art: Im einen<br />

Moment sind noch mehrere Dinge möglich, im nächsten wird<br />

aus einer Möglichkeit Wirklichkeit, und die anderen Möglichkeiten<br />

gibt es nicht mehr. Es sei denn, es entstehen andere Welten,<br />

in denen diese Möglichkeiten verwirklicht wurden.<br />

Und ich werde die Welt jenseits der Aurora betreten, weil ich<br />

glaube, daß aus ihr der Staub in diese Welt kommt. Du hast die<br />

Lichtbilder gesehen, die ich den Wissenschaftlern im Ruhezimmer<br />

gezeigt habe. Du hast die Stadt selbst gesehen. Wenn<br />

Licht die Barriere zwischen den Welten überwinden kann,<br />

wenn der Staub das kann und wenn wir diese Stadt sehen können,<br />

dann können wir auch eine Brücke hinüberbauen und sie<br />

überqueren. Dazu braucht man allerdings einen ungeheuren<br />

Schub an Energie. Aber ich kann es schaffen. Irgendwo von da<br />

draußen kommen Staub, Tod, Sünde, Elend und die ganze Zerstörungswut<br />

auf dieser Welt. Die Menschen können nichts<br />

sehen, ohne es gleich zerstören zu wollen, Lyra. Das ist die<br />

eigentliche Erbsünde. Und ich werde sie vernichten. <strong>Der</strong> Tod<br />

wird sterben.«<br />

»Haben sie dich deshalb hier eingesperrt?«<br />

»Ja. Sie haben schreckliche Angst. Und mit gutem Grund.«<br />

Er stand auf, und auch sein Dæmon erhob sich, stolz, schön<br />

und tödlich. Lyra saß regungslos da. Sie hatte Angst vor ihrem<br />

Vater; zugleich bewunderte sie ihn zutiefst, und sie hielt ihn für<br />

völlig verrückt. Aber durfte sie sich ein Urteil anmaßen?<br />

»Geh schlafen«, sagte er. »Thorold zeigt dir dein Zimmer.«<br />

Er wandte sich zum Gehen.<br />

»Du hast das Alethiometer liegenlassen«, sagte sie.<br />

»Ach ja, aber ich brauche es jetzt eigentlich gar nicht«, sagte<br />

er. »Ohne die Bücher würde es mir sowieso nichts nützen. Ich<br />

glaube mehr, der Rektor von Jordan wollte es dir geben. Hat er<br />

wirklich gesagt, du solltest es mir bringen?«<br />

»Ja, natürlich!« sagte sie. Aber dann dachte sie noch einmal<br />

421


nach, und ihr fiel ein, daß der Rektor das nicht gesagt hatte. Sie<br />

hatte es die ganze Zeit angenommen, denn warum hätte er es<br />

ihr sonst geben sollen? »Nein«, sagte sie, »ich weiß nicht. Ich<br />

dachte…«<br />

»Tja, ich will es nicht. Es gehört dir, Lyra.«<br />

»Aber…«<br />

»Gute Nacht, Kind.«<br />

Sprachlos und zu verwirrt, um eine der vielen Fragen stellen<br />

zu können, die sie bedrängten, nahm Lyra das Alethiometer<br />

und wickelte es in den schwarzen Samt. Am Feuer sitzend sah<br />

sie ihm nach, wie er das Zimmer verließ.<br />

422


Zweiundzwanzig<br />

Verrat<br />

Sie wachte auf, weil ein Fremder sie am Arm schüttelte. Erst als<br />

Pantalaimon hochfuhr und knurrte, erkannte sie Thorold. Er<br />

hielt eine Naphthalampe, und seine Hand zitterte.<br />

»Miss… Miss… stehen Sie schnell auf. Ich weiß nicht, was ich<br />

tun soll. Er hat keine Anweisungen hinterlassen. Ich glaube, er<br />

ist verrückt, Miss.«<br />

»Was? Was ist passiert?«<br />

»Lord Asriel, Miss. Er war wie im Delirium, nachdem Sie zu<br />

Bett gegangen sind. Ich habe ihn noch nie so rasend erlebt. Er<br />

hat eine Menge Instrumente und Batterien in einen Schlitten<br />

gepackt, die Hunde angespannt und ist fort. Aber er hat den<br />

Jungen dabei, Miss!«<br />

»Roger? Er hat Roger mitgenommen?«<br />

»Er sagte, ich solle ihn wecken und anziehen, und ich habe<br />

ihm nicht widersprochen… das habe ich nie… der Junge fragte<br />

die ganze Zeit nach Ihnen, Miss… aber Lord Asriel wollte nur<br />

ihn… wissen Sie noch, wie Sie durch die Tür traten, Miss? Wie<br />

er sie sah und seinen Augen nicht trauen wollte und sagte, sie<br />

sollten verschwinden?«<br />

Lyras Kopf war ein solches Durcheinander aus Erschöpfung<br />

und Angst, daß sie nichts denken konnte und nur »Ja? ja?« sagte.<br />

»Das war, weil er ein Kind brauchte, um sein Experiment zu<br />

423


eenden, Miss! Und Lord Asriel hat eine ganz besondere Art,<br />

sich zu beschaffen, was er braucht, er verlangt es einfach und<br />

schon…«<br />

In Lyras Kopf brach ein Aufruhr los, als ob sie versuchte,<br />

etwas, das sie wußte, aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen.<br />

Sie stieg aus dem Bett und wollte nach ihren Kleidern greifen,<br />

als sie plötzlich zusammenbrach und sich ihr ein wilder<br />

Schrei der Verzweiflung entrang. Zwar war es Lyra, die schrie,<br />

aber der Schrei war größer als sie, gleichsam als schreie die Verzweiflung<br />

selbst. Ihr waren Lord Asriels Worte eingefallen: Die<br />

Energie, die Körper und Dæmon verbindet, ist ungeheuer stark, und<br />

um die Kluft zwischen den Welten zu überqueren, brauche<br />

man einen ungeheuren Schub an Energie…<br />

Sie hatte soeben gemerkt, was sie getan hatte.<br />

Sie hatte sich bis hierher durchgekämpft, um Lord Asriel<br />

etwas zu bringen, und hatte geglaubt, zu wissen, was er<br />

brauchte. Dabei war es überhaupt nicht das Alethiometer. Lord<br />

Asriel brauchte ein Kind.<br />

Sie hatte ihm Roger gebracht.<br />

Deshalb hatte er, als er sie gesehen hatte, geschrien: »Ich habe<br />

nicht nach dir geschickt!« Er hatte nach einem Kind geschickt,<br />

und das Schicksal hatte ihm die eigene Tochter gebracht. Das<br />

hatte er zumindest geglaubt, bis sie zur Seite getreten und sein<br />

Blick auf Roger gefallen war.<br />

Lyra litt Seelenqualen. Sie hatte Roger retten wollen, dabei<br />

hatte sie die ganze Zeit alles getan, ihn zu verraten…<br />

Sie zitterte und schluchzte, rasend vor Schmerz. Es durfte<br />

nicht wahr sein.<br />

Thorold versuchte, sie zu trösten, aber er kannte den Grund<br />

ihrer Qual nicht und konnte ihr nur nervös die Schulter tätscheln.<br />

»Iorek…«, schluchzte sie und stieß den Diener zur Seite. »Wo<br />

ist Iorek Byrnison? <strong>Der</strong> Bär? Ist er noch draußen?«<br />

424


<strong>Der</strong> alte Mann zuckte hilflos die Schultern.<br />

»So hilf mir doch!« schrie sie, zitternd vor Schwäche und<br />

Angst. »Hilf mir beim Anziehen. Ich muß weg. Bitte! Mach<br />

schnell!«<br />

Thorold stellte die Lampe ab und tat, wie ihm geheißen.<br />

Wenn Lyra in diesem gebieterischen Ton Befehle erteilte, war<br />

sie auch mit tränennassem Gesicht und zitternden Lippen<br />

ihrem Vater sehr ähnlich. Während Pantalaimon mit dem<br />

Schwanz heftig auf den Boden schlug und sein Fell geradezu<br />

Funken sprühte, brachte Thorold Lyra eilends ihre steifen, stinkenden<br />

Pelze und half ihr beim Anziehen. Sobald alle Knöpfe<br />

zu und alle losen Enden festgesteckt waren, ging Lyra zur Tür<br />

und öffnete sie. Die Kälte traf ihren Hals wie ein Schwert, und<br />

die Tränen auf ihren Wangen gefroren sofort.<br />

»Iorek!« rief sie. »Iorek Byrnison! Komm her, denn ich brauche<br />

dich!«<br />

Im Schnee schüttelte sich etwas, Metall klapperte, und der<br />

Bär stand vor ihr. Er hatte seelenruhig unter dem fallenden<br />

Schnee geschlafen. Im Licht der Lampe, die Thorold ans Fenster<br />

hielt, sah Lyra den langen Kopf mit den dunklen Augenhöhlen<br />

und einen Schimmer weißen Fells unter dem rot-schwarzen<br />

Metall, und sie hätte Iorek am liebsten umarmt und sich trostsuchend<br />

an ihn gedrückt, an seinen eisernen Helm und sein<br />

vereistes Fell.<br />

»Also?« sagte er.<br />

»Wir müssen hinter Lord Asriel her. Er hat Roger mitgenommen<br />

und will… ich kann gar nicht daran denken — Iorek,<br />

ich flehe dich an, mach ganz schnell!«<br />

»Steig auf«, sagte er, und sie sprang auf seinen Rücken.<br />

Er brauchte nicht zu fragen, welche Richtung er einschlagen<br />

sollte: Schlittenspuren führten schnurgerade aus dem Hof und<br />

über die Ebene, und Iorek begann ihnen nachzutraben. Lyra<br />

hatte sich seine Bewegungen inzwischen so sehr zu eigen<br />

425


gemacht, daß sie ganz automatisch das Gleichgewicht hielt.<br />

Schneller als je zuvor rannte Iorek über die dicke Schneedecke,<br />

die den felsigen Grund bedeckte, und die Platten seines Panzers<br />

verschoben sich unter Lyra im regelmäßigen Rhythmus seiner<br />

großen Schritte.<br />

Hinter ihnen folgten leichtfüßig die anderen Bären mit dem<br />

Feuerwerfer. <strong>Der</strong> Weg lag deutlich vor ihnen, denn der Mond<br />

stand hoch am Himmel, und das Licht, mit dem er die verschneite<br />

Landschaft übergoß, war hell und tauchte die Welt in<br />

glänzendes Silber und tiefes Schwarz. Die Schlittenspuren liefen<br />

geradewegs auf eine Kette wildgezackter Berge zu, merkwürdiger,<br />

spitz zulaufender Formen, die so schwarz wie das<br />

Samttuch des Alethiometers in den Himmel schnitten. Von<br />

dem Schlitten selbst war nichts zu sehen — oder bewegte sich<br />

ganz in der Ferne an der Flanke des höchsten Berges etwas?<br />

Angestrengt starrte Lyra geradeaus, und Pantalaimon flog, so<br />

hoch er konnte, und spähte mit den scharfen Augen einer Eule<br />

in dieselbe Richtung.<br />

»Ja«, sagte er einen Augenblick später, als er wieder auf ihrem<br />

Handgelenk saß, »es ist Lord Asriel. Er treibt seine Hunde an<br />

wie wahnsinnig, und hinten im Schlitten sitzt ein Kind…«<br />

Lyra merkte, wie Iorek Byrnison seinen Schritt änderte.<br />

Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er wurde langsamer<br />

und schwenkte den erhobenen Kopf nach links und rechts.<br />

»Was ist los?« fragte Lyra.<br />

Iorek antwortete nicht, sondern lauschte aufmerksam. Lyra<br />

hörte nichts. Doch dann hörte sie etwas: ein geheimnisvolles,<br />

weit entferntes Knistern und Rauschen. Sie hatte das Geräusch<br />

schon einmal gehört: das Rauschen der Aurora. Aus dem Nichts<br />

tauchte ein heller Schein auf, der wie ein schimmernder Vorhang<br />

vor dem nördlichen Himmel hing. All die unsichtbaren<br />

Milliarden und Billionen geladener Teilchen, darunter vielleicht<br />

auch Staub, trugen zu jenem Leuchten in den oberen<br />

426


Schichten der Atmosphäre bei. Offenbar stand ein außergewöhnliches<br />

Spektakel bevor, wie Lyra es noch nicht gesehen<br />

hatte, als ob die Aurora wüßte, was für ein Drama sich hier<br />

unten abspielte, und es mit entsprechend eindrucksvollen<br />

Effekten ausleuchten wollte.<br />

Doch die Bären sahen nicht nach oben. Ihre Aufmerksamkeit<br />

galt ausschließlich dem Erdboden. Also war es nicht die<br />

Aurora, die Ioreks Aufmerksamkeit fesselte. Er stand jetzt völlig<br />

bewegungslos da, und Lyra glitt von seinem Rücken, da sie<br />

wußte, daß seine Sinne sich sonst nicht frei entfalten konnten.<br />

Irgend etwas beunruhigte ihn.<br />

Lyra drehte sich um und sah über die endlos weite Ebene<br />

zurück zu Lord Asriels Haus und zu dem Gebirge, das sie am<br />

Vortag überquert hatten, doch bemerkte sie nichts Verdächtiges.<br />

Das Leuchten der Aurora wurde unterdessen immer stärker.<br />

Die ersten Schleier zitterten und rasten zur Seite, und über<br />

ihnen falteten und entfalteten sich immer neue bizarre Vorhänge,<br />

die von Minute zu Minute größer wurden und intensiver<br />

leuchteten; Bögen und Schlingen wirbelten von Horizont<br />

zu Horizont und schickten ihr gleißendes Licht bis zum Zenit.<br />

Deutlicher denn je hörte Lyra das kosmische Singen und Brausen<br />

gewaltiger, unsichtbarer Kräfte.<br />

»Hexen!« rief die Stimme eines Bären, und Lyra wandte sich<br />

froh und erleichtert um.<br />

Doch eine harte Schnauze stieß sie zurück, und atemlos und<br />

in stummem Entsetzen sah sie, daß an dem Platz, an dem sie<br />

eben noch gestanden hatte, das Ende eines grüngefiederten<br />

Pfeiles aus dem Schnee ragte. Spitze und Schaft versanken im<br />

Schnee.<br />

Unmöglich! dachte sie schwach, aber es stimmte, denn ein<br />

zweiter Pfeil prallte klappernd von Ioreks Rüstung, der über ihr<br />

stand, ab. Das waren nicht Serafina Pekkalas Hexen, sondern<br />

Hexen eines anderen Clans. Ein Dutzend oder mehr kreisten<br />

427


über ihnen, stießen herunter, um ihre Pfeile abzuschießen, und<br />

stiegen wieder auf. Lyra fluchte mit den schlimmsten Wörtern,<br />

die sie kannte.<br />

Iorek Byrnison erteilte rasche Befehle. Die Bären waren ganz<br />

offensichtlich erfahren im Kampf gegen Hexen, denn sie hatten<br />

sich sofort zur Verteidigung formiert, während die Hexen<br />

ebenfalls ohne Verzug zum Angriff übergingen. Sie konnten<br />

nur aus nächster Entfernung genau zielen, und um keine Pfeile<br />

zu verschwenden, stießen sie herunter, schössen am tiefsten<br />

Punkt ihres Abwärtsfluges und stiegen dann sofort wieder hinauf.<br />

Wenn sie allerdings am tiefsten Punkt angelangt und ihre<br />

Hände mit Pfeil und Bogen beschäftigt waren, waren sie verwundbar,<br />

und die Bären schnellten mit ausgestreckten Tatzen<br />

hoch, um sie herunterzuholen. Mehr als eine Hexe stürzte ab<br />

und wurde sofort getötet.<br />

Lyra duckte sich neben einem Felsen, um sich vor den Hexen<br />

zu schützen. Einige schössen auf sie, aber die Pfeile verfehlten<br />

ihr Ziel weit; und als Lyra wieder aufblickte, sah sie, daß der<br />

größte Teil des Hexenschwarmes kehrtmachte und zurückflog.<br />

Lyra war erleichtert, allerdings nur kurz. Aus der Richtung,<br />

in die die Hexen flogen, sah sie zahlreiche neue kommen, die<br />

sich ihnen anschlössen. In ihrer Mitte schwebte eine Reihe heller<br />

Lichter, und über der weiten, von der Aurora überstrahlten<br />

Ebene von Svalbard hörte Lyra ein Geräusch, das sie kannte und<br />

fürchtete: das harte Klopfen eines Gasmotors. Dort näherte sich<br />

der Zeppelin mit Mrs. Coulter und ihren Soldaten an Bord.<br />

Iorek knurrte einen Befehl, und die Bären formierten sich<br />

sofort neu. Im gespenstisch flackernden Licht des Himmels sah<br />

Lyra, wie sie eilig den Feuerwerfer vom Schlitten luden. Die<br />

Vorhut des neuen Hexenschwarmes hatte die Bären jetzt auch<br />

entdeckt, und die Hexen stießen herunter und überschütteten<br />

sie mit einem Pfeilhagel. Die Bären vertrauten aber ihren<br />

Rüstungen und fuhren unbeeindruckt fort, den Feuerwerfer<br />

428


mit seinem langen, schräg zum Himmel aufragenden Arm, der<br />

Schale oder Schüssel mit einem Durchmesser von einem Meter<br />

und dem großen eisernen Behälter, aus dem es rauchte und<br />

dampfte, aufzubauen.<br />

Lyra sah, wie aus dem eisernen Behälter eine Stichflamme<br />

herausschlug, und dann trat die Mannschaft der Bären auch<br />

schon mit geübten Handgriffen in Aktion. Zwei holten den<br />

langen Arm des Feuerwerfers nieder, ein anderer schaufelte das<br />

Feuer auf die Schale, und auf Kommando ließen sie den Arm<br />

hochschnellen, und der schleuderte den brennenden Schwefel<br />

hoch in den dunklen Himmel hinauf.<br />

Die Hexen flogen so dicht gedrängt über ihnen, daß schon<br />

beim ersten Schuß drei in Flammen aufgingen. Lyra merkte<br />

allerdings bald, daß das eigentliche Ziel der Bären der Zeppelin<br />

war. <strong>Der</strong> Pilot hatte entweder noch nie einen Feuerwerfer gesehen,<br />

oder er unterschätzte dessen Wirkung. Jedenfalls flog er<br />

weiter geradeaus auf die Bären zu, ohne aufzusteigen oder<br />

einen Millimeter vom Kurs abzuweichen.<br />

Bald wurde klar, daß auch die Besatzung des Zeppelins über<br />

eine wirkungsvolle Waffe verfügte, ein auf die Nase der Gondel<br />

montiertes Maschinengewehr. Lyra sah, wie Funken von den<br />

Rüstungen einiger Bären stoben und wie die Bären sich duckten,<br />

noch bevor sie das Rattern des Gewehrs hörte. Sie schrie vor<br />

Angst auf.<br />

»Den Bären passiert nichts«, sagte Iorek Byrnison. »Durch so<br />

einen Panzer kommt man mit kleinen Kugeln nicht durch.«<br />

Sie setzten wieder den Feuerwerfer ein. Diesmal flog der<br />

grell aufleuchtende Schwefel senkrecht nach oben auf die Gondel<br />

zu und zerbarst dort in einer Kaskade brennender Teilchen,<br />

die nach allen Seiten flogen. <strong>Der</strong> Zeppelin legte sich nach links<br />

und entfernte sich dröhnend in einem großen Bogen. Dann<br />

kam er wieder auf die Bären zu, die den Feuerwerfer neu luden,<br />

so schnell sie konnten. Als der Zeppelin näher kam, senkte sich<br />

429


der Arm des Feuerwerfers knarrend. Das Maschinengewehr<br />

hustete und spuckte, zwei Bären fielen um, und Iorek Byrnison<br />

knurrte leise etwas. Als das Luftschiff fast genau senkrecht über<br />

ihnen stand, brüllte ein Bär einen Befehl, und von einer Feder<br />

getrieben schnellte der Arm des Feuerwerfers wieder nach<br />

oben.<br />

Diesmal schleuderte er den Schwefel gegen die gasgefüllte<br />

Hülle des Zeppelins. Über einen festen Rahmen war eine Haut<br />

aus geölter Seide gespannt, und diese Haut hielt zwar kleineren<br />

Kratzern stand, nicht aber einer zentnerschweren Ladung glühenden<br />

Gesteins. Die Seide riß von oben bis unten auf, und<br />

Schwefel und Wasserstoff verbanden sich in einem furchtbaren<br />

Flammenmeer.<br />

Schlagartig wurde die Seide durchsichtig, und das Skelett des<br />

Zeppelins hob sich dunkel vor einem Inferno aus Orange, Rot<br />

und Gelb ab. Wie von Geisterhand gehalten, hing es noch einen<br />

Moment in der Luft, dann sank es fast widerwillig und schlug<br />

auf dem Boden auf. Kleine Gestalten, die sich schwarz vor dem<br />

Schnee und dem Feuer abhoben, rannten stolpernd davon, und<br />

die Hexen kamen heruntergeflogen, um sie von den Flammen<br />

wegzuzerren. Eine Minute später war der Zeppelin nur noch<br />

eine Masse aus verbogenem Metall, eingehüllt in eine Rauchglocke,<br />

aus der ab und zu noch Flammen schlugen.<br />

Die Soldaten an Bord und auch die anderen Passagiere —<br />

Lyra war zwar zu weit weg, um Mrs. Coulter erkennen zu können,<br />

aber sie wußte, daß sie da war — verloren keine Zeit. Mit<br />

Hilfe der Hexen zogen sie das Maschinengewehr aus dem<br />

schwelenden Haufen, stellten es auf und setzten den Kampf am<br />

Boden fort.<br />

»Wir müssen weiter«, sagte Iorek. »Die werden noch lange<br />

aushaken.«<br />

Er brüllte etwas, und eine Gruppe Bären trennte sich von der<br />

Hauptmacht und griff die Tataren auf der rechten Flanke an.<br />

430


Lyra spürte, wie gern Iorek sich mit ihnen ins Getümmel<br />

gestürzt hätte, aber in ihr schrie es unablässig: Weiter! Weiter!,<br />

und sie hatte die ganze Zeit Bilder von Roger und Lord Asriel<br />

vor Augen. Iorek Byrnison wußte das. Er wandte sich vom<br />

Kampf ab und dem vor ihnen liegenden Berg zu und überließ<br />

es seinen Bären, die Tataren aufzuhalten.<br />

Sie kletterten weiter. Lyra spähte angestrengt voraus, aber<br />

nicht einmal Pantalaimons Eulenaugen konnten an der Flanke<br />

des Berges, den sie emporstiegen, eine Bewegung ausmachen.<br />

Jedoch waren Lord Asriels Schlittenspuren deutlich zu sehen,<br />

und Iorek folgte ihnen im Eiltempo. Mit federnden Sprüngen<br />

setzte er durch den Schnee und wirbelte ihn hoch auf. Was jetzt<br />

hinter ihnen geschah, ging sie nichts mehr an. Lyra hatte es<br />

zurückgelassen. Sie hatte das Gefühl, die Welt überhaupt zu<br />

verlassen, so konzentriert auf ihre Aufgabe und entfernt von<br />

allem anderen war sie, so hoch stiegen sie hinauf und so seltsam<br />

und gespenstisch war das Licht, das sie umfloß.<br />

»Iorek«, sagte sie, »wirst du Lee Scoresby finden?«<br />

»Lebend oder tot, ich finde ihn.«<br />

»Und wenn du Serafina Pekkala siehst…«<br />

»Ich sage ihr, was du getan hast.«<br />

»Danke, Iorek.«<br />

Ein Zeitlang sprachen sie nicht mehr. Lyra verfiel in eine Art<br />

Trance zwischen Schlafen und Wachen, in einen Wachtraum,<br />

in dem ihr war, als trügen die Bären sie zu einer Stadt in den<br />

Sternen.<br />

Gerade wollte sie Iorek Byrnison den Traum erzählen, als er<br />

seinen Schritt verlangsamte und stehenblieb.<br />

»Die Spuren gehen weiter«, sagte er, »aber ich kann ihnen<br />

nicht folgen.«<br />

Lyra stieg ab und trat neben ihn. Iorek stand am Rand eines<br />

Abgrunds. Es war schwer zu sagen, ob es sich um eine Spalte im<br />

Eis oder im Felsen handelte, und im Grunde war es auch egal.<br />

431


Entscheidend war, daß die Spalte ins bodenlose Dunkel<br />

abstürzte.<br />

Die Spuren von Lord Asriels Schlitten führten bis an den<br />

Rand… und hinüber, über eine Brücke aus zusammengebackenem<br />

Schnee.<br />

<strong>Der</strong> schwere Schlitten hatte der Brücke allerdings deutlich<br />

zugesetzt. Sie hatte am anderen Ende der Kluft einen Riß, und<br />

auf der ihnen zugewandten Seite des Risses hatte sie sich einen<br />

halben Meter gesenkt. Das Gewicht eines Kindes mochte sie<br />

noch tragen, das Gewicht eines Panzerbären sicher nicht mehr.<br />

Lord Asriels Spuren führten jenseits der Brücke hangaufwärts.<br />

Wenn Lyra weiter wollte, mußte sie allein gehen.<br />

Sie sah Iorek Byrnison an.<br />

»Ich muß hinüber«, sagte sie. »Danke für alles, was du getan<br />

hast. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich ihn einhole. Vielleicht<br />

müssen wir ja sowieso alle sterben, ob ich ihn nun einhole<br />

oder nicht. Aber wenn ich zurückkomme, dann bedanke ich<br />

mich noch richtig bei dir, König Iorek Byrnison.«<br />

Sie legte ihm die Hand auf den Kopf, und er ließ es geschehen<br />

und nickte sanft.<br />

»Leb wohl, Lyra Listenreich«, sagte er.<br />

Ihr Herz pochte schmerzhaft vor Liebe, als sie sich umdrehte<br />

und den Fuß auf die Brücke setzte. <strong>Der</strong> Schnee knackte unter<br />

ihr, und Pantalaimon flog hinüber und ließ sich am anderen<br />

Ende der Brücke im Schnee nieder, um ihr von dort aus Mut zu<br />

machen. Lyra setzte einen Fuß vor den anderen und überlegte<br />

bei jedem Schritt, ob sie losrennen und hinüberspringen sollte<br />

oder ob sie besser langsam ging und so leicht wie möglich auftrat,<br />

wie sie es jetzt tat. Auf halbem Weg hinüber knackte es<br />

erneut laut. Hinter ihrem Fuß löste sich ein Stück und verschwand<br />

lautlos im Abgrund, und die Brücke sackte wieder<br />

einige Zentimeter ab.<br />

Lyra erstarrte. Pantalaimon saß in Gestalt eines Leoparden<br />

432


geduckt am andere Ende, bereit hinunterzuspringen, um sie<br />

aufzuhalten.<br />

Die Brücke hielt. Lyra machte einen Schritt, dann noch<br />

einen, und dann spürte sie, wie unter ihren Füßen etwas nachgab,<br />

und sprang mit aller Kraft ans andere Ende. Sie landete in<br />

dem Augenblick bäuchlings im Schnee, in dem hinter ihr die<br />

gesamte Brücke mit einem leisen Sausen in die Spalte stürzte.<br />

Pantalaimon hatte seine Krallen in ihren Pelz geschlagen<br />

und hielt sie fest.<br />

Eine Minute später machte sie die Augen auf und entfernte<br />

sich kriechend vom Rand der Spalte. Zurück konnte sie nicht<br />

mehr. Sie stand auf und grüßte den Bären, der sie beobachtete,<br />

mit erhobener Hand. Iorek Byrnison richtete sich auf die Hinterbeine<br />

auf und grüßte ebenfalls, dann wandte er sich um und<br />

eilte hangabwärts, um seinen Untertanen im Kampf gegen Mrs.<br />

Coulter und die Soldaten aus dem Zeppelin beizustehen.<br />

Lyra war allein.<br />

433


Dreiundzwanzig<br />

Die Brücke zu den Sternen<br />

Sobald Iorek Byrnison außer Sicht war, überkam Lyra eine<br />

ungeheure Erschöpfung. Blind drehte sie sich um und tastete<br />

nach Pantalaimon.<br />

»Ach Pan, lieber Pan, ich kann nicht mehr! Ich habe solche<br />

Angst… und ich bin so müde… der lange Weg und jetzt diese<br />

Todesangst! Ich wünschte, jemand anders wäre an meiner<br />

Stelle, wirklich!«<br />

Ihr Dæmon kuschelte sich in Gestalt einer Katze warm und<br />

tröstlich an ihren Hals.<br />

»Ich weiß einfach nicht mehr, was wir tun sollen«, schluchzte<br />

Lyra. »Es ist zuviel für uns, Pan, wir können doch nicht…«<br />

Sie klammerte sich an ihn und wiegte sich langsam vor und<br />

zurück, ihr heftiges Schluchzen tönte laut über den endlosen<br />

Schnee.<br />

»Und selbst wenn… wenn Mrs. Coulter zuerst zu Roger<br />

käme, würde ihn das auch nicht retten, weil sie ihn wieder nach<br />

Bolvangar oder einen noch schlimmeren Ort bringen würde,<br />

und mich würden sie aus Rache umbringen… Warum tun sie<br />

Kindern so etwas an, Pan? Hassen sie Kinder denn so sehr, daß<br />

sie sie auseinanderreißen wollen? Warum tun sie das bloß?«<br />

Aber Pantalaimon wußte auch keine Antwort darauf, er<br />

konnte sich nur an Lyra drücken. Und ganz allmählich ließ der<br />

434


Sturm der Gefühle nach, und Lyra kam wieder zu sich. Sie war<br />

immer noch Lyra, auch wenn sie fror und Angst hatte.<br />

»Ich wünschte…«, sagte sie und brach ab. Wünschen allein<br />

brachte gar nichts. Ein letzter Schluchzer schüttelte sie, dann<br />

war sie bereit weiterzugehen.<br />

<strong>Der</strong> Mond war untergegangen, und der südliche Himmel<br />

war tiefschwarz, obwohl Milliarden von Sternen an ihm funkelten<br />

wie Diamanten auf Samt. Ihr Licht wurde freilich bei<br />

weitem, ja hundertfach überstrahlt vom Licht der Aurora. Nie<br />

hatte Lyra sie so hell und dramatisch leuchten sehen; mit jedem<br />

Zucken und Zittern tanzten neue wunderbare Lichterscheinungen<br />

über den Himmel, und hinter dem ständig sich verändernden<br />

Lichtschleier war klar und deutlich jene andere Welt,<br />

jene sonnenbeschienene Stadt zu sehen.<br />

Je höher sie kamen, desto weiter breitete sich das öde Land<br />

unter ihnen aus. Im Norden lag das gefrorene Meer, hier und da<br />

zu Bergkämmen aufgeschichtet, wo zwei Eisschollen gegeneinander<br />

geschoben worden waren, sonst aber eine flache, weiße,<br />

endlose Fläche, die bis zum Pol reichte und darüber hinaus,<br />

gestaltlos, ohne Leben, ohne Farbe und unvorstellbar trostlos.<br />

Im Osten und Westen erhoben sich weitere Berge, gewaltig<br />

aufragende, gezackte Gipfel, deren steile Hänge dick mit<br />

Schnee bedeckt waren, den der Wind zu scharfkantigen, klingenähnlichen<br />

Gebilden verweht hatte. Aus dem Süden waren<br />

sie gekommen, und Lyra blickte sehnsüchtig zurück, ob sie<br />

irgendwo ihren lieben Freund Iorek Byrnison und seine<br />

Kampfgenossen erspähen konnte, doch nichts bewegte sich auf<br />

der weiten Ebene. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das<br />

ausgebrannte Wrack des Zeppelins sah und den scharlachroten<br />

Schnee um die Leichen der Krieger.<br />

Pantalaimon flog in Gestalt einer Eule hoch hinauf und stieß<br />

schon kurze Zeit später wieder auf ihr Handgelenk herunter.<br />

»Sie sind gleich hinter dem Gipfel dort!« rief er. »Lord Asriel<br />

435


hat seine Instrumente ausgebreitet, und Roger kommt nicht<br />

los…«<br />

Als er das sagte, flackerte das Licht der Aurora, wurde schwächer<br />

wie eine anbarische Birne, deren Ende gekommen ist, und<br />

ging dann aus. Im Dunkel spürte Lyra jedoch die Gegenwart des<br />

Staubes, denn die Luft schien geladen mit finsteren Absichten<br />

gleich den Schemen noch nicht geborener Gedanken.<br />

Inmitten der sie umhüllenden Dunkelheit hörte sie den<br />

Schrei eines Kindes: »Lyra! Lyra!«<br />

»Ich komme!« schrie sie zurück und stolperte, kletterte,<br />

rutschte und kämpfte sich vorwärts. Obwohl am Ende ihrer<br />

Kräfte angelangt, schleppte sie sich unermüdlich weiter und<br />

weiter durch den geisterhaft schimmernden Schnee.<br />

»Lyra! Lyra!«<br />

»Ich bin gleich da«, keuchte sie. »Gleich da, Roger!«<br />

Pantalaimon verwandelte sich aufgeregt in ein Tier nach<br />

dem anderen: Löwe, Hermelin, Adler, Wildkatze, Hase, Salamander,<br />

Eule, Leopard, alle Gestalten, die er je angenommen<br />

hatte, eine Vielfalt von Formen im Angesicht des Staubes…<br />

»Lyra!«<br />

Dann hatte sie den Gipfel erreicht und sah, was auf der anderen<br />

Seite geschah.<br />

Fünfzig Meter vor ihr stand im Sternenlicht Lord Asriel und<br />

drehte zwei Drähte zusammen, die zu seinem Schlitten führten.<br />

<strong>Der</strong> Schlitten war umgedreht, und auf ihm standen eine ganze<br />

Reihe von Batterien, Gefäßen und verschiedenen Instrumenten,<br />

die der Frost bereits mit einer Eisschicht überzogen hatte.<br />

Lord Asriel war in schwere Pelze vermummt, sein Gesicht<br />

wurde vom Schein einer Naphthalampe erleuchtet. Neben ihm<br />

kauerte wie eine Sphinx sein Dæmon, die Schneeleopardin mit<br />

dem schön gefleckten Fell, unter dem sich glänzend die Muskeln<br />

abzeichneten; ihr Schwanz schlug träge auf den Schnee.<br />

Im Maul hielt sie Rogers Dæmon.<br />

436


Das kleine Geschöpf wehrte sich und schlug um sich und<br />

flatterte, jetzt ein Vogel, dann ein Hund, eine Katze, eine Ratte<br />

und wieder ein Vogel, und es rief immer wieder nach Roger, der<br />

sich nur wenige Meter entfernt verzweifelt gegen die unerbittliche<br />

Kraft stemmte, mit der die Schneeleopardin seinen<br />

Dæmon festhielt, und vor Schmerzen und Kälte schrie. Er<br />

schrie den Namen seines Dæmons und den Lyras und rannte zu<br />

Lord Asriel und zerrte ihn am Arm, aber Lord Asriel stieß ihn<br />

zur Seite. Er versuchte es wieder, weinte und schluchzte, bat<br />

und flehte, aber Lord Asriel hörte ihm nicht zu und stieß ihn<br />

nur immer wieder zurück.<br />

Sie standen am Rand einer Klippe. Jenseits war nichts außer<br />

einer grenzenlosen Finsternis. Sie befanden sich tausend Fuß<br />

oder mehr über dem gefrorenen Meer. All das sah Lyra im Licht<br />

der Sterne. Doch dann, als Lord Asriel die Drähte zusammenschloß,<br />

erstrahlte die Aurora plötzlich wieder in hellem Glanz<br />

wie ein Energieblitz, der zwischen zwei Polen hin- und herzuckt,<br />

nur daß er hier tausend Meilen hoch und zehntausend<br />

Meilen lang war, ein fallender und steigender, wellenförmig<br />

sich fortpflanzender glorreicher Katarakt des Lichtes.<br />

Lord Asriel war der Herr des ganzen Spektakels…<br />

Oder er gewann daraus Energie, denn von einer riesigen<br />

Rolle auf dem Schlitten lief ein Draht geradewegs nach oben<br />

zum Himmel. Aus dem Dunkel stieß ein Rabe herunter, den<br />

Lyra als Dæmon einer Hexe erkannte. Eine Hexe half Lord<br />

Asriel, und sie hatte den Draht nach oben getragen.<br />

Die Aurora strahlte wieder.<br />

Lord Asriel war fast bereit.<br />

Er drehte sich zu Roger um und winkte ihn heran, und<br />

Roger gehorchte hilflos; er schüttelte den Kopf, flehte und<br />

weinte, aber er kam hilflos näher.<br />

»Nein! Lauf weg!« schrie Lyra und stürzte den Hang hinunter<br />

auf ihn zu.<br />

437


Pantalaimon sprang die Schneeleopardin an und entriß<br />

Rogers Dæmon ihren Fängen. Blitzschnell setzte die Leopardin<br />

ihm nach, und Pantalaimon ließ Rogers Dæmon los. Die beiden<br />

jungen Dæmonen wechselten die Gestalt und stürzten sich<br />

dann in den Kampf mit dem großen, gefleckten Tier.<br />

Die Leopardin schlug mit ihren nadelscharfen Krallen nach<br />

rechts und links, und ihr wildes Knurren und Fauchen übertönte<br />

sogar Lyras Schreie. Auch die beiden Kinder kämpften<br />

gegen sie oder vielmehr gegen die Gestalten in der trüben Luft,<br />

jene finsteren Absichten, die in Massen mit dem Staub auf sie<br />

herunterströmten.<br />

Und über ihnen wogten die Schleier der Aurora, deren<br />

unstetes Licht im einen Moment ein Gebäude, dann einen See<br />

oder eine Reihe Palmen beschien, so daß man den Eindruck<br />

hatte, man könnte einfach von dieser Welt in jene hinübertreten.<br />

Lyra sprang auf und packte Roger bei der Hand. Sie zog<br />

daran, und sie rissen sich von Lord Asriel los und rannten Hand<br />

in Hand weg, doch Roger schrie und wand sich, denn die Leopardin<br />

hatte seinen Dæmon wieder gepackt, und Lyra kannte<br />

die Folterqualen, die er litt, und versuchte anzuhalten…<br />

Aber sie konnten nicht mehr anhalten.<br />

<strong>Der</strong> Boden unter ihnen hatte sich in Bewegung gesetzt.<br />

Ein ganzes Schneebrett glitt unaufhaltsam nach unten…<br />

Auf das gefrorene Meer zu, tausend Fuß unter ihnen…<br />

»LYRA!«<br />

Ihr Herz raste…<br />

Ihre Hände klammerten sich aneinander…<br />

Und dann — Rogers Körper leblos in ihren Armen; und hoch<br />

über ihnen das größte Wunder.<br />

Die mit Sternen übersäte, weite Himmelskuppel bekam<br />

plötzlich, wie von einem Speer durchbohrt, ein Loch.<br />

Ein Lichtstrahl, ein Strahl reiner Energie, schoß nach oben<br />

438


wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schnellt. Die Ströme farbigen<br />

Lichts der Aurora rissen mit einem knirschenden, mahlenden<br />

Geräusch auseinander, das von einem Ende des Universums<br />

zum anderen zu hören war, und mitten am Himmel<br />

erschien Land…<br />

Sonnenlicht!<br />

Sonnenlicht auf dem Fell eines <strong>goldene</strong>n Affen…<br />

Denn die Bewegung des Schneebretts war zum Stillstand<br />

gekommen, vielleicht hatte ein unsichtbarer Felsvorsprung es<br />

aufgehalten, und Lyra sah, wie über dem zertrampelten Schnee<br />

des Gipfels der <strong>goldene</strong> Affe aus der Luft auf die Seite der Leopardin<br />

sprang und wie die beiden Dämonen sich mit gesträubtem<br />

Fell und gespannten Muskeln mißtrauisch beäugten. <strong>Der</strong><br />

Schwanz des Affen zeigte senkrecht nach oben, der Schwanz<br />

der Leopardin schlug machtvoll hin und her. Dann streckte der<br />

Affe vorsichtig eine Pfote aus, die Leopardin senkte in einer<br />

anmutigen Bewegung den Kopf, sie berührten sich…<br />

Und als Lyra aufsah, stand Mrs. Coulter selbst da, und Lord<br />

Asriel hatte die Arme um sie geschlungen. Licht umspielte die<br />

beiden, ähnlich den Funken und Strahlen einer gewaltigen<br />

anbarischen Energie. Lyra konnte nur ahnen, was geschehen<br />

war: Irgendwie mußte Mrs. Coulter über die Spalte gekommen<br />

und ihr hierher herauf gefolgt sein…<br />

Ihre Eltern, zusammen!<br />

Und in leidenschaftlicher Umarmung, nie hätte Lyra sich das<br />

träumen lassen.<br />

Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Roger lag tot in ihren<br />

Armen, still, friedlich, endlich zur Ruhe gekommen. Sie hörte,<br />

wie ihre Eltern miteinander sprachen.<br />

»Das werden sie nie erlauben«, sagte ihre Mutter.<br />

»Was heißt erlauben?« sagte ihr Vater. »Wir brauchen keine<br />

Erlaubnis, schließlich sind wir keine Kinder mehr. Dank mir<br />

kann jeder, der will, da rüber.«<br />

439


»Aber sie haben es verboten! Sie werden den Weg versperren<br />

und jeden exkommunizieren, der es versucht!«<br />

»Zu viele werden es versuchen, man wird sie nicht daran hindern<br />

können. Es wird das Ende der Kirche sein, Marisa, das<br />

Ende des Magisteriums, das Ende von Jahrhunderten der Dunkelheit!<br />

Sieh das Licht da oben: die Sonne einer anderen Welt!<br />

Spürst du nicht die Wärme auf deiner Haut?«<br />

»Aber sie sind stärker als alle, Asriel! Du weißt nicht…«<br />

»Ich weiß nicht? Ich? Niemand auf der Welt weiß besser als<br />

ich, wie stark die Kirche ist! Aber dafür ist sie nicht stark genug.<br />

Durch den Staub wird sich sowieso alles ändern, und das läßt<br />

sich jetzt nicht mehr aufhalten.«<br />

»Ist es das, was du wolltest? Daß wir alle in Sünde und Finsternis<br />

ersticken und umkommen?«<br />

»Ich will ausbrechen, Marisa! Und das habe ich getan. Sieh<br />

doch, wie die Palmen am Strand sich wiegen! Spürst du den<br />

Wind? Den Wind einer anderen Welt! Fühle ihn in deinen<br />

Haaren, auf deinem Gesicht…«<br />

Lord Asriel schlug Mrs. Coulters Kapuze zurück, drehte ihr<br />

Gesicht dem Wind zu und fuhr ihr mit den Händen durch das<br />

Haar. Lyra sah atemlos zu und wagte nicht, sich zu rühren.<br />

Die Frau klammerte sich an ihn wie betäubt und schüttelte<br />

unglücklich den Kopf. »Nein… nein… sie kommen, Asriel — sie<br />

wissen, wo ich bin…«<br />

»Dann komm mit, weg von hier und dieser Welt!«<br />

»Das wage ich nicht…«<br />

»Du? Du wagst es nicht? Deine Tochter würde mitkommen.<br />

Sie würde alles wagen und ihre Mutter beschämen.«<br />

»Dann nimm doch sie mit, bitte sehr. Sie gehört mehr zu dir<br />

als zu mir.«<br />

»Das ist nicht wahr. Du hast sie aufgenommen, du hast versucht,<br />

sie zu erziehen. Du wolltest sie doch damals.«<br />

»Aber sie war zu ungezogen, zu dickköpfig. Ich habe zu lange<br />

440


gewartet… Wo ist sie eigentlich jetzt? Ich bin ihren Fußstapfen<br />

hier herauf gefolgt…«<br />

»Willst du sie denn immer noch zu dir nehmen? Zweimal<br />

hast du versucht, sie festzuhalten, und zweimal ist sie geflohen.<br />

Ich an ihrer Stelle würde lieber weglaufen, ganz weit weglaufen,<br />

als dir eine dritte Chance geben.«<br />

Seine Hände, die immer noch ihren Kopf hielten, griffen<br />

plötzlich zu, und er zog Mrs. Coulter an sich und küßte sie leidenschaftlich,<br />

ein Kuß mehr der Grausamkeit als der Liebe, wie<br />

es Lyra schien. Als ihr Blick auf die Dæmonen der beiden fiel,<br />

bot sich ihr ein seltsamer Anblick: Die Leopardin kauerte<br />

geduckt da, die Krallen im Fleisch des <strong>goldene</strong>n Affen, und der<br />

Affe lag selig und halb ohnmächtig im Schnee.<br />

Dann stieß Mrs. Coulter Lord Asriel heftig zurück und sagte:<br />

»Nein, Asriel — mein Platz ist in dieser Welt, nicht dort drüben…«<br />

»Komm mit!« drängte er sie. »Komm mit und arbeite mit<br />

mir!«<br />

»Wir können nicht zusammenarbeiten, du und ich.«<br />

»Nein? Wir zwei, wir könnten das ganze Universum auseinandernehmen<br />

und wieder zusammensetzen, Marisa! Wir<br />

könnten die Quelle des Staubes finden und sie für immer<br />

zuschütten! Und wie gern wärst du bei dieser großartigen Aufgabe<br />

dabei, das weiß ich doch genau. Du kannst mir alles vorlügen,<br />

über die Oblations-Behörde, über deine Liebhaber — ja,<br />

ich weiß das mit Boreal, und es ist mir egal —, über die Kirche<br />

und sogar über das Kind, aber nicht über deine wirklichen<br />

Wünsche…«<br />

Und wieder preßten sie, getrieben von einer unersättlichen<br />

Gier, ihre Münder aufeinander. Ihre Dæmonen liebkosten sich<br />

heftig; die Schneeleopardin rollte sich auf den Rücken, der Affe<br />

fuhr mit seinen Krallen durch das weiche Fell an ihrem Hals,<br />

und sie knurrte ganz tief vor Wohlbehagen.<br />

441


»Wenn ich nicht mitkomme, wirst du versuchen, mich zu<br />

vernichten«, sagte Mrs. Coulter und riß sich los.<br />

»Warum sollte ich?« rief er lachend, und das Licht der anderen<br />

Welt umfloß seinen Kopf. »Komm mit, arbeite mit mir,<br />

und dein Leben wird mir wichtig sein. Bleibe hier, und du bist<br />

mir völlig egal. Bilde dir nicht ein, ich würde dann noch einen<br />

Gedanken an dich verschwenden. Also bleibe und spinne deine<br />

Intrigen in dieser Welt, oder komm mit!«<br />

Mrs. Coulter zögerte; ihre Augen gingen zu, und sie wankte,<br />

als ob sie ohnmächtig würde. Doch sie hielt sich aufrecht und<br />

öffnete die Augen wieder. In ihnen lag eine unendlich schöne<br />

Traurigkeit.<br />

»Nein«, sagte sie, »nein.«<br />

Ihre Dæmonen hatten sich wieder getrennt. Lord Asriel<br />

beugte sich nach unten und drehte seine starken Finger in das<br />

Leopardenfell. Dann wandte er sich um und ging ohne ein weiteres<br />

Wort hinauf und verschwand. <strong>Der</strong> <strong>goldene</strong> Affe sprang in<br />

Mrs. Coulters Arme, gab unglückliche Laute von sich und sah<br />

der Schneeleopardin mit sehnsüchtig ausgestreckten Armen<br />

nach, Mrs. Coulters Gesicht war eine Maske aus Tränen. Lyra<br />

sah sie glänzen, sie waren echt. Dann wandte auch ihre Mutter<br />

sich um, geschüttelt von stummem Schluchzen, ging den Berg<br />

hinunter und verschwand.<br />

Lyra sah ihr unbeteiligt nach, dann blickte sie zum Himmel<br />

auf.<br />

Leer und still hing die Stadt über ihr, wie neu gebaut, als<br />

warte sie noch auf ihre Bewohner oder als schlafe sie und warte<br />

darauf, aufgeweckt zu werden. Die Sonne der anderen Welt<br />

schien in diese Welt herüber; sie vergoldete Lyras Hände,<br />

schmolz das Eis auf Rogers Kapuze aus Wolfspelz, machte seine<br />

bleichen Wangen durchsichtig und schimmerte in seinen offenen,<br />

blicklosen Augen.<br />

<strong>Der</strong> Kummer zerriß Lyra fast, vermischt mit Wut. Sie hätte<br />

442


ihren Vater umbringen können; wenn sie ihm das Herz hätte<br />

herausreißen können, hätte sie es auf der Stelle getan, für das,<br />

was er Roger angetan hatte und ihr selbst: Er hatte sie hintergangen<br />

— wie konnte er es wagen?<br />

Sie hielt immer noch Rogers Leiche. Pantalaimon sagte<br />

etwas, aber in Lyras Kopf herrschte ein solcher Tumult, daß sie<br />

ihn erst hörte, als er seine Katzenkrallen in ihren Handrücken<br />

drückte. Sie fuhr auf.<br />

»Was? Was?«<br />

»Staub!« sagte er.<br />

»Wovon redest du?«<br />

»Vom Staub. Er sucht die Quelle des Staubes, um sie zu zerstören,<br />

oder?«<br />

»Das hat er gesagt.«<br />

»Und die Oblations-Behörde, die Kirche, Bolvangar und<br />

Mrs. Coulter und alle anderen wollen sie auch zerstören, ja?«<br />

»Ja… oder verhindern, daß er weiter auf die Menschen einwirkt…<br />

Warum?«<br />

»Wenn sie alle glauben, daß Staub etwas Schlechtes ist, muß<br />

er etwas Gutes sein.«<br />

Lyra sagte nichts, aber irgendwo tief in ihr erwachte etwas.<br />

»Wir haben sie von Staub sprechen hören«, fuhr Pantalaimon<br />

fort, »und daß sie solche Angst davor haben, und weißt du<br />

was? Wir haben ihnen geglaubt, obwohl wir doch erlebt haben,<br />

daß sie nur schlechte und böse Dinge taten… Wir hielten Staub<br />

für etwas Schlechtes, weil die Erwachsenen das sagten. Wenn er<br />

nun gar nichts Schlechtes ist? Was ist, wenn er…«<br />

»Ja«, rief Lyra atemlos. »Was ist, wenn er gut ist…«<br />

Sie sah Pantalaimon an, und in seinen grünen Wildkatzenaugen<br />

spiegelte sich ihre eigene Erregung. Ihr war schwindlig,<br />

als drehe sich die Welt unter ihr.<br />

Wenn Staub gut war… etwas Erstrebenswertes, Willkommenes,<br />

Segensreiches…«<br />

443


»Wir könnten uns auch auf die Suche machen, Pan!« sagte<br />

sie.<br />

Das hatte er hören wollen.<br />

»Vielleicht finden wir ihn vor Lord Asriel«, sagte er, »und…«<br />

Sie schwiegen beide angesichts dieser gigantischen Aufgabe.<br />

Lyra sah zum lodernden Himmel auf. Wie klein sie war, sie und<br />

ihr Dæmon, verglichen mit der erhabenen Größe des Universums,<br />

und wie wenig sie wußten, verglichen mit den tiefen<br />

Geheimnissen da oben.<br />

»Wir könnten es schaffen«, beharrte Pantalaimon. »Wir sind<br />

doch auch den ganzen Weg hierher gekommen. Wir könnten<br />

es schaffen.«<br />

»Aber wir wären allein. Iorek Byrnison könnte uns nicht<br />

begleiten und uns helfen. Auch Farder Coram nicht oder Serafina<br />

Pekkala oder Lee Scoresby oder sonst jemand.«<br />

»Dann ist das eben so. Ist doch egal. Außerdem sind wir doch<br />

nicht allein, jedenfalls nicht wie…«<br />

Sie wußte, was er meinte: nicht wie Tony Makarios, nicht wie<br />

diese unglückseligen, verlorenen Dæmonen in Bolvangar; wir<br />

sind<br />

immer noch ein Wesen, wir zwei sind eins.<br />

»Und wir haben das Alethiometer«, sagte sie. »Ja, ich denke,<br />

wir müssen es tun, Pan. Wir gehen da rauf und suchen nach<br />

dem Staub, und wenn wir ihn gefunden haben, werden wir wissen,<br />

was wir tun sollen.«<br />

Rogers Leiche lag immer noch in ihren Armen. Sanft bettete<br />

sie ihn auf den Boden.<br />

»Und das tun wir dann«, sagte sie.<br />

Sie wandte sich um. Hinter ihnen lagen Schmerzen, Tod und<br />

Angst, vor ihnen Zweifel, Gefahren und unergründliche<br />

Geheimnisse. Aber sie waren nicht allein.<br />

Lyra und ihr Dæmon kehrten der Welt, in der sie geboren<br />

worden waren, den Rücken, wandten sich der Sonne zu und<br />

gingen mitten in den Himmel hinein.<br />

444


Ende<br />

des<br />

ersten<br />

Buches


Inhalt<br />

I<br />

Oxford<br />

Eins<br />

Die Karaffe 9<br />

Zwei<br />

<strong>Der</strong> Norden 25<br />

Drei<br />

Lyras Jordan 42<br />

Vier<br />

Das Alethiometer 78<br />

Fünf<br />

Die Cocktailparty 94<br />

Sechs<br />

Im Netz 112<br />

Sieben<br />

John Faa 126<br />

Acht<br />

Enttäuschung 148<br />

Neun<br />

Die Spione 161<br />

II<br />

Bolvangar<br />

Zehn<br />

<strong>Der</strong> Konsul und der Bär 185<br />

Elf<br />

Die Rüstung 206


Zwölf<br />

<strong>Der</strong> verlorene Junge 230<br />

Dreizehn<br />

<strong>Der</strong> Fechtkampf 242<br />

Vierzehn<br />

Dei Lichter von Bolvangar 261<br />

Fünfzehn<br />

Die Dæmonenkäfige 280<br />

Sechzehn<br />

Die silberne Guillotine 299<br />

Siebzehn<br />

Die Hexen 315<br />

III<br />

Svalbard<br />

Achtzehn<br />

Nebel und Eis 345<br />

Neunzehn<br />

Gefangen 364<br />

Zwanzig<br />

Auf Messers Schneide 384<br />

Einundzwanzig<br />

Lord Asriels Willkommen 403<br />

Zweiundzwanzig<br />

Verrat 423<br />

Dreiundzwanzig<br />

Die Brücke zu den Sternen 434


Ebenfalls bei CARLSEN:<br />

Leonardo Wild<br />

Unemotion<br />

Aus dem Englischen<br />

von Harald Tondern<br />

216 Seiten<br />

Gebunden<br />

ISBN 3-551-58004-9<br />

In der Welt dieses Romans muß die vielzitierte<br />

»Emotionale Intelligenz« nicht mehr entdeckt werden:<br />

Man weiß längst um die Macht der Gefühle<br />

und versucht sie zu manipulieren.<br />

Sieht so unsere Zukunft aus?<br />

CARLSEN

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