Der goldene Kompass
Der goldene Kompass
Der goldene Kompass
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PHILIP PULLMAN<br />
DER GOLDENE KOMPASS
PHILIPP PULLMAN<br />
DER GOLDENE<br />
KOMPASS<br />
Aus dem Englischen<br />
von Wolfram Ströle und Andrea Kann<br />
CARLSEN
1. Auflage 1996<br />
Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 1996<br />
Originalcopyright © by Philip Pullman 1995<br />
Originalverlag: Scholastic Children’s Books Ltd., London 1995<br />
Originaltitel: HIS DARK MATERIALS 1 : Northern Lights.<br />
Einband: Dieter Wiesmüller<br />
Satz: H & G Herstellung GmbH, Hamburg<br />
Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb Pößneck GmbH, Pößneck<br />
ISBN 3-551-58008-1<br />
Printed in Germany
In dieser wilden Kluft<br />
Schoß der Natur, und wohl auch deren Grab,<br />
Nicht See, nicht Land, nicht Luft, nicht Feuer noch<br />
Doch angelegt in einem Urgemisch<br />
Auf alle diese hin, im Wirrwarr schwanger,<br />
Die so auf immer sich bekämpfen müssen,<br />
Wenn nicht des Schöpfers Allmacht sie bestimmt<br />
Zum dunklen Rohstoff neuerschaffner Welten —<br />
In diese Kluft hinaus am Höllenrand<br />
Stand der wachsame Feind und überlegte<br />
Ausschauend seine Reise eine Weile…<br />
John Milton, Das verlorene Paradies, Zweites Buch
DER GOLDENE KOMPASS ist der erste Teil einer<br />
Geschichte in drei Bänden. <strong>Der</strong> erste Band spielt in einer<br />
Welt, die der unseren sehr ähnlich und doch ganz anders<br />
ist. <strong>Der</strong> zweite Band spielt in der Welt, die wir kennen.<br />
<strong>Der</strong> dritte Band bewegt sich zwischen diesen Welten.
I<br />
Oxford
Eins<br />
Die Karaffe<br />
An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen,<br />
schlichen Lyra und ihr Dæmon durch den dämmrigen Speisesaal.<br />
Die drei großen Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen,<br />
waren bereits gedeckt, die langen Bänke für die Gäste<br />
aufgestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im letzten<br />
Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer<br />
Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur<br />
offenen Küchentür zurück, und als sie dort niemanden sah,<br />
stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf. Er war mit Gold<br />
statt mit Silber gedeckt, und statt der Eichenbänke standen dort<br />
samtgepolsterte Mahagonistühle.<br />
Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte vorsichtig<br />
mit dem Fingernagel an das größte Glas. <strong>Der</strong> helle Klang<br />
war im ganzen Saal zu hören.<br />
»Das ist nicht der Ort für solche Spaße«, flüsterte ihr Dæmon.<br />
»Reiß dich gefälligst zusammen.«<br />
Lyras Dæmon Pantalaimon hatte die Gestalt einer dunkelbraunen<br />
Motte angenommen, um in dem dämmrigen Saal<br />
nicht aufzufallen.<br />
»Die machen in der Küche so viel Krach, daß sie das gar nicht<br />
hören«, flüsterte Lyra zurück. »Und der Steward kommt erst<br />
beim ersten Klingeln. Mach keinen Aufstand.«<br />
9
Trotzdem legte sie die Hand auf das Glas, und Pantalaimon<br />
flatterte voraus und durch die angelehnte Tür am hinteren<br />
Ende des Podiums, die zum Ruhezimmer führte. Kurz darauf<br />
tauchte er wieder auf.<br />
»Das Zimmer ist leer«, flüsterte er. »Aber wir müssen uns<br />
beeilen.«<br />
Gebückt rannte Lyra um den Tisch und durch die Tür ins<br />
Ruhezimmer. Dort richtete sie sich auf und sah sich um. Das<br />
einzige Licht kam vorn offenen Kamin, in dem ein helles Feuer<br />
brannte; gerade in diesem Augenblick rutschte ein Scheit nach<br />
unten, und eine Fontäne von Funken stieg auf. Obwohl Lyra fast<br />
ihr ganzes Leben im College verbracht hatte, war sie noch nie<br />
im Ruhezimmer gewesen; nur Wissenschaftler und ihre Gäste<br />
durften es betreten, Frauen niemals. Nicht einmal die Putzfrauen<br />
durften hier saubermachen, sondern nur der Butler.<br />
Pantalaimon setzte sich auf ihre Schulter.<br />
»Zufrieden?« flüsterte er. »Können wir wieder gehen?«<br />
»Sei nicht albern! Ich will mich umsehen!«<br />
Das Zimmer war geräumig und enthielt einen ovalen Tisch<br />
aus poliertem Rosenholz, auf dem verschiedene Karaffen und<br />
Gläser und eine silberne Rauchmühle mit einem Pfeifenständer<br />
standen. Die Anrichte daneben war mit einer kleinen Warmhalteplatte<br />
und einem Korb mit Mohnkapseln gedeckt.<br />
»Die lassen es sich gutgehen, was, Pan?« sagte Lyra leise.<br />
Sie setzte sich in einen grünledernen Armsessel. Er war so<br />
tief, daß sie beinah darin lag. Sie setzte sich wieder auf, zog die<br />
Beine hoch und betrachtete die Porträts an den Wänden. Wahrscheinlich<br />
handelte es sich bei diesen düsteren Gestalten mit<br />
Roben und Bärten, die feierlich mißbilligend aus ihren Rahmen<br />
auf sie herunterstarrten, um frühere Wissenschaftler.<br />
»Worüber sie heute wohl reden werden?« sagte Lyra, oder<br />
vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die Frage beenden<br />
konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen.<br />
10
»Hinter den Sessel — schnell!« flüsterte Pantalaimon, und<br />
schon war Lyra aufgesprungen und kauerte hinter der Lehne.<br />
<strong>Der</strong> Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in der<br />
Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war…<br />
Die Tür ging auf, und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge<br />
trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra<br />
konnte seine Beine sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen<br />
und schwarz glänzenden Schuhen — ein Diener also.<br />
Dann sagte eine tiefe Stimme: »Ist Lord Asriel schon eingetroffen?«<br />
Das war der Rektor. Lyra hielt den Atem an. Sie sah, wie der<br />
Dæmon des Dieners hereintrottete — eine Hündin, wie bei<br />
Dienern üblich — und sich still zu seinen Füßen setzte. Dann<br />
kamen auch die Füße des Rektors in Sicht, in den abgenutzten<br />
schwarzen Schuhen, die er immer trug.<br />
»Nein, Herr«, sagte der Butler. »Wir haben auch vom Luftdock<br />
nichts gehört.«<br />
»Er wird Hunger haben, wenn er kommt. Führe ihn gleich in<br />
den Speisesaal.«<br />
»Sehr wohl, Herr.«<br />
»Und hast du den speziellen Tokaier für ihn bereitgestellt?«<br />
»Jawohl, Herr. Jahrgang 1898, wie Ihr befohlen habt. Seine<br />
Lordschaft schätzt ihn ganz besonders, wie ich mich erinnere.«<br />
»Gut, dann geh jetzt, bitte.«<br />
»Braucht Ihr die Lampe, Herr?«<br />
»Ja, laß sie hier. Sieh während des Essens herein und kürze<br />
den Docht.«<br />
<strong>Der</strong> Butler verbeugte sich leicht und ging, gehorsam gefolgt<br />
von seinem Dæmon. Von ihrem Versteck, das eigentlich gar keines<br />
war, sah Lyra, wie der Rektor zu einem großen eichenen<br />
Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers ging, seinen Talar von<br />
einem Bügel nahm und umständlich hineinschlüpfte. Einst ein<br />
kräftiger Mann, war er inzwischen weit über siebzig und<br />
11
ewegte sich steif und langsam. Sein Dæmon war ein weiblicher<br />
Rabe, der, sobald der Rektor den Talar angezogen hatte, vom<br />
Schrank herunterflog und sich auf seinem gewohnten Platz auf<br />
der rechten Schulter niederließ.<br />
Lyra spürte, wie Pantalaimon vor Aufregung zitterte, obwohl<br />
er keinen Laut von sich gab. Sie selbst war angenehm gespannt.<br />
<strong>Der</strong> vom Rektor erwähnte Besucher Lord Asriel war ihr Onkel,<br />
ein Mann, den sie über die Maßen bewunderte und zugleich<br />
fürchtete. Er hatte angeblich mit der hohen Politik, geheimen<br />
Forschungsreisen und fernen Kriegen zu tun, und sie wußte nie,<br />
wann er auftauchen würde. Er hatte ein heftiges Temperament:<br />
Wenn er sie hier erwischte, würde er sie schwer bestrafen, aber<br />
sie würde es schon überstehen.<br />
Was sie dann sah, änderte freilich alles.<br />
<strong>Der</strong> Rektor nahm aus seiner Tasche ein zusammengefaltetes<br />
Blatt Papier und legte es auf den Tisch. Dann entfernte er den<br />
Stöpsel einer Karaffe, die mit einem golden leuchtenden Wein<br />
gefüllt war, faltete das Papier auf und ließ ein dünnes Rinnsal<br />
eines weißen Pulvers hineinrieseln; anschließend zerknüllte er<br />
das Papier und warf es ins Feuer. Er nahm einen Stift aus der<br />
Tasche, rührte den Wein um, bis das Pulver sich aufgelöst hatte,<br />
und verschloß die Karaffe wieder.<br />
Sein Dæmon krächzte leise. <strong>Der</strong> Rektor antwortete mit<br />
gedämpfter Stimme und ließ seine trüben Augen unter den<br />
schweren Lidern durch das Zimmer wandern. Dann entfernte<br />
er sich durch die Tür, durch die er gekommen war.<br />
»Hast du das gesehen, Pan?« flüsterte Lyra.<br />
»Natürlich! Jetzt schnell raus, bevor der Steward kommt!«<br />
Aber noch während er sprach, ertönte eine Klingel vom<br />
anderen Ende des Saales.<br />
»Die Klingel des Stewards!« sagte Lyra. »Ich dachte, wir hätten<br />
noch Zeit.«<br />
Pantalaimon flatterte schnell zur Tür und wieder zurück.<br />
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»Er kommt schon«, sagte er. »Und durch die andere Tür<br />
kannst du nicht raus…«<br />
Die andere Tür, durch die der Rektor gekommen und<br />
gegangen war, ging auf einen belebten Gang zwischen der<br />
Bibliothek und dem Gemeinschaftsraum der Wissenschaftler.<br />
Zu dieser Tageszeit drängten sich dort Männer, die schnell noch<br />
zum Abendessen einen Talar anziehen oder irgendwelche<br />
Papiere und Aktentaschen im Gemeinschaftsraum deponieren<br />
wollten, bevor sie sich in den Speisesaal begaben. Lyra hatte<br />
durch die Tür verschwinden wollen, durch die sie gekommen<br />
war, und sie hatte damit gerechnet, daß ihr bis zur Klingel des<br />
Stewards noch einige Minuten Zeit blieben.<br />
Wenn sie nicht gesehen hätte, wie der Rektor das Pulver in<br />
den Wein schüttete, hätte sie den Zorn des Stewards vielleicht in<br />
Kauf genommen oder gehofft, unbemerkt über den belebten<br />
Gang verschwinden zu können. Doch sie war verwirrt, und<br />
darum zögerte sie.<br />
Dann hörte sie vom Saal her schwere Schritte. <strong>Der</strong> Steward<br />
kam, um nachzusehen, ob im Ruhezimmer der Imbiß aus<br />
Mohnkapseln und Wein bereitstand, den die Wissenschaftler<br />
nach dem Essen immer zu sich nahmen. Lyra hastete zu dem<br />
eichenen Kleiderschrank, öffnete ihn, kroch hinein und konnte<br />
gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, bevor der Steward<br />
eintrat. Um Pantalaimon machte sie sich keine Sorgen; im Zimmer<br />
gab es viele dunkle Ecken, und er konnte immer unter<br />
einen Sessel schlüpfen.<br />
Sie hörte den pfeifenden Atem des Stewards und sah durch<br />
einen Spalt in der Schranktür, wie er die Pfeifen im Ständer<br />
neben der Rauchmühle ordnete und einen prüfenden Blick auf<br />
Karaffen und Gläser warf. Dann strich er sich mit beiden Händen<br />
die Haare über den Ohren glatt und sagte etwas zu seinem<br />
Dæmon. Als Diener hatte er eine Hündin; als Steward freilich<br />
eine Hündin von edler Rasse, einen rotbraunen Setter. Die<br />
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Hündin schien mißtrauisch und sah sich um, als ob sie einen<br />
Eindringling spürte, doch sie kam zu Lyras großer Erleichterung<br />
nicht zum Schrank. Lyra hatte Angst vor dem Steward; er<br />
hatte sie zweimal geschlagen.<br />
Sie hörte ein leises Flüstern. Offenbar war Pantalaimon zu ihr<br />
hereingekrochen.<br />
»Jetzt sitzen wir hier fest. Warum hörst du auch nicht auf<br />
mich!«<br />
Sie antwortete erst, als der Steward gegangen war, um das<br />
Servieren der Speisen an dem Tisch auf dem Podium zu überwachen.<br />
Offenbar kamen jetzt die Wissenschaftler in den Saal.<br />
Lyra hörte Stimmengemurmel und das Schlurfen von Füßen.<br />
»Ein Glück, daß ich nicht auf dich gehört habe«, flüsterte sie<br />
zurück. »Sonst hätten wir nicht gesehen, wie der Rektor Gift in<br />
den Wein schüttet. Pan, das war doch der Tokaier, nach dem er<br />
den Butler fragte! Sie wollen Lord Asriel töten!«<br />
»Du weißt nicht, ob es Gift ist.«<br />
»Natürlich ist es Gift. Weißt du nicht mehr, daß er den Butler<br />
hinausschickte, bevor er es in die Karaffe schüttete? Wenn das<br />
Pulver ungefährlich wäre, hätte der Butler doch ruhig zusehen<br />
können. Außerdem weiß ich, daß etwas im Busch ist — etwas<br />
Politisches. Die Diener sprechen seit Tagen davon. Pan, wir<br />
können einen Mord verhindern!«<br />
»So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört«, sagte Pantalaimon<br />
kurz. »Wie willst du denn stundenlang in diesem engen<br />
Schrank sitzen, ohne dich zu bewegen? Ich sehe draußen im<br />
Gang nach, ob die Luft rein ist.«<br />
Er flog von ihrer Schulter auf, und sie sah seinen kleinen<br />
Schatten vor dem hellen Spalt der Schranktür auftauchen.<br />
»Gib dir keine Mühe, Pan, ich bleibe«, sagte sie. »Hier hängt<br />
noch ein Talar oder so etwas, den lege ich auf den Boden und<br />
mache es mir bequem. Ich muß sehen, was sie vorhaben.«<br />
Vorsichtig erhob sie sich aus ihrer hockenden Stellung und<br />
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tastete nach Kleiderbügeln, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen.<br />
<strong>Der</strong> Schrank war größer, als sie angenommen hatte. Er<br />
enthielt verschiedene Talare und Überwürfe mit Kapuzen, von<br />
denen einige mit Pelz, die meisten aber mit Seide besetzt waren.<br />
»Ob die alle dem Rektor gehören?« flüsterte sie. »Vielleicht<br />
bekommt er solche komischen Kostüme, wenn ihm irgendwo<br />
ein Ehrendoktor verliehen wird, und bewahrt sie hier auf,<br />
damit er sich feinmachen kann… Pan, glaubst du wirklich, daß<br />
im Wein kein Gift ist?«<br />
»Nein«, sagte der Dæmon. »Ich glaube wie du, daß er vergiftet<br />
ist. Aber ich glaube auch, daß uns das nichts angeht. Und ich<br />
glaube, dich einzumischen wäre das dümmste aller dummen<br />
Dinge, die du in deinem Leben bisher angestellt hast. Es geht<br />
uns nichts an.«<br />
»Sei nicht blöd«, sagte Lyra. »Ich kann doch nicht hier sitzen<br />
und zusehen, wie sie ihn vergiften!«<br />
»Dann laß uns woanders hingehen.«<br />
»Du bist ein Feigling, Pan.«<br />
»Natürlich bin ich das. Darf ich fragen, was du tun willst?<br />
Willst du aus dem Schrank springen und seinen zitternden Fingern<br />
das Glas entreißen? Was hast du vor?«<br />
»Ich habe noch gar nichts vor, und du weißt das ganz genau«,<br />
schimpfte sie leise. »Aber ich habe gesehen, was der Rektor tat,<br />
und deshalb habe ich keine Wahl. Du weißt auch, was ein<br />
Gewissen ist. Wie kann ich ruhig in der Bibliothek oder<br />
sonstwo sitzen und Däumchen drehen, wenn ich weiß, was hier<br />
passiert? Däumchen drehe ich ganz bestimmt nicht, darauf<br />
kannst du dich verlassen.«<br />
»Du wolltest das von Anfang an«, sagte er nach einer Pause.<br />
»Du wolltest dich hier verstecken und sehen, was passiert.<br />
Warum habe ich das nicht gleich gemerkt!«<br />
»Also gut, zugegeben«, sagte sie. »Alle wissen, daß hier ein<br />
geheimes Treffen stattfinden soll, daß sie irgendein Ritual oder<br />
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so was veranstalten. Und ich wollte einfach wissen, was es war.«<br />
»Das geht dich nichts an! Wenn sie ihre kleinen Geheimnisse<br />
brauchen, laß sie ihnen doch und fühle dich darüber erhaben.<br />
Nur dumme Kinder verstecken sich und spionieren.«<br />
»Ich wußte, daß du das sagen würdest. Jetzt hör auf zu mekkern.«<br />
Schweigend saßen sie eine Weile da, Lyra auf dem unbequemen<br />
harten Boden des Schrankes, Pantalaimon mit gekränkt<br />
zuckenden Fühlern auf einem Talar. In Lyras Kopf wirbelten<br />
die Gedanken wild durcheinander, und sie hätte sie nur zu gern<br />
ihrem Dæmon mitgeteilt, aber auch sie hatte ihren Stolz. Vielleicht<br />
sollte sie versuchen, ihre Gedanken ohne Pantalaimons<br />
Hilfe zu sortieren.<br />
Vor allem hatte sie Angst, allerdings nicht um sich selbst. Daß<br />
sie in der Klemme steckte, war nichts Neues, und sie war daran<br />
gewöhnt. Nein, diesmal hatte sie Angst um Lord Asriel und<br />
Angst vor dem, was hier vorging. Lord Asriel besuchte das College<br />
nicht oft, und daß er jetzt kam, in einer Zeit großer politischer<br />
Spannungen, bedeutete, daß er nicht nur mit einigen alten<br />
Freunden essen und trinken und rauchen wollte. Sie wußte, daß<br />
Lord Asriel und auch der Rektor Mitglieder des Kabinettsrates<br />
waren, der den Premierminister beriet, vielleicht hatte die<br />
Besprechung also damit etwas zu tun. Die Sitzungen des Rates<br />
fanden allerdings im Palast statt, nicht im Ruhezimmer von Jordan<br />
College.<br />
Eine andere Sache war das Gerücht, das die Dienerschaft des<br />
College seit Tagen in Atem hielt. Es hieß, die Tataren hätten das<br />
Moskowiterreich überfallen und seien auf dem Vormarsch nach<br />
St. Petersburg im Norden, von wo aus sie die Herrschaft über<br />
die Ostsee an sich reißen und schließlich ganz Westeuropa<br />
erobern konnten. Und Lord Asriel war im hohen Norden<br />
gewesen: Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er gerade<br />
eine Expedition nach Lappland vorbereitet…<br />
16
»Pan«, flüsterte sie.<br />
»Ja?«<br />
»Glaubst du, es wird Krieg geben?«<br />
»Jetzt noch nicht. Lord Asriel wäre nicht zum Abendessen<br />
hier, wenn in den nächsten Wochen ein Krieg ausbrechen<br />
würde.«<br />
»Stimmt. Aber später?«<br />
»Pst! Jemand kommt.«<br />
Lyra richtete sich auf und spähte durch den Türspalt. Es war<br />
der Butler, der den Docht der Lampe kürzen wollte, wie der<br />
Rektor ihm aufgetragen hatte. In Gemeinschaftsraum und<br />
Bibliothek hatte man anbarisches Licht installiert, aber im<br />
Ruhezimmer bevorzugten die Wissenschaftler die alten Naphthalampen<br />
mit ihrem weicheren Licht. Daran würde sich zu<br />
Lebzeiten des Rektors auch nichts ändern.<br />
<strong>Der</strong> Butler stutzte den Docht und legte im Kamin ein Scheit<br />
nach. Dann horchte er sorgfältig an der Tür zum Saal und nahm<br />
sich eine Handvoll Tabakblätter aus der Rauchmühle.<br />
Gerade hatte er den Deckel wieder geschlossen, als die<br />
Klinke der anderen Tür niedergedrückt wurde. Er fuhr zusammen,<br />
und Lyra mußte sich das Lachen verbeißen. Hastig stopfte<br />
sich der Butler die Blätter in die Tasche, dann wandte er sich<br />
dem Ankömmling zu.<br />
»Lord Asriel!« sagte er, und ein kalter Schauer der Überraschung<br />
lief Lyra über den Rücken. Sie konnte ihren Onkel von<br />
ihrem Platz aus nicht sehen und mußte gegen die Versuchung<br />
kämpfen, die Tür etwas weiter zu öffnen.<br />
»Guten Abend, Wren«, sagte Lord Asriel. Lyra hörte seine<br />
rauhe Stimme immer mit einer Mischung aus Furcht und<br />
Freude. »Ich bin zu spät zum Essen eingetroffen. Ich werde hier<br />
warten.«<br />
Dem Butler war sichtlich unbehaglich zumute. Gäste betraten<br />
den Ruheraum gewöhnlich nur auf Einladung des Rektors,<br />
17
und Lord Asriel wußte das. Doch der Butler sah auch, daß Lord<br />
Asriel betont auf die Ausbuchtung in seiner Hosentasche<br />
blickte, und entschied, nicht zu protestieren.<br />
»Soll ich den Rektor von Eurer Ankunft verständigen,<br />
Mylord?«<br />
»Tun Sie das ruhig. Und bringen Sie mir eine Tasse Kaffee.«<br />
»Sehr wohl, Mylord.«<br />
<strong>Der</strong> Butler verbeugte sich und eilte hinaus, und sein Dæmon<br />
trottete unterwürfig hinter ihm her. Lyras Onkel trat vor das<br />
Kaminfeuer, reckte die Arme und gähnte wie ein Löwe. Er trug<br />
Reisekleidung. In seiner Gegenwart spürte Lyra jedesmal, wie<br />
sehr er sie einschüchterte. Unbemerkt aus dem Zimmer zu<br />
schleichen kam jetzt nicht mehr in Frage: Sie konnte nur bewegungslos<br />
ausharren und hoffen.<br />
Lord Asriels Dæmon, eine Schneeleopardin, stand hinter<br />
ihm.<br />
»Willst du die Bilder hier zeigen?« fragte sie ruhig.<br />
»Ja, das erregt weniger Aufsehen als ein Umzug in den Vortragssaal.<br />
Sie werden auch die Beweise sehen wollen. Ich lasse<br />
sie<br />
gleich vom Portier holen. Wir leben in schwierigen Zeiten, Stelmaria.«<br />
»Du solltest ausruhen.«<br />
Er streckte sich in einem Sessel aus, und Lyra konnte sein<br />
Gesicht nicht mehr sehen.<br />
»Ja, natürlich. Und ich sollte mich umziehen. Wahrscheinlich<br />
gibt es irgendeine alte Vorschrift, nach der sie mich zu<br />
einem Dutzend Flaschen verurteilen können, weil ich hier in<br />
diesen Kleidern auftauche. Ich sollte drei Tage lang schlafen.<br />
Bleibt nur die Tatsache, daß…«<br />
Es klopfte, und der Butler trat mit einem silbernen Tablett<br />
ein, auf dem eine Kaffeekanne und eine Tasse standen.<br />
»Danke, Wren«, sagte Lord Asriel. »Ist das auf dem Tisch der<br />
Tokaier?«<br />
18
»<strong>Der</strong> Rektor ließ ihn speziell für Euch heraufbringen,<br />
Mylord«, sagte der Butler. »Vom Achtundneunziger sind nur<br />
noch drei Dutzend Flaschen übrig.«<br />
»Alle guten Dinge vergehen. Stellen Sie das Tablett hier<br />
neben mich. Ach so, sagen Sie bitte dem Portier, er soll die beiden<br />
Kisten heraufbringen lassen, die ich in seiner Loge abgestellt<br />
habe.«<br />
»Hierher, Mylord?«<br />
»Ja, hierher. Und ich brauche eine Leinwand und eine Projektionslampe,<br />
ebenfalls hierher und ebenfalls gleich.«<br />
Es fehlte nicht viel, und der Butler hätte vor Überraschung<br />
den Mund aufgerissen. Er konnte seine Frage oder seinen Protest<br />
kaum unterdrücken.<br />
»Wren, Sie vergessen sich«, sagte Lord Asriel. »Stellen Sie<br />
keine Fragen; tun Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe.«<br />
»Sehr wohl, Mylord«, sagte der Butler. »Wenn ich einen Vorschlag<br />
machen dürfte: Vielleicht sollte ich Mr. Cawson sagen,<br />
was Ihr vorhabt, Mylord, oder er wird etwas erstaunt sein, wenn<br />
Ihr versteht, was ich meine.«<br />
»Gut, tun Sie das meinetwegen.«<br />
Mr. Cawson war der Steward, und zwischen ihm und dem<br />
Butler bestand eine alte Rivalität. Zwar stand der Steward über<br />
dem Butler, doch hatte dieser mehr Gelegenheit, sich bei den<br />
Wissenschaftlern einzuschmeicheln, und nutzte das auch weidlich<br />
aus. Die Aussicht, dem Steward zeigen zu können, daß er<br />
über die Vorgänge im Ruhezimmer besser informiert war als<br />
dieser, erfüllte ihn mit Entzücken.<br />
Er verbeugte sich und ging. Lyra sah, wie ihr Onkel sich eine<br />
Tasse Kaffee eingoß, sie in einem Zug leerte und sich noch eine<br />
Tasse einschenkte, die er langsamer trank. Gespannt überlegte<br />
sie, was in den Kisten sein mochte. Und eine Projektionslampe?<br />
Was hatte ihr Onkel den Wissenschaftlern zu zeigen, das so<br />
dringend und wichtig war?<br />
19
Lord Asriel stand auf und wandte dem Feuer den Rücken zu.<br />
Sie konnte ihn jetzt von vorn sehen. Wie sehr er sich doch von<br />
dem feisten Butler oder den Wissenschaftlern mit ihren kraftlos<br />
hängenden Schultern unterschied. Lord Asriel war hochgewachsen<br />
und breitschultrig, er hatte ein wildes, dunkles Gesicht<br />
und Augen, die wie in ausgelassenem Gelächter blitzten und<br />
funkelten. Es war ein Gesicht, dem man gehorchte oder gegen<br />
das man kämpfte, doch kein Gesicht, dem man mit Herablassung<br />
oder Mitleid begegnen konnte. Seine Bewegungen waren<br />
kraftvoll und vollkommen beherrscht; wenn er ein Zimmer wie<br />
dieses betrat, glich er einem wilden Tier in einem zu kleinen<br />
Käfig.<br />
In diesem Augenblick lag ein abwesender und besorgter Ausdruck<br />
auf seinem Gesicht. Sein Dæmon kam und lehnte den<br />
Kopf an seine Hüfte, und er sah sie mit seinen unergründlichen<br />
Augen an und wandte sich dann ab und ging zum Tisch. Lyra<br />
spürte, wie ihr Magen einen Satz machte, denn Lord Asriel hatte<br />
den Stöpsel aus der mit Tokaier gefüllten Karaffe gezogen und<br />
schenkte sich ein.<br />
»Nein!«<br />
<strong>Der</strong> leise Schrei war ihr entwischt, bevor sie ihn zurückhalten<br />
konnte. Lord Asriel fuhr herum.<br />
»Wer ist da?«<br />
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie stolperte aus dem Schrank,<br />
rannte zu ihrem Onkel und schlug ihm das Glas aus der Hand.<br />
<strong>Der</strong> Wein schwappte über und spritzte auf die Tischkante und<br />
den Teppich, dann fiel das Glas auf den Boden und zersprang.<br />
Lord Asriel packte sie grob am Handgelenk.<br />
»Lyra! Was zum Teufel machst du hier?«<br />
»Laß mich los, und ich sage es dir!«<br />
»Zuerst breche ich dir den Arm. Wie kannst du es wagen, hier<br />
einzudringen?«<br />
»Ich hab dir gerade das Leben gerettet.«<br />
20
Einen Augenblick lang schwiegen beide, das Mädchen mit<br />
schmerzverzerrtem Gesicht, aber wild entschlossen, nicht zu<br />
schreien, ihr Onkel über sie gebeugt und mit finster gerunzelter<br />
Stirn.<br />
»Was sagst du da?« fragte er etwas ruhiger.<br />
»<strong>Der</strong> Wein ist vergiftet«, stieß sie zwischen zusammengebissenen<br />
Zähnen hervor. »Ich habe gesehen, wie der Rektor ein<br />
Pulver hineingeschüttet hat.«<br />
Er ließ sie los. Sie sank zu Boden, und Pantalaimon flatterte<br />
aufgeregt auf ihre Schulter. Ihr Onkel starrte mit unterdrückter<br />
Wut auf sie herunter, und sie wagte nicht, ihm in die Augen zu<br />
schauen.<br />
»Ich wollte nur wissen, wie es hier aussieht«, sagte sie. »Ich<br />
weiß, ich hätte das Zimmer nicht betreten dürfen. Aber ich<br />
wollte wieder weg sein, bevor jemand kam, nur hörte ich dann<br />
den Rektor kommen und saß in der Falle. <strong>Der</strong> Kleiderschrank<br />
war das einzige Versteck. Und ich sah, wie er das Pulver in den<br />
Wein schüttete. Wenn ich nicht…«<br />
An der Tür klopfte es.<br />
»Das wird der Portier sein«, sagte Lord Asriel. »Zurück in den<br />
Schrank! Wenn ich das kleinste Geräusch höre, sorge ich dafür,<br />
daß du dir wünschst, tot zu sein.«<br />
Sie rannte zum Schrank zurück, und sobald sie die Tür hinter<br />
sich zugezogen hatte, rief Lord Asriel: »Herein!«<br />
Es war der Portier, wie er gesagt hatte.<br />
»Hierher, Mylord?«<br />
Lyra sah den alten Mann zögernd auf der Schwelle stehen,<br />
und hinter ihm war die Ecke einer großen Holzkiste.<br />
»Ganz recht, Shuter«, sagte Lord Asriel. »Bringen Sie beide<br />
Kisten herein, und stellen Sie sie neben den Tisch.«<br />
Lyra entspannte sich ein wenig und spürte nun die Schmerzen<br />
in Schulter und Handgelenk. Sie waren so stark, daß sie<br />
hätte losheulen können, wenn sie zu den Mädchen gehört hätte,<br />
21
die heulten. Statt dessen biß sie die Zähne zusammen und<br />
bewegte den Arm vorsichtig, bis die Schmerzen etwas nachließen.<br />
Plötzlich klirrte Glas, und sie hörte das Gluckern auslaufender<br />
Flüssigkeit.<br />
»Verdammt, Shuter, Sie alter Schussel! Sehen Sie, was Sie<br />
angestellt haben!«<br />
Lyra preßte das Auge an den Türspalt. Ihr Onkel hatte die<br />
Tokaierkaraffe vom Tisch gestoßen und tat jetzt so, als habe der<br />
Portier sie gestreift. <strong>Der</strong> Alte setzte die Kiste sorgfältig ab und<br />
wollte sich entschuldigen.<br />
»Es tut mir aufrichtig leid, Mylord — ich muß dem Tisch<br />
näher gekommen sein, als ich dachte…«<br />
»Holen Sie etwas zum Aufwischen. Schnell, ehe der Wein in<br />
den Teppich sickert.«<br />
<strong>Der</strong> Portier eilte hinaus. Lord Asriel trat zum Schrank und<br />
sagte mit gedämpfter Stimme: »Wenn du schon da drin bist,<br />
kannst du dich auch nützlich machen. Beobachte den Rektor<br />
genau, wenn er hereinkommt. Wenn du mir hinterher etwas<br />
Interessantes über ihn sagen kannst, sorge ich dafür, daß du<br />
nicht noch tiefer in den Schlamassel gerätst, in dem du steckst.<br />
Verstanden?«<br />
»Jawohl, Onkel Asriel.«<br />
»Sobald du ein einziges Geräusch machst, helfe ich dir nicht<br />
mehr. Du hast die Wahl.«<br />
Er entfernte sich wieder und stand mit dem Rücken zum<br />
Feuer, als der Portier mit Besen und Schaufel für die Scherben,<br />
einer Schüssel und einem Wischlappen zurückkehrte.<br />
»Ich kann nur noch einmal sagen, daß ich Euch aufrichtig um<br />
Verzeihung bitte, Mylord. Ich weiß nicht, wie…«<br />
»Wischen Sie einfach nur auf.«<br />
Als der Portier begann, den Teppich trockenzureiben,<br />
klopfte es wieder. Diesmal waren es der Butler und Lord Asriels<br />
22
Diener, ein Mann namens Thorold. Zwischen sich trugen sie<br />
eine schwere Kiste aus poliertem Holz mit Messinggriffen. Als<br />
sie den Portier auf dem Boden knien sahen, blieben sie wie<br />
angewurzelt stehen.<br />
»Ja, es war der Tokaier«, sagte Lord Asriel. »Jammerschade. Ist<br />
das die Projektionslampe? Baue sie doch bitte neben dem<br />
Schrank auf, Thorold. Die Leinwand kommt dann an die<br />
gegenüberliegende Wand.«<br />
Lyra stellte fest, daß sie die Leinwand und alles, was auf ihr<br />
abgebildet war, durch den Spalt in der Schranktür sehen<br />
konnte, und sie überlegte, ob ihr Onkel die Stellung des Projektors<br />
absichtlich so gewählt hatte.<br />
Während der Diener geräuschvoll die steife Leinwand ausrollte<br />
und in den Rahmen spannte, flüsterte sie: »Siehst du? Es<br />
hat sich doch gelohnt zu kommen.«<br />
»Vielleicht«, sagte Pantalaimon mit seiner piepsigen Nachtfalterstimme<br />
unnachgiebig. »Und vielleicht auch nicht.«<br />
Am Feuer stehend, schlürfte Lord Asriel den letzten Kaffee<br />
und sah düster zu, wie Thorold den Kasten mit dem Projektor<br />
öffnete, den Deckel von der Linse nahm und dann in den Ölbehälter<br />
sah.<br />
»Es ist noch genug da, Mylord«, sagte er. »Soll ich einen Techniker<br />
kommen lassen, der das Gerät bedient?«<br />
»Nein, das mache ich selbst. Danke, Thorold. Wren, ist man<br />
mit dem Abendessen schon fertig?«<br />
»Ich glaube fast, Mylord«, erwiderte der Butler. »Wenn ich<br />
Mr. Cawson richtig verstanden habe, werden der Rektor und<br />
seine Gäste sich jetzt, da sie wissen, daß Ihr hier seid, beeilen.<br />
Soll ich das Kaffeetablett mitnehmen?«<br />
»Ja.«<br />
»Sehr wohl, Mylord.«<br />
Mit einer leichten Verbeugung nahm der Butler das Tablett<br />
und ging, gefolgt von Thorold, hinaus. Sobald sich die Tür hin<br />
23
ter den beiden geschlossen hatte, sah Lord Asriel zum Schrank.<br />
Lyra spürte die Macht seines Blickes beinahe körperlich, wie<br />
einen Pfeil oder einen Speer. Dann sah er wieder weg und<br />
sprach leise mit seinem Dæmon.<br />
Lautlos glitt die Leopardin an seine Seite und setzte sich,<br />
wachsam, elegant und gefährlich. Sie ließ ihre grünen Augen<br />
durch den Raum schweifen, bevor sie sie, wie Lord Asriel seine<br />
schwarzen, auf die Tür zum Saal richtete, deren Klinke niedergedrückt<br />
wurde. Lyra konnte die Tür nicht sehen, hörte aber ein<br />
überraschtes Luftholen, als der erste Ankömmling eintrat.<br />
»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ja, hier bin ich wieder. Bringen<br />
Sie Ihre Gäste herein, ich habe Ihnen etwas sehr Interessantes zu<br />
zeigen.«<br />
24
Zwei<br />
<strong>Der</strong> Norden<br />
»Lord Asriel«, sagte der Rektor schwerfällig und trat vor, um<br />
ihm die Hand zu geben. Aus ihrem Versteck beobachtete Lyra<br />
seine Augen, und tatsächlich, für den Bruchteil einer Sekunde<br />
zuckten sie zum Tisch, auf dem der Tokaier gestanden hatte.<br />
»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ich kam zu spät und wollte nicht<br />
mehr beim Abendessen stören, deshalb habe ich es mir hier<br />
bequem gemacht. Guten Abend, Prorektor. Es freut mich, daß<br />
Sie so gesund aussehen. Entschuldigen Sie meine ungepflegte<br />
Erscheinung, ich bin soeben erst gelandet. Ja, Rektor, der<br />
Tokaier ist weg; ich glaube, Sie stehen mitten drin. <strong>Der</strong> Portier<br />
hat ihn vom Tisch gestoßen, aber es war meine Schuld. Guten<br />
Abend, Kaplan. Ich habe Ihren letzten Artikel mit großem<br />
Interesse gelesen…«<br />
Er trat mit dem Kaplan zur Seite, und Lyra sah das Gesicht<br />
des Rektors wieder unverdeckt. Es zeigte keine Bewegung, doch<br />
der Dæmon auf seiner Schulter schüttelte sein Gefieder und trat<br />
ruhelos von einem Fuß auf den anderen. Lord Asriel<br />
beherrschte den Raum mit seiner Gegenwart, und obwohl er<br />
dem Rektor als dem Hausherrn mit ausgesuchter Höflichkeit<br />
begegnete, war klar, wer hier das Sagen hatte.<br />
Die Wissenschaftler begrüßten den Besucher und verteilten<br />
sich im Zimmer. Einige setzten sich an den Tisch, andere in die<br />
25
Sessel, und bald erfüllte Stimmengewirr den Raum. Lyra beobachtete,<br />
wie sie immer wieder neugierig zu dem hölzernen<br />
Kasten, der Leinwand und der Projektionslampe sahen. Das<br />
Mädchen kannte die Wissenschaftler gut: den Bibliothekar, den<br />
Prorektor, den Examinator und die anderen. Diese Männer<br />
waren ihr ganzes Leben lang in ihrer Nähe gewesen, hatten sie<br />
unterrichtet, bestraft und getröstet, ihr kleine Geschenke<br />
gemacht und sie von den Obstbäumen im Garten ferngehalten.<br />
Sie waren ihre Familie; eine andere hatte sie nicht. Vielleicht<br />
hätte Lyra für sie dieselben Gefühle empfunden wie für eine<br />
Familie, wenn sie gewußt hätte, was das war. Allerdings hätte sie<br />
dann wohl doch eher das Collegepersonal für ihre Familie<br />
gehalten; die Wissenschaftler hatten meist Wichtigeres zu tun,<br />
als auf die Bedürfnisse eines halbwilden Mädchens einzugehen,<br />
das durch Zufall in ihrer Mitte gelandet war.<br />
<strong>Der</strong> Rektor zündete die Spirituslampe unter der kleinen silbernen<br />
Warmhalteplatte an, erhitzte etwas Butter und schnitt<br />
dann ein halbes Dutzend Mohnkapseln auf und legte sie auf die<br />
Platte. Nach einem Festessen gab es immer Mohn: Er läuterte<br />
den Geist, regte die Zunge an und belebte das Gespräch. Und es<br />
war ein alter Brauch, daß der Rektor ihn selbst zubereitete.<br />
Als die Butter zischte und das Gespräch in Gang war, verlagerte<br />
Lyra ganz langsam ihr Gewicht, um eine bequemere Stellung<br />
zu finden. Mit größter Vorsicht zog sie einen von oben bis<br />
unten mit Pelz besetzten Talar vom Bügel und breitete ihn auf<br />
dem Boden des Schrankes aus.<br />
»Du hättest dafür einen alten, kratzigen nehmen sollen«, flüsterte<br />
Pantalaimon. »Wenn du es dir zu bequem machst, schläfst<br />
du ein.«<br />
»Wenn ich einschlafe, ist es deine Aufgabe, mich wieder aufzuwecken«,<br />
erwiderte sie.<br />
Sie setzte sich zurecht und lauschte wieder dem Gespräch. Es<br />
war sterbenslangweilig und drehte sich fast nur um Politik,<br />
26
allerdings Politik, die London betraf, nichts Aufregendes über<br />
die Tataren. <strong>Der</strong> Geruch des brutzelnden Mohns und der<br />
Tabakblätter kam einladend durch die Schranktür, und mehr<br />
als einmal nickte Lyra beinahe ein. Doch schließlich hörte sie,<br />
wie jemand auf den Tisch klopfte. Die Stimmen verstummten,<br />
dann sprach der Rektor.<br />
»Meine Herren«, sagte er, »ich bin sicher, daß ich für alle<br />
spreche, wenn ich Lord Asriel bei uns willkommen heiße. Seine<br />
Besuche sind selten, aber immer höchst aufschlußreich, und<br />
soviel ich weiß, will er uns heute abend etwas ganz besonders<br />
Interessantes zeigen. Wie wir alle wissen, leben wir in einer Zeit<br />
großer politischer Spannungen. Lord Asriel wird morgen in<br />
aller Frühe in White Hall erwartet; am Bahnhof steht bereits<br />
der Zug unter Dampf, der ihn nach London bringen wird,<br />
sobald wir unser Gespräch hier beendet haben. Lassen sie uns<br />
also die Zeit nützen. Wenn Lord Asriel mit dem fertig ist, was er<br />
uns zu sagen hat, wird es wahrscheinlich Fragen geben. Ich bitte,<br />
diese kurz und präzise zu halten. Lord Asriel, Sie haben das<br />
Wort.«<br />
»Danke, Rektor«, sagte Lord Asriel. »Zunächst möchte ich<br />
Ihnen einige Lichtbilder zeigen. Prorektor, ich glaube, von hier<br />
sehen Sie am besten. Und Rektor, vielleicht nehmen Sie hier am<br />
Schrank Platz.«<br />
<strong>Der</strong> alte Prorektor war fast blind, es war deshalb nur höflich,<br />
ihm einen Platz nahe der Leinwand anzubieten, und wenn er<br />
nach vorn rückte, kam der Rektor neben dem Bibliothekar zu<br />
sitzen, nur etwa einen Meter von Lyras Versteck im Schrank<br />
entfernt.<br />
Als der Rektor sich setzte, hörte Lyra ihn murmeln: »<strong>Der</strong><br />
Teufel! Ich bin sicher, er wußte von dem Wein.«<br />
»Er wird uns um finanzielle Unterstützung bitten«, murmelte<br />
der Bibliothekar. »Wenn er eine Abstimmung<br />
erzwingt…«<br />
27
»Wenn er das tut, müssen wir mit all unserer Beredsamkeit<br />
dagegen argumentieren.«<br />
Die Lampe begann zu zischen, als Lord Asriel heftig pumpte.<br />
Lyra bewegte den Kopf etwas zur Seite, um die Leinwand sehen<br />
zu können, auf der jetzt ein heller weißer Kreis leuchtete.<br />
»Kann jemand das Licht ausmachen?« fragte Lord Asriel.<br />
Einer der Wissenschaftler stand auf, und im Zimmer wurde<br />
es dunkel.<br />
Lord Asriel begann.<br />
»Wie einige von Ihnen wissen, reiste ich vor zwölf Monaten<br />
in diplomatischer Mission nach Norden zum König von Lappland.<br />
Das war zumindest die offizielle Version. In Wirklichkeit<br />
wollte ich noch weiter in den Norden bis zum Eis vordringen,<br />
um herauszufinden, was der Expedition Grummans zugestoßen<br />
ist. Grumman sprach in einer seiner letzten Nachrichten an die<br />
Berliner Akademie von einer Naturerscheinung, die nur im<br />
hohen Norden zu sehen ist. Ich war entschlossen, dieser Naturerscheinung<br />
und Grummans Schicksal nachzuspüren. Das erste<br />
Bild, das ich Ihnen jetzt zeigen werde, hat mit beidem allerdings<br />
nicht direkt zu tun.«<br />
Er steckte das erste Lichtbild in die Halterung und schob es<br />
vor die Linse. Auf der Leinwand erschien ein rundes Photogramm<br />
in gestochenem Schwarzweiß. In einer Vollmondnacht<br />
aufgenommen, zeigte es in mittlerer Entfernung eine Holzhütte;<br />
dunkel hoben sich die Wände von dem umgebenden<br />
Schnee ab, der auch das Dach mit einer dicken Schicht bedeckte.<br />
Neben der Hütte waren einige philosophische Instrumente<br />
aufgebaut, die Lyra an die Installationen im Anbarischen Park<br />
an der Straße nach Yarnton erinnerten: Antennen, Drähte und<br />
Isolatoren aus Porzellan, alle dick mit Eis bedeckt, das im<br />
Mondlicht glitzerte. Im Vordergrund stand ein in Pelze vermummter<br />
Mann, die Hand wie zum Gruß erhoben und das<br />
Gesicht unter einer tiefen Kapuze fast unsichtbar. Neben ihm<br />
28
stand eine kleinere Gestalt. <strong>Der</strong> Mond tauchte die ganze Szenerie<br />
in fahles Licht.<br />
»Dieses Photogramm wurde mit der üblichen Silbernitratemulsion<br />
aufgenommen«, sagte Lord Asriel. »Bitte sehen Sie<br />
sich jetzt ein weiteres Bild an, das nur eine Minute später von<br />
derselben Stelle aufgenommen wurde, allerdings mit einer<br />
neuen Spezialemulsion.«<br />
Er zog das erste Lichtbild heraus und steckte ein zweites in<br />
die Halterung. Es war viel dunkler, als ob das Mondlicht herausgefiltert<br />
worden sei. <strong>Der</strong> Horizont war immer noch sichtbar,<br />
und auch der dunkle Schatten der Hütte und deren helles,<br />
schneebedecktes Dach hoben sich ab, aber die Instrumente<br />
waren im Dunkel verborgen. <strong>Der</strong> Mann dagegen hatte sich<br />
vollkommen verwandelt: Er war in Licht gebadet, und seiner<br />
erhobenen Hand schien ein Strahl leuchtender Teilchen zu entströmen.<br />
»Kommt dieses Licht von unten oder von oben?« fragte der<br />
Kaplan.<br />
»Von oben«, sagte Lord Asriel, »aber das ist kein Licht. Es ist<br />
Staub.«<br />
Etwas an der Art, wie er das sagte, ließ Lyra unwillkürlich an<br />
STAUB in Großbuchstaben denken, als ob es sich nicht um<br />
gewöhnlichen Staub handelte. Die Reaktion der Wissenschaftler<br />
verstärkte diesen Eindruck. Auf Lord Asriels Worte folgte<br />
ein plötzliches Schweigen, gefolgt von ungläubigen Ausrufen.<br />
»Aber wie…«<br />
»Das kann doch…«<br />
»Unmöglich…«<br />
»Meine Herren!« ertönte die Stimme des Kaplans. »Lassen Sie<br />
Lord Asriel fortfahren.«<br />
»Es ist Staub«, wiederholte Lord Asriel. »Er wird auf der<br />
Platte als Licht abgebildet, weil die Staubpartikel auf die Spezialemulsion<br />
dieselbe Wirkung haben wie Photonen auf eine Sil<br />
29
ernitratemulsion. Dies zu testen war eines der eigentlichen<br />
Ziele meiner Expedition in den Norden. Wie Sie sehen, ist die<br />
Gestalt des Mannes deutlich sichtbar. Betrachten Sie jetzt bitte<br />
die Gestalt links von ihm.«<br />
Er zeigte auf die verschwommenen Umrisse der kleineren<br />
Gestalt.<br />
»Ich dachte, das sei der Dæmon des Mannes«, sagte der Examinator.<br />
»Nein. Sein Dæmon lag zu diesem Zeitpunkt in Gestalt einer<br />
Schlange um seinen Hals. Was Sie hier so unscharf sehen, ist ein<br />
Kind.«<br />
»Ein abgeschnittenes Kind…?« fragte jemand und brach<br />
abrupt ab. Offenbar ging es hier um etwas, das besser ungesagt<br />
blieb.<br />
Es wurde totenstill.<br />
Dann sagte Lord Asriel ruhig: »Ein ganzes Kind. Was angesichts<br />
der Natur des Staubes natürlich der springende Punkt<br />
ist.«<br />
Einige Sekunden lang sagte niemand etwas. Dann war wieder<br />
die Stimme des Kaplans zu vernehmen.<br />
»Ah«, sagte er wie ein Verdurstender, der nach einem tiefen<br />
Schluck das Glas abstellt und den Atem, den er beim Trinken<br />
angehalten hat, herausströmen läßt. »Und die Staubfontäne…«<br />
»…kommt vom Himmel und badet den Mann wie in Licht.<br />
Sie können sich das Bild später noch genauer ansehen, ich lasse<br />
es hier, wenn ich gehe. Ich zeige es Ihnen jetzt nur, um die Wirkung<br />
der neuen Emulsion vorzuführen. Nun möchte ich Ihnen<br />
eine weitere Aufnahme zeigen.«<br />
Er wechselte das Bild. Das nächste war ebenfalls eine Nachtaufnahme,<br />
diesmal allerdings ohne Mondlicht. Es zeigte im<br />
Vordergrund eine kleine Gruppe von Zelten, die sich schwach<br />
gegen den tiefen Horizont abhoben, und daneben einen Haufen<br />
Kisten und einen Schlitten. Das eigentlich Interessante war<br />
30
allerdings der Himmel. Ströme und Schleier von Licht hingen<br />
daran wie Vorhänge herunter, befestigt und drapiert an<br />
unsichtbaren Haken in Hunderten von Kilometern Höhe oder<br />
auseinandergeweht vom Strom eines kosmischen Windes.<br />
»Was ist das?« sagte die Stimme des Prorektors.<br />
»Das ist ein Bild der Aurora.«<br />
»Ein sehr schönes Photogramm«, sagte der Inhaber der Palmer-Professur.<br />
»Eines der besten, die ich kenne.«<br />
»Entschuldigen Sie meine Ignoranz«, sagte die zittrige<br />
Stimme des alten Kantors, »aber wenn ich je wußte, was die<br />
Aurora ist, habe ich es vergessen. Handelt es sich dabei um das<br />
sogenannte Nordlicht?«<br />
»Ja. Die Erscheinung hat viele Namen. Sie besteht aus Stürmen<br />
geladener Teilchen und Sonnenstrahlen außergewöhnlicher<br />
Stärke — die selbst unsichtbar sind, aber dieses Leuchten<br />
verursachen, wenn sie mit der Atmosphäre reagieren. Wenn<br />
genug Zeit gewesen wäre, hätte ich das Bild tönen lassen, um<br />
Ihnen die Farben vorzuführen, überwiegend blasse Grün- und<br />
Rosatöne mit einem Saum von Karmesin am unteren Rand des<br />
vorhangartigen Gebildes. Das Bild wurde mit der herkömmlichen<br />
Emulsion aufgenommen. Jetzt möchte ich Ihnen ein Bild<br />
zeigen, das mit der Spezialemulsion aufgenommen wurde.«<br />
Er zog das Bild heraus, und Lyra hörte, wie der Rektor leise<br />
sagte: »Wenn er abstimmen lassen will, könnten wir sagen, daß<br />
er dazu gar nicht berechtigt ist, weil er nicht im College wohnt.<br />
Er hat von den letzten zweiundfünfzig Wochen nicht die für<br />
Bewohner vorgeschriebenen dreißig im College verbracht.«<br />
»Den Kaplan hat er schon auf seiner Seite…«, murmelte der<br />
Bibliothekar.<br />
Lord Asriel steckte ein neues Lichtbild in die Halterung. Es<br />
zeigte dieselbe Szene. Wie bei den beiden Bildern davor waren<br />
die bei normaler Beleuchtung sichtbaren Konturen und die<br />
leuchtenden Vorhänge am Himmel auch hier viel schwächer.<br />
31
Doch in der Mitte der Aurora, hoch über der öden Landschaft,<br />
erblickte Lyra dafür etwas ganz anderes. Sie drückte ihr<br />
Gesicht an den Spalt, um besser sehen zu können, und sie<br />
bemerkte, daß auch die Wissenschaftler in der Nähe der Leinwand<br />
sich vorbeugten. Je länger Lyra das Bild anstarrte, desto<br />
mehr wuchs ihr Staunen, denn was sich dort im Himmel<br />
abzeichnete, waren eindeutig die Umrisse einer Stadt mit Türmen,<br />
Kuppeln, Mauern, Gebäuden und Straßen — und alles<br />
schwebte in der Luft! Sie unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens.<br />
<strong>Der</strong> Cassington-Stipendiat sagte: »Das sieht ja aus wie… eine<br />
Stadt.«<br />
»Exakt«, sagte Lord Asriel.<br />
»Doch sicher eine Stadt in einer anderen Welt?« sagte der<br />
Dekan, und in seiner Stimme schwang Spott.<br />
Lord Asriel beachtete ihn nicht. Einige Wissenschaftler<br />
blickten ungläubig auf die Leinwand, als hätten sie bisher<br />
Abhandlungen über die Existenz des Einhorns geschrieben,<br />
ohne je eines gesehen zu haben, und als würde ihnen nun ein<br />
eben erst gefangenes, lebendes Exemplar vorgeführt.<br />
»Ist das die Sache, der Barnard und Stokes auf der Spur<br />
waren?« fragte der Palmer-Professor. »Das ist sie doch, oder?«<br />
»Genau das möchte ich herausfinden«, sagte Lord Asriel.<br />
Er stand neben der beleuchteten Leinwand, und Lyra sah, wie<br />
seine dunklen Augen suchend über die Wissenschaftler glitten.<br />
Neben ihm leuchteten grün die Augen seines Dæmons. Die<br />
ehrwürdigen Häupter der Wissenschaftler waren nach vorn<br />
gereckt, in ihren Brillen spiegelte sich das Licht; nur der Rektor<br />
und der Bibliothekar lehnten sich in ihren Sesseln zurück und<br />
steckten die Köpfe zusammen.<br />
<strong>Der</strong> Kaplan sagte gerade: »Sie sagten vorhin, Sie suchten nach<br />
Nachricht von der Expedition Grummans, Lord Asriel. Untersuchte<br />
auch Dr. Grumman dieses Phänomen?«<br />
32
»Ich glaube ja, und ich glaube, daß er bereits einiges darüber<br />
wußte. Allerdings wird er uns nichts darüber sagen können,<br />
denn er ist tot.«<br />
»Nein!« rief der Kaplan.<br />
»Ich fürchte doch, und den Beweis habe ich mitgebracht.«<br />
Im Zimmer entstand Unruhe. Zwei oder drei jüngere Wissenschaftler<br />
brachten, dirigiert von Lord Asriel, die hölzerne<br />
Kiste nach vorn. Lord Asriel nahm das letzte Bild heraus, ließ<br />
die Projektionslampe allerdings an. Von ihrem grellen Lichtkegel<br />
dramatisch beleuchtet, bückte er sich, um die Kiste zu öffnen.<br />
Lyra hörte das Knirschen, als er die Nägel aus dem feuchten<br />
Holz zog. <strong>Der</strong> Rektor stand auf und verstellte ihr die Sicht.<br />
Dann sprach ihr Onkel wieder.<br />
»Grummans Expedition verschwand, wie Sie sich vielleicht<br />
erinnern, vor anderthalb Jahren. Die Deutsche Akademie hatte<br />
ihn nach Norden zum Magnetischen Pol geschickt, wo er verschiedene<br />
Himmelsbeobachtungen anstellen sollte. Im Verlauf<br />
dieser Reise beobachtete er die seltsame Erscheinung, die wir<br />
uns soeben angesehen haben. Kurz danach verschwand er. Man<br />
nahm an, daß er einen Unfall hatte und seine Leiche in irgendeiner<br />
Gletscherspalte lag. Doch es gab keinen solchen Unfall.«<br />
»Was haben Sie da?« fragte der Dekan. »Ist das ein Vakuumbehälter?«<br />
Lord Asriel antwortete nicht gleich. Lyra hörte, daß Metallschlösser<br />
aufschnappten und zischend Luft in einen Behälter<br />
strömte, dann herrschte Schweigen. Allerdings nicht lange. Nur<br />
wenige Augenblicke später brach ein Chaos aus. Lyra hörte entsetzte<br />
Schreie, lauten Protest und vor Empörung und Angst<br />
erhobene Stimmen.<br />
»Aber was…«<br />
»…gar nicht menschlich…«<br />
»…das ist ja…«<br />
»…wie ist denn das passiert?«<br />
33
Die Stimme des Rektors schnitt durch den Lärm.<br />
»Lord Asriel, was in Gottes Namen ist das hier?«<br />
»Das ist der Kopf von Stanislaus Grumman«, sagte Lord<br />
Asriel.<br />
Durch das Stimmengewirr hörte Lyra, wie jemand mit würgenden<br />
Lauten zur Tür hastete. Sie wünschte, sie hätte sehen<br />
können, was die anderen sahen.<br />
»Ich fand seine Leiche vor Svalbard, im Eis konserviert«, sagte<br />
Lord Asriel. »<strong>Der</strong> Kopf wurde von seinen Mördern so zugerichtet.<br />
Sie sehen, daß er nach einer bestimmten Technik skalpiert<br />
wurde. Sie dürfte Ihnen bekannt sein, Prorektor.«<br />
Die Stimme des alten Mannes zitterte nicht, als er antwortete:<br />
»Ich kenne sie von den Tataren. Man findet sie bei den Völkern<br />
Sibiriens und am Tunguska. Von dort breitete sie sich<br />
natürlich zu den Skrälingen aus, obwohl sie in Neudänemark<br />
meines Wissens inzwischen verboten ist. Darf ich mir den Kopf<br />
genauer ansehen, Lord Asriel?«<br />
Nach kurzem Schweigen sprach er wieder.<br />
»Ich sehe nicht mehr so gut, und das Eis ist schmutzig, aber<br />
wie mir scheint, hat die Schädeldecke ein Loch. Stimmt das?«<br />
»Ja.«<br />
»Eine Trepanation?«<br />
»Richtig.«<br />
Erregtes Gemurmel erhob sich. <strong>Der</strong> Rektor trat aus dem<br />
Weg, und Lyra konnte wieder etwas sehen. Im Kegel der Lampe<br />
stand der alte Prorektor und hielt sich einen schweren Eisblock<br />
dicht vor die Augen, in dem ein Gegenstand eingeschlossen war,<br />
eine blutige Masse, die nur noch wenig mit einem menschlichen<br />
Kopf gemein hatte. Pantalaimon flatterte unglücklich um<br />
Lyra herum.<br />
»Pst!« flüsterte sie. »Hör zu.«<br />
»Dr. Grumman war einst Mitglied dieses College«, sagte der<br />
Dekan heftig.<br />
34
»In die Hände der Tataren zu fallen…«<br />
»Aber so hoch im Norden?«<br />
»Sie müssen weiter vorgestoßen sein, als irgend jemand für<br />
möglich gehalten hätte!«<br />
»Sagten Sie nicht, Sie hätten ihn in der Nähe von Svalbard<br />
gefunden?« fragte der Dekan.<br />
»Richtig.«<br />
»Heißt das, die Panserbjørne haben etwas damit zu tun?«<br />
Lyra kannte das Wort nicht, aber die anderen Wissenschaftler<br />
wußten offensichtlich, was gemeint war.<br />
»Unmöglich«, sagte der Cassington-Stipendiat entschieden.<br />
»So etwas würden sie nie tun.«<br />
»Dann kennen Sie Iofur Raknison nicht«, sagte der Palmer-<br />
Professor, der selbst einige Expeditionen in die Arktis unternommen<br />
hatte. »Es würde mich nicht überraschen zu hören,<br />
daß er seine Opfer jetzt wie die Tataren skalpiert.«<br />
Lyra sah wieder zu ihrem Onkel, der die anderen mit einem<br />
boshaften Funkeln in den Augen beobachtete und nichts sagte.<br />
»Wer ist Iofur Raknison?« fragte jemand.<br />
»<strong>Der</strong> König von Svalbard«, sagte der Palmer-Professor. »Es<br />
stimmt schon, er ist ein Panserbjørne und nur ein Usurpator; er<br />
hat den Thron durch Intrigen an sich gerissen, soviel ich weiß.<br />
Aber er ist mächtig und keineswegs ein Narr, trotz seiner<br />
lächerlichen Angeberei — er läßt sich einen Palast aus importiertem<br />
Marmor bauen und will eine Universität gründen, wie<br />
er es nennt…«<br />
»Für wen? Für die Bären?« sagte jemand, und alle lachten.<br />
»So lächerlich das klingt«, fuhr der Professor fort, »ich sage<br />
Ihnen, daß er imstande wäre, Grumman so zuzurichten. Dabei<br />
kann er, wenn man ihm aus irgendeinem Grunde schmeichelt,<br />
auch ganz anders sein.«<br />
»Und Sie wissen natürlich, wie man das macht, Trelawney,<br />
nicht?« sagte der Dekan spöttisch.<br />
35
»Ich weiß es tatsächlich. Wissen Sie, was er sich am meisten<br />
wünscht? Noch mehr als einen akademischen Ehrengrad?<br />
Einen Dæmon! Verhelfen Sie ihm zu einem Dæmon, und er<br />
wird alles für Sie tun.«<br />
Die Wissenschaftler lachten herzhaft.<br />
Lyra hörte verwirrt zu. Was der Professor sagte, ergab für sie<br />
überhaupt keinen Sinn. Außerdem wollte sie lieber mehr über<br />
das Skalpieren, das Nordlicht und den geheimnisvollen Staub<br />
wissen. Zu ihrer Enttäuschung war Lord Asriel mit seinen Bildern<br />
und anderen Mitbringseln fertig, und aus dem Gespräch<br />
wurde bald ein Streit der Wissenschaftler untereinander, ob sie<br />
Lord Asriel Geld für eine neue Expedition geben sollten oder<br />
nicht. Die Argumente gingen hin und her, und Lyra merkte,<br />
wie ihr die Augen zufielen. Bald schlief sie fest, um den Hals<br />
Pantalaimon in Gestalt eines Hermelins, die er zum Schlafen<br />
bevorzugte.<br />
Lyra fuhr hoch, als jemand sie an der Schulter schüttelte.<br />
»Pst! Kein Laut«, sagte ihr Onkel. Die Schranktür war offen,<br />
und er stand gebückt im Gegenlicht vor ihr. »Sie sind alle weg,<br />
aber ein paar Diener sind noch auf den Beinen. Geh jetzt in dein<br />
Schlafzimmer, aber erzähle niemandem von heute abend.«<br />
»Haben sie dir das Geld gegeben?« fragte sie schläfrig.<br />
»Ja.«<br />
»Was ist dieser Staub?« Das Aufstehen nach so langer Zeit<br />
beengt im Schrank bereitete ihr Schwierigkeiten.<br />
»Das geht dich nichts an.«<br />
»Das geht mich sehr wohl etwas an«, sagte sie. »Wenn ich im<br />
Schrank für dich spionieren soll, mußt du mir auch sagen,<br />
wofür ich spioniere. Kann ich den Kopf sehen?«<br />
Pantalaimons weißes Hermelinfell sträubte sich; Lyra spürte,<br />
wie es sie am Hals kitzelte. Lord Asriel lachte kurz.<br />
»Sei nicht aufsässig«, sagte er und begann, die Lichtbilder und<br />
36
die Kiste zusammenzupacken. »Hast du den Rektor beobachtet?«<br />
»Ja. Er hat zuerst nach dem Wein gesehen.«<br />
»Gut. Aber diesmal habe ich ihm einen Strich durch die<br />
Rechnung gemacht. Jetzt tu, was ich dir sage, und geh ins Bett.«<br />
»Aber wohin gehst du?«<br />
»Wieder in den Norden. Ich fahre in zehn Minuten.«<br />
»Kann ich mitkommen?«<br />
Er hielt beim Packen inne und sah sie an, als sehe er sie zum<br />
ersten Mal. Auch sein Dæmon sah sie mit großen, grünen Leopardenaugen<br />
an, und von beiden so angestarrt, wurde Lyra rot.<br />
Aber sie starrte grimmig zurück.<br />
»Dein Platz ist hier«, sagte ihr Onkel schließlich.<br />
»Aber warum? Warum ist mein Platz hier? Warum kann ich<br />
nicht mit dir in den Norden kommen? Ich will das Nordlicht<br />
sehen und Bären und Eisberge und alles. Ich will wissen, was<br />
Staub ist. Und diese Stadt in der Luft. Ist das eine andere Welt?«<br />
»Du kommst nicht mit, Kind. Schlag dir das aus dem Kopf,<br />
die Zeiten sind zu gefährlich. Tu, was dir gesagt wird, und geh<br />
ins Bett, und wenn du brav bist, bringe ich dir einen Walroßzahn<br />
mit einer Eskimoschnitzerei mit. Widersprich mir nicht,<br />
sonst werde ich sehr ärgerlich.«<br />
Sein Dæmon ließ ein tiefes, wildes Knurren ertönen, und<br />
Lyra stellte sich plötzlich vor, wie die Zähne der Leopardin sich<br />
in ihren Hals gruben.<br />
Sie preßte die Lippen aufeinander und starrte ihren Onkel<br />
finster an. Er pumpte die Luft aus dem Vakuumbehälter und<br />
beachtete sie nicht; es war, als hätte er sie bereits vergessen.<br />
Wortlos, aber mit dünnen Lippen und zusammengekniffenen<br />
Augen, ging das Mädchen in Begleitung seines Dæmons aus<br />
dem Zimmer.<br />
37
<strong>Der</strong> Rektor und der Bibliothekar waren alte Freunde und<br />
Verbündete, und nach schwierigen Gesprächen pflegten sie<br />
zusammen ein Glas Branntwein zu trinken und einander Mut<br />
zuzusprechen. Nachdem sie nun Lord Asriel verabschiedet hatten,<br />
schlenderten sie zur Wohnung des Rektors und machten es<br />
sich in seinem Arbeitszimmer bequem. Sie zogen die Vorhänge<br />
zu und legten Holz für das Feuer nach, und ihre Dæmonen setzten<br />
sich auf ihre angestammten Plätze auf dem Knie und der<br />
Schulter. Dann sprachen sie über das, was geschehen war.<br />
»Glaubst du wirklich, er wußte von dem Wein?« fragte der<br />
Bibliothekar.<br />
»Ganz sicher. Ich habe zwar keine Ahnung woher, aber er<br />
wußte davon und hat die Karaffe selbst umgekippt. Ganz sicher<br />
wußte er davon.«<br />
»Tut mir leid, Rektor, aber ich bin froh darüber. Ich war nie<br />
glücklich über die Vorstellung, ihn zu…«<br />
»Zu vergiften?«<br />
»Ja. Zu ermorden.«<br />
»Über so etwas ist niemand glücklich, Charles. Die Frage war<br />
nur, was schlimmer war: die Tat oder die Folgen der Unterlassung.<br />
Gut, das Schicksal hat entschieden, und es ist nicht soweit<br />
gekommen. Es tut mir nur leid, daß ich dich mit dem Wissen<br />
belastet habe.«<br />
»Überhaupt nicht«, protestierte der Bibliothekar. »Ich<br />
wünschte nur, du hättest mir mehr gesagt.«<br />
<strong>Der</strong> Rektor schwieg, dann sagte er: »Ja, vielleicht hätte ich das<br />
tun sollen. Das Alethiometer warnt vor schrecklichen Folgen,<br />
wenn Lord Asriel seine Suche fortsetzt. Außerdem wird das<br />
Mädchen in die ganze Sache hineingezogen werden, und ich<br />
möchte sie so lange wie möglich vor Gefahren schützen.«<br />
»Hat Lord Asriels Unternehmen etwas mit der neuen Initiative<br />
des Geistlichen Disziplinargerichts zu tun? Mit der — wie<br />
heißt sie doch gleich — der Oblations-Behörde?«<br />
38
»Lord Asriel — nein, gar nicht. Ganz im Gegenteil. Die Oblations-Behörde<br />
ist übrigens auch nicht ausschließlich dem<br />
Geistlichen Disziplinargericht unterstellt. Sie ist eine halbprivate<br />
Initiative unter Leitung einer Person, die keinerlei Sympathien<br />
für Lord Asriel hegt. Ich fürchte beide, Charles.«<br />
<strong>Der</strong> Bibliothekar blieb stumm. Seit Papst Johannes Calvin<br />
den Sitz des Papsttums nach Genf verlegt und das Geistliche<br />
Disziplinargericht eingerichtet hatte, hatte die Kirche absolute<br />
Macht über sämtliche Bereiche des Lebens erlangt. Das<br />
Papsttum selbst war nach Calvins Tod abgeschafft worden, und<br />
an seine Stelle war ein undurchsichtiges System von Gerichten,<br />
Kollegien und Räten getreten, das zusammenfassend Magisterium<br />
genannt wurde. Diese Behörden arbeiteten nicht immer<br />
friedlich zusammen, manchmal waren sie bittere Rivalen. Am<br />
mächtigsten war den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts<br />
das Bischofskollegium gewesen, doch hatte in jüngeren<br />
Jahren das Geistliche Disziplinargericht seinen Platz als aktivstes<br />
und gefürchtetstes kirchliches Organ eingenommen.<br />
Allerdings konnte es jederzeit geschehen, daß unter dem<br />
Schutz einer anderen Abteilung des Magisteriums eine unabhängige<br />
Behörde entstand, und eine solche war die Oblations-<br />
Behörde, von der der Bibliothekar gesprochen hatte. Er wußte<br />
nicht viel von ihr, aber was er gehört hatte, mißfiel ihm und<br />
machte ihm angst, deshalb hatte er volles Verständnis für die<br />
Besorgnis des Rektors.<br />
»<strong>Der</strong> Palmer-Professor erwähnte zwei Namen«, sagte er nach<br />
einer Weile. »Barnard und Stokes. Worum geht es dabei?«<br />
»Ach das — das geht uns nichts an, Charles. Die Heilige Kirche<br />
lehrt, soweit ich es verstehe, daß es zwei Welten gibt: die<br />
Welt der Dinge, die wir sehen, hören und anfassen können, und<br />
eine zweite Welt, die geistige Welt des Himmels und der Hölle.<br />
Barnard und Stokes waren — wie soll ich sagen — abtrünnige<br />
Theologen, die an die Existenz zahlreicher anderer Welten<br />
39
glaubten, Welten wie unsere, die weder Himmel noch Hölle<br />
sind, sondern materiell und sündig. Diese Welten existieren<br />
angeblich neben und um uns, sie sind aber unsichtbar und<br />
unerreichbar. Die Heilige Kirche verurteilte das natürlich als<br />
Ketzerei und brachte die beiden zum Schweigen. Zum Unglück<br />
für das Magisterium scheint es tatsächlich handfeste mathematische<br />
Beweise für diese Theorie anderer Welten zu geben. Ich<br />
habe das nicht genauer verfolgt, aber der Cassington-Stipendiat<br />
hat es mir gesagt.«<br />
»Und jetzt hat Lord Asriel ein Bild einer solchen anderen<br />
Welt aufgenommen«, sagte der Bibliothekar. »Und wir haben<br />
ihm Geld gegeben, damit er sie findet. Ich verstehe.«<br />
»Genau so ist es. Die Oblations-Behörde und ihre mächtigen<br />
Beschützer werden glauben, Jordan College sei eine Brutstätte<br />
der Ketzerei. Und ich muß zwischen Disziplinargericht und<br />
Oblations-Behörde vermitteln, Charles. Inzwischen wächst das<br />
Mädchen heran; man wird sie nicht vergessen haben. Früher<br />
oder später wäre sie natürlich sowieso in die Sache hineingezogen<br />
worden, aber jetzt wird sie es, ohne daß ich sie schützen<br />
kann.«<br />
»Aber woher weißt du das, um Gottes willen? Wieder durch<br />
das Alethiometer?«<br />
»Ja. Lyra wird bei alldem eine Rolle spielen, und zwar eine<br />
entscheidende. Die Ironie ist nur, daß sie diese Rolle spielen<br />
muß, ohne daß sie weiß, was sie tut. Natürlich kann man versuchen<br />
ihr zu helfen, und wenn mein Plan mit dem Tokaier aufgegangen<br />
wäre, wäre sie noch ein wenig länger sicher gewesen.<br />
Ich hätte ihr eine Reise in den Norden gern erspart. Vor allem<br />
wünschte ich mir, ich könnte ihr erklären…«<br />
»Sie würde dir nicht zuhören«, sagte der Bibliothekar. »Ich<br />
kenne sie nur zu gut. Wenn du ihr etwas Ernsthaftes erklären<br />
willst, hört sie dir fünf Minuten lang halbherzig zu und fängt<br />
dann an zu zappeln. Und wenn du sie beim nächsten Mal<br />
40
danach fragst, hat sie es schon wieder vollkommen vergessen.«<br />
»Und wenn ich mit ihr über Staub rede? Glaubst du nicht, sie<br />
würde dann zuhören?«<br />
<strong>Der</strong> Bibliothekar gab durch ein Schnalzen der Zunge zu verstehen,<br />
für wie unwahrscheinlich er das hielt.<br />
»Warum um alles in der Welt sollte sie?« sagte er. »Warum<br />
sollte ein abstraktes theologisches Problem ein gesundes,<br />
gedankenloses Kind interessieren?«<br />
»Wegen ihres künftigen Schicksals. Dabei spielt auch ein großer<br />
Betrug eine Rolle…«<br />
»Wer wird sie betrügen?«<br />
»Niemand, das ist ja das Traurige: Sie selbst wird die Betrügerin<br />
sein, für sie eine schreckliche Erfahrung. Davon darf sie<br />
natürlich nichts wissen, aber es gibt keinen Grund, warum sie<br />
vom Problem des Staubes nichts wissen sollte. Und vielleicht<br />
hast du unrecht, Charles; vielleicht interessiert sie sich ja doch<br />
dafür, wenn man es ihr auf einfache Weise erklärt. Es könnte ihr<br />
später weiterhelfen. Und ich würde nicht soviel Angst um sie<br />
haben.«<br />
»Das ist die Aufgabe der Alten«, sagte der Bibliothekar, »um<br />
die Jungen Angst zu haben. Und die Aufgabe der Jungen ist es,<br />
über die Angst der Alten zu lachen.«<br />
Sie saßen noch eine kurze Weile da, dann gingen sie auseinander,<br />
denn es war spät, und sie waren alt und ängstlich.<br />
41
Drei<br />
Lyras Jordan<br />
Jordan College war das imposanteste und reichste College in<br />
Oxford. Wahrscheinlich war es auch das größte, obwohl das<br />
keiner so genau wußte. Die Gebäude umschlossen drei unregelmäßige<br />
Innenhöfe und vereinten in sich sämtliche Stilrichtungen<br />
vom frühen Mittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts.<br />
Eine einheitliche Planung hatte es nie gebeben. Das College<br />
war nach und nach gewachsen, überall stießen Vergangenheit<br />
und Gegenwart aneinander, und dadurch entstand der Eindruck<br />
einer bizarren und schon etwas verblichenen Pracht.<br />
Irgendwo war immer eine Mauer kurz vor dem Einsturz, und<br />
seit fünf Generationen arbeitete dieselbe Familie von Steinmetzen<br />
und Gerüstbauern, die Parslows, ausschließlich für das College.<br />
<strong>Der</strong> gegenwärtige Mr. Parslow gab sein Wissen an seinen<br />
Sohn weiter, und zusammen mit ihren drei Arbeitern kletterten<br />
sie unermüdlich wie Termiten über die Gerüste, die sie an<br />
der Ecke der Bibliothek oder über dem Dach der Kapelle<br />
errichtet hatten, und hievten hellbraune neue Steinquader,<br />
glänzende Bleirollen oder Holzbalken hinauf.<br />
Dem College gehörten Höfe und Ländereien in ganz Brytannien.<br />
Es hieß, man könne von Oxford nach Bristol in der<br />
einen und nach London in der anderen Richtung gehen, ohne<br />
das Gebiet des College zu verlassen. Überall im Königreich<br />
42
zählten Färbereien und Ziegeleien, Wälder und Atomkraftwerke<br />
Pacht an das College, und einmal im Quartal rechneten<br />
der Finanzverwalter und seine Buchhalter alles zusammen,<br />
gaben die Summe dem Konzil bekannt und bestellten zwei<br />
Schwäne für das Festessen. Ein Teil des Geldes wurde wieder<br />
investiert — das Konzil hatte soeben den Kaufeines Geschäftsgebäudes<br />
in Manchester genehmigt —, vom Rest bezahlte man<br />
die bescheidenen Gehälter der Wissenschaftler und die Löhne<br />
des Personals, darunter die Parslows und das runde Dutzend<br />
anderer Handwerker- und Händlerfamilien im Dienste des<br />
College, den Wein für den reich gefüllten Weinkeller, die<br />
Bücher und Anbarographen für die riesige Bibliothek, die eine<br />
ganze Seite des Melrose Quadrangle einnahm und sich höhlenartig<br />
über mehrere unterirdische Stockwerke erstreckte, und<br />
nicht zuletzt neue philosophische Instrumente für die Kapelle.<br />
Die Kapelle auf dem neuesten Stand zu halten war wichtig,<br />
weil Jordan College als Zentrum der Experimentaltheologie in<br />
Europa wie in Neufrankreich unumstritten an der Spitze stand.<br />
Das wußte auch Lyra. Sie war stolz auf die Bedeutung ihres College<br />
und gab damit gern bei ihren Kameraden an, wenn sie mit<br />
ihnen am Kanal oder in den Lehmgruben spielte. Für prominente<br />
externe Wissenschaftler und Professoren von auswärts<br />
hatte sie nur Verachtung übrig, weil sie nicht zu Jordan College<br />
gehörten und deshalb zwangsläufig weniger wußten, die<br />
Armen, als der letzte Hilfswissenschaftler von Jordan.<br />
Was Experimentaltheologie war, wußte Lyra genausowenig<br />
wie ihre Spielkameraden. Sie hatte zwar eine vage Vorstellung,<br />
daß es sich dabei um Zauberei handelte, um die Bahnen von<br />
Sternen und Planeten und um kleine Materieteilchen, aber das<br />
waren nur Vermutungen. Wahrscheinlich hatten Sterne<br />
Dæmonen wie die Menschen, und die Experimentaltheologen<br />
sprachen mit ihnen. Lyra stellte sich vor, wie der Kaplan mit seiner<br />
gesetzten Stimme etwas sagte, den Antworten der Stern<br />
43
dæmonen lauschte und dann wissend nickte oder bedauernd<br />
den Kopf schüttelte. Was er allerdings mit den Sternen besprechen<br />
sollte, wußte sie nicht.<br />
Es interessierte sie auch nicht besonders. Lyra bevorzugte<br />
handfestere Dinge. Am liebsten kletterte sie mit ihrem besten<br />
Freund Roger, dem Küchenjungen, über die Collegedächer<br />
und spuckte Pflaumenkerne auf die Köpfe vorbeikommender<br />
Wissenschaftler oder schrie vor dem Fenster eines Seminarraumes<br />
wie eine Eule; bei anderen Gelegenheiten machten die<br />
Kinder Wettrennen durch die engen Gassen, stahlen auf dem<br />
Markt Äpfel oder führten Krieg. So wie Lyra nichts von den<br />
unter der Oberfläche des Collegealltags verborgenen politischen<br />
Strömungen ahnte, wußten die Wissenschaftler ihrerseits<br />
nichts von dem wunderbar aufregenden Durcheinander von<br />
Bündnissen, Feindschaften, Fehden und Verträgen, das das<br />
Leben der Kinder von Oxford bestimmte. Wie schön war es<br />
doch, Kindern beim Spielen zuzusehen; was könnte unschuldiger<br />
und rührender sein?<br />
Dabei bekämpften Lyra und die anderen Kinder einander in<br />
wechselnden Gruppierungen bis aufs Messer. So bekriegten die<br />
Kinder von Jordan College (darunter junge Diener, die Kinder<br />
von Dienern und Lyra) die Kinder eines anderen College. Dieser<br />
Krieg war allerdings vergessen, wenn die Kinder aus der<br />
Stadt ein Kind aus dem College angriffen: Dann rückten alle<br />
Collegekinder gemeinsam gegen die Stadtkinder vor. Diese<br />
Rivalität war viele hundert Jahre alt und rief verwurzelt und<br />
besonders befriedigend.<br />
Aber selbst sie war vergessen, wenn andere Feinde drohten.<br />
Ein solcher Dauerfeind waren die Kinder der Ziegelbrenner,<br />
die bei den Lehmgruben lebten und von College- und Stadtkindern<br />
gleichermaßen verachtet wurden. Im vergangenen Jahr<br />
hatten Lyra und einige Kinder aus der Stadt vorübergehend<br />
Waffenstillstand geschlossen und die Lehmgruben überfallen.<br />
44
Sie hatten die Ziegelbrennerkinder mit schweren Lehmklumpen<br />
bombardiert, ihre feuchte Lehmburg zerstört und die Kinder<br />
dann in der klebrigen Masse gewälzt, von der ihre Väter<br />
lebten, bis Sieger und Besiegte gleichermaßen einer Schar kreischender<br />
Golems glichen.<br />
<strong>Der</strong> andere Dauerfeind kam und ging mit den Jahreszeiten.<br />
Die gyptischen Familien, die in Flußbooten lebten und zu den<br />
Märkten im Frühjahr und Herbst in der Stadt auftauchten,<br />
waren immer für einen Kampf gut. Besonders gegen eine<br />
Familie, deren Boot an einem Liegeplatz im Stadtteil Jericho<br />
festmachte, führte Lyra eine Fehde, seit sie Steine werfen<br />
konnte. Als die Familie das letzte Mal in Oxford gewesen war,<br />
hatten Lyra, Roger und einige andere Küchenjungen aus Jordan<br />
und St. Michael sich in den Hinterhalt gelegt und das bunt<br />
bemalte Flußboot mit Matsch beworfen, bis die ganze Familie<br />
an Land sprang, um die Kinder zu verjagen — in diesem Augenblick<br />
hatte Lyra an der Spitze eines Reservekommandos das<br />
Boot geentert und es vom Ufer abgestoßen. Sie waren den<br />
Kanal entlanggetrieben, hatten den gesamten Bootsverkehr<br />
blockiert und das Boot von vorn bis hinten nach seinem Stöpsel<br />
durchsucht. Lyra glaubte fest an diesen Stöpsel. Wenn man ihn<br />
herauszog, so versicherte sie ihrer Truppe, würde das Boot<br />
sofort sinken. Doch sie fanden ihn nicht und mußten das Boot<br />
verlassen, als die Gypter sie einholten. Tropfnaß und mit Triumphgeheul<br />
waren sie durch die engen Gassen von Jericho<br />
geflohen.<br />
In dieser Welt war Lyra zu Hause. Sie war vor allem ein freches<br />
kleines Mädchen, das sich holte, was es brauchte. Daneben<br />
sagte ihr freilich ein vages Gefühl, daß ihre Welt nicht auf dieses<br />
Treiben beschränkt war, daß ein Teil von ihr auch der erhabenen,<br />
von Traditionen geprägten Welt von Jordan College angehörte<br />
und daß es irgendwo in ihrem Leben auch eine Verbindung<br />
zur Welt der hohen Politik gab, die Lord Asriel<br />
45
epräsentierte. Doch bewirkte dieses Gefühl nur, daß sie sich<br />
aufspielte und die anderen Kinder herumkommandierte. Es<br />
war ihr nie eingefallen, dem Gefühl nachzugehen.<br />
So hat sie ihre Kindheit wie eine halbwilde Katze verbracht.<br />
Die einzige Abwechslung stellten die unregelmäßigen Besuche<br />
von Lord Asriel im College dar. Mit einem reichen und mächtigen<br />
Onkel ließ sich zwar gut angeben, aber der Preis dafür war,<br />
daß Lyra sich von dem Wissenschaftler, der am schnellsten rennen<br />
konnte, einfangen und zur Haushälterin schleppen lassen<br />
mußte, die sie wusch und in ein sauberes Kleid steckte;<br />
anschließend wurde sie unter vielen Drohungen zum Dozentenzimmer<br />
geleitet, um mit Lord Asriel Tee zu trinken. Dazu<br />
wurden auch einige wichtige Wissenschaftler eingeladen. Lyra<br />
ließ sich dann rebellisch in einen Sessel fallen, bis der Rektor ihr<br />
scharf befahl, sich gerade hinzusetzen, worauf sie die anderen<br />
finster anstarrte, bis sogar der Kaplan lachen mußte.<br />
<strong>Der</strong> Ablauf dieser unangenehmen, steifen Besuche war<br />
immer derselbe. Nach dem Tee ließen der Rektor und die dazugeladenen<br />
Wissenschaftler Lyra und ihren Onkel allein, und er<br />
befahl ihr, sich vor ihn hinzustellen und zu berichten, was sie<br />
seit seinem letzten Besuch gelernt hatte. Sie kratzte dann<br />
zusammen, was ihr über Geometrie, Arabisch, Geschichte oder<br />
Anbarologie einfiel, und er lehnte sich mit übereinandergeschlagenen<br />
Beinen zurück und musterte sie mit unergründlichem<br />
Blick, bis sie verstummte.<br />
Im vergangenen Jahr, vor seiner Expedition in den Norden,<br />
hatte er anschließend gefragt: »Und was tust du, wenn du nicht<br />
fleißig lernst?«<br />
»Ich spiele«, hatte sie gemurmelt. »Im College und in der<br />
Umgebung. Ich… spiele einfach, ja.«<br />
»Laß deine Hände sehen, Kind.«<br />
Sie streckte die Hände aus, und er nahm sie, drehte sie um<br />
und sah sich die Fingernägel an. Neben ihm lag wie eine Sphinx<br />
46
sein Dæmon auf dem Teppich und starrte Lyra unverwandt an;<br />
nur der Schwanz zuckte gelegentlich.<br />
»Dreckig«, sagte Lord Asriel und schob die Hände weg.<br />
»Lernst du hier nicht, die Hände zu waschen?«<br />
»Doch«, sagte sie. »Aber die Nägel des Kaplans sind auch<br />
immer dreckig. Sie sind sogar noch dreckiger als meine.«<br />
»Er ist ein Gelehrter. Was ist deine Entschuldigung?«<br />
»Ich muß sie nach dem Waschen dreckig gemacht haben.«<br />
»Wo spielst du, daß du dich so dreckig machst?«<br />
Sie sah ihn mißtrauisch an. Ein Gefühl sagte ihr, daß über die<br />
Dächer zu klettern verboten war, auch wenn niemand ein solches<br />
Verbot ausgesprochen hatte. »In einigen der alten Räume«,<br />
sagte sie schließlich.<br />
»Und wo sonst noch?«<br />
»Manchmal in den Lehmgruben.«<br />
»Und?«<br />
»In Jericho und Port Meadow.«<br />
»Sonst nirgends?«<br />
»Nein.«<br />
»Du lügst. Ich habe dich gestern auf dem Dach gesehen.«<br />
Sie biß sich auf die Lippe und sagte nichts. Er musterte sie<br />
spöttisch.<br />
»Du spielst also auch auf dem Dach«, sagte er dann. »Gehst<br />
du auch manchmal in die Bibliothek?«<br />
»Nein. Aber auf dem Dach der Bibliothek habe ich einen<br />
Raben gesehen.«<br />
»So? Hast du ihn gefangen?«<br />
»Er hatte sich den Fuß verletzt. Ich wollte ihn töten und braten,<br />
aber Roger sagte, wir sollten ihm helfen, damit sein Fuß<br />
heilt. Also haben wir ihn gefüttert und ihm Wein zu trinken<br />
gegeben, und dann ging es ihm besser, und er flog weg.«<br />
»Wer ist Roger?«<br />
»Mein Freund. <strong>Der</strong> Küchenjunge.«<br />
47
»Aha. Du warst also auf allen Dächern…«<br />
»Nicht auf allen. Auf das Sheldon-Gebäude kommt man<br />
nicht, weil man vom Pilgerturm über einen Spalt hinüberspringen<br />
muß. Es gibt zwar ein Dachfenster zum Sheldon-Gebäude,<br />
aber ich bin zu klein, um hinaufzukommen.«<br />
»Du warst also auf allen Dächern außer einem. Und unter<br />
der Erde?«<br />
»Unter der Erde?«<br />
»<strong>Der</strong> unterirdische Teil des College ist genausogroß wie der<br />
oberirdische. Es überrascht mich, daß du das noch nicht entdeckt<br />
hast. Also, ich muß gleich gehen. Du siehst gesund aus.<br />
Hier.«<br />
Er suchte in seiner Tasche, holte eine Handvoll Münzen heraus<br />
und gab ihr fünf Golddollar.<br />
»Lernt man hier nicht, danke zu sagen?« sagte er.<br />
»Danke«, murmelte sie undeutlich.<br />
»Tust du, was der Rektor sagt?«<br />
»O ja.«<br />
»Und du bist brav zu den Wissenschaftlern?«<br />
»Ja.«<br />
Lord Asriels Dæmon, die Leopardin, lachte leise. Sie war bisher<br />
stumm gewesen, und Lyra wurde rot.<br />
»Dann geh jetzt spielen«, sagte Lord Asriel.<br />
Erleichtert wandte Lyra sich zur Tür. Im letzten Moment fiel<br />
ihr noch ein, auf Wiedersehen zu sagen, dann rannte sie hinaus.<br />
Dies war Lyras Leben gewesen, bis zu dem Tag, an dem sie<br />
beschlossen hatte, sich im Ruhezimmer zu verstecken, und an<br />
dem sie zum ersten Mal von Staub gehört hatte.<br />
Und natürlich hatte der Bibliothekar unrecht, wenn er zum<br />
Rektor sagte, Lyra würde ihm sowieso nicht zuhören. Sie hätte<br />
jetzt jedem, der ihr etwas über Staub sagen konnte, begierig<br />
zugehört. In den kommenden Monaten sollte sie einiges dar<br />
48
über erfahren und zuletzt mehr darüber wissen als irgend<br />
jemand sonst auf der Welt. Doch noch war es nicht soweit.<br />
Außerdem waren ihre Gedanken noch mit etwas anderem<br />
beschäftigt. Seit einigen Wochen kursierte ein Gerücht auf den<br />
Straßen; einige Leute lachten, wenn sie es hörten, andere verstummten,<br />
so wie manche Menschen über Gespenster spotten<br />
und andere sich vor ihnen fürchten. Niemand kannte den<br />
Grund, doch seit einiger Zeit verschwanden Kinder.<br />
Das passierte etwa auf folgende Weise.<br />
Folgt man dem Fluß Isis, einer belebten Wasserstraße mit<br />
träge dahingleitenden, mit Ziegeln und Asphalt beladenen<br />
Kähnen und Getreidetankern, nach Osten, vorbei an Henley<br />
und Maidenhead bis nach Teddington, wohin die Gezeiten des<br />
Deutschen Ozeans reichen, und weiter nach Mortlake, vorbei<br />
am Haus des großen Magiers Dr. Dee und an Falkeshall mit seinen<br />
weitläufigen Lustgärten, in denen tags die Brunnen glitzern<br />
und die Fahnen leuchten und nachts Lampions in den<br />
Bäumen hängen und Feuerwerk aufsteigt, an White Hall, wo<br />
allwöchentlich der Staatsrat des Königs tagt, und am Schrotturm,<br />
von dem in endlosem Rinnsal geschmolzenes Blei in Bottiche<br />
mit trübem Wasser spritzt, und noch weiter bis dahin, wo<br />
der Strom, inzwischen breit und schmutzig, in einem weiten<br />
Bogen nach Süden schwingt — so gelangt man nach Limehouse,<br />
und hier lebt das Kind, das verschwinden wird.<br />
<strong>Der</strong> Junge heißt Tony Makarios. Seine Mutter glaubt, daß er<br />
neun Jahre alt ist, aber sie hat ein schlechtes, vom Alkohol zerfressenes<br />
Gedächtnis; er könnte genausogut acht oder auch<br />
zehn sein. Er hat einen griechischen Nachnamen, aber auch das<br />
ist, wie sein Alter, nur eine Vermutung der Mutter, denn er sieht<br />
mehr aus wie ein Chinese als ein Grieche und hat mütterlicherseits<br />
auch Iren, Skrälinge und Laskaren als Vorfahren. Tony ist<br />
nicht besonders intelligent, aber eine Art unbeholfener Zärt<br />
49
lichkeit treibt ihn manchmal dazu, die Mutter grob zu umarmen<br />
und ihr einen klebrigen Kuß auf die Wange zu drücken.<br />
Die arme Frau ist meist zu betrunken, um von sich aus auf einen<br />
solchen Gedanken zu kommen, aber wenn sie merkt, was passiert,<br />
erwidert sie die Umarmung liebevoll.<br />
In diesem Augenblick treibt sich Tony auf dem Markt in der<br />
Pie Street herum. Er hat Hunger. Es ist früh am Abend, und zu<br />
Hause bekommt er nichts zu essen. Zwar hat er einen Schilling in<br />
der Tasche, den ein Soldat ihm für einen Botengang zu seinem<br />
Mädchen gegeben hat, aber den will Tony nicht für Essen verschwenden,<br />
das man sich doch meist auch ohne Geld beschaffen<br />
kann. Er wandert also über den Markt, zwischen den Ständen der<br />
Altkleiderhändler und Wahrsager, der Obstverkäufer und Fischhändler<br />
hindurch, seinen kleinen Dæmon, einen Spatzen, auf der<br />
Schulter, und blickt nach rechts und links. Wenn eine Marktfrau<br />
und ihr Dæmon wegsehen, ertönt ein helles Zwitschern, und<br />
Tonys Hand schnellt vor und verschwindet wieder unter seinem<br />
weiten Hemd, zunächst mit einem Apfel oder ein paar Nüssen,<br />
dann mit einer warmen Pastete.<br />
Die Händlerin sieht das und ruft, und ihr Katzendæmon<br />
macht einen Satz, aber schon flattert Tonys Spatz in der Luft,<br />
und Tony selbst ist schon fast bis zum Ende der Straße gerannt.<br />
Flüche und Geschrei folgen ihm, allerdings nicht weit. An der<br />
Treppe zum St.-Catherine-Bethaus setzt er sich und holt die<br />
dampfende, zerdrückte Beute, von der Bratensoße auf sein<br />
Hemd tropft, heraus.<br />
Er wird beobachtet. Eine Dame in einem langen Mantel aus<br />
rotbraunem Fuchspelz, eine schöne junge Dame mit dunkel<br />
glänzendem Haar unter einer pelzbesetzten Kapuze, steht am<br />
Eingang des Bethauses, ein halbes Dutzend Stufen über ihm.<br />
Vielleicht ist gerade ein Gottesdienst aus, denn aus der Tür hinter<br />
ihr dringt Licht, drinnen spielt eine Orgel, und die Dame<br />
hält ein edelsteinbesetztes Brevier in der Hand.<br />
50
Tony merkt davon nichts. Das Gesicht rief über die Pastete<br />
gesenkt, die Zehen einwärts gedreht und die nackten Sohlen<br />
aneinandergedrückt, sitzt er kauend und schluckend da, während<br />
sein Dæmon zu einer Maus wird und sich die Barthaare<br />
reinigt.<br />
Neben dem Fuchsmantel der jungen Dame erscheint ihr<br />
Dæmon in Gestalt eines Affen, allerdings keines gewöhnlichen<br />
Affen: Er hat ein langes und seidiges Fell, das tiefgolden schimmert.<br />
Geschmeidig und ganz langsam gleitet er die Treppe<br />
hinab auf den Jungen zu und bleibt eine Stufe über ihm sitzen.<br />
Dann spürt die Maus etwas. Sie verwandelt sich wieder in<br />
einen Spatzen, stellt den Kopf schräg und hüpft über die steinernen<br />
Stufen.<br />
<strong>Der</strong> Affe beobachtet den Spatzen, der Spatz beobachtet den<br />
Affen.<br />
<strong>Der</strong> Affe streckt ganz langsam den Arm aus. Seine kleine<br />
Hand ist schwarz, die Nägel vollkommen geformte Klauen aus<br />
Hörn, die Bewegung sanft und einladend. <strong>Der</strong> Spatz kann nicht<br />
widerstehen. Er hüpft auf den Affen zu, einen Zentimeter, dann<br />
noch einen, und dann, mit einem kurzen Flattern, hinauf auf<br />
die Hand des Affen.<br />
<strong>Der</strong> Affe hält ihn hoch, mustert ihn eingehend, erhebt sich<br />
und kehrt mit ihm in der Hand zu der Dame zurück. Die Dame<br />
neigt ihr duftendes Haupt und flüstert etwas.<br />
Und dann dreht Tony sich um. Er kann nicht anders.<br />
»Ratter!« sagt er alarmiert, mit vollem Mund.<br />
<strong>Der</strong> Spatz zwitschert. Also ist er sicher. Tony schluckt und<br />
starrt nach oben.<br />
»Guten Tag«, sagt die schöne Dame im Fuchsmantel. »Wie<br />
heißt du?«<br />
»Tony.«<br />
»Wo wohnst du, Tony?«<br />
»Clarice Walk.«<br />
51
»Was ist in dieser Pastete?«<br />
»Beefsteak.«<br />
»Trinkst du gern Chokolatl?«<br />
»Au ja!«<br />
»Zufällig habe ich gerade mehr davon, als ich selbst trinken<br />
kann. Willst du mitkommen und mir beim Trinken helfen?«<br />
Tony ist bereits verloren. Er war in dem Augenblick verloren,<br />
in dem sein Dæmon, der etwas langsam von Begriff ist, auf die<br />
Hand des Affen hüpfte. Er folgt der schönen jungen Dame und<br />
dem <strong>goldene</strong>n Affen die Denmark Street entlang zum Henkerskai<br />
und die King-George-Treppe hinunter zu einer kleinen<br />
grünen Tür an der Seite eines großen Lagerhauses. Die Dame<br />
klopft an, die Tür öffnet sich, sie gehen hinein, die Tür schließt<br />
sich wieder. Tony wird nie mehr herauskommen — zumindest<br />
nicht durch diesen Eingang —, und er wird seine Mutter nie<br />
mehr sehen. Seine Mutter, die arme Trinkerin, wird glauben, er<br />
sei weggelaufen, und wenn sie an ihn denkt, wird sie sich die<br />
Schuld geben und herzzerreißend schluchzen.<br />
<strong>Der</strong> kleine Tony Makarios war nicht das einzige Kind, das die<br />
Dame mit dem <strong>goldene</strong>n Affen einfing. Im Keller des Lagerhauses<br />
begegnete Tony einem Dutzend anderer Jungen und<br />
Mädchen. Kein Kind war älter als etwa zwölf, allerdings wußten<br />
die Kinder, die alle aus ähnlichen Verhältnissen wie Tony<br />
stammten, ihr genaues Alter meist nicht. Und noch etwas hatten<br />
alle gemein, auch wenn Tony das natürlich nicht auffiel:<br />
Keines der Kinder in jenem heißen und stickigen Keller hatte<br />
das Alter der Pubertät erreicht.<br />
Die freundliche Dame sorgte dafür, daß er einen Platz auf<br />
einer Bank an der Wand bekam und ein Dienstmädchen ihm<br />
wortlos einen Becher mit Chokolatl aus einem Topf auf dem<br />
eisernen Herd brachte. Tony aß den Rest seiner Pastete und<br />
trank das süße, heiße Getränk, ohne viel von seiner Umgebung<br />
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wahrzunehmen, wie umgekehrt auch die anderen ihn kaum zu<br />
bemerken schienen. Er war zu klein, um eine Bedrohung zu<br />
sein, und zu gleichmütig, um als Opfer viel Befriedigung zu<br />
versprechen.<br />
Ein anderer Junge fragte schließlich, was alle beschäftigte.<br />
»Hey, Miss! Wozu haben Sie uns hierher gebracht?«<br />
Er war ein robust aussehender Kerl mit einem dunklen<br />
Schokoladenbart auf der Oberlippe und einer dürren schwarzen<br />
Ratte als Dæmon. Die Dame, die an der Tür stand und mit<br />
einem stämmigen Mann sprach, der wie ein Kapitän aussah,<br />
drehte sich um; sie sah in dem zischenden Naphthalicht so<br />
engelhaft aus, daß die Kinder verstummten.<br />
»Wir brauchen eure Hilfe«, sagte sie. »Ihr wollt uns doch helfen,<br />
oder?«<br />
Niemand sagte etwas. Alle starrten sie nur an, plötzlich scheu<br />
geworden. Eine solche Dame hatten die Kinder noch nie gesehen;<br />
sie war so anmutig und nett und freundlich, daß sie ihr<br />
Glück kaum fassen konnten, und sie hätten alles für sie getan,<br />
wenn sie damit nur etwas länger in ihrer Nähe bleiben konnten.<br />
Die Dame sagte den Kindern, daß sie auf Reisen gehen würden.<br />
Sie würden gut zu essen und warme Kleider bekommen,<br />
und wer wolle, könne seinen Eltern schreiben, damit sie wüßten,<br />
daß ihre Kinder in Sicherheit seien. Kapitän Magnusson<br />
würde sie bald an Bord seines Schiffes bringen, und dann müßten<br />
sie nur noch auf die Flut warten, um auszulaufen und Kurs<br />
nach Norden zu nehmen.<br />
Bald saßen die wenigen, die eine Nachricht nach Hause<br />
schicken wollten, um die schöne Dame, und diese schrieb nach<br />
ihrem Diktat einige Zeilen und steckte sie dann, nachdem die<br />
Absender unten auf das Blatt ein unbeholfenes Kreuz gekritzelt<br />
hatten, in einen parfümierten Umschlag, auf den sie die angegebene<br />
Adresse schrieb. Auch Tony hätte seiner Mutter gern<br />
etwas geschrieben, aber er befürchtete zu Recht, daß sie es nicht<br />
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würde lesen können. Er zupfte die Dame deshalb am Ärmel<br />
ihres Fuchspelzes und flüsterte, sie solle seiner Mutter sagen,<br />
wohin er fahre, und die Dame hörte dem dreckigen kleinen<br />
Jungen mit anmutig geneigtem Kopf zu, strich ihm dann übers<br />
Haar und versprach, die Nachricht auszurichten.<br />
Die Kinder umringten sie, um sich zu verabschieden. <strong>Der</strong><br />
<strong>goldene</strong> Affe streichelte die Dæmonen der Kinder, und die<br />
Kinder berührten den Fuchspelz wie einen Glücksbringer, als<br />
ob dadurch Kraft, Hoffnung oder Güte von der Dame auf sie<br />
übergehen könnte, und auch die Dame sagte ihnen Lebewohl<br />
und übergab sie der Fürsorge des kühnen Kapitäns an der Anlegestelle.<br />
<strong>Der</strong> Himmel war jetzt dunkel, und auf dem Fluß tanzten<br />
zahllose Lichter. Die Dame blieb an der Anlegestelle stehen<br />
und winkte, bis sie die Gesichter der Kinder nicht mehr erkennen<br />
konnte.<br />
Dann kehrte sie, den <strong>goldene</strong>n Affen an die Brust<br />
geschmiegt, in das Lagerhaus zurück. Das kleine Bündel Briefe<br />
warf sie in den Ofen, dann verschwand sie durch die Tür, durch<br />
die sie gekommen war.<br />
Es war nicht schwer, die Kinder aus den Slums anzulocken, aber<br />
nach einiger Zeit fiel es doch auf, und die Polizei bequemte sich<br />
widerwillig dazu, tätig zu werden. Eine Zeitlang wurden keine<br />
Kinder mehr verhext. Doch das Gerücht war da, und es veränderte<br />
sich allmählich und wuchs und breitete sich aus, und als<br />
einige Zeit später einige Kinder in Norwich verschwanden und<br />
dann in Sheffield und dann in Manchester, ließen die Menschen<br />
dort, die von den anderswo verschwundenen Kindern<br />
gehört hatten, das Gerücht Wiederaufleben und gaben ihm<br />
neue Kraft.<br />
Und so wuchs die Legende von einer geheimnisvollen<br />
Gruppe von Zauberern, die Kinder weghexten. Einige sagten,<br />
ihr Anführer sei eine schöne Frau, anderen zufolge war er ein<br />
54
hochgewachsener Mann mit roten Augen, eine dritte Version<br />
sprach von einem jungen Mann, der seine Opfer durch Lachen<br />
und Singen dazu brachte, daß sie ihm wie Schafe folgten.<br />
Was den Ort betraf, an den die verschwundenen Kinder<br />
gebracht wurden, widersprachen die Geschichten einander.<br />
Einige sagten, es sei die Hölle, ein Ort unter der Erde oder ein<br />
Feenland, anderen zufolge war es ein Bauernhof, auf dem die<br />
Kinder für den Kochtopf gemästet wurden. Wieder andere<br />
meinten, die Kinder würden als Sklaven an reiche Tataren verkauft,<br />
und so weiter.<br />
In einem stimmten allerdings alle Geschichten überein: dem<br />
Namen der unsichtbaren Kidnapper. Man brauchte einen<br />
Namen, sonst konnte man nicht über sie sprechen, und über sie<br />
zu sprechen war — besonders wenn man behütet und beschützt<br />
zu Hause oder in Jordan College saß — ein wunderbares Vergnügen.<br />
<strong>Der</strong> Name also, der nach und nach an ihnen haften<br />
blieb, ohne daß jemand wußte warum, war Gobbler.<br />
»Komm vor Einbruch der Nacht wieder, sonst holen dich die<br />
Gobbler!«<br />
»Meine Cousine in Northampton kennt eine Frau, deren<br />
Junge von den Gobblern geholt wurde…«<br />
»Die Gobbler waren in Stratford. Es heißt, sie kommen nach<br />
Süden.«<br />
Und natürlich:<br />
»Laßt uns Kinder und Gobbler spielen.«<br />
Das sagte Lyra zu Roger, dem Küchenjungen von Jordan<br />
College. Er wäre ihr bis ans Ende der Welt gefolgt.<br />
»Wie spielt man das?«<br />
»Du versteckst dich, und ich suche dich und schlitze dich auf,<br />
wie es die Gobbler tun.«<br />
»Du weißt doch gar nicht, was sie tun. Vielleicht gibt es sie<br />
gar nicht.«<br />
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»Du hast ja nur Angst vor ihnen«, sagte Lyra, »das weiß ich<br />
genau.«<br />
»Hab ich nicht. Aber ich glaube trotzdem nicht an sie.«<br />
»Ich schon«, sagte Lyra entschieden. »Aber ich hab auch keine<br />
Angst. Ich würde einfach tun, was mein Onkel getan hat, als er<br />
letztes Mal nach Jordan kam. Ich hab es selbst gesehen. Er war<br />
im Ruhezimmer, und da war dieser unhöfliche Gast, und mein<br />
Onkel starrt ihn nur böse an, und der fällt auf der Stelle tot um,<br />
mit lauter Schaum vor dem Mund.«<br />
»Glaub ich nicht«, sagte Roger zweifelnd. »Davon hab ich in<br />
der Küche nichts gehört. Und überhaupt, das Ruhezimmer darf<br />
man gar nicht betreten.«<br />
»Natürlich hast du nichts gehört. Dem Personal erzählt man<br />
doch so was nicht. Und ich war im Ruhezimmer, also bitte.<br />
Mein Onkel macht das immer so. Er hat es mit einigen Tataren<br />
gemacht, als er ihnen einmal in die Hände fiel. Sie fesselten ihn<br />
und wollten seine Eingeweide ausschneiden, aber als der erste<br />
mit ‘nem Messer kam, sah mein Onkel ihn nur an, und der fiel<br />
tot um. Dann kam der nächste, und mein Onkel tat dasselbe,<br />
und dann war nur noch einer übrig. Mein Onkel sagte, daß er<br />
ihm das Leben schenkt, wenn er ihn losbinden würde, also tat er<br />
das, und dann hat mein Onkel ihn trotzdem getötet, um ihm<br />
einen Denkzettel zu verpassen.«<br />
Roger war von dieser Geschichte nicht sehr überzeugt, aber<br />
die Geschichte war einfach zu gut, deshalb spielten sie abwechselnd<br />
Lord Asriel und die sterbenden Tataren. Für den Schaum<br />
verwendeten sie Brausepulver.<br />
Lyra vergaß ihre ursprüngliche Absicht allerdings nicht. Sie<br />
wollte immer noch Gobbler spielen und überredete Roger, mit<br />
ihr in den Weinkeller hinunterzusteigen, den sie mit dem<br />
Ersatzschlüssel des Butlers aufschloß. Zusammen schlichen sie<br />
durch die großen Gewölbe, in denen unter jahrhundertealten<br />
Spinnweben der Tokaier und Kanarienwein, der Burgunder<br />
56
und Branntwein des College lagerten. Über ihnen wölbten sich<br />
uralte steinerne Bögen, getragen von zehn Mann dicken Pfeilern,<br />
auf dem Boden lagen unregelmäßige Steinplatten, und an<br />
den Wänden lagerten in mehrstöckigen Gestellen die Flaschen<br />
und Fässer. Die beiden Kinder waren fasziniert, die Gobbler<br />
hatten sie vergessen. Eine Kerze in den zitternden Fingern,<br />
schlichen sie auf Zehenspitzen von einem Ende zum anderen<br />
und spähten in jede Ecke, bis Lyra schließlich nur noch eine<br />
einzige Frage beschäftigte: Wie schmeckte der Wein?<br />
Die Frage ließ sich leicht beantworten. Ohne auf Rogers<br />
stürmische Proteste einzugehen, zog Lyra die älteste, grünste<br />
und am seltsamsten geformte Flasche, die sie finden konnte, aus<br />
dem Regal und brach ihr, da sie keinen Korkenzieher dabeihatte,<br />
den Hals ab. Tief in einen dunklen Winkel gedrückt,<br />
nippten die beiden an der berauschenden, tiefroten Flüssigkeit<br />
und überlegten, wann sie betrunken sein würden und woran<br />
man das merkte. Lyra mochte den Geschmack nicht besonders,<br />
mußte aber zugeben, daß er irgendwie grandios und exotisch<br />
war. Am lustigsten war es, zuzusehen, wie die beiden Dæmonen<br />
immer beschwipster wurden; sie stolperten übereinander,<br />
kicherten sinnlos und wechselten die Gestalt, um häßlicher zu<br />
sein als der andere, bis sie wie Wasserspeier aussahen.<br />
Zum Schluß — und fast zu gleichen Zeit — entdeckten die<br />
Kinder, wie es war, betrunken zu sein.<br />
»Tun die das gern?« keuchte Roger, nachdem er sich heftig<br />
erbrochen hatte.<br />
»Ja«, sagte Lyra, der es nicht besser ging. »Und ich auch«,<br />
fügte sie trotzig hinzu.<br />
Lyra lernte aus diesem Erlebnis lediglich, daß das Gobbler-Spiel<br />
einen an interessante Orte führte. Die Worte ihres Onkels aus<br />
ihrem letzten Gespräch fielen ihr ein, und sie begann, ihre<br />
Streifzüge unter die Erde auszudehnen, denn was über der Erde<br />
57
lag, war nur ein Bruchteil des Ganzen. Jordan, das über der Erde<br />
mit St. Michael’s College auf der einen, Gabriel College auf der<br />
anderen und der Universitätsbibliothek auf der dritten Seite<br />
um Platz konkurrieren mußte, hatte irgendwann im Mittelalter<br />
angefangen, sich wie ein gewaltiger Pilz, dessen Wurzelsystem<br />
sich über Tausende von Quadratmetern erstreckte, unter der<br />
Erde auszudehnen. Unter dem College und im Umkreis von<br />
einigen hundert Metern höhlten Tunnel, Schächte, Gewölbe,<br />
Keller und Treppen die Erde so sehr aus, daß es fast so viel Luft<br />
gab wie über der Erde; Jordan College stand auf einer Art zu<br />
Schaum gewordenem Stein.<br />
Sobald Lyra Gefallen an der Erforschung dieser Welt gefunden<br />
hatte, gab sie ihre bisherigen Streifzüge über das Gebirge<br />
der Collegedächer auf und stürzte sich mit Roger in die Unterwelt.<br />
Statt Gobbler zu spielen, machte sie jetzt Jagd auf die<br />
Gobbler, denn was lag näher, als daß diese irgendwo außer Sicht<br />
unter der Erde lauerten?<br />
So gelangten sie und Roger eines Tages in die Krypta unter<br />
dem Bethaus. Hier waren in Nischen entlang der steinernen<br />
Wände Generationen von Rektoren in bleigefaßten Eichensärgen<br />
begraben. Unter den Nischen standen auf Steintafeln ihre<br />
Namen:<br />
Simon Le Clerc, Rektor 1765-1789 Cerebaton<br />
Requiescant in pace<br />
»Was heißt das?« fragte Roger.<br />
»Zuerst kommt der Name, und der letzte Teil ist Lateinisch.<br />
In der Mitte steht die Zeit, in der er Rektor war. Und der andere<br />
Name ist sicher der seines Dæmons.«<br />
Sie gingen durch das stille Kellergewölbe und entzifferten<br />
weitere Inschriften:<br />
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Francis Lyall, Rektor 1748-1765 Zoharid<br />
Requiescant in pace<br />
Ignatius Cole, Rektor 1745-1748 Musca<br />
Requiescant in pace<br />
Interessiert sah Lyra, daß auf jedem Sarg eine Messingplakette<br />
mit dem Bild eines Lebewesens angebracht war: etwa ein Basilisk,<br />
eine Schlange oder ein Affe. Sie begriff, daß es sich um Bilder<br />
der Dæmonen der toten Männer handelte. Wenn Menschen<br />
erwachsen wurden, verloren ihre Dæmonen die<br />
Fähigkeit, sich zu verwandeln, und behielten immer dieselbe<br />
Gestalt bei.<br />
»In den Särgen liegen Skelette«, flüsterte Roger.<br />
»Vermoderndes Fleisch«, flüsterte Lyra. »Und Augenhöhlen,<br />
in denen es vor Maden und Würmern wimmelt.«<br />
»Hier gibt es sicher Gespenster«, sagte Roger, und ein angenehmer<br />
Schauer lief ihm über den Rücken.<br />
Auf der anderen Seite der ersten Krypta stießen sie auf einen<br />
von steinernen Regalen gesäumten Gang. Jede Etage war in<br />
viereckige Fächer unterteilt, und in jedem Fach lag ein Schädel.<br />
Rogers Dæmon zitterte, den Schwanz fest zwischen die<br />
Beine geklemmt, und wimmerte leise.<br />
»Pst!« sagte Roger.<br />
Lyra konnte Pantalaimon nicht sehen, wußte aber, daß er als<br />
Nachtfalter auf ihrer Schulter saß und wahrscheinlich auch zitterte.<br />
Sie langte hinauf und holte vorsichtig einen Schädel aus seinem<br />
Fach.<br />
»Was tust du da?« fragte Roger. »Du darfst ihn nicht anfassen!«<br />
Sie beachtete ihn nicht und drehte den Schädel in ihren Händen<br />
hin und her. Plötzlich fiel etwas durch das Loch in der<br />
Schädelbasis — es fiel durch ihre Finger und traf laut klirrend<br />
59
auf dem Boden auf. Vor Schreck hätte sie den Schädel beinahe<br />
fallen lassen.<br />
»Ein Münze!« rief Roger und tastete auf dem Boden danach.<br />
»Vielleicht ein Schatz!«<br />
Er hielt den Gegenstand ins Licht der Kerze, und sie starrten<br />
ihn mit aufgerissenen Augen an. Es handelte sich nicht um eine<br />
Münze, sondern um eine kleine Scheibe aus Bronze mit dem<br />
roh eingeritzten Bild einer Katze.<br />
»Wie die Bilder auf den Särgen«, sagte Lyra. »Das ist sein<br />
Dæmon. Ganz bestimmt.«<br />
»Stell ihn lieber wieder zurück«, sagte Roger ängstlich, und<br />
Lyra drehte den Schädel um, ließ die Scheibe wieder dorthin<br />
fallen, wo sie seit undenklichen Zeiten gelegen hatte, und stellte<br />
den Schädel ins Regal zurück. Sie erkundeten, daß auch die<br />
anderen Schädel Dæmonen-Münzen enthielten, so daß der<br />
lebenslange Gefährte des Verstorbenen diesem auch im Tod<br />
nahe war.<br />
»Wer mögen die Toten gewesen sein?« überlegte Lyra.<br />
»Wahrscheinlich Wissenschaftler. Nur die Rektoren bekommen<br />
Särge. Wahrscheinlich gab es über die Jahrhunderte so<br />
viele Wissenschaftler, daß nicht genug Platz war, sie alle zu<br />
begraben, deshalb schnitt man ihnen einfach die Köpfe ab und<br />
bewahrte sie hier auf. Das ist sowieso der wichtigste Teil von<br />
ihnen.«<br />
Zwar begegneten Lyra und Roger keinem Gobbler, aber die<br />
Katakomben unter dem Bethaus hielten sie tagelang in Atem.<br />
Eines Tages wollten sie einigen toten Wissenschaftlern einen<br />
Streich spielen und tauschten die Münzen in den Schädeln aus,<br />
so daß die falschen Dæmonen in den Schädeln lagen. Pantalaimon<br />
wurde daraufhin so aufgeregt, daß er sich in eine Fledermaus<br />
verwandelte, auf und ab flatterte, spitze Schreie ausstieß<br />
und Lyra mit den Flügeln ins Gesicht schlug, aber Lyra ging<br />
nicht weiter darauf ein. Dazu fand sie den Scherz zu gut. Später<br />
60
mußte sie allerdings dafür büßen. Nachts im Bett in ihrem<br />
engen Zimmer am oberen Ende der Treppe Nr. 12 wurde sie<br />
von Geistern heimgesucht. Sie fuhr schreiend hoch, als drei<br />
Gestalten in Talaren an ihrem Bett erschienen und mit knochigen<br />
Fingern auf sie zeigten; dann schlugen sie ihre Kapuzen<br />
zurück, und Lyra sah blutige Stümpfe, wo eigentlich die Köpfe<br />
hätten sein sollen. Erst als Pantalaimon sich in einen Löwen verwandelte<br />
und die Gestalten anbrüllte, wichen sie zurück und<br />
verschmolzen mit der Wand, bis nur noch ihre Arme sichtbar<br />
waren, dann die hornigen, graugelben Hände, dann die zukkenden<br />
Finger und schließlich nichts mehr. Sobald der Morgen<br />
graute, eilte Lyra in die Katakomben hinunter und legte die<br />
Münzen wieder an die richtigen Plätze. »Tut mir leid!« flüsterte<br />
sie.<br />
Die Katakomben waren viel größer als die Weinkeller, aber<br />
auch sie hatten ein Ende. Als Lyra und Roger jeden Winkel<br />
erkundet hatten und überzeugt waren, daß es hier keine Gobbler<br />
gab, wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen<br />
zu. Jedoch wurden sie, als sie das letzte Mal aus der Krypta<br />
stiegen und das Bethaus verlassen wollten, vom Fürsprecher<br />
gesehen. Er rief sie ins Bethaus zurück.<br />
<strong>Der</strong> Fürsprecher war ein rundlicher, älterer Herr namens<br />
Father Heyst. Seine Aufgabe war es, am College Gottesdienste<br />
durchzuführen, zu predigen, zu beten und die Beichte abzunehmen.<br />
Als Lyra kleiner gewesen war, hatte er sich für ihr<br />
geistliches Wohl interessiert, doch hatten ihre Gleichgültigkeit<br />
und unaufrichtige Reue ihn enttäuscht. Sie lohnte die Mühe<br />
nicht, hatte er gefolgert.<br />
Als Lyra und Roger ihn rufen hörten, blieben sie widerwillig<br />
stehen und betraten dann schlurfend das große, dämmrige und<br />
muffig riechende Bethaus. Kerzen flackerten vor verschiedenen<br />
Heiligenbildern, und von der Orgelempore, wo Reparaturen in<br />
Gang waren, kamen ferne Geräusche; ein Diener polierte das<br />
61
Lesepult aus Messing. Father Heyst stand in der Tür der Sakristei<br />
und winkte sie zu sich.<br />
»Wo wart ihr?« fragte er. »Ich habe euch jetzt zwei- oder<br />
dreimal hier hereinkommen sehen. Was führt ihr im Schilde?«<br />
Sein Ton war nicht anklagend. Er klang, als sei er wirklich<br />
interessiert. Sein Dæmon, eine Eidechse, saß auf seiner Schulter<br />
und sah die beiden Kinder züngelnd an.<br />
»Wir wollten uns in der Krypta umsehen«, sagte Lyra.<br />
»Warum denn das?«<br />
»Die… die Särge«, sagte sie. »Wir wollten uns all die Särge<br />
ansehen.«<br />
»Aber warum?«<br />
Sie zuckte die Schultern, ihre gewöhnliche Antwort, wenn<br />
man sie bedrängte.<br />
»Und du«, fuhr Father Heyst an Roger gewandt fort. Rogers<br />
Dæmon wedelte ängstlich mit seinem Terrierschwanz, um ihn<br />
zu besänftigen. »Wie heißt du?«<br />
»Roger, Father.«<br />
»Wenn du ein Diener bist, wo arbeitest du?«<br />
»In der Küche, Father.«<br />
»Solltest du jetzt nicht dort sein?«<br />
»Doch, Father.«<br />
»Dann fort mit dir.«<br />
Roger drehte sich um und rannte weg. Lyra zeichnete mit<br />
dem Fuß gelangweilt Muster auf den Boden.<br />
»Was dich betrifft, Lyra«, sagte Father Heyst, »so freue ich<br />
mich, daß das Bethaus und alles, was dazugehört, dich interessieren.<br />
Du hast wirklich Glück, inmitten von so viel Geschichte<br />
aufzuwachsen.«<br />
»Mhm«, sagte Lyra.<br />
»Ich verstehe nur nicht ganz, was für Kameraden du dir aussuchst.<br />
Bist du einsam?«<br />
»Nein.«<br />
62
»Vermißt du die Gesellschaft anderer Kinder?«<br />
»Nein.«<br />
»Ich meine damit nicht Küchenjungen wie Roger, sondern<br />
Kinder wie dich, von vornehmer Abstammung. Hättest du<br />
gerne solche Spielkameraden?«<br />
»Nein.«<br />
»Aber vielleicht andere Mädchen…«<br />
»Nein.«<br />
»Sieh mal, keiner von uns will, daß du alle Freuden der Kindheit<br />
entbehren mußt. Ich denke manchmal, du mußt hier unter<br />
all den älteren Wissenschaftlern doch ganz schön einsam sein,<br />
Lyra. Bist du das?«<br />
»Nein.«<br />
Er schlug die Daumen über seinen gefalteten Fingern aneinander.<br />
Ihm fiel nichts mehr ein, was er dieses sture Kind fragen<br />
konnte.<br />
»Wenn du je Sorgen hast«, sagte er schließlich, »kannst du<br />
damit immer zu mir kommen. Ich hoffe, du weißt das.«<br />
»Ja«, sagte sie.<br />
»Sagst du deine Gebete?«<br />
»Ja.«<br />
»Braves Mädchen. Dann geh jetzt.«<br />
Mit einem kaum unterdrückten Seufzer der Erleichterung<br />
wandte Lyra sich zum Gehen. Da sie die Gobbler nicht unter<br />
der Erde gefunden hatte, nahm sie ihre Streifzüge durch die<br />
Straßen wieder auf. Dort war sie zu Hause.<br />
Dann, als sie fast schon das Interesse an ihnen verloren hatte,<br />
tauchten die Gobbler in Oxford auf.<br />
Das erste, was Lyra hörte, war, daß ein Junge aus einer gyptischen<br />
Familie, die sie kannte, vermißt wurde.<br />
Es war zur Zeit des Pferdemarktes. Im Kanalbecken drängten<br />
sich Flußboote und Schleppkähne, auf denen Händler und Rei<br />
63
sende standen, und auf den Kais im Hafen von Jericho blinkten<br />
Pferdegeschirre, Hufgetrappel und das lärmende Feilschen der<br />
Händler ertönte. Lyra genoß den Pferdemarkt in vollen Zügen.<br />
Man konnte hier nicht nur in einem unbewachten Augenblick<br />
Pferde für einen Ritt entführen, es boten sich auch endlose<br />
Gelegenheiten, Kämpfe auszutragen.<br />
Außerdem hatte sie in diesem Jahr einen großartigen Plan.<br />
Angeregt durch die Entführung des Flußbootes im Vorjahr,<br />
wollte sie diesmal eine ganze Reise machen, bevor sie wieder<br />
vom Boot vertrieben wurde. Wenn sie und ihre Kameraden aus<br />
der Collegeküche es bis Abingdon schafften, konnten sie dort<br />
vielleicht das Wehr blockieren…<br />
Doch in diesem Jahr sollte der Krieg ausfallen. Lyra schlenderte<br />
gerade mit einigen Kameraden in der Morgensonne am<br />
Rand der Bootswerft von Port Meadow entlang, eine gestohlene<br />
Zigarette wanderte von Hand zu Hand, und Rauch wurde<br />
genießerisch ausgeblasen, als sie den Schrei einer Stimme hörte,<br />
die sie kannte.<br />
»Aber was hast du denn mit ihm gemacht, du Hornochse?«<br />
Es war eine mächtige Stimme, die Stimme einer Frau, aber<br />
einer Frau mit Lungen wie ein Blasebalg. Lyra hielt sofort nach<br />
ihr Ausschau, denn die Frau war Ma Costa, die Lyra bei zwei<br />
Gelegenheiten mit einer gewaltigen Ohrfeige halb ohnmächtig<br />
geschlagen, ihr aber bei drei Gelegenheiten warme Pfefferkuchen<br />
gegeben hatte und deren Familie für die Größe und luxuriöse<br />
Ausstattung ihres Bootes bekannt war. Sie waren Fürsten<br />
unter den Gyptern, und Lyra bewunderte Ma Costa sehr, wollte<br />
ihr aber noch eine Zeitlang nicht zu nahe kommen, denn es war<br />
ihr Boot, das sie im letzten Jahr entführt hatte.<br />
Einer der Jungen in Lyras Begleitung hob automatisch einen<br />
Stein auf, als er das Geschrei hörte, aber Lyra sagte: »Vergiß es,<br />
sie ist schlecht gelaunt. Sie könnte dir das Rückgrat wie einen<br />
Zweig brechen.«<br />
64
Ma Costa sah allerdings eher besorgt als wütend aus. <strong>Der</strong><br />
Mann, vor dem sie stand, ein Pferdehändler, zuckte die Schultern<br />
und breitete die Hände aus.<br />
»Ich weiß nicht«, sagte er gerade. »Er kam und war sofort<br />
wieder weg. Ich hab nicht gesehen, wohin er ging…«<br />
»Aber er hat dir geholfen! Er hat deine blöden Pferde für<br />
dich gehalten!«<br />
»Na ja, dann hätte er auch hier bleiben sollen, oder? Statt<br />
mitten in der Arbeit wegzurennen…«<br />
Weiter kam er nicht, denn Ma Costa versetzte ihm plötzlich<br />
eine gewaltige Ohrfeige und ließ eine solche Lawine von Flüchen<br />
und Schlägen folgen, daß er schreiend die Flucht ergriff.<br />
Die anderen Pferdehändler johlten, und ein Fohlen bäumte<br />
sich erschrocken auf.<br />
»Was ist denn los?« fragte Lyra ein gyptisches Kind, das mit<br />
offenem Mund zusah. »Warum ist sie wütend?«<br />
»Es geht um ihren Sohn«, sagte das Kind. »Um Billy. Sie hat<br />
wohl Angst, daß die Gobbler ihn geschnappt haben. Vielleicht<br />
haben sie das ja auch. Ich habe Billy auch nicht mehr gesehen<br />
seit…«<br />
»Die Gobbler? Sind die jetzt in Oxford?«<br />
<strong>Der</strong> gyptische Junge rief seine Freunde, die Ma Costa beobachteten.<br />
»Sie hier weiß nicht, was los ist. Sie weiß nicht, daß die Gobbler<br />
hier sind!«<br />
Ein halbes Dutzend Kinder drehte sich um und sah Lyra verächtlich<br />
an, und Lyra warf die Zigarette weg, denn dies war das<br />
Stichwort für einen Kampf. Sofort nahmen die Dæmonen der<br />
Kinder ein kriegerisches Aussehen an; überall tauchten Fänge,<br />
Klauen und gesträubte Nackenhaare auf, und Pantalaimon,<br />
weit erhaben über die beschränkte Phantasie der gyptischen<br />
Dæmonen, verwandelte sich in einen Drachen von der Größe<br />
eines Windhundes.<br />
65
Doch bevor die Kinder sich in die Schlacht stürzen konnten,<br />
marschierte Ma Costa herbei, schubste zwei der Gypter zur<br />
Seite und baute sich wie ein Preisboxer vor Lyra auf.<br />
»Hast du ihn gesehen?« wollte sie wissen. »Billy?«<br />
»Nein«, sagte Lyra, »wir sind gerade erst gekommen. Ich hab<br />
Billy seit Monaten nicht gesehen.«<br />
Ma Costas Dæmon, ein Falke, kreiste über ihrem Kopf in der<br />
Luft, und seine wilden, gelben Augen mit den starren Lidern<br />
schössen ruckartig hin und her. Niemand sorgte sich um ein<br />
Kind, das seit einigen Stunden vermißt wurde, ganz bestimmt<br />
kein Gypter; in ihrer engen Welt der Boote wurden Kinder<br />
über die Maßen geliebt und geschätzt, und wenn eine Mutter<br />
ihr Kind aus den Augen verlor, konnte sie sicher sein, daß sich<br />
sofort jemand anders um es kümmern würde.<br />
Doch hier war Ma Costa, eine Königin unter den Gyptern, in<br />
verzweifelter Angst um ein vermißtes Kind. Was war geschehen?<br />
Ma Costa starrte halb blind über die kleine Gruppe von Kindern<br />
und schob sich dann durch das Gedränge auf dem Kai und<br />
rief immer wieder laut nach ihrem Kind. Sofort wandten sich<br />
die Kinder wieder einander zu; ihre Fehde hatten sie allerdings<br />
angesichts des Kummers von Ma Costa vergessen.<br />
»Wer sind denn die Gobbler?« fragte Simon Parslow, einer<br />
von Lyras Begleitern.<br />
<strong>Der</strong> erste Gypterjunge sagte: »Das weißt du doch. Sie stehlen<br />
überall Kinder. Sie sind Piraten…«<br />
»Sie sind keine Piraten«, verbesserte ein anderer Gypter,<br />
»sondern Kannibalen.«<br />
»Sie essen Kinder?« fragte Hugh Lovat, ein anderer Freund<br />
Lyras und Küchenjunge in St. Michael.<br />
»Das weiß keiner«, meinte der erste Junge. »Sie entführen sie,<br />
und man sieht sie nie wieder.«<br />
»Das wissen wir«, sagte Lyra. »Wir spielen schon seit Mona<br />
66
ten Kinder und Gobbler, länger als ihr, wette ich. Aber ich<br />
wette, keiner hat sie gesehen.«<br />
»Einige schon«, sagte ein Junge.<br />
»Wer denn?« beharrte Lyra. »Du vielleicht? Woher weißt du,<br />
daß es nicht nur eine einzige Person ist?«<br />
»Charlie hat sie in Banbury gesehen«, sagte ein gyptisches<br />
Mädchen. »Sie haben mit einer Frau gesprochen, und inzwischen<br />
hat ein anderer Mann ihren kleinen Jungen aus dem Garten<br />
geholt.«<br />
»Stimmt«, piepste Charlie, ein Gypterjunge, »ich habe es<br />
gesehen.«<br />
»Wie sahen sie aus?« fragte Lyra.<br />
»Hm… ich habe sie nicht genau sehen können«, sagte Charlie.<br />
»Aber ihren Lastwagen schon«, fügte er hinzu. »Sie kamen in<br />
einem weißen Laster. Sie steckten den Jungen in den Laster und<br />
fuhren dann schnell weg.«<br />
»Und sie fressen die Kinder auf«, sagte wieder der erste<br />
Junge. »Das hat uns jemand in Northampton gesagt, dort waren<br />
sie nämlich auch. Dieses Mädchen in Northampton, also ihr<br />
Bruder wurde weggeholt, und sie sagte, die Männer, die ihn<br />
holten, hätten gesagt, sie würden ihn auffressen. Das weiß doch<br />
jeder. Sie fressen sie auf.«<br />
Ein gyptisches Mädchen begann laut zu weinen.<br />
»Das ist Billys Cousine«, sagte Charlie.<br />
»Wer hat Billy zuletzt gesehen?« fragte Lyra.<br />
»Ich«, antworteten ein halbes Dutzend Stimmen. »Ich habe<br />
gesehen, wie er Johnny Fiorellis altes Pferd hielt — Ich habe ihn<br />
am Stand mit den kandierten Äpfeln gesehen — Ich habe gesehen,<br />
wie er mit dem Kran herumschwang…«<br />
Lyra entnahm dem allem schließlich, daß Billy vor höchstens<br />
zwei Stunden sicher zum letztenmal gesehen worden war.<br />
»Die Gobbler müssen also irgendwann in den letzten beiden<br />
Stunden hier gewesen sein«, sagte sie.<br />
67
Die Kinder sahen sich um und fröstelten trotz der warmen<br />
Sonne, des Menschengedränges auf dem Kai und der vertrauten<br />
Gerüche nach Teer, Pferden und Tabak. Das Problem war, daß<br />
niemand wußte, wie die Gobbler aussahen, und daß deshalb<br />
jeder einer sein konnte, erklärte Lyra der entsetzten Truppe von<br />
Collegekindern und Gyptern, deren Anführerin sie nun bereits<br />
war.<br />
»Sie sehen sogar ganz sicher aus wie gewöhnliche Leute,<br />
sonst würde man sie ja sofort erkennen. Wenn sie nur nachts<br />
kämen, wäre das egal. Aber wenn sie auch am hellen Tag kommen,<br />
müssen sie normal aussehen. Jeder von diesen Leuten da<br />
könnte also ein Gobbler sein…«<br />
»Nein«, sagte ein Gypter unsicher. »Die Leute hier kenne ich<br />
alle.«<br />
»Na ja, nicht die, aber alle anderen«, sagte Lyra. »Also los,<br />
suchen wir sie! Und ihren weißen Lastwagen!«<br />
Hektisches Treiben entstand. Weitere Kinder stießen zu<br />
ihnen, und über kurz oder lang waren es dreißig und mehr gyptische<br />
Kinder, die über die Kais liefen, in die Ställe hinein- und<br />
wieder herausrannten, über die Kräne und Ladebäume der<br />
Bootswerft kletterten, über den Zaun auf die große Wiese<br />
sprangen, zu fünfzehnt auf der alten Drehbrücke über das<br />
grüne Wasser schwangen und durch die engen Straßen von<br />
Jericho schwärmten, vorbei an den aus Ziegeln erbauten kleinen<br />
Reihenhäusern und hinein in die große Kirche mit ihrem<br />
breiten Turm, die dem heiligen Barnabas, dem Alchimisten,<br />
geweiht war. Die Hälfte der Kinder wußten nicht, wonach sie<br />
suchten; sie hielten das Ganze für einen großen Spaß. Aber die<br />
Kinder, die Lyra folgten, erschraken jedesmal zu Tode, wenn sie<br />
in einer Gasse oder in der dämmrigen Kirche eine einsame<br />
Gestalt erblickten. War das ein Gobbler?<br />
Natürlich nicht. Allmählich, als der Erfolg ausblieb und Billy<br />
nicht wiederauftauchte, wurde das Spiel langweilig. Als Lyra<br />
68
und die beiden Jungen aus dem College Jericho zur Abendessenszeit<br />
verließen, sahen sie, daß die Gypter sich auf dem Kai<br />
in der Nähe der Stelle, an der das Boot der Costas vertäut lag,<br />
versammelt hatten. Einige Frauen weinten laut, die Männer<br />
standen wütend in Gruppen zusammen, und ihre Dæmonen<br />
zuckten nervös bei jedem Geräusch zusammen oder fletschten<br />
die Zähne, wenn sich ein Schatten bewegte.<br />
»Ich wette, hier trauen die Gobbler sich nicht herein«, sagte<br />
Lyra zu Simon Parslow, als sie die große Eingangshalle von Jordan<br />
betraten.<br />
»Nein«, sagte Simon unsicher. »Aber ich weiß, daß auf dem<br />
Markt ein Kind vermißt wird.«<br />
»Wer?« fragte Lyra. Sie kannte die meisten Kinder vom<br />
Markt, aber davon hatte sie noch nichts gehört.<br />
»Jessie Reynolds, die Tochter des Sattlers. Sie war gestern bei<br />
Ladenschluß nicht da, dabei hatte sie nur ihrem Vater einen<br />
Fisch zum Tee holen wollen. Sie kam nicht zurück, und niemand<br />
hat sie gesehen. Man hat den ganzen Markt und alles<br />
nach ihr abgesucht.«<br />
»Davon weiß ich ja gar nichts!« sagte Lyra empört. Sie<br />
betrachtete es als schwerwiegendes Versäumnis ihrer Gefolgsleute,<br />
ihr nicht alles sofort zu erzählen.<br />
»Es war erst gestern. Vielleicht ist sie schon wieder da.«<br />
»Ich frag mal«, sagte Lyra und wandte sich zum Gehen. Sie<br />
war noch nicht durch das Tor, als der Portier sie rief.<br />
»Halt, Lyra! Du sollst heute abend hierbleiben. Befehl des<br />
Rektors.«<br />
»Warum?«<br />
»Ich sagte doch, Befehl des Rektors. Er sagt, daß du bleiben<br />
sollst, wenn du kommst.«<br />
»Dann fang mich doch«, sagte Lyra und war zur Tür hinausgeschossen,<br />
bevor der alte Mann seine Loge verlassen konnte.<br />
Sie rannte über die enge Straße in die Gasse, in der die Last<br />
69
wagen die Waren für die Markthalle abluden. Da der Markt<br />
gerade zumachte, standen nur noch wenige Lastwagen da, aber<br />
am Haupteingang gegenüber der hohen Steinwand von<br />
St. Michael’s College lehnte rauchend und redend eine Gruppe<br />
Jugendlicher. Lyra kannte einen von ihnen, einen Sechzehnjährigen,<br />
den sie bewunderte, weil er weiter spucken konnte als<br />
alle anderen. Zu ihm ging sie jetzt und wartete demütig, bis er<br />
sie bemerkte.<br />
»Ja? Was willst du denn?« fragte er endlich.<br />
»Ist Jessie Reynolds verschwunden?«<br />
»Ja. Warum?«<br />
»Weil ein gyptisches Kind heute auch verschwunden ist.«<br />
»Die verschwinden doch immer, die Gypter. Nach jedem<br />
Pferdemarkt verschwinden die.«<br />
»Und die Pferde auch«, sagte einer seiner Freunde.<br />
»Dies ist was anderes«, sagte Lyra. »Es ist ein kleiner Junge.<br />
Wir haben ihn den ganzen Nachmittag gesucht, und die anderen<br />
Kinder sagten, die Gobbler hätten ihn geschnappt.«<br />
»Die was?«<br />
»Die Gobbler«, sagte sie. »Hast du noch nicht von ihnen<br />
gehört?«<br />
Auch für die anderen Jungen war das neu, und sie hörten<br />
sich, von einigen groben Kommentaren abgesehen, aufmerksam<br />
an, was Lyra ihnen erzählte.<br />
»Gobbler«, sagte Lyras Bekannter, der Dick hieß. »So ein<br />
Blödsinn. Die Gypter kommen doch immer auf so blöde<br />
Ideen.«<br />
»Sie sagen, vor einigen Wochen seien Gobbler in Banbury<br />
aufgetaucht«, beharrte Lyra, »und damals verschwanden fünf<br />
Kinder. Wahrscheinlich kommen sie jetzt nach Oxford, um<br />
auch von uns Kinder zu holen. Sicher haben sie Jessie entführt.«<br />
»Drüben in Cowley ist auch ein Kind verschwunden«, sagte<br />
ein anderer Junge. »Fällt mir jetzt ein. Meine Tante war gestern<br />
70
mit ihrer Fish-and-Chips-Bude dort, und sie hörte davon… ein<br />
kleiner Junge… Aber das mit den Gobblern, ich weiß nicht. Die<br />
gibt es nicht. Die sind erfunden.«<br />
»Es gibt sie!« sagte Lyra. »Die Gypter haben sie gesehen. Sie<br />
glauben, daß die Gobbler die Kinder, die sie fangen, auffressen<br />
und…«<br />
Sie brach mitten im Satz ab, weil ihr plötzlich etwas eingefallen<br />
war. An jenem merkwürdigen Abend, an dem sie sich im<br />
Ruheraum versteckt hatte, hatte Lord Asriel das Bild eines<br />
Mannes gezeigt, der einen Stab in die Höhe hielt, auf den Lichtstrahlen<br />
einströmten. Neben ihm, mit weniger Licht um sich,<br />
hatte eine kleine Gestalt gestanden, und Lord Asriel hatte<br />
gesagt, das sei ein Kind. Als jemand gefragt hatte, ob es ein<br />
abgeschnittenes Kind sei, hatte ihr Onkel gesagt, nein, und das<br />
sei der springende Punkt.<br />
Und dann fiel ihr siedendheiß noch etwas ein: Wo war<br />
Roger? Sie hatte ihn seit dem Morgen nicht mehr gesehen…<br />
Plötzlich hatte sie Angst. Pantalaimon sprang ihr in Gestalt<br />
eines kleinen Löwen in die Arme und knurrte. Sie verabschiedete<br />
sich von den Jungen am Tor, ging ruhig die Gasse bis zur<br />
Turl Street und rannte dann, so schnell sie konnte, zum College<br />
zurück. Eine Sekunde vor ihrem Dæmon, der die Gestalt eines<br />
Gepards angenommen hatte, schoß sie durch das Tor.<br />
<strong>Der</strong> Portier zog scheinheilig die Augenbrauen hoch.<br />
»Leider mußte ich den Rektor verständigen«, sagte er. »Er<br />
war nicht gerade erfreut. Ich möchte nicht in deiner Haut stekken,<br />
nicht für Geld möchte ich das.«<br />
»Wo ist Roger?« wollte sie wissen.<br />
»Ich habe ihn nicht gesehen. <strong>Der</strong> kann sich auch auf was<br />
gefaßt machen. Oho, wenn Mr. Cawson den in die Finger<br />
kriegt…«<br />
Lyra rannte in die Küche. Sie bahnte sich einen Weg durch<br />
Hitze, Dampf und Lärm.<br />
71
»Wo ist Roger?« rief sie.<br />
»Geh, Lyra! Wir haben zu tun!«<br />
»Aber wo ist er? War er da oder nicht?«<br />
Keiner schien sich dafür zu interessieren.<br />
»Wo ist er denn? Ihr müßt es doch wissen!« rief sie dem<br />
Küchenchef entgegen, der ihr daraufhin eine Ohrfeige verpaßte.<br />
Wütend sah sie sich um.<br />
Bernie, der Konditor, versuchte sie zu beruhigen, aber sie<br />
wollte nichts davon hören.<br />
»Sie haben ihn erwischt! Diese Gobbler, man sollte sie fangen<br />
und umbringen! Ich hasse sie! Euch ist Roger doch ganz egal…«<br />
»Lyra, wir alle haben Roger gern…«<br />
»Ist doch nicht wahr, sonst würdet ihr sofort aufhören zu<br />
arbeiten und ihn suchen! Ich hasse euch!«<br />
»Daß Roger nicht da ist, kann doch ein Dutzend Gründe<br />
haben. Sei doch vernünftig. Wir müssen das Abendessen<br />
machen und in weniger als einer Stunde servieren. <strong>Der</strong> Rektor<br />
hat in seiner Wohnung Gäste und wird dort essen, der Chef<br />
muß dafür sorgen, daß das Essen schnell zu ihm rüberkommt<br />
und nicht kalt wird. Und davon abgesehen, Lyra, das Leben geht<br />
weiter. Roger taucht ganz bestimmt wieder auf…«<br />
Lyra stürmte aus der Küche. Auf dem Weg stieß sie einen<br />
Stapel silberner Abdeckhauben um und rannte dann, ohne das<br />
wütende Geschrei zu beachten, das hinter ihr ausbrach, die<br />
Treppe hinunter und über den Hof zwischen der Kapelle und<br />
dem Palmer-Turm zum Yaxley Quadrangle mit den ältesten<br />
Gebäuden des College.<br />
Pantalaimon sprang ihr als kleiner Gepard voraus und flog<br />
die Treppe hinauf bis ganz nach oben, wo sich Lyras Schlafzimmer<br />
befand. Lyra stieß die Tür auf, schleppte ihren wackligen<br />
Stuhl zum Fenster, machte es weit auf und kletterte hinaus.<br />
Dicht unter dem Fenster verlief eine breite, bleigefaßte Regenrinne<br />
aus Stein. Lyra stieg hinein, drehte sich um und kletterte<br />
72
die unebenen Dachziegel hinauf bis zum First. Dort öffnete sie<br />
den Mund und ließ einen Schrei ertönen. Pantalaimon, der sich<br />
auf dem Dach immer in einen Vogel verwandelte, umkreiste sie<br />
und schrie wie ein Rabe.<br />
<strong>Der</strong> Abendhimmel war ein Meer zarter pfirsich-, aprikosenund<br />
cremefarbener Sahnewölkchen auf einem weiten, orangefarbenen<br />
Himmel. Ringsherum ragten die Türme und Giebel<br />
von Oxford auf; im Westen und Osten erstreckten sich die<br />
Wälder von Château-Vert und White Ham. Irgendwo<br />
krächzten Raben und läuteten Glocken, und von den Ochsenställen<br />
her kündigte der stete Takt eines Gasmotors den Aufstieg<br />
des Abendzeppelins mit der Post für London an. Lyra<br />
beobachtete, wie er sich jenseits der Turmspitze der St.<br />
Michael’s Chapel entfernte, zunächst noch so groß wie das<br />
oberste Glied ihres kleinen Fingers, wenn sie ihn auf Armlänge<br />
von sich wegstreckte, dann immer kleiner, bis er nur noch ein<br />
Punkt am perlmuttfarbenen Himmel war.<br />
Sie wandte sich ab und sah in den dunkel werdenden Hof<br />
hinunter. Einzeln oder zu zweit strebten die schwarzgekleideten<br />
Gestalten der Wissenschaftler dem Speisesaal zu; ihre<br />
Dæmonen trotteten oder flatterten neben ihnen her oder hockten<br />
ruhig auf ihren Schultern. Im Speisesaal gingen die Lichter<br />
an; nach und nach begannen die bunten Glasfenster zu leuchten,<br />
als die Diener die Tische entlanggingen und die Naphthalampen<br />
anzündeten. Die Klingel des Stewards verkündete, daß<br />
es noch eine halbe Stunde bis zum Abendessen war.<br />
Das war ihre Welt. Lyra wollte, daß sie in alle Ewigkeit so<br />
blieb, aber sie änderte sich, denn da draußen entführte jemand<br />
Kinder. Das Kinn in die Hände gestützt, saß sie auf dem Dachfirst.<br />
»Wir müssen ihn retten, Pantalaimon«, sagte sie.<br />
Er antwortete mit seiner krächzenden Rabenstimme vom<br />
Schornstein. »Das ist gefährlich.«<br />
73
»Natürlich! Weiß ich doch.«<br />
»Denk dran, wovon im Ruhezimmer die Rede war.«<br />
»Wovon?«<br />
»Von einem Kind in der Arktis. Einem Kind, das keinen<br />
Staub anzog.«<br />
»Einem ganzen Kind, wie die Wissenschaftler sagten… Was<br />
heißt das?«<br />
»Vielleicht haben sie mit Roger, den Gyptern und den anderen<br />
Kindern dasselbe vor.«<br />
»Was?«<br />
»Na ja, was bedeutet ganz?«<br />
»Weiß ich doch nicht. Wahrscheinlich schneiden sie sie in<br />
der Mitte auseinander. Ich glaube, sie machen sie zu Sklaven.<br />
Das wäre viel nützlicher. Wahrscheinlich haben sie da oben<br />
Minen. Uranminen für Atomkraftwerke. Ich wette, das ist es.<br />
Und wenn sie Erwachsene in die Minen schicken, sind sie tot,<br />
also nehmen sie lieber Kinder, weil die weniger kosten. Das<br />
machen sie mit Roger.«<br />
»Ich glaube…«<br />
Aber was Pantalaimon glaubte, mußte warten, denn in diesem<br />
Augenblick begann von unten jemand zu rufen.<br />
»Lyra! Lyra! Komm sofort runter!«<br />
Jemand schlug an den Fensterrahmen. Lyra kannte die ungeduldige<br />
Stimme: Sie gehörte Mrs. Lonsdale, der Haushälterin.<br />
Vor ihr gab es kein Versteck.<br />
Mit ärgerlichem Gesicht rutschte Lyra das Dach hinunter<br />
und in die Regenrinne und stieg wieder durch das Fenster. Mrs.<br />
Lonsdale ließ gerade Wasser in das kleine, schartige Waschbekken<br />
laufen, und die Wasserrohre stöhnten und hämmerten.<br />
»Wie oft ich dir schon gesagt habe, du sollst nicht aufs Dach<br />
klettern… Sieh dich an! Sieh deinen Rock an — schmutzig von<br />
oben bis unten! Zieh ihn sofort aus und wasch dich, während<br />
ich nach etwas Anständigem zum Anziehen suche, das nicht<br />
74
zerrissen ist. Warum mußt du dich auch immer schmutzig<br />
machen…«<br />
Lyra war so beleidigt, daß sie gar nicht fragte, warum sie sich<br />
waschen und umziehen sollte, und Erwachsene begründeten<br />
nie etwas freiwillig. Sie zog sich das Kleid über den Kopf, ließ es<br />
auf das schmale Bett fallen und begann lustlos, sich zu waschen,<br />
während Pantalaimon in Gestalt eines Kanarienvogels auf Mrs.<br />
Lonsdales Dæmon, einen stattlichen Retriever, zuhüpfte und<br />
vergeblich versuchte, ihn zu ärgern.<br />
»Sieh dir diese Kleider an. Du hast seit Wochen nichts mehr<br />
aufgehängt! Sieh nur die Falten in diesem…«<br />
Sieh dies, sieh das… Lyra wollte gar nichts sehen. Sie schloß<br />
die Augen und trocknete sich mit dem dünnen Handtuch das<br />
Gesicht ab.<br />
»Dann mußt du es eben anziehen, wie es ist. Zeit zum Bügeln<br />
haben wir nicht mehr. Ach du meine Güte, Mädchen, deine<br />
Knie — sieh sie dir an…«<br />
»Ich will überhaupt nichts sehen«, murmelte Lyra.<br />
Mrs. Lonsdale gab ihr einen Klaps auf das Bein. »Du wäschst<br />
dich«, sagte sie streng, »bis du ganz sauber bist.«<br />
»Warum denn?« fragte Lyra. »Ich wasche meine Knie doch<br />
sonst auch nie. Niemand sieht sie. Wozu muß ich das alles tun?<br />
Dir ist Roger ja auch egal, genauso wie denen aus der Küche. Ich<br />
bin die einzige, die…«<br />
Sie bekam einen Klaps auf das andere Bein.<br />
»Hör auf mit dem Unsinn. Ich bin eine Parslow, genau wie<br />
Rogers Vater. Er ist mein Cousin zweiten Grades. Ich wette, du<br />
weißt das nicht, weil du natürlich nie gefragt hast, mein Fräulein.<br />
Ich wette, du wärst nie von selbst daraufgekommen. Also<br />
wirf mir nicht vor, der Junge wäre mir egal. Weiß Gott, ich<br />
sorge mich ja sogar um dich, obwohl du das eigentlich nicht<br />
verdienst und nur undankbar bist.«<br />
Sie griff nach dem Waschlappen und rubbelte Lyras Knie so<br />
75
heftig damit ab, daß die Haut schließlich rot und wund, aber<br />
sauber war.<br />
»<strong>Der</strong> Grund für das Waschen ist, daß du mit dem Rektor und<br />
seinen Gästen zu Abend essen wirst. Ich bete zu Gott, du<br />
benimmst dich anständig. Sprich nur, wenn du angesprochen<br />
wirst, sei höflich und nett und lächle freundlich. Und daß du<br />
mir nicht Weiß nich sagst, wenn man dich etwas fragt.«<br />
Mrs. Lonsdale zog das beste Kleid, das sie hatte finden können,<br />
über Lyras mageren Körper und zupfte daran, bis es glatt<br />
hing. Dann fischte sie aus dem Chaos einer Schublade ein rotes<br />
Band und kämmte Lyras Haare mit einer groben Bürste.<br />
»Wenn ich früher davon erfahren hätte, hätte ich deine<br />
Haare gründlich gewaschen. Tja, zu spät. Solange man nicht zu<br />
genau hinsieht… So, jetzt steh gerade. Wo sind deine Lackschuhe?«<br />
Fünf Minuten später klopfte Lyra an die Tür der Rektorswohnung,<br />
die in einem weitläufigen und etwas düsteren Haus<br />
lag, das sich zum Yaxley Quadrangle hin öffnete und mit der<br />
Rückseite an den Garten der Bibliothek grenzte. Pantalaimon,<br />
zur Feier des Tages ein Hermelin, rieb sich an ihrem Bein. Die<br />
Tür wurde von Cousins, dem Diener des Rektors, geöffnet,<br />
einem alten Feind Lyras, der freilich genauso wie sie wußte, daß<br />
bis auf weiteres Waffenstillstand zwischen ihnen herrschte.<br />
»Mrs. Lonsdale sagte, ich solle kommen«, sagte Lyra.<br />
»Ja«, nickte Cousins und trat zur Seite. »<strong>Der</strong> Rektor ist im<br />
Salon.«<br />
Er führte Lyra in ein großes Zimmer mit Blick in den Bibliotheksgarten.<br />
Die Abendsonne schien durch die Lücke zwischen<br />
Bibliothek und Palmer-Turm herein und beleuchtete die<br />
schweren Bilder und das düstere Silber, das der Rektor sammelte.<br />
Sie schien auch auf die Gäste, und jetzt verstand Lyra,<br />
warum sie nicht im Speisesaal aßen: Drei der Gäste waren<br />
Frauen.<br />
76
»Ah, Lyra«, sagte der Rektor, »schön, daß du kommen konntest.<br />
Cousins, bringen Sie Lyra etwas zu trinken. Dame Hannah,<br />
ich glaube nicht, daß Sie Lyra kennen… Lord Asriels Nichte,<br />
wie Sie vielleicht wissen.«<br />
Dame Hannah Reif, eine ältere, grauhaarige Frau, deren<br />
Dæmon ein Krallenaffe war, leitete eines der Frauen-Colleges.<br />
Lyra gab ihr so höflich, wie sie konnte, die Hand, dann wurde<br />
sie den anderen Gästen vorgestellt, die wie Dame Hannah Wissenschaftler<br />
anderer Colleges waren und damit für Lyra völlig<br />
uninteressant. Dann kam der Rektor zu seinem letzten Gast.<br />
»Mrs. Coulter«, sagte er, »das ist unsere Lyra. Lyra, komm<br />
und sage Mrs. Coulter guten Tag.«<br />
»Guten Tag, Lyra«, sagte Mrs. Coulter.<br />
Sie war wunderschön und jung. Schwarzglänzendes Haar<br />
umrahmte ihre Wangen, und ihr Dæmon war ein <strong>goldene</strong>r<br />
Affe.<br />
77
Vier<br />
Das Alethiometer<br />
»Ich hoffe, du sitzt beim Essen neben mir«, sagte Mrs. Coulter<br />
und machte auf dem Sofa Platz für Lyra. »Ich bin vornehme<br />
Rektorswohnungen nämlich nicht gewohnt. Du mußt mir zeigen,<br />
welches Messer und welche Gabel ich nehmen muß.«<br />
»Sind Sie Wissenschaftlerin?« fragte Lyra. Als Angehörige<br />
von Jordan betrachtete sie weibliche Wissenschaftler mit Verachtung:<br />
Es gab sie zwar, die armen Dinger, aber man konnte sie<br />
genausowenig ernst nehmen wie aufgeputzte, dressierte Tiere.<br />
Mrs. Coulter allerdings glich den Wissenschaftlerinnen, die<br />
Lyra kannte, nicht im entferntesten und schon gar nicht den<br />
beiden anderen geladenen Frauen, zwei ernsten, älteren<br />
Damen. Schon ganz unter dem Bann von Mrs. Coulters Ausstrahlung,<br />
erwartete Lyra von vornherein ein Nein auf ihre<br />
Frage. Sie konnte kaum die Augen von ihr abwenden.<br />
»Eigentlich nicht«, sagte Mrs. Coulter. »Ich bin zwar Mitglied<br />
von Dame Hannahs College, aber ich arbeite überwiegend<br />
außerhalb von Oxford… Aber erzähle mir von dir, Lyra. Lebst<br />
du schon immer hier in Jordan College?«<br />
In fünf Minuten hatte Lyra alles über ihr wildes Leben<br />
erzählt, über die Klettertouren über die Dächer, über die<br />
Kämpfe in den Lehmgruben, darüber, wie sie und Roger einmal<br />
einen Raben gefangen und gebraten hatten, über ihren<br />
78
Plan, ein Flußboot von den Gyptern zu kapern und damit nach<br />
Abingdon zu fahren, und so weiter. Lyra erzählte ihr sogar, nach<br />
einem Blick auf die anderen Gäste, mit gesenkter Stimme, was<br />
sie und Roger mit den Schädeln in der Krypta angestellt hatten.<br />
»Und die Geister kamen wirklich, sie kamen ohne ihre<br />
Köpfe in mein Schlafzimmer! Sie konnten nicht sprechen, sondern<br />
nur eine Art gurgelndes Geräusch machen, aber ich wußte<br />
genau, was sie wollten. Gleich am nächsten Tag stieg ich wieder<br />
hinunter und legte die Münzen zurück. Wahrscheinlich hätten<br />
sie mich sonst umgebracht.«<br />
»Du hast wohl gar keine Angst vor Gefahr, oder?« fragte Mrs.<br />
Coulter bewundernd. Inzwischen war das Essen aufgetragen<br />
worden, und sie saßen, wie Mrs. Coulter gehofft hatte, nebeneinander.<br />
Den Bibliothekar auf ihrer anderen Seite beachtete<br />
Lyra überhaupt nicht; sie sprach die ganze Mahlzeit über nur<br />
mit Mrs. Coulter.<br />
Als die Damen sich zum Kaffee zurückzogen, fragte Dame<br />
Hannah: »Sag mal, Lyra — kommst du eigentlich bald in die<br />
Schule?«<br />
Lyra sah sie verständnislos an. »Ich — ich weiß nicht«, erwiderte<br />
sie. »Wahrscheinlich nicht«, fügte sie sicherheitshalber<br />
hinzu. Und dann sagte sie noch artig: »Ich möchte auch keine<br />
Umstände machen. Oder Geld kosten. Es ist wohl besser, ich<br />
bleibe hier in Jordan und die Wissenschaftler unterrichten<br />
mich, wenn sie gerade Zeit haben. Die sind ja sowieso hier, da<br />
kosten sie wahrscheinlich nichts.«<br />
»Und hat dein Onkel Asriel irgendwelche Pläne mit dir?«<br />
fragte die andere Frau, die Wissenschaftlerin am anderen<br />
Frauen-College war.<br />
»Ja«, sagte Lyra, »das nehme ich schon an. Aber nicht die<br />
Schule. Er will mich in den Norden mitnehmen, wenn er das<br />
nächste Mal hinfährt.«<br />
»Das hat er mir auch gesagt«, sagte Mrs. Coulter.<br />
79
Lyra starrte sie erstaunt an. Die beiden Wissenschaftlerinnen<br />
zuckten kaum merklich zusammen, während ihre Dæmonen,<br />
ob nun gut erzogen oder einfach träge, einander lediglich für<br />
einen Moment ansahen.<br />
»Ich habe ihn im Royal Arctic Institute kennengelernt«, fuhr<br />
Mrs. Coulter fort. Ȇbrigens bin ich heute abend auch aufgrund<br />
dieser Begegnung hier.«<br />
»Machen Sie auch Entdeckungsreisen?« fragte Lyra.<br />
»In gewisser Weise, ja. Ich war bereits mehrere Male im Norden.<br />
Letztes Jahr habe ich drei Monate auf Grönland verbracht<br />
und Beobachtungen der Aurora angestellt.«<br />
Das war genug: von nun an existierte nichts und niemand<br />
anders mehr für Lyra. Anbetend hing ihr Blick an Mrs. Coulter,<br />
und sie lauschte mit stummer Begeisterung, wie diese Iglus<br />
gebaut, Seehunde gejagt und mit den lappländischen Hexen<br />
verhandelt hatte. Die beiden Wissenschaftlerinnen hatten<br />
nichts ähnlich Aufregendes zu berichten und schwiegen, bis die<br />
Männer hereinkamen.<br />
Später, als die Gäste sich verabschiedeten, sagte der Rektor:<br />
»Bleib noch da, Lyra. Ich möchte kurz etwas mit dir besprechen.<br />
Setz dich in mein Arbeitszimmer und warte auf mich.«<br />
Verwundert, müde und aufgedreht gehorchte Lyra. Cousins,<br />
der Diener des Rektors, führte sie in das Arbeitszimmer. Die<br />
Tür ließ er demonstrativ offen, damit er vom Flur aus sehen<br />
konnte, was sie machte, während er den Gästen in ihre Mäntel<br />
half. Lyra hielt nach Mrs. Coulter Ausschau, sah sie aber nicht<br />
mehr, und dann trat der Rektor ins Zimmer und schloß die Tür.<br />
Schwer ließ er sich in den Sessel am Feuer fallen. Sein<br />
Dæmon flog auf die Lehne und setzte sich neben seinen Kopf,<br />
die alten Augen unter den schweren Lidern waren auf Lyra<br />
gerichtet. Die Lampe zischte leise. Dann sprach der Rektor.<br />
»Also Lyra, du hast dich mit Mrs. Coulter unterhalten. War es<br />
interessant?«<br />
80
»Ja!«<br />
»Sie ist eine bemerkenswerte Dame.«<br />
»Sie ist toll. Sie ist der tollste Mensch, den ich kenne.«<br />
<strong>Der</strong> Rektor seufzte. In seinem schwarzen Anzug und der<br />
schwarzen Krawatte sah er seinem Dæmon zum Verwechseln<br />
ähnlich, und Lyra mußte auf einmal daran denken, daß man ihn<br />
womöglich schon bald in der Krypta unter dem Bethaus begraben<br />
würde; ein Künstler würde das Bild seines Dæmons auf die<br />
Messingplakette des Sarges gravieren, und darunter würden<br />
nebeneinander die beiden Namen stehen.<br />
»Ich hätte schon früher mit dir reden sollen, Lyra«, fuhr der<br />
Rektor schließlich fort. »Ich hatte es fest vor, aber jetzt scheint<br />
die Zeit knapper, als ich dachte. Du hast in Jordan ein behütetes<br />
Leben geführt, Liebes. Ich glaube, du warst glücklich. Es war<br />
nicht leicht für dich, uns zu gehorchen, aber wir haben dich<br />
sehr lieb, und du bist ein gutes Kind. Du hast ein aufrichtiges<br />
Herz, bist ein großes Mädchen, und du weißt, was du willst. Das<br />
alles wirst du brauchen. In der Welt draußen geschehen Dinge,<br />
vor denen ich dich gerne beschützt hätte — ich meine, indem<br />
ich dich hier in Jordan behalte —, aber das ist nun nicht länger<br />
möglich.«<br />
Lyra starrte den Rektor verständnislos an. Wollte man sie<br />
wegschicken?<br />
»Du weißt, daß du eines Tages zur Schule gehen mußt«, fuhr<br />
der Rektor fort. »Zwar haben wir dich hier in einigen Dingen<br />
unterrichtet, aber weder gut noch systematisch. Was wir hier<br />
wissen, ist etwas anderes. Du mußt Dinge lernen, die ältere<br />
Männer dir nicht beibringen können, zumal in deinem Alter.<br />
Das hast du sicher auch schon gemerkt. Außerdem bist du nicht<br />
das Kind eines Dieners; deshalb konnten wir dich nicht in eine<br />
Familie aus der Stadt geben, damit sie dich großzieht. Eine solche<br />
Familie hätte in mancher Hinsicht für dich sorgen können,<br />
aber du hast auch noch andere Bedürfnisse. Was ich also sagen<br />
81
will, Lyra, ist, daß der Teil deines Lebens, den du in Jordan College<br />
verbracht hast, sich dem Ende nähert.«<br />
»Nein«, sagte sie, »nein, ich will nicht von Jordan weg. Mir<br />
gefällt es hier. Ich will immer hier bleiben.«<br />
»Wenn man jung ist, glaubt man, daß alles ewig dauert. Leider<br />
ist es nicht so. Lyra, es dauert höchstens noch ein paar Jahre,<br />
und du bist kein Kind mehr, sondern eine junge Frau. Eine<br />
junge Dame. Und glaube mir, dann wird es dir in Jordan College<br />
überhaupt nicht mehr gefallen.«<br />
»Aber es ist mein Zuhause!«<br />
»Es war dein Zuhause. Jetzt brauchst du etwas anderes.«<br />
»Aber nicht die Schule. Ich geh nicht zur Schule.«<br />
»Du brauchst weibliche Gesellschaft. Die Anleitung einer<br />
Frau.«<br />
Bei dem Wort weiblich mußte Lyra sofort an Wissenschaftlerinnen<br />
denken, und sie schnitt unwillkürlich eine Grimasse.<br />
Das berühmte College verlassen zu müssen, seinen Glanz und<br />
seine berühmten Gelehrten, um in ein schäbiges, aus Ziegeln<br />
erbautes Internat im Norden Oxfords zu ziehen, wo langweilige<br />
Lehrerinnen unterrichteten, die wie die beiden Wissenschaftlerinnen<br />
beim Abendessen nach Kohl und Mottenkugeln<br />
rochen!<br />
<strong>Der</strong> Rektor sah ihr Gesicht und Pantalaimons rot blitzende<br />
Iltisaugen.<br />
»Und wenn diese Frau Mrs. Coulter wäre?«<br />
Schlagartig verwandelten sich die braunen Borsten von Pantalaimons<br />
Fell in weißen Flaum. Lyra riß die Augen auf.<br />
»Wirklich?«<br />
»Sie ist zufällig mit Lord Asriel bekannt. Deinem Onkel liegt<br />
dein Wohl natürlich sehr am Herzen, und als Mrs. Coulter von<br />
dir hörte, bot sie sofort ihre Hilfe an. Es gibt übrigens keinen<br />
Mr. Coulter, sie ist Witwe. Ihr Mann starb bei einem tragischen<br />
Unfall vor einigen Jahren. Denk bitte daran, ehe du sie fragst.«<br />
82
Lyra nickte eifrig. Dann sagte sie: »Und sie will sich wirklich…<br />
um mich kümmern?«<br />
»Hättest du das gern?«<br />
»Ja!«<br />
Sie konnte kaum noch stillsitzen. <strong>Der</strong> Rektor lächelte. Er<br />
lächelte so selten, daß er ganz außer Übung war, und wer ihn<br />
gesehen hätte — Lyra hatte dafür jetzt keinen Blick —, hätte es<br />
eher für eine traurige Grimasse gehalten.<br />
»Ja, dann holen wir sie doch herein und besprechen das mit<br />
ihr«, sagte er.<br />
Er ging aus dem Zimmer, und als er wenige Augenblicke<br />
später mit Mrs. Coulter zurückkehrte, war Lyra aufgestanden,<br />
weil sie vor Aufregung nicht mehr sitzen konnte. Mrs. Coulter<br />
lächelte, und ihr Dæmon entblößte seine weißen Zähne zu<br />
einem koboldhaften Grinsen. Als Mrs. Coulter auf dem Weg<br />
zum Sessel an Lyra vorbeikam, strich sie ihr kurz über die<br />
Haare, und Lyra spürte, wie es sie warm durchlief, und wurde<br />
rot.<br />
<strong>Der</strong> Rektor schenkte Mrs. Coulter ein Glas Branntwein ein,<br />
dann sagte sie: »Dann bekomme ich also eine Assistentin, Lyra,<br />
ja?«<br />
»Ja«, sagte Lyra nur. Sie hätte zu allem ja gesagt.<br />
»Es gibt viel Arbeit, für die ich Hilfe brauche.«<br />
»Ich kann viel arbeiten!«<br />
»Und vielleicht müssen wir auch reisen.«<br />
»Das macht mir nichts. Ich komme überallhin mit.«<br />
»Aber es könnte gefährlich sein. Vielleicht müssen wir in den<br />
Norden.«<br />
Lyra war sprachlos. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder.<br />
»Bald?«<br />
Mrs. Coulter lachte und sagte: »Möglich. Aber du wirst sehr<br />
hart dafür arbeiten müssen. Du mußt Mathematik, Navigation<br />
und Himmelsgeographie lernen.«<br />
83
»Werden Sie mich unterrichten?«<br />
»Ja. Und du wirst mir bei meinen Aufzeichnungen helfen,<br />
meine Unterlagen für mich ordnen, verschiedene grundlegende<br />
Berechnungen anstellen und so weiter. Und wir werden<br />
einige wichtige Leute besuchen, wir müssen also ein paar<br />
schöne Kleider für dich kaufen. Du mußt eine Menge lernen,<br />
Lyra.«<br />
»Das macht nichts. Ich will alles lernen.«<br />
»Natürlich willst du das. Wenn du nach Jordan College<br />
zurückkommst, wirst du eine berühmte, weitgereiste Frau sein.<br />
Morgen müssen wir in aller Frühe aufbrechen, mit dem ersten<br />
Morgenzeppelin, deshalb gehst du jetzt besser gleich ins Bett.<br />
Dann also bis zum Frühstück. Gute Nacht!«<br />
»Gute Nacht«, sagte Lyra. An der Tür fiel ihr eine der wenigen<br />
Umgangsformen ein, die sie gelernt hatte, und sie drehte<br />
sich noch einmal um. »Gute Nacht, Rektor.«<br />
Er nickte. »Schlaf gut.«<br />
»Und danke«, fügte Lyra an Mrs. Coulter gewandt hinzu.<br />
Sie schlief dann schließlich doch ein, obwohl Pantalaimon erst<br />
Ruhe gab, als sie ihn anfuhr, worauf er sich gekränkt in einen<br />
Igel verwandelte. Es war noch dunkel, als jemand sie wach<br />
rüttelte.<br />
»Lyra — pst! — erschrecke nicht — wach auf, Kind.«<br />
Es war Mrs. Lonsdale. In der Hand eine Kerze, stand sie über<br />
Lyra gebeugt und sprach ruhig auf sie ein, während sie sie<br />
zugleich mit ihrer freien Hand festhielt.<br />
»Hör zu. <strong>Der</strong> Rektor will dich sprechen, bevor ihr mit Mrs.<br />
Coulter frühstückt. Steh schnell auf und renn zu ihm hinüber.<br />
Geh in den Garten und klopfe an die Terrassentür des Arbeitszimmers.<br />
Hast du verstanden?«<br />
Hellwach und verwirrt nickte Lyra und schlüpfte barfuß in<br />
die Schuhe, die Mrs. Lonsdale vor sie hinstellte.<br />
84
»Du brauchst dich nicht zu waschen — das reicht später noch.<br />
Geh gleich runter und komm sofort wieder. Ich packe inzwischen<br />
deine Sachen und lege dir Kleider hin. Jetzt mach<br />
schnell.«<br />
<strong>Der</strong> Hof lag dunkel da. Die Nachduft war kühl, und am<br />
Himmel waren noch die letzten Sterne zu sehen, aber im Osten<br />
über dem Speisesaal kündigte bereits ein heller Schein den<br />
Morgen an. Lyra rannte in den Garten hinter der Bibliothek.<br />
Dort blieb sie einen Augenblick stehen, sog die tiefe Stille um<br />
sich ein und sah zu den steinernen Fialen der Kapelle, der perlmuttgrünen<br />
Kuppel des Sheldon-Gebäudes und der weiß<br />
gestrichenen Laterne der Bibliothek hinauf. All das mußte sie<br />
jetzt verlassen. Ob sie es sehr vermissen würde?<br />
Hinter dem Fenster des Arbeitszimmers bewegte sich etwas,<br />
und einen kurzen Augenblick drang ein Lichtschein nach<br />
außen. Lyra fiel ein, warum sie gekommen war, und sie klopfte<br />
leise an die Glastür. Die Tür ging fast sofort auf.<br />
»Gutes Kind«, sagte der Rektor. »Komm schnell rein, wir<br />
haben nicht viel Zeit.« Sobald sie hineingeschlüpft war, zog er<br />
die Vorhänge wieder vor die Tür. Er war vollständig angezogen,<br />
wie üblich in Schwarz.<br />
»Reise ich doch nicht ab?« fragte Lyra.<br />
»Doch, ich kann es nicht verhindern«, erwiderte der Rektor,<br />
und Lyra fiel in ihrer Aufregung gar nicht auf, wie seltsam diese<br />
Worte waren. »Lyra, ich gebe dir jetzt etwas, aber du darfst niemandem<br />
davon erzählen. Versprichst du mir das ganz fest?«<br />
»Ja«, sagte Lyra.<br />
Er ging zum Schreibtisch und nahm aus einer Schublade ein<br />
kleines, in schwarzen Samt gewickeltes Päckchen. Er wickelte es<br />
aus, und zum Vorschein kam ein Gegenstand, der aussah wie<br />
eine große Armbanduhr, eine dicke Scheibe aus Messing und<br />
Kristall. Es hätte ein Kompaß oder etwas <strong>Der</strong>artiges sein<br />
können.<br />
85
»Was ist das?« fragte sie.<br />
»Ein Alethiometer, eins der sechs, die je gemacht wurden.<br />
Lyra, ich bitte dich noch einmal: Sage niemandem etwas davon.<br />
Auch Mrs. Coulter darf nichts davon wissen. Dein Onkel…«<br />
»Aber wozu ist das gut?«<br />
»Es sagt dir die Wahrheit. Wie man es liest, mußt du allerdings<br />
selbst herausfinden. Jetzt geh — draußen wird es hell —<br />
geh schnell in dein Zimmer zurück, bevor dich jemand sieht.«<br />
Er faltete den Samt wieder über dem Instrument zusammen<br />
und drückte es Lyra in die Hand. Es war erstaunlich schwer.<br />
Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und hielt es einen<br />
Augenblick sanft fest.<br />
Sie versuchte, zu ihm aufzusehen und fragte: »Was wolltest<br />
du über Onkel Asriel sagen?«<br />
»Dein Onkel hat das Alethiometer vor einigen Jahren dem<br />
College geschenkt. Vielleicht hat er…«<br />
Bevor er den Satz beenden konnte, ertönte ein leises, aber<br />
dringliches Klopfen an der Tür. Lyra spürte, wie seine Hände<br />
unwillkürlich zuckten.<br />
»Schnell jetzt, Kind«, sagte er ruhig. »Die Mächte dieser Welt<br />
sind stark. Männer und Frauen sind Gezeiten ausgeliefert, die<br />
viel gewaltiger sind, als du dir vorstellen kannst, und ihr Sog<br />
zieht uns alle in die Strömung hinein. Leb wohl, Lyra, und alles<br />
Gute, Kind, alles Gute. Paß auf dich auf.«<br />
»Danke, Rektor«, sagte sie artig.<br />
Das Päckchen an die Brust gedrückt, verließ sie das Arbeitszimmer<br />
durch die Gartentür. Als sie sich noch einmal kurz<br />
umdrehte, saß der Dæmon des Rektors auf dem Fenstersims<br />
und blickte ihr nach. Draußen wehte ein frischer Luftzug.<br />
»Was hast du da?« fragte Mrs. Lonsdale und drückte den<br />
ramponierten kleinen Koffer mit einem Klicken zu.<br />
»Das hat der Rektor mir gegeben. Paßt es nicht mehr in den<br />
Koffer?«<br />
86
»Zu spät, ich mache ihn jetzt nicht mehr auf. Steck es in die<br />
Manteltasche, egal, was es ist. Und jetzt marsch in den Speisesaal.<br />
Laß die anderen nicht warten…«<br />
Erst später, nachdem sie sich von den wenigen Dienern, die<br />
schon auf waren, und von Mrs. Lonsdale verabschiedet hatte,<br />
fiel ihr Roger ein. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie<br />
seit der Begegnung mit Mrs. Coulter kein einziges Mal an ihn<br />
gedacht hatte. Wie schnell alles passiert war.<br />
Und jetzt war sie auf dem Weg nach London, auf einem Fensterplatz<br />
im Zeppelin, und Pantalaimons Hermelinpfoten mit<br />
ihren scharfen kleinen Krallen bohrten sich in ihre Schenkel,<br />
während er die Vorderpfoten an die Scheibe stützte, um hinauszusehen.<br />
Auf der anderen Seite von Lyra saß Mrs. Coulter. Sie<br />
las zunächst noch in einigen Papieren, legte sie allerdings bald<br />
weg, um sich mit Lyra zu unterhalten. Wie brillant sie redete!<br />
Lyra war wie berauscht.<br />
Diesmal war das Thema nicht der Norden, sondern London<br />
mit seinen Restaurants und Ballsälen, den abendlichen<br />
Empfängen in Botschaften und Ministerien und den Intrigen<br />
zwischen White Hall und Westminster. All das faszinierte<br />
Lyra fast noch mehr als die Landschaft, die unter ihnen<br />
dahinglitt. Was Mrs. Coulter sagte, war so erwachsen, so aufregend<br />
und verlockend zugleich; aus ihren Worten sprach der<br />
Glanz der großen Welt.<br />
Dann die Landung in Falkeshall Gardens, die Fahrt mit dem<br />
Boot über den breiten, braunen Fluß, das imposante Gebäude<br />
am anderen Ufer mit dem livrierten Pförtner, der Mrs. Coulter<br />
grüßte und Lyra zuzwinkerte, die sprachlos zu ihm hinaufstarrte…<br />
Und dann die Wohnung…<br />
Lyra schnappte nach Luft.<br />
87
Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon viele schöne Dinge<br />
gesehen, aber es war immer die Schönheit von Jordan College,<br />
von Oxford gewesen — großartig, steinern und männlich. In<br />
Jordan College war zwar vieles prächtig, aber nichts hübsch. In<br />
Mrs. Coulters Wohnung war dagegen alles hübsch. Die Zimmer<br />
waren lichtdurchflutet, denn die breiten Fenster gingen<br />
nach Süden, und die Wände waren mit feinen, gold-weiß<br />
gestreiften Tapeten bedeckt. Dazu kamen wunderschöne Bilder<br />
in <strong>goldene</strong>n Rahmen, ein antiker Spiegel, originelle Wandlampen<br />
mit anbarischen Birnen unter fransengesäumten Schirmen,<br />
Kissen, die ebenfalls mit Fransen besetzt waren, Volants mit<br />
Blumenmustern über den Gardinenstangen und auf dem<br />
Boden ein lindgrüner Teppich mit Blattmuster. Und auf jeder<br />
verfügbaren freien Fläche, so schien es Lyras unschuldigem<br />
Auge, standen verspielte kleine Kästchen, Schäferinnen und<br />
Harlekins aus Porzellan.<br />
Mrs. Coulter lächelte, als sie Lyra sah.<br />
»Ja, Lyra«, sagte sie, »ich muß dir so viel zeigen! Zieh den<br />
Mantel aus und komm mit ins Bad. Dort kannst du dich<br />
waschen, und dann essen wir etwas und gehen einkaufen…«<br />
Das Badezimmer war ein weiteres Wunder. Lyra war es<br />
gewohnt, sich mit harter, gelber Seife zu waschen, an einem<br />
zerkratzten Waschbecken, aus dessen Hähnen bestenfalls lauwarmes<br />
Wasser kam, oft braun vor Rost. Hier dagegen war das<br />
Wasser heiß, die Seife rosarot und duftend und die Handtücher<br />
dick und flauschig. Um den Spiegel aus Rauchglas liefen kleine<br />
rosa Lämpchen, so daß Lyra jedesmal, wenn sie hineinsah, in<br />
dem weichen Licht ein Gesicht erblickte, das der Lyra, die sie<br />
kannte, überhaupt nicht ähnelte.<br />
Pantalaimon, der Mrs. Coulters Dæmon nachahmte und sich<br />
in einen Affen verwandelt hatte, hockte auf der Kante des<br />
Waschbeckens und schnitt Grimassen. Lyra schubste ihn in das<br />
seifige Wasser, und dann fiel ihr plötzlich das Alethiometer in<br />
88
ihrer Manteltasche ein. Sie hatte den Mantel auf einem Stuhl im<br />
anderen Zimmer liegenlassen. Dabei hatte sie dem Rektor versprochen,<br />
das Instrument auch vor Mrs. Coulter geheimzuhalten…<br />
Alles war so verwirrend! Mrs. Coulter war so nett und klug,<br />
wohingegen Lyra mit eigenen Augen gesehen hatte, wie der<br />
Rektor versucht hatte, ihren Onkel zu vergiften. Wem schuldete<br />
sie mehr Gehorsam?<br />
Sie trocknete sich hastig ab und eilte ins Wohnzimmer<br />
zurück. Natürlich lag ihr Mantel noch unberührt an derselben<br />
Stelle.<br />
»Fertig?« fragte Mrs. Coulter. »Ich schlage vor, wir essen im<br />
Royal Arctic Institute zu Mittag. Ich bin eines der ganz wenigen<br />
weiblichen Mitglieder des Instituts, ich kann meine Privilegien<br />
also ruhig einmal in Anspruch nehmen.«<br />
Ein zwanzigminütiger Spaziergang brachte sie zu einem<br />
Gebäude mit einer imposanten steinernen Fassade. Dort saßen<br />
sie in einem weitläufigen Speisesaal, dessen Tische mit schneeweißen<br />
Tischtüchern und glänzendem Silber gedeckt waren,<br />
und aßen Kalbsleber und Speck.<br />
»Gegen Kalbsleber ist nichts einzuwenden«, sagte Mrs. Coulter,<br />
»und auch nicht gegen Seehundleber. Aber wenn du in der<br />
Arktis Hunger hast, darfst du auf keinen Fall Bärenleber essen.<br />
Die ist so giftig, daß du in wenigen Minuten daran stirbst.«<br />
Während des Essens machte Mrs. Coulter Lyra auf einige<br />
Institutsmitglieder an den anderen Tischen aufmerksam.<br />
»Siehst du den älteren Herrn mit der roten Krawatte? Das ist<br />
Colonel Carborn. Er war der erste, der mit einem Ballon über<br />
den Nordpol geflogen ist. Und der große Mann am Fenster, der<br />
gerade aufsteht, ist Dr. Broken Arrow.«<br />
»Ist er ein Skräling?«<br />
»Ja. Er hat die Meeresströmungen im Großen Nordmeer vermessen…«<br />
89
Lyra sah sie sich mit einer Mischung aus Neugier und Ehrfurcht<br />
genau an, die großen Männer. Natürlich waren sie Wissenschaftler,<br />
aber zugleich Entdecker. Dr. Broken Arrow wußte<br />
das mit der Bärenleber sicher auch, während Lyra bezweifelte,<br />
daß der Bibliothekar von Jordan College es wußte.<br />
Nach dem Essen zeigte Mrs. Coulter Lyra einige der wertvollen<br />
arktischen Exponate der Institutsbibliothek die Harpune,<br />
mit der man den legendären Wal Grimssdur getötet hatte, den<br />
Stein mit der Inschrift in einer unbekannten Sprache, den man<br />
in der Hand des einsam in seinem Zelt erfrorenen Entdeckers<br />
Lord Rukh gefunden hatte, und den Feuerschläger, den Captain<br />
Hudson auf seiner berühmten Reise nach Van-Tierens-<br />
Land benutzt hatte. Zu jedem Gegenstand erzählte Mrs. Coulter<br />
die entsprechende Geschichte, und Lyras Herz schlug höher,<br />
wenn sie an die tapferen Helden jener fernen Welt dachte.<br />
Dann gingen sie einkaufen. Alles an diesem außergewöhnlichen<br />
Tag war neu für Lyra, aber das Einkaufen war der Höhepunkt.<br />
In ein riesiges Kaufhaus voller schöner Kleider zu gehen,<br />
die man alle anprobieren durfte und wo man sich im Spiegel<br />
ansehen konnte… Und ein Kleid schöner als das andere… Bisher<br />
hatte immer Mrs. Lonsdale Lyras Kleider ausgesucht, Kleider,<br />
die oft gebraucht und vielfach geflickt waren. Lyra hatte<br />
fast nie etwas Neues bekommen, und wenn doch, dann weil es<br />
praktisch war, nicht weil es gut aussah. Selbst hatte sie nie auswählen<br />
dürfen. Und jetzt zeigte ihr Mrs. Coulter dies und lobte<br />
das und zahlte für alles und mehr…<br />
Als sie fertig waren, war Lyra rot im Gesicht und hatte glänzende<br />
Augen vor Müdigkeit. Mrs. Coulter ließ die meisten<br />
Kleider einpacken und nachschicken und nahm nur ein, zwei<br />
Dinge gleich mit.<br />
Zurück in der Wohnung, folgte ein Bad mit dickem, duftendem<br />
Schaum. Mrs. Coulter kam ins Badezimmer, um Lyra die<br />
Haare zu waschen, aber sie rieb und kratzte dabei nicht wie Mrs.<br />
90
Lonsdale. Sie war ganz sanft. Pantalaimon sah mit unbezähmbarer<br />
Neugier zu, bis Mrs. Coulter ihn ansah und er verstand<br />
und gesittet die Augen vor den weiblichen Geheimnissen niederschlug,<br />
wie es auch der <strong>goldene</strong> Affe tat. Bisher hatte er bei<br />
Lyra nie wegsehen müssen.<br />
Nach dem Bad bekam sie ein warmes Getränk aus Milch und<br />
Kräutern, ein neues Flanellnachthemd mit aufgedruckten Blumen<br />
und Festons und Pantoffeln aus taubenblau gefärbtem<br />
Schaffell. Und dann das Bett.<br />
Wie weich es war, dieses Bett! Und das sanfte anbarische<br />
Licht der Nachttischlampe! Und das Schlafzimmer so gemütlich<br />
mit kleinen Schränken, einem Ankleidetisch und einer<br />
Kommode für die neuen Kleider, einem Teppich, der den ganzen<br />
Boden bedeckte, und hübschen Vorhängen mit Sternen,<br />
Monden und Planeten! Lyra lag ganz steif da, zu müde zum<br />
Schlafen und so überwältigt, daß sie alles über sich ergehen<br />
ließ.<br />
Als Mrs. Coulter ihr leise gute Nacht gewünscht hatte und<br />
hinausgegangen war, zupfte Pantalaimon an Lyras Haaren. Sie<br />
schubste ihn weg, aber er flüsterte: »Wo ist das Ding?«<br />
Lyra wußte sofort, was er meinte; ihr alter schäbiger Mantel<br />
hing noch immer in der Garderobe. Wenige Sekunden später<br />
war sie wieder im Bett. Mit gekreuzten Beinen saß sie im Licht<br />
der Lampe, und Pantalaimon verfolgte aufmerksam, wie sie den<br />
schwarzen Samt zurückschlug und sich ansah, was der Rektor<br />
ihr gegeben hatte.<br />
»Wie hat er es genannt?« flüsterte sie.<br />
»Alethiometer.«<br />
Es war sinnlos, Pantalaimon zu fragen, was das bedeutete.<br />
Schwer lag das Instrument mit dem schimmernden Kristallglas<br />
und dem fein gearbeiteten Messinggehäuse in ihrer Hand. Es<br />
sah aus wie eine Uhr oder ein Kompaß, denn es hatte Zeiger, die<br />
auf dem Zifferblatt in verschiedene Richtungen zeigten, nur<br />
91
daß statt der Stunden oder Himmelsrichtungen verschiedene<br />
kleine Bilder zu sehen waren, gemalt mit außergewöhnlicher<br />
Präzision wie mit einem ganz feinen und dünnen Marderhaarpinsel<br />
auf Elfenbein. Lyra drehte das Instrument in der Hand,<br />
um die Bilder nacheinander anzusehen. Es gab einen Anker,<br />
eine Sanduhr mit einem Schädel darüber, einen Stier, einen<br />
Bienenstock… insgesamt sechsunddreißig Bilder, aber sie hatte<br />
keine Vorstellung, was sie bedeuteten.<br />
»Sieh mal, da ist ein Rädchen«, sagte Pantalaimon. »Vielleicht<br />
kannst du das Ding damit aufziehen.«<br />
Das Alethiometer hatte drei kleine, gerillte Rädchen, und<br />
jedes von ihnen bewegte einen der drei kürzeren Zeiger, die<br />
dann mit einem leisen, präzisen Klicken um die Anzeige fuhren.<br />
Man konnte sie auf ein beliebiges Bild richten, und wenn<br />
sie bei dem Bild einrasteten und exakt auf dessen Mitte zeigten,<br />
bewegten sie sich nicht mehr.<br />
<strong>Der</strong> vierte Zeiger war länger und dünner und schien aus<br />
einem matteren Metall gemacht als die anderen. Seine Bewegung<br />
konnte Lyra überhaupt nicht beeinflussen; er schwang<br />
hierhin und dorthin wie eine Kompaßnadel, nur daß er sich<br />
nicht auf einen Punkt einpendelte.<br />
»Meter bedeutet Messen«, sagte Pantalaimon. »Wie in Thermometer.<br />
Das hat der Kaplan gesagt.«<br />
»Ja, das ist klar«, flüsterte Lyra zurück. »Aber wozu ist das<br />
Ding gut?«<br />
Sie hatten beide keine Ahnung. Lyra verbrachte lange Zeit<br />
damit, die Zeiger auf verschiedene Symbole wie Engel, Helm,<br />
Delphin, Kugel, Laute, Zirkel, Kerze, Blitz und Pferd zu richten<br />
und zuzusehen, wie die lange Nadel unaufhörlich hierhin und<br />
dorthin schwang, und obwohl sie nichts verstand, war sie fasziniert<br />
und begeistert vom Detailreichtum des Instruments. Pantalaimon<br />
verwandelte sich in eine Maus, um die Nadel aus<br />
nächster Nähe betrachten zu können, die kleinen Pfoten auf<br />
92
den Rand der Kristallscheibe gestützt und die Knopfaugen<br />
schwarzglänzend vor Neugier.<br />
»Was, glaubst du, wollte der Rektor über Onkel Asriel<br />
sagen?«<br />
»Vielleicht, daß wir es sicher aufbewahren und ihm geben<br />
sollen.«<br />
»Aber der Rektor wollte ihn vergiften! Vielleicht meinte er<br />
das Gegenteil. Vielleicht wollte er sagen, wir sollten es ihm<br />
nicht geben.«<br />
»Nein«, sagte Pantalaimon, »wir sollen es von ihr fernhalten…«<br />
An der Tür klopfte es leise.<br />
»Lyra«, sagte Mrs. Coulter, »ich würde das Licht ausmachen,<br />
wenn ich du wäre. Du bist müde, und wir haben morgen viel<br />
vor.«<br />
Lyra hatte das Alethiometer mit einer schnellen Bewegung<br />
unter die Decke geschoben.<br />
»In Ordnung, Mrs. Coulter«, sagte sie.<br />
»Dann gute Nacht.«<br />
»Gute Nacht.«<br />
Sie kuschelte sich in die Decke und machte das Licht aus.<br />
Bevor sie einschlief, steckte sie noch das Alethiometer unter das<br />
Kopfkissen, nur für alle Fälle.<br />
93
Fünf<br />
Die Cocktailparty<br />
In den folgenden Tagen begleitete Lyra Mrs. Coulter wie ein<br />
Dæmon überallhin. Mrs. Coulter kannte unendlich viele Leute,<br />
und sie begegneten ihnen an den verschiedensten Orten. Am<br />
Morgen hörte Lyra etwa bei einer Sitzung der Geographen des<br />
Royal Arctic Institute zu, zum Mittagessen war Mrs. Coulter<br />
dann in einem eleganten Restaurant mit einem Politiker oder<br />
Geistlichen verabredet. Alle waren entzückt von Lyra und<br />
bestellten ihr irgendwelche Leckereien, und sie lernte, wie man<br />
Spargel aß und wie Bries schmeckte. Am Nachmittag standen<br />
vielleicht weitere Einkäufe an, denn Mrs. Coulter brauchte für<br />
ihre Expedition Pelze, Ölzeug und wasserdichte Stiefel, ferner<br />
Schlafsäcke und Messer und, zu Lyras großen Begeisterung,<br />
Zeichenmaterial. Zum Tee traf man sich mit verschiedenen<br />
Damen, die genauso vornehm gekleidet waren wie Mrs. Coulter,<br />
wenn auch vielleicht nicht so schön oder gebildet; Frauen,<br />
die sich so sehr von den Wissenschaftlerinnen, gyptischen<br />
Bootsmüttern oder Collegeangestellten unterschieden, daß sie<br />
Lyra als ganz neues Geschlecht erschienen, ausgestattet mit verführerischen<br />
Kräften und Eigenschaften wie Eleganz, Charme<br />
und Anmut. Lyra wurde für diese Gelegenheiten fein herausgeputzt,<br />
und die Damen verwöhnten sie und schlossen sie in ihre<br />
geistreichen Gespräche ein, die ausschließlich um Menschen<br />
94
kreisten: um diesen Künstler, jenen Politiker und jenen Liebhaber.<br />
Abends ging Mrs. Coulter mit Lyra etwa ins Theater, und<br />
dort begegneten sie wieder zahlreichen faszinierenden Menschen,<br />
mit denen man sich unterhielt und von denen man sich<br />
bewundern ließ. Mrs. Coulter schien alle wichtigen Persönlichkeiten<br />
von London zu kennen.<br />
In den Pausen zwischen all diesen Aktivitäten unterrichtete<br />
Mrs. Coulter Lyra in den Grundlagen der Geographie und<br />
Mathematik. Lyras Wissen hatte große Löcher, wie eine von<br />
Mäusen angeknabberte Weltkarte, denn sie hatte in Jordan keinen<br />
zusammenhängenden und systematischen Unterricht<br />
bekommen. Dort war ein junger Wissenschaftler beauftragt<br />
worden, sie einzufangen und in dem und dem Fach zu unterrichten,<br />
und die Unterrichtsstunden mochten sich eine langweilige<br />
Woche hinziehen, bis Lyra zur Erleichterung des Wissenschaftlers<br />
»vergaß«, zum Unterricht zu erscheinen. Oder der<br />
Wissenschaftler vergaß, in welchem Fach er Lyra unterrichten<br />
sollte, und nahm ausführlich das Thema seiner gegenwärtigen<br />
Forschungen durch, egal was das war. Es war kein Wunder, daß<br />
Lyras Wissen Stückwerk war. So wußte sie zwar von Atomen<br />
und Elementarteilchen, von anbaromagnetischen Ladungen<br />
und den vier Grundkräften und anderen vereinzelten Erscheinungen<br />
der experimentellen Theologie, aber nichts über das<br />
Sonnensystem. Als Mrs. Coulter ihr daraufhin erklärte, daß die<br />
Erde und fünf weitere Planeten sich um die Sonne drehten,<br />
hielt Lyra das für einen Witz und lachte laut.<br />
Sie wollte jedoch unbedingt zeigen, daß sie manches auch<br />
wußte, und als Mrs. Coulter von Elektronen anfing, sagte sie<br />
fachmännisch: »Das sind negativ geladene Teilchen. Eine Art<br />
Staub, nur daß Staub nicht geladen ist.«<br />
Sobald sie das gesagt hatte, fuhr der Kopf von Mrs. Coulters<br />
Dæmon hoch, und der Affe sah sie an, das <strong>goldene</strong> Fell<br />
95
gesträubt, als sei es selbst geladen. Mrs. Coulter legte ihm die<br />
Hand auf den Rücken.<br />
»Staub?« sagte sie.<br />
»Ja, Sie wissen schon, der Staub aus dem Weltraum.«<br />
»Was weißt du davon, Lyra?«<br />
»Och, er kommt also aus dem Weltraum und läßt die Menschen<br />
leuchten, wenn man eine Spezialkamera hat, mit der man<br />
das sehen kann. Nur Kinder nicht. Bei Kindern wirkt er nicht.«<br />
»Woher weißt du das?«<br />
Jetzt spürte auch Lyra die starke Spannung, die im Zimmer<br />
herrschte, denn Pantalaimon war in Gestalt eines Hermelins auf<br />
ihren Schoß gekrochen und zitterte heftig.<br />
»Irgend jemand in Jordan«, sagte sie vage. »Ich weiß nicht<br />
mehr, wer. Ich glaube, es war einer der Wissenschaftler.«<br />
»Hast du es im Unterricht gehört?«<br />
»Ja, vielleicht. Oder ich habe es irgendwo aufgeschnappt. Ja,<br />
ich glaube, so war es. Dieser Wissenschaftler, ich glaube, er kam<br />
aus Neudänemark, er sprach mit dem Kaplan über Staub, und<br />
ich kam zufällig vorbei, und es klang interessant, also blieb ich<br />
stehen und hörte zu. So war es.«<br />
»Ach so«, sagte Mrs. Coulter.<br />
»Hat er mir das richtig erklärt? Oder habe ich es falsch verstanden?«<br />
»Hm, keine Ahnung. Ich bin überzeugt, du kennst dich da<br />
viel besser aus als ich. Aber zurück zu den Elektronen…«<br />
Später sagte Pantalaimon: »Weißt du noch, wie sich das Fell<br />
ihres Dæmons sträubte? Ich stand hinter ihm, und sie griff so<br />
fest hinein, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Du konntest es<br />
nicht sehen. Sein Fell blieb ganz lange gesträubt, und ich dachte<br />
schon, er wollte dich anspringen.«<br />
Es war seltsam, aber weder Lyra noch Pantalaimon wußten,<br />
was sie davon halten sollten.<br />
Neben dem eigentlichen Unterricht lernte Lyra auch andere<br />
96
Dinge, aber auf so angenehme und geschickte Weise, daß sie es<br />
gar nicht als Unterricht empfand. Sie lernte, wie man sich die<br />
Haare wusch, welche Farben einem am besten standen, wie<br />
man etwas so charmant ablehnte, daß niemand gekränkt war,<br />
und wie man Lippenstift, Puder oder Parfüm auftrug. Mrs.<br />
Coulter sagte Lyra nicht, wie sie sich schminken sollte, aber sie<br />
wußte, daß Lyra sie beobachtete, wenn sie sich selbst zurechtmachte,<br />
und sie sorgte dafür, daß Lyra wußte, wo sie ihre Kosmetika<br />
aufbewahrte, und diese allein kennenlernen und ausprobieren<br />
konnte.<br />
Die Zeit verging, und aus Herbst wurde Winter. Ab und zu<br />
dachte Lyra noch an Jordan College, aber es erschien ihr klein<br />
und ruhig im Vergleich zu dem geschäftigen Leben, das sie jetzt<br />
führte. Manchmal dachte sie auch mit leichten Gewissensbissen<br />
an Roger, aber dann stand ein Opernbesuch, ein neues Kleid<br />
oder ein Besuch im Royal Arctic Institute auf dem Programm,<br />
und sie vergaß ihn wieder.<br />
Als ungefähr sechs Wochen vergangen waren, beschloß Mrs.<br />
Coulter, eine Cocktailparty zu veranstalten. Lyra hatte den Eindruck,<br />
daß es etwas zu feiern gab, obwohl Mrs. Coulter nicht<br />
sagte, was. Mrs. Coulter bestellte Blumen, sprach mit Lieferanten<br />
über Häppchen und Getränke und verbrachte einen ganzen<br />
Abend damit, zusammen mit Lyra die Gästeliste zu erstellen.<br />
»Den Erzbischof müssen wir einladen. Ich kann mir nicht<br />
leisten, ihn zu übergehen, obwohl er ein entsetzlicher Snob ist.<br />
Lord Boreal ist in der Stadt; er ist amüsant. Und Prinzessin Postnikova.<br />
Findest du, wir sollten Erik Andersson einladen? Ich<br />
frage mich, ob es nicht an der Zeit ist, ihn aufzunehmen…«<br />
Erik Andersson war ein sehr gefragter Tänzer. Lyra hatte<br />
zwar keine Ahnung, was mit »ihn aufnehmen« gemeint war,<br />
aber sie genoß es trotzdem, nach ihrer Meinung gefragt zu werden.<br />
Pflichtbewußt schrieb sie alle Namen auf, die Mrs. Coulter<br />
97
ihr vorschlug — ihre Rechtschreibung war fürchterlich —, und<br />
strich sie wieder durch, wenn Mrs. Coulter sich doch noch<br />
anders entschied.<br />
Als Lyra an diesem Abend zu Bett ging, flüsterte Pantalaimon<br />
aus dem Kissen: »Sie wird nie in den Norden fahren! Sie<br />
behält uns für immer hier. Wann laufen wir weg?«<br />
»Unsinn«, flüsterte Lyra zurück. »Du kannst sie nur nicht leiden.<br />
Dein Pech! Ich mag sie. Und warum sollte sie uns in Navigation<br />
und allem unterrichten, wenn sie nicht mit uns in den<br />
Norden fahren will?«<br />
»Damit du nicht ungeduldig wirst, deshalb. In Wirklichkeit<br />
willst du doch gar nicht artig und brav auf dieser Cocktailparty<br />
herumstehen. Sie macht einen Schoßhund aus dir.«<br />
Lyra drehte ihm den Rücken zu und schloß die Augen. Doch<br />
Pantalaimon hatte recht. So großartig das gesellschaftliche<br />
Leben war, das sie führte, sie fühlte sich dadurch eingeengt und<br />
eingesperrt. Sie hätte alles für einen Tag mit ihren Oxforder<br />
Spielkameraden gegeben, für eine Schlacht in den Lehmgruben<br />
und ein Wettrennen entlang des Kanals. Nur die quälende<br />
Hoffnung auf eine Reise in den Norden ließ sie weiterhin höflich<br />
und aufmerksam zu Mrs. Coulter sein. Vielleicht begegneten<br />
sie dort Lord Asriel. Vielleicht verliebten er und Mrs. Coulter<br />
sich ineinander und heirateten und adoptierten Lyra, und<br />
dann würden sie Roger aus der Hand der Gobbler befreien.<br />
Am Nachmittag der Cocktailparty ging Mrs. Coulter mit<br />
Lyra zu einem Modefriseur, der ihre widerspenstigen dunkelblonden<br />
Haare zu weichen Wellen fönte und ihre Fingernägel<br />
feilte und polierte; man zeigte ihr sogar, wie man etwas Makeup<br />
auf Augen und Lippen auftrug. Dann holten sie das neue<br />
Kleid ab, das Mrs. Coulter für Lyra bestellt hatte, und kauften<br />
ihr Lackschuhe, und dann war es auch schon Zeit, in die Wohnung<br />
zurückzukehren, nach den Blumenarrangements zu<br />
sehen und sich umzuziehen.<br />
98
»Nicht die Umhängetasche, Liebes«, sagte Mrs. Coulter, als<br />
Lyra voller Stolz auf ihr schönes Aussehen aus dem Schlafzimmer<br />
kam.<br />
Lyra hatte sich angewöhnt, eine kleine Umhängetasche aus<br />
weißem Leder überallhin mitzunehmen, um das Alethiometer<br />
immer in der Nähe zu haben. Mrs. Coulter zupfte gerade einige<br />
zu eng in eine Vase gestopfte Rosen zurecht. Als sie merkte, daß<br />
Lyra sich nicht bewegte, blickte sie demonstrativ zur Schlafzimmertür.<br />
»Ach, bitte, Mrs. Coulter, ich mag die Tasche so!«<br />
»Nicht in der Wohnung, Lyra. Es sieht absurd aus, bei sich zu<br />
Hause eine Umhängetasche zu tragen. Leg sie sofort weg und<br />
hilf mir dann mit den Gläsern…«<br />
Es war weniger ihr barscher Ton als die Formulierung »bei<br />
sich zu Hause«, die Lyras Starrsinn weckte. Pantalaimon flog auf<br />
den Boden, verwandelte sich augenblicklich in einen Iltis und<br />
drückte sich mit gekrümmtem Rücken an Lyras kurze, weiße<br />
Söckchen. Lyra fühlte sich ermutigt.<br />
»Aber die Tasche stört doch niemanden«, sagte sie, »und sie<br />
ist das einzige, das ich wirklich gerne trage. Ich finde wirklich,<br />
sie paßt…«<br />
Sie beendete den Satz nicht, denn Mrs. Coulters Dæmon war<br />
wie ein <strong>goldene</strong>r Pfeil vom Sofa gesprungen und drückte Pantalaimon<br />
auf den Teppich, bevor dieser eine Bewegung machen<br />
konnte. Lyra schrie auf vor Schreck und dann vor Angst und<br />
Schmerzen, während Pantalaimon sich kreischend und fauchend<br />
auf dem Boden wand, den Griff des <strong>goldene</strong>n Affen<br />
jedoch nicht abschütteln konnte. Nach wenigen Sekunden<br />
hatte der Affe ihn ganz überwältigt: Mit einer schwarzen Pfote<br />
faßte er ihn grob um den Hals, mit den schwarzen Hinterpfoten<br />
hielt er seine unteren Glieder fest und mit der noch freien Pfote<br />
packte er sein Ohr und zog daran, als wollte er es abreißen.<br />
Dabei wirkte er nicht wütend, sondern zeigte eine merkwürdig<br />
99
kalte Gewalt, die grauenhaft anzusehen und noch schlimmer zu<br />
spüren war.<br />
Lyra schluchzte; sie war außer sich.<br />
»Nicht! Bitte! Hör auf, uns weh zu tun.«<br />
Mrs. Coulter sah von ihren Blumen auf.<br />
»Dann tu, was ich dir sage«, befahl sie.<br />
»Ich verspreche es!«<br />
<strong>Der</strong> <strong>goldene</strong> Affe ließ Pantalaimon los, als sei er ihm plötzlich<br />
langweilig geworden. Pantalaimon floh sofort zu Lyra, und<br />
sie nahm ihn hoch und küßte und liebkoste ihn.<br />
»Also, Lyra«, sagte Mrs. Coulter.<br />
Lyra drehte sich abrupt um, marschierte wortlos in ihr<br />
Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Doch im<br />
nächsten Augenblick ging die Tür wieder auf, und Mrs. Coulter<br />
stand vor ihr.<br />
»Lyra, wenn du dich so rüde und ordinär aufführst,<br />
bekommst du es mit mir zu tun, und ich bin stärker als du. Du<br />
legst die Tasche jetzt augenblicklich weg. Starr mich nicht so<br />
finster an. Und schlage nie wieder eine Tür zu, ob ich dabei bin<br />
oder nicht. In wenigen Minuten kommen die ersten Gäste, und<br />
sie werden hier ein in jeder Hinsicht wohlerzogenes, liebes,<br />
charmantes, unschuldiges, aufmerksames und nettes Mädchen<br />
antreffen. Das ist mein Wunsch, Lyra, hast du mich verstanden?«<br />
»Ja, Mrs. Coulter.«<br />
»Dann gib mir einen Kuß.«<br />
Mrs. Coulter beugte sich zu ihr herunter und hielt ihr die<br />
Wange hin. Lyra mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um<br />
sie zu küssen. Sie spürte, wie glatt Mrs. Coulters Haut war; nur<br />
ihr Geruch verwirrte sie etwas: Die Haut roch nach Parfüm,<br />
aber zugleich irgendwie metallisch. Lyra legte die Umhängetasche<br />
auf ihren Ankleidetisch und folgte Mrs. Coulter dann wieder<br />
in den Salon.<br />
100
»Was hältst du von den Blumen, Liebes?« sagte Mrs. Coulter<br />
so freundlich, als sei nichts geschehen. »Mit Rosen kann man<br />
eigentlich nichts falsch machen, aber manchmal tut man auch<br />
zu viel des Guten… Haben die Lieferanten genug Eis gebracht?<br />
Sei so nett und frage nach. Warme Drinks sind etwas Fürchterliches…«<br />
Lyra stellte fest, daß es ihr leichtfiel, einen unbeschwerten,<br />
heiteren Eindruck zu erwecken, obwohl sie keinen Augenblick<br />
Pantalaimons Entsetzen und seinen Haß auf den <strong>goldene</strong>n<br />
Affen vergessen konnte. Im nächsten Moment klingelte es an<br />
der Tür, und bald füllte sich der Raum mit elegant gekleideten<br />
Damen und gutaussehenden, vornehmen Herren. Lyra ging<br />
zwischen ihnen hin und her und bot ihnen Häppchen an,<br />
lächelte freundlich und antwortete artig, wenn jemand etwas<br />
zu ihr sagte. Sie kam sich vor wie ein Schoßhund, der von allen<br />
gestreichelt wurde, und in dem Moment, in dem sie das dachte,<br />
breitete Pantalaimon seine Stieglitzflügel aus und zwitscherte<br />
laut.<br />
Sie spürte seine Schadenfreude, weil er recht gehabt hatte,<br />
und beschloß, sich etwas mehr zurückzuhalten.<br />
»Und wo gehst du zur Schule, Liebes?« fragte eine ältere<br />
Dame und musterte Lyra durch eine Lorgnette.<br />
»Ich gehe nicht zur Schule«, sagte Lyra.<br />
»Ach ja? Ich glaubte, deine Mutter hätte dich auf ihre alte<br />
Schule geschickt. Ein sehr gutes Institut…«<br />
Lyra war verwirrt, bis sie den Fehler der alten Dame<br />
bemerkte.<br />
»Nein! Sie ist nicht meine Mutter! Ich helfe ihr nur. Ich bin<br />
ihre persönliche Assistentin«, sagte sie wichtig.<br />
»Ach so. Und wer sind dann deine Eltern?«<br />
Wieder mußte Lyra überlegen, was sie meinte, bevor sie antwortete.<br />
»Ein Graf und eine Gräfin«, sagte sie. »Aber sie sind beide bei<br />
101
einem Luftunfall auf einer Reise in den Norden ums Leben<br />
gekommen.«<br />
»Was für ein Graf?«<br />
»Graf Belacqua. Er war Lord Asriels Bruder.«<br />
<strong>Der</strong> Dæmon der alten Dame, ein scharlachroter Ära, trat wie<br />
verärgert von einem Fuß auf den anderen, und die alte Dame<br />
runzelte fragend die Stirn. Lyra lächelte freundlich und ging<br />
weiter. Sie kam gerade an einer Gruppe von mehreren jungen<br />
Männern und einer Frau in der Nähe des großen Sofas vorbei,<br />
als das Wort Staub fiel. Lyra hatte inzwischen genug vom gesellschaftlichen<br />
Leben mitbekommen, um zu wissen, wann Männer<br />
und Frauen flirteten, und sie sah fasziniert dabei zu, aber<br />
noch faszinierter war sie, wenn jemand von Staub sprach. Deshalb<br />
blieb sie stehen, um zuzuhören. Die Männer schienen<br />
Wissenschaftler zu sein, die junge Frau — den Fragen nach zu<br />
schließen, die sie stellte — eine Art Studentin.<br />
»Er wurde von einem Moskowiter entdeckt — unterbrechen<br />
Sie mich, wenn Sie das schon wissen…«, sagte gerade ein Mann<br />
mittleren Alters, den die junge Frau bewundernd anblickte,<br />
»von einem Mann namens Rusakow, nach dem die Teilchen<br />
meist Rusakow-Teilchen genannt werden. Es handelt sich um<br />
Elementarteilchen, die überhaupt nicht mit anderen Teilchen<br />
reagieren. Sie sind sehr schwer ausfindig zu machen, aber das<br />
Außergewöhnliche ist, daß Menschen sie anzuziehen scheinen.«<br />
»Tatsächlich?« sagte die junge Frau mit großen Augen.<br />
»Und noch außergewöhnlicher ist«, fuhr der Mann fort, »daß<br />
einige Menschen sie mehr anziehen als andere. Erwachsene ziehen<br />
sie an, aber nicht Kinder. Zumindest kaum und nicht bis<br />
zur Pubertät. Das ist übrigens der Grund…«, er senkte die<br />
Stimme, trat näher an die junge Frau heran und legte ihr vertraulich<br />
die Hand auf die Schulter, »…das ist der Grund, warum<br />
die Oblations-Behörde eingerichtet wurde. Wie unsere ehrenwerte<br />
Gastgeberin hier Ihnen sagen könnte.«<br />
102
»Tatsächlich? Hat sie mit der Oblations-Behörde zu tun?«<br />
»Meine Liebe, sie ist die Oblations-Behörde. Die Behörde ist<br />
in jeder Beziehung ihre Erfindung…«<br />
<strong>Der</strong> Mann war im Begriff, fortzufahren, als sein Blick auf<br />
Lyra fiel, die ihn unverwandt anstarrte. Er hatte vielleicht zu<br />
viel getrunken oder wollte die junge Frau beeindrucken, jedenfalls<br />
sagte er: »Ich wette, die kleine Dame hier weiß alles darüber.<br />
Du bist vor der Oblations-Behörde ja wohl sicher, oder?«<br />
»O ja«, sagte Lyra. »Mir kann hier nichts passieren. Wo ich<br />
früher gewohnt habe, also in Oxford, passierten alle möglichen<br />
gefährlichen Sachen. Da wurden Kinder entführt und als Sklaven<br />
an die Türken oder so verkauft. Und in Port Meadow gibt es<br />
bei Vollmond einen Werwolf, der aus dem alten Nonnenkloster<br />
bei Godstow kommt. Ich habe ihn einmal heulen hören. Und<br />
die Gobbler…«<br />
»Genau die meine ich«, sagte der Mann. »So heißen doch die<br />
Mitglieder der Oblations-Behörde, nicht wahr?«<br />
Lyra spürte, wie Pantalaimon plötzlich zitterte, obwohl er<br />
sich sonst untadelig benahm. Die Dæmonen der beiden<br />
Erwachsenen, eine Katze und ein Schmetterling, schienen<br />
jedenfalls nichts zu bemerken.<br />
»Gobbler?« sagte die junge Frau. »Was für ein seltsamer<br />
Name! Warum heißen sie Gobbler?«<br />
Lyra wollte ihr schon eine der blutrünstigen Geschichten<br />
über die Gobbler erzählen, die sie sich ausgedacht hatte, um den<br />
Kindern in Oxford Angst einzujagen, aber der Mann sprach<br />
bereits.<br />
»Nach den Initialen, sehen Sie? General-Oblations-Behörde.<br />
Übrigens eine sehr alte Idee. Im Mittelalter übergaben Eltern<br />
ihre Kinder der Kirche, damit sie Mönche oder Nonnen wurden.<br />
Und diese unglücklichen Kinder nannte man Oblaten.<br />
Das bedeutet Opfer, Opfergabe, etwas in der Art. Die Idee<br />
wurde aufgegriffen, als man sich an die Erforschung von Staub<br />
103
machte… Wie unsere kleine Freundin hier vermutlich weiß.<br />
Warum sprichst du nicht mit Lord Boreal?« fügte er an Lyra<br />
gewandt hinzu. »Er freut sich sicher, Mrs. Coulters Schützling<br />
kennenzulernen… Da drüben steht er, der Mann mit den<br />
grauen Haaren und dem Schlangendæmon.«<br />
Lyra begriff sofort, daß er sie nur loswerden wollte, um sich<br />
mit der jungen Frau über privatere Dinge unterhalten zu können.<br />
Die junge Frau schien sich allerdings mehr für Lyra zu<br />
interessieren und ging ihr nach.<br />
»Einen Augenblick… Wie heißt du denn?«<br />
»Lyra.«<br />
»Ich heiße Adele Starminster. Ich bin Journalistin. Kann ich<br />
in Ruhe mit dir reden?«<br />
Da Lyra es inzwischen für ganz natürlich hielt, daß alle Welt<br />
mit ihr reden wollte, sagte sie nur: »Klar.«<br />
<strong>Der</strong> Schmetterlingsdæmon der Frau flog auf, sah sich nach<br />
rechts und nach links um, kam wieder herunter und flüsterte<br />
etwas, worauf Adele Starminster sagte: »Komm mit zum Fensterplatz.«<br />
Das war einer von Lyras Lieblingsplätzen; man sah von dort<br />
auf den Fluß, und um diese Abendzeit leuchteten die Lichter<br />
am gegenüberliegenden Südufer hell über ihren Spiegelbildern<br />
im schwarzen Wasser der Flut. Ein Schlepper zog mehrere<br />
Kähne flußaufwärts. Adele Starminster setzte sich auf das Sitzpolster<br />
und rückte dann zur Seite, um Platz zu machen.<br />
»Sagte Professor Docker nicht, du hättest irgend etwas mit<br />
Mrs. Coulter zu tun?«<br />
»Ja.«<br />
»Was denn? Du bist doch nicht ihre Tochter? Eigentlich<br />
müßte ich es ja wissen…«<br />
»Nein!« sagte Lyra. »Natürlich nicht. Ich bin ihre persönliche<br />
Assistentin.«<br />
»Ihre persönliche Assistentin? Bist du dazu nicht noch zu<br />
104
jung? Ich dachte, du seist mit ihr verwandt oder so etwas. Wie<br />
ist sie denn so?«<br />
»Sie ist sehr klug«, sagte Lyra. Vor diesem Abend hätte sie<br />
noch viel mehr gesagt, aber die Lage hatte sich geändert.<br />
»Ja, aber persönlich«, bohrte Adele Starminster weiter. »Ich<br />
meine, ist sie freundlich oder ungeduldig oder was? Wohnst du<br />
mit ihr zusammen? Wie ist sie privat?«<br />
»Sie ist sehr nett«, sagte Lyra unerschütterlich.<br />
»Was für eine Arbeit machst du? Wie hilfst du ihr?«<br />
»Ich mache Rechnungen und all das. Zum Beispiel für die<br />
Navigation.«<br />
»Aha, verstehe… Und woher kommst du? Wie heißt du<br />
noch?«<br />
»Lyra. Ich komme aus Oxford.«<br />
»Warum hat Mrs. Coulter gerade dich ausgewählt, um…«<br />
Sie brach ab, weil Mrs. Coulter plötzlich neben ihnen stand.<br />
Aus der Art, wie Adele Starminster zu ihr aufsah, und dem aufgeregten<br />
Flattern ihres Dæmons um ihren Kopf folgerte Lyra,<br />
daß die junge Frau nicht zur Party eingeladen worden war.<br />
»Ich weiß nicht, wie Sie heißen«, sagte Mrs. Coulter sehr<br />
ruhig, »aber ich werde es innerhalb von fünf Minuten herausfinden,<br />
und dann werden Sie nie mehr als Journalistin arbeiten.<br />
Jetzt stehen Sie ganz ruhig auf, ohne Ärger zu machen, und verschwinden.<br />
Ich möchte hinzufügen, daß wer immer Sie hierhergebracht<br />
hat, ebenfalls dafür bezahlen wird.«<br />
Mrs. Coulter schien mit einer Art anbarischen Energie geladen.<br />
Sie roch sogar anders; ihr Körper verströmte einen Geruch<br />
wie nach heißem Metall. Lyra hatte ihn bereits früher wahrgenommen,<br />
aber jetzt erlebte sie zum erstenmal, daß er sich gegen<br />
jemand anders richtete, und die arme Adele Starminster war<br />
ihm machtlos ausgeliefert. Ihr Dæmon fiel matt auf ihre Schulter,<br />
schlug noch ein- oder zweimal mit seinen prächtigen Flügeln<br />
und wurde dann ohnmächtig, und die Journalistin selbst<br />
105
schien sich kaum mehr aufrecht halten zu können. Leicht vornübergebeugt<br />
schleppte sie sich durch das Gedränge der lärmenden<br />
Gäste zur Salontür, eine Hand an der Schulter, um zu verhindern,<br />
daß ihr bewußtloser Dæmon herunterfiel.<br />
»Nun?« sagte Mrs. Coulter zu Lyra.<br />
»Ich habe ihr nichts Wichtiges gesagt«, sagte Lyra.<br />
»Was hat sie gefragt?«<br />
»Nur was ich mache, wer ich bin und so weiter.«<br />
Als Lyra das sagte, merkte sie auf einmal, daß Mrs. Coulter<br />
allein war, ohne ihren Dæmon. Wie war das möglich? Einen<br />
Moment später erschien der <strong>goldene</strong> Affe jedoch wieder an<br />
ihrer Seite, und Mrs. Coulter bückte sich, nahm seine Pfote und<br />
schwang ihn sich ohne Anstrengung auf die Schulter. Schlagartig<br />
schien die Anspannung von ihr abzufallen.<br />
»Wenn du noch jemandem begegnest, der ganz offensichtlich<br />
nicht eingeladen worden ist, Liebes, sagst du mir gleich<br />
Bescheid, ja?«<br />
<strong>Der</strong> scharfe, metallische Geruch war verflogen. Vielleicht<br />
hatte Lyra sich ihn nur eingebildet. Sie roch wieder Mrs. Coulters<br />
Parfüm, die Rosen, den Rauch der Zigarillos und die Parfüms<br />
der anderen Frauen. Mrs. Coulter sah Lyra mit einem<br />
Lächeln an, das soviel zu bedeuten schien wie »Wir zwei, wir<br />
verstehen uns schon, wie?«, dann ging sie, um einige andere<br />
Gäste zu begrüßen.<br />
»Während sie mit dir redete, kam ihr Dæmon aus unserem<br />
Schlafzimmer«, flüsterte Pantalaimon Lyra ins Ohr. »Er hat<br />
spioniert. Sicher hat er das Alethiometer entdeckt!«<br />
Wahrscheinlich hatte er recht, aber Lyra konnte nichts daran<br />
ändern. Was hatte der Professor über die Gobbler gesagt? Sie<br />
sah sich suchend nach ihm um, aber in dem Augenblick, in dem<br />
sie ihn entdeckte, traten der Pförtner, der für den Abend die<br />
Uniform eines Bediensteten angelegt hatte, und ein anderer<br />
Mann auf ihn zu, klopften ihm auf die Schulter und sagten leise<br />
106
etwas, worauf er bleich wurde und ihnen nach draußen folgte.<br />
Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Sekunden und ging<br />
so diskret vonstatten, daß fast niemand es bemerkte. Nur Lyra<br />
fühlte sich wie ertappt und hatte auf einmal Angst.<br />
Sie schlenderte durch die beiden Räume, in denen gefeiert<br />
wurde, hörte mit einem Ohr den Gesprächen zu, stellte sich den<br />
Geschmack der Cocktails vor, von denen sie nicht kosten<br />
durfte, und wurde immer unruhiger. Sie merkte nicht, daß sie<br />
beobachtet wurde, bis plötzlich der Pförtner neben ihr stand<br />
und sie ansprach.<br />
»Miss Lyra, der Herr am Feuer würde gern mit Ihnen sprechen.<br />
Für den Fall, daß Sie ihn nicht kennen: Es handelt sich um<br />
Lord Boreal.«<br />
Lyra sah in die angegebene Richtung. <strong>Der</strong> kraftvoll wirkende,<br />
grauhaarige Mann sah zu ihr her, und als sich ihre Blicke<br />
trafen, nickte er und winkte.<br />
Zögernd, aber neugierig, ging sie hinüber.<br />
»Guten Abend, Kind«, sagte er. Seine Stimme war glatt und<br />
befehlsgewohnt. <strong>Der</strong> geschuppte Kopf und die smaragdgrünen<br />
Augen seines Schlangendæmons glänzten im Licht der Lampe<br />
aus geschliffenem Glas an der Wand.<br />
»Guten Abend«, sagte Lyra.<br />
»Wie geht es meinem alten Freund, dem Rektor von Jordan?«<br />
»Sehr gut, danke.«<br />
»Dort waren wahrscheinlich alle traurig, daß du gehen mußtest.«<br />
»Ja, stimmt.«<br />
»Und bei Mrs. Coulter hast du viel zu tun? Was lernst du<br />
denn bei ihr?«<br />
Weil Lyra in rebellischer Stimmung war und sich unbehaglich<br />
fühlte, beantwortete sie die gönnerhafte Frage nicht mit<br />
der Wahrheit oder einer ihrer sonstigen phantasievollen Aus<br />
107
führungen. Statt dessen sagte sie: »Ich lerne, was Rusakow-Teilchen<br />
sind und was die Oblations-Behörde ist.«<br />
Er sah sie plötzlich scharf an, so wie man eine anbarische<br />
Lampe scharfstellte. Seine ganze Aufmerksamkeit strömte mit<br />
größter Intensität auf sie ein.<br />
»Vielleicht erzählst du mir, was du weißt«, sagte er.<br />
»Im Norden führen sie Experimente durch«, sagte Lyra, der<br />
jetzt alles egal war. »Wie Dr. Grumman.«<br />
»Weiter.«<br />
»Es gibt eine besondere Art von Photogramm, auf der man<br />
den Staub sieht, und bei einem Erwachsenen sieht man, wie das<br />
ganze Licht auf ihn herunterkommt, und bei einem Kind<br />
kommt gar nichts. Zumindest nicht soviel.«<br />
»Hat Mrs. Coulter dir ein solches Bild gezeigt?«<br />
Lyra zögerte, denn hier ging es nicht um Lügen, sondern<br />
etwas anderes, mit dem sie keine Erfahrung hatte.<br />
»Nein«, sagte sie nach einem Moment. »Ich habe in Jordan<br />
College ein Bild gesehen.«<br />
»Wer hat es dir gezeigt?«<br />
»Richtig gezeigt hat er es mir nicht«, überlegte Lyra. »Ich kam<br />
zufällig vorbei und sah es. Und dann wurde mein Freund Roger<br />
von der Oblations-Behörde entführt. Aber…«<br />
»Wer hat dir das Bild gezeigt?«<br />
»Mein Onkel Asriel.«<br />
»Wann?«<br />
»Als er das letzte Mal in Jordan College war.«<br />
»Aha. Was hast du sonst noch gelernt? Hast du nicht soeben<br />
von der Oblations-Behörde gesprochen?«<br />
»Ja. Aber davon habe ich nicht von ihm gehört, sondern hier.«<br />
Was ja auch stimmte, dachte sie.<br />
Er fixierte sie scharf. Sie starrte in aller Unschuld zurück.<br />
Schließlich nickte er.<br />
»Offensichtlich ist Mrs. Coulter zu dem Schluß gelangt, daß<br />
108
du ihr bei dieser Arbeit schon helfen kannst. Interessant. Hast<br />
du schon einmal daran teilgenommen?«<br />
»Nein«, sagte Lyra. Wovon redete er? Pantalaimon hatte klugerweise<br />
die Gestalt einer Motte angenommen, in der sein<br />
Gesicht nichts ausdrückte und Lyras Gefühle nicht verraten<br />
konnte, und Lyra selbst war überzeugt, daß sie ihre unschuldige<br />
Miene durchhalten würde.<br />
»Und hat sie gesagt, was mit den Kindern passiert?«<br />
»Nein, das nicht. Ich weiß nur, daß es mit Staub zu tun hat<br />
und daß sie eine Art Opfer sind.«<br />
Auch das war strenggenommen keine Lüge, dachte sie; sie<br />
hatte schließlich nicht behauptet, Mrs. Coulter habe ihr das<br />
selbst gesagt.<br />
»Opfer ist eine sehr dramatische Formulierung. Es geschieht<br />
schließlich nicht nur zu unserem, sondern auch zu ihrem eigenen<br />
Nutzen. Und natürlich kommen alle freiwillig zu Mrs.<br />
Coulter, deshalb ist sie ja so wertvoll. Sie müssen teilnehmen<br />
wollen, und welches Kind könnte Mrs. Coulter widerstehen?<br />
Und wenn du ihr helfen kannst, die Kinder heranzuschaffen,<br />
um so besser. Das freut mich sehr.«<br />
Er lächelte sie an, wie Mrs. Coulter es getan hatte, als ob sie<br />
beide ein Geheimnis teilten. Lyra erwiderte sein Lächeln höflich,<br />
dann wandte er sich ab und sprach mit jemand anderem.<br />
Lyra und Pantalaimon spürten beide das Entsetzen des anderen.<br />
Lyra wollte allein sein und mit Pantalaimon reden, sie<br />
wollte die Wohnung verlassen und nach Jordan College<br />
zurückkehren, in ihr kleines, ungepflegtes Schlafzimmer am<br />
oberen Ende der Treppe, und sie wollte Lord Asriel suchen…<br />
Wie als Antwort auf diesen letzten Wunsch hörte sie seinen<br />
Namen. Unter dem Vorwand, sich von einer Platte auf dem<br />
Tisch ein Häppchen zu holen, machte sie einen Schritt auf eine<br />
Gruppe von Gästen zu, die sich in der Nähe unterhielten.<br />
Ein Mann in einer purpurnen Bischofsrobe sagte gerade:<br />
109
»…nein, ich glaube nicht, daß Lord Asriel uns in nächster Zeit<br />
belästigt.«<br />
»Und wo, sagten Sie, hält man ihn gefangen?«<br />
»In der Festung Svalbard, wurde mir gesagt. Bewacht von<br />
Panserbjørne, müssen Sie wissen, von gepanzerten Bären.<br />
Schreckliche Kreaturen! Denen entkommt er nicht, und wenn<br />
er tausend Jahre alt wird. Ich denke wirklich, daß jetzt der Weg<br />
frei ist, fast frei…«<br />
»Die letzten Experimente haben bestätigt, was ich immer<br />
glaubte — daß Staub eine Aussonderung des Prinzips des Bösen<br />
selbst ist, und…«<br />
»Riecht das nicht nach zoroastrischer Ketzerei?«<br />
»Was früher Ketzerei war…«<br />
»Und wenn wir das Prinzip des Bösen isolieren könnten…«<br />
»Svalbard, sagten Sie?«<br />
»Gepanzerte Bären…«<br />
»Die Oblations-Behörde…«<br />
»Ich bin sicher, die Kinder leiden nicht…«<br />
»Lord Asriel im Gefängnis…«<br />
Lyra hatte genug gehört. Sie wandte sich ab und verschwand<br />
in ihrem Schlafzimmer, ohne dabei mehr Aufsehen zu erregen<br />
als die Motte Pantalaimon. Gedämpft drang der Lärm der<br />
Gesellschaft durch die geschlossene Tür.<br />
»Also?« flüsterte sie, und Pantalaimon verwandelte sich auf<br />
ihrer Schulter in einen Stieglitz.<br />
»Laufen wir jetzt weg?« flüsterte er zurück.<br />
»Natürlich. Wenn wir es tun, solange so viele Leute da sind,<br />
merkt sie es vielleicht eine Weile gar nicht.«<br />
»Aber er schon.«<br />
Pantalaimon meinte Mrs. Coulters Dæmon. Als Lyra an den<br />
geschmeidigen <strong>goldene</strong>n Affen dachte, wurde ihr ganz übel vor<br />
Angst.<br />
»Diesmal kämpfe ich gegen ihn«, sagte Pantalaimon tapfer.<br />
110
»Ich kann die Gestalt wechseln und er nicht. Ich verändere mich<br />
einfach so schnell, daß er mich nicht festhalten kann. Diesmal<br />
gewinne ich, du wirst sehen.«<br />
Lyra nickte abwesend. Was sollte sie anziehen? Wie gelangte<br />
sie nach draußen, ohne gesehen zu werden?<br />
»Du mußt auskundschaften«, flüsterte sie. »Sobald der Weg<br />
frei ist, rennen wir los. Sei eine Motte«, fügte sie hinzu. »Also<br />
denk dran, sobald alle abgelenkt sind…«<br />
Sie öffnete die Tür einen Spalt, und Pantalaimon schlüpfte<br />
hinaus, ein kleiner dunkler Schatten in dem warmen rosa Licht<br />
des Korridors.<br />
Inzwischen zog Lyra hastig die wärmsten Kleider an, die sie<br />
hatte, und stopfte weitere Kleider in eine der Tragetaschen aus<br />
Kohleseide aus dem Modegeschäft, in dem sie am Nachmittag<br />
gewesen waren. Mrs. Coulter hatte ihr Geld gegeben, als handle<br />
es sich um Süßigkeiten, und Lyra hatte das Geld zwar auch<br />
großzügig wieder ausgegeben, aber sie hatte noch einige Sovereigns<br />
übrig, die sie jetzt in die Tasche ihres dunklen Mantels aus<br />
Wolfspelz steckte. Zuletzt packte sie noch das in schwarzen<br />
Samt eingewickelte Alethiometer ein. Hatte der abscheuliche<br />
Affe es entdeckt? Mit Sicherheit, und er hatte sicher auch Mrs.<br />
Coulter davon erzählt. Wenn sie es nur besser versteckt hätte!<br />
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür. Glücklicherweise lag<br />
ihr Zimmer am Ende des Ganges, gleich neben dem Flur, und<br />
die meisten Gäste hielten sich in den beiden Zimmern auf der<br />
anderen Seite auf. Lyra hörte laute Stimmen, Gelächter, das<br />
gleichmäßige Rauschen der Toilette, das Klirren von Gläsern,<br />
und dann wisperte die Stimme einer Motte kaum hörbar an<br />
ihrem Ohr: »Jetzt! Schnell!«<br />
Sie schlüpfte durch die Tür in den Flur. Im nächsten Augenblick<br />
öffnete sie die Eingangstür der Wohnung, dann war sie<br />
draußen und zog die Tür leise hinter sich zu. Mit Pantalaimon<br />
als Stieglitz auf der Schulter rannte sie die Treppe hinunter.<br />
111
Sechs<br />
Im Netz<br />
Rasch entfernte Lyra sich vorn Fluß, denn die Uferstraße war<br />
breit und hell erleuchtet. Zwischen hier und dem Royal Arctic<br />
Institute, dem einzigen Ort, zu dem sie den Weg zu kennen<br />
glaubte, lag ein Gewirr enger Gassen, und in dieses dunkle<br />
Labyrinth tauchte sie jetzt ein.<br />
Hätte sie sich in London bloß so gut ausgekannt wie in<br />
Oxford! Dann hätte sie gewußt, welche Straßen sie meiden<br />
mußte, wo sie etwas Eßbares finden oder, noch besser, wo sie<br />
anklopfen und sich verstecken konnte. Trotz der kalten Nacht<br />
pulsierte in den dunklen Gassen ein geheimnisvolles Leben,<br />
und Lyra fühlte sich fremd.<br />
Pantalaimon verwandelte sich in eine Wildkatze und spähte<br />
mit seinen die Nacht durchdringenden Augen aufmerksam in<br />
die Dunkelheit. Ab und zu blieb er mit gesträubtem Fell stehen,<br />
und Lyra bog dann nicht in die Gasse ein, in die sie hatte einbiegen<br />
wollen, sondern in eine andere. Die Nacht war voller<br />
Geräusche: Betrunkene lachten, zwei heisere Stimmen grölten<br />
ein Lied, in einem Keller ratterte und kreischte eine schlechtgeölte<br />
Maschine. Die Sinne aufs äußerste gespannt und mit denen<br />
von Pantalaimon zu einer Einheit verschmolzen, huschte Lyra<br />
durch die Schatten.<br />
Von Zeit zu Zeit mußte sie eine breitere, hell erleuchtete<br />
112
Straße überqueren, auf der unter anbarischen Leitungen Straßenbahnen<br />
hin und her summten und Funken versprühten. Es<br />
gab Verkehrsregeln für das Überqueren solcher Straßen, aber<br />
Lyra beachtete sie nicht, und wenn jemand sie anbrüllte, rannte<br />
sie nur schnell weiter.<br />
Aber was für ein herrliches Gefühl, wieder frei zu sein! Lyra<br />
merkte, daß der auf Katzenpfoten neben ihr her tollende Pantalaimon<br />
sich genau wie sie darüber freute, draußen zu sein, auch<br />
wenn die Luft in London stickig, rauchig und rußig und voller<br />
Lärm war. Sie würden bald über das nachdenken müssen, was<br />
sie in Mrs. Coulters Wohnung erfahren hatten, aber noch nicht<br />
jetzt. Und irgendwann brauchten sie auch einen Platz zum<br />
Schlafen.<br />
An einer Kreuzung in der Nähe eines großen Kaufhauses,<br />
dessen Schaufenster sich auf dem nassen Pflaster spiegelten,<br />
stand eine Imbißbude, eine kleine Hütte auf Rädern mit einer<br />
Theke und einer Holzklappe, die wie ein Vordach hochgeklappt<br />
war. Ein gelber Lichtschein fiel nach draußen, und<br />
Kaffeeduft wehte Lyra entgegen. <strong>Der</strong> mit einem weißen Kittel<br />
bekleidete Wirt lehnte an der Theke und unterhielt sich<br />
mit den zwei, drei Kunden, die vor der Bude standen.<br />
Die Versuchung war groß. Lyra war nun schon seit einer<br />
Stunde auf den Beinen und spürte die Kälte und Feuchtigkeit.<br />
Mit Pantalaimon als Spatz trat sie an die Theke und reckte sich<br />
in die Höhe, um vom Wirt bemerkt zu werden.<br />
»Eine Tasse Kaffee und ein Schinkensandwich, bitte«, sagte<br />
sie.<br />
»Du bist aber spät unterwegs, meine Liebe«, sagte ein Herr<br />
mit Zylinder und weißem Seidenschal.<br />
»Ja«, antwortete sie kurz und drehte ihm den Rücken zu, um<br />
die belebte Kreuzung unter die Lupe zu nehmen. Gerade war<br />
die Vorstellung in einem nahe gelegenen Theater zu Ende;<br />
Menschen drängten sich im erleuchteten Foyer, riefen nach<br />
113
Taxis und warfen sich Mäntel über. In der anderen Richtung<br />
strömten Scharen von Menschen die Treppe am Eingang eines<br />
chthonischen Bahnhofes hinauf und hinunter.<br />
»Bitte sehr«, sagte der Imbißbudenwirt. »Macht zwei Schillinge.«<br />
»Lassen Sie mich das bezahlen«, meinte der Mann mit dem<br />
Zylinder.<br />
Warum nicht, dachte Lyra. Ich kann schneller laufen als er,<br />
und vielleicht brauche ich mein Geld später noch. <strong>Der</strong> Zylindermann<br />
warf eine Münze auf die Theke und sah lächelnd zu<br />
ihr herunter. Sein Dæmon, ein Maki, hing an seinem Revers<br />
und starrte Lyra aus runden Augen an.<br />
Lyra biß in das Sandwich, ohne die belebte Straße aus den<br />
Augen zu lassen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, denn<br />
weder hatte sie jemals einen Plan von London gesehen, noch<br />
hatte sie eine Vorstellung davon, wie groß die Stadt war und wie<br />
weit sie laufen mußte, um aufs Land zu gelangen.<br />
»Wie heißt du?« fragte der Mann.<br />
»Alice.«<br />
»Ein schöner Name. Komm, nimm einen Tropfen davon in<br />
deinen Kaffee…, das wärmt auf…«<br />
Er drehte den Deckel einer silbernen Taschenflasche auf.<br />
»Das mag ich nicht«, sagte Lyra. »Ich will nur Kaffee.«<br />
»Ich wette, so einen Brandy hast du noch nie getrunken.«<br />
»Doch, hab ich. Und mir wurde ganz schlecht davon. Fast<br />
eine ganze Flasche habe ich von dem Zeug getrunken.«<br />
»Wie du willst«, meinte der Mann und kippte den Inhalt des<br />
Fläschchens in seine eigene Tasse. »Wohin bist du denn unterwegs,<br />
so mutterseelenallein?«<br />
»Zu meinem Vater.«<br />
»Wer ist dein Vater denn?«<br />
»Ein Mörder.«<br />
»Ein was?«<br />
114
»Hab ich doch gerade gesagt, ein Mörder — und zwar von<br />
Beruf. Er erledigt heute nacht einen Auftrag, und ich bringe<br />
ihm saubere Kleider, denn nach der Arbeit ist er meistens von<br />
oben bis unten mit Blut bespritzt.«<br />
»Ach so! Du machst nur Spaß.«<br />
»Mach ich nicht.«<br />
<strong>Der</strong> Maki ließ ein leises Miauen hören und kletterte hinter<br />
dem Kopf des Mannes langsam nach oben; auf dem Scheitel<br />
angekommen, beäugte er Lyra aufmerksam. Lyra trank unbeirrt<br />
ihren Kaffee und aß ihr Sandwich auf.<br />
»Gute Nacht«, sagte sie dann. »Dahinten kommt mein Vater.<br />
Er sieht eher schlecht gelaunt aus.«<br />
<strong>Der</strong> Zylindermann drehte sich um, und Lyra ging auf die aus<br />
dem Theater strömende Menge zu. Sie hätte sich gern die<br />
chthonische Bahn angesehen — Mrs. Coulter hatte gesagt, die<br />
Bahn sei eigentlich nicht für vornehme Leute wie Lyra und sie<br />
selbst gedacht —, aber sie wollte nicht in eine unterirdische Falle<br />
gehen; lieber blieb sie im Freien, wo sie im Notfall wegrennen<br />
konnte.<br />
Lyra marschierte immer weiter, und die Straßen wurden<br />
immer dunkler und einsamer. Es nieselte, aber selbst wenn der<br />
Himmel wolkenlos gewesen wäre, hätte man durch den Lichtschein,<br />
der nachts über der Stadt lag, keine Sterne gesehen. Pantalaimon<br />
glaubte, daß sie nach Norden gingen, aber sicher war<br />
er nicht.<br />
Sie kamen durch endlose Straßen mit kleinen, einander zum<br />
Verwechseln ähnlichen Backsteinhäusern, deren Gärten so<br />
klein waren, daß gerade noch eine Mülltonne hineinpaßte, vorbei<br />
an verlassen daliegenden, großen Fabrikgebäuden, beleuchtet<br />
nur vom trüben Licht einer hoch oben an der Mauer angebrachten,<br />
einsamen anbarischen Laterne, während der<br />
Nachtwächter ein Nickerchen am Ofen machte, und hin und<br />
wieder an einem düsteren Bethaus, das sich nur durch das<br />
115
Kreuz von einem Lagerschuppen unterschied. Einmal öffnete<br />
Lyra die Tür zu einem solchen Bethaus, aber als von einer Bank,<br />
die nur einen Meter vor ihr im Dunkel stand, ein Stöhnen<br />
ertönte und sie merkte, das überall schlafende Gestalten lagen,<br />
ergriff sie die Flucht.<br />
»Wo sollen wir denn schlafen, Pan?« fragte sie, als sie eine<br />
Ladenstraße entlanggingen, vorbei an geschlossenen Geschäften<br />
mit heruntergelassenen Rollläden.<br />
»Irgendwo in einer Toreinfahrt.«<br />
»Aber da kann uns jeder sehen.«<br />
»Dahinten ist ein Kanal…«<br />
Pantalaimon sah in eine Seitenstraße auf der linken Seite.<br />
Tatsächlich schimmerte am anderen Ende dunkel Wasser, und<br />
als sie sich vorsichtig näherten, sahen sie ein Hafenbecken, an<br />
dessen Kais ungefähr ein Dutzend Schleppkähne vertäut waren.<br />
Einige ragten hoch aus dem Wasser, andere lagen tief und<br />
schwer beladen unter galgenähnlichen Kränen. Aus dem Fenster<br />
einer Holzhütte drang ein schwacher Schein, und aus dem<br />
Blechschornstein der Hütte stieg ein Rauchfaden auf. Die einzigen<br />
anderen Lichter brannten hoch oben an der Mauer einer<br />
Lagerhalle und auf dem Portal eines Kranes. Unten am Boden<br />
war es dunkel. Auf den Kais stapelten sich Fässer mit Kohlenspiritus,<br />
zersägte Baumstämme und Rollen von mit Cauchuc<br />
ummantelten Kabeln.<br />
Auf Zehenspitzen schlich Lyra zu der Hütte und lugte<br />
durchs Fenster. Ein alter Mann, der eine Pfeife rauchte, las<br />
angestrengt in einem Heft mit Bildergeschichten. Sein Dæmon,<br />
ein Spaniel, schlief zusammengerollt auf dem Tisch. Während<br />
sie noch hineinsah, stand der Mann auf, nahm einen rußgeschwärzten<br />
Kessel vom eisernen Herd und goß heißes Wasser in<br />
einen gesprungenen Becher; dann setzte er sich wieder mit seiner<br />
Zeitung hin.<br />
»Sollen wir fragen, ob er uns reinläßt, Pan?« flüsterte sie, aber<br />
116
Pantalaimon hörte ihr nicht zu. Er verwandelte sich in eine Fledermaus,<br />
dann in eine Eule und schließlich wieder in eine<br />
Wildkatze. Angesteckt von seiner Panik, sah Lyra sich suchend<br />
um, und dann, im selben Augenblick wie Pantalaimon,<br />
erkannte sie die Gefahr: Zwei Männer rannten von verschiedenen<br />
Seiten auf sie zu; der schnellere hielt ein Wurfnetz in den<br />
Händen.<br />
Pantalaimon stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte<br />
sich in Gestalt eines Leoparden auf den Dæmon des schnelleren<br />
Mannes, einen bösartig aussehenden Fuchs, dem er einen Stoß<br />
versetzte, der ihn rückwärts vor die Beine des Mannes taumeln<br />
ließ. <strong>Der</strong> Mann sprang fluchend zur Seite, und Lyra rannte an<br />
ihm vorbei auf den offenen Kai zu. Auf gar keinen Fall durfte<br />
sie sich in eine Ecke drängen lassen.<br />
Pantalaimon, jetzt ein Adler, stieß zu ihr herunter und schrie:<br />
»Links! Links!«<br />
Sie schlug einen Haken nach links, sah zwischen Spiritusfässern<br />
und einem Wellblechschuppen eine Lücke und schoß wie<br />
der Blitz dorthin.<br />
Zu spät! Das Wurfnetz!<br />
Sie hörte ein Zischen in der Luft, und ihre Wange wurde von<br />
etwas gestreift, das scharf brannte. Widerlich klebrige Teerschnüre<br />
fielen ihr über Gesicht, Arme und Hände, und schon<br />
war sie gefesselt und stürzte, und sosehr sie auch um sich schlug,<br />
zappelte und sich wehrte, vergeblich.<br />
»Pan! Pan!«<br />
Aber der Fuchsdæmon fiel über Pantalaimon her, der wieder<br />
eine Katze war, und Lyra spürte die Schmerzen am eigenen<br />
Körper und schrie gepeinigt auf, als Pantalaimon zu Boden<br />
ging. Rasch wickelte einer der Männer das Netz eng um Lyras<br />
Glieder, Kehle, Rumpf und Kopf und verschnürte sie auf dem<br />
nassen Boden zu einem Bündel. Sie war so hilflos wie eine<br />
Fliege im Spinnennetz. <strong>Der</strong> arme Pan schleppte sich verletzt zu<br />
117
ihr. <strong>Der</strong> Fuchsdæmon hatte sich in seinen Rücken verbissen,<br />
und Pantalaimon hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu<br />
verwandeln. <strong>Der</strong> andere Mann lag in einer Pfütze; ein Pfeil<br />
steckte in seinem Hals…<br />
Als der Mann, der das Netz verknotete, das schließlich sah,<br />
herrschte plötzlich Totenstille.<br />
Pantalaimon setzte sich auf und blinzelte; dann ertönte ein<br />
leises Plop, und der Mann mit dem Netz fiel würgend und keuchend<br />
auf Lyra, die entsetzt aufschrie, denn was aus ihm heraussprudelte,<br />
war Blut!<br />
Hastige Schritte näherten sich. Jemand zog den Mann weg<br />
und beugte sich über ihn, Hände hoben Lyra hoch, und ein<br />
Messer schnitt und zerrte an den Maschen des Netzes, bis sie<br />
nacheinander aufgingen und Lyra die Schnur in ihrem Mund<br />
ausspucken und das Netz herunterreißen konnte. Sofort kniete<br />
sie sich auf den Boden und nahm Pantalaimon in die Arme.<br />
Immer noch kniend, wandte sie den Kopf zu den Neuankömmlingen<br />
empor. Drei dunkle Gestalten standen vor ihr,<br />
einer mit einem Bogen bewaffnet, die anderen mit Messern,<br />
und als Lyra aufsah, entfuhr dem Mann mit dem Bogen ein verblüffter<br />
Ausruf.<br />
»Das ist doch Lyra!«<br />
Eine vertraute Stimme, aber Lyra konnte sie erst zuordnen,<br />
als der Mann vor sie trat und Licht aufsein Gesicht und den Falkendæmon<br />
auf seiner Schulter fiel. Ein Gypter! Ein Gypter aus<br />
Oxford!<br />
»Tony Costa«, stellte er sich vor. »Erinnerst du dich? Du hast<br />
mit meinem kleinen Bruder Billy immer bei den Booten in<br />
Jericho gespielt, ehe die Gobbler ihn holten.«<br />
»Mein Gott, Pan, wir sind gerettet!« schluchzte Lyra, aber<br />
dann fiel ihr plötzlich etwas ein: Sie hatte damals doch das Boot<br />
der Costas gekapert. Wenn Tony sich nun daran erinnerte?<br />
»Du kommst besser mit uns«, sagte er. »Bist du allein?«<br />
118
»Ja, ich bin weggelaufen…«<br />
»Schon gut, sprich jetzt nicht. Bleib ganz ruhig. Jaxer, bring<br />
die Leichen in den Schatten. Und du hältst Wache, Kerim.«<br />
Mit wackeligen Beinen stand Lyra auf und drückte Pantalaimon<br />
an die Brust. Pantalaimon drehte suchend den Kopf in<br />
eine bestimmte Richtung, Lyra folgte seinem Blick, verstand,<br />
weshalb, und wurde selbst neugierig: Was war mit den Daemonen<br />
der toten Männer geschehen? Die Antwort war: Sie lösten<br />
sich auf. Sie lösten sich auf und wurden wie kleine Rußteilchen<br />
weggeweht, mochten sie sich auch noch so sehr an die<br />
Männer klammern, zu denen sie gehört hatten. Pantalaimon<br />
bedeckte seine Augen, und Lyra hastete blindlings hinter Tony<br />
Costa her.<br />
»Was machst du hier?« fragte sie.<br />
»Pst, Mädchen! Wir haben schon genügend Scherereien. Wir<br />
reden auf dem Boot darüber.«<br />
Er führte sie über eine kleine Holzbrücke auf ein Dock mitten<br />
im Hafenbecken. Die anderen beiden Männer gingen<br />
schweigend hinter ihnen her. Nachdem sie eine Weile am Wasser<br />
entlanggegangen waren, kamen sie zu einer hölzernen<br />
Anlegestelle, an deren Ende ein kleines Boot vertäut war. Tony<br />
sprang an Bord und stieß die Tür zur Kajüte auf.<br />
»Komm rein«, sagte er, »schnell.«<br />
Lyra folgte ihm, während sie ihre Tasche betastete, um sich<br />
zu vergewissern, daß das Alethiometer noch da war. Sie hatte<br />
die Tasche keinen Augenblick losgelassen, nicht einmal, als sie<br />
im Netz gefangen gewesen war. In der langgestreckten, engen<br />
Kajüte sah sie im Schein einer von einem Haken baumelnden<br />
Laterne eine beleibte, grauhaarige Frau am Tisch sitzen und<br />
Zeitung lesen. Billys Mutter!<br />
»Wer ist denn das?« fragte die Frau. »Doch nicht Lyra?«<br />
»Doch, aber wir müssen sofort weg, Ma. Wir haben hier im<br />
Hafen zwei Männer getötet. Wir hielten sie für Gobbler, aber<br />
119
ich glaube, es waren türkische Händler. Sie hatten Lyra<br />
geschnappt. Frag jetzt nicht — wir besprechen das auf der<br />
Fahrt.«<br />
»Komm her, Kind«, sagte Ma Costa.<br />
Lyra gehorchte, halb glücklich und halb ängstlich, denn Ma<br />
Costa hatte Pranken wie Totschläger, und Lyra war sich inzwischen<br />
sicher, daß es tatsächlich das Boot der Costas gewesen<br />
war, das sie mit Roger und den anderen Collegekindern gekapert<br />
hatte. Aber die Bootsmutter nahm Lyras Gesicht sanft in<br />
die Hände, und ihr Dæmon, ein großer, grauer, wolfsähnlicher<br />
Hund, beugte sich vorsichtig zu Pantalaimon hinunter und<br />
leckte dessen Wildkatzenkopf. Ma Costa schloß Lyra in ihre<br />
mächtigen Arme und drückte sie an die Brust.<br />
»Ich weiß zwar nicht, was du angestellt hast, aber du siehst<br />
müde aus. Du kannst im Kinderbett von Billy schlafen, aber erst<br />
mach ich dir was Heißes zu trinken. Setz dich hierher, Kind.«<br />
Anscheinend hatte sie Lyra die Bootsentführung verziehen<br />
oder sie zumindest vergessen. Lyra rutschte auf die gepolsterte<br />
Bank hinter der blankgescheuerten Tischplatte aus Kiefernholz.<br />
Das leise Rumpeln eines Motors ließ das Boot erzittern.<br />
»Wohin fahren wir?« fragte Lyra.<br />
Ma Costa setzte einen Topf mit Milch auf den eisernen Herd<br />
und stocherte in der Glut, um das Feuer zu schüren.<br />
»Fort von hier. Aber jetzt wird nicht mehr geredet. Wir<br />
unterhalten uns morgen früh.«<br />
Dann schwieg sie, und als die Milch heiß war, goß sie sie in<br />
eine Tasse für Lyra. Sobald das Schiff ablegte, schwang sie sich<br />
an Deck, wo sie ab und zu geflüsterte Bemerkungen mit den<br />
Männern austauschte. Lyra nippte an der Milch und hob die<br />
Ecke des Rollos an, um draußen die dunklen Kais vorbeiziehen<br />
zu sehen. Ein oder zwei Minuten später schlief sie bereits wie<br />
ein Murmeltier.<br />
120
Sie erwachte in einem schmalen Bett und hörte das beruhigende<br />
Rumpeln des Motors im Bauch des Schiffes. Als sie sich<br />
aufsetzen wollte, stieß sie sich den Kopf. Fluchend tastete sie<br />
nach allen Seiten und richtete sich dann erneut auf, diesmal<br />
vorsichtiger. In dem fahlen Licht, das die kleine Kabine erfüllte,<br />
konnte sie noch drei andere Kojen erkennen, alle leer und<br />
ordentlich gemacht, eine unter ihrer eigenen und die beiden<br />
anderen an der gegenüberliegenden Wand. Sie schwang sich<br />
aus dem Bett und stellte fest, daß sie nur ihre Unterwäsche trug.<br />
Die anderen Kleider und der Wolfspelzmantel lagen gefaltet<br />
am Fußende der Koje, daneben lag die Einkaufstasche. Das<br />
Alethiometer war noch da.<br />
Rasch zog sie sich an, öffnete die Tür, trat hinaus und stand in<br />
der Kajüte mit dem Ofen, der eine angenehme Wärme verbreitete.<br />
Außer ihr war niemand in der Kajüte. Durch die Fenster<br />
sah sie auf beiden Seiten graue Nebelschwaden und ab und zu<br />
dunkle Schatten vorüberziehen, vielleicht Häuser oder Bäume.<br />
Bevor sie an Deck gehen konnte, öffnete sich die Außentür,<br />
und Ma Costa stieg herunter, eingewickelt in einen alten<br />
Tweedmantel, auf dem der Dunst Tausende winziger Perlen<br />
gebildet hatte.<br />
»Ausgeschlafen?« rief sie und griff nach einer Bratpfanne.<br />
»Setz dich hin, ich mach dir was zum Frühstück. Steh nicht<br />
herum, dazu ist es hier drin zu eng.«<br />
»Wo sind wir?« wollte Lyra wissen.<br />
»Auf dem Grand Junction Canal. Du bleibst schön hier<br />
unten, Kind, wo dich keiner sieht. Ich will dich nicht an Deck<br />
sehen! Wir haben schon genug Ärger.«<br />
Sie schnitt ein paar dünne Scheiben Speck in die Pfanne und<br />
schlug ein Ei hinein.<br />
»Was denn für Ärger?«<br />
»Wir werden schon damit fertig, wenn du dich raushältst.«<br />
Und dann schwieg sie, bis Lyra aufgegessen hatte. Einmal<br />
121
wurde das Schiff langsamer; etwas knallte gegen die Seite, und<br />
Lyra hörte die Männer ärgerlich losbrüllen; aber dann machte<br />
jemand einen Witz, und sie lachten, die Stimmen wurden leiser,<br />
und das Boot nahm wieder Fahrt auf.<br />
Bald daraufschwang sich Tony Costa in die Kajüte herunter.<br />
Auf seinen Kleidern glitzerten wie vorher auf denen seiner<br />
Mutter Wasserperlen, und als er seinen Wollhut über dem<br />
Ofen ausschüttelte, stoben und sprühten Tropfen nach allen<br />
Seiten.<br />
»Was sagen wir ihr, Ma?«<br />
»Frag sie doch zuerst. Erzählen kannst du später.«<br />
Tony goß Kaffee in eine Blechtasse und setzte sich. Er war<br />
kräftig und hatte ein dunkles Gesicht, und erst jetzt, bei Tageslicht,<br />
sah Lyra, wie traurig und verbittert seine Miene war.<br />
»Gut«, sagte er. »Also, Lyra, dann erzähl uns, was du in London<br />
gemacht hast. Wir dachten, die Gobbler hätten dich<br />
geholt.«<br />
»Tja, ich habe da bei dieser Frau gewohnt…«<br />
Stockend erinnerte sich Lyra an ihre Erlebnisse und ordnete<br />
sie, wie man einen Kartenstapel vor dem Austeilen ordnet. Sie<br />
erzählte alles, nur von dem Alethiometer sagte sie nichts.<br />
»Und gestern abend bei der Cocktailparty fand ich dann heraus,<br />
was sie in Wirklichkeit tun. Mrs. Coulter gehört auch zu<br />
den Gobblern, und ich sollte ihr helfen, noch mehr Kinder zu<br />
fangen. Sie wollen nämlich…«<br />
Ma Costa verließ die Kajüte und ging ins Cockpit. Tony wartete,<br />
bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann sagte er:<br />
»Wir wissen, was sie tun, wenigstens zum Teil. Wir wissen, daß<br />
die Kinder auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Man bringt<br />
sie hoch in den Norden, weit weg, und macht dort Experimente<br />
mit ihnen. Zuerst haben wir geglaubt, die Gobbler würden mit<br />
verschiedenen Krankheiten und Medikamenten experimentieren,<br />
aber wieso hätten sie damit so plötzlich vor zwei oder drei<br />
122
Jahren beginnen sollen? Dann dachten wir, sie hätten vielleicht<br />
ein geheimes Abkommen mit den Tataren in Sibirien geschlossen;<br />
denn die Tataren wollen wie alle anderen wegen der Kohlenspiritusvorkommen<br />
und der Feuerminen in den Norden,<br />
und schon lange bevor die Gobbler ihr Unwesen trieben, gab es<br />
Kriegsgerüchte. Wir nahmen an, die Gobbler würden die Tatarenhäuptlinge<br />
mit Kindern bezahlen, weil die Tataren die doch<br />
essen, nicht wahr? Sie braten und essen Kinder.«<br />
»Das glaube ich nicht!« sagte Lyra.<br />
»Es stimmt aber. Und das ist noch längst nicht alles, ich<br />
könnte dir noch ganz andere Dinge erzählen. Schon mal was<br />
von den Nälkäinen gehört?«<br />
»Nein«, antwortete Lyra. »Nicht mal bei Mrs. Coulter. Was<br />
soll das sein?«<br />
»Nälkäinen sind eine Art Geister, die in den Wäldern im<br />
Norden vorkommen. Sie sind so groß wie Kinder und haben<br />
keine Köpfe. Nachts tasten sie sich durch die Gegend, und wenn<br />
jemand im Wald einschläft, packen sie ihn und lassen ihn nicht<br />
mehr los. Nälkäinen ist ein nordisches Wort. Und dann die<br />
Windsauger, die sind auch gefährlich. Sie schweben durch die<br />
Luft, und manchmal begegnet man ihnen in regelrechten<br />
Schwärmen, oder sie bleiben in einem Dornengestrüpp hängen.<br />
Wenn sie jemanden berühren, verliert er alle Kraft. Man sieht<br />
sie nicht richtig, nur als Schimmern in der Luft. Oder die Atemlosen…«<br />
»Die Atemlosen?«<br />
»Halbtote Krieger. Lebendig zu sein ist eine Sache, tot zu sein<br />
eine andere, aber halb tot zu sein ist am schlimmsten. Sie können<br />
nicht sterben und nicht leben, sondern irren für alle Zeiten<br />
durch die Welt. Sie heißen die Atemlosen, weil man ihnen etwas<br />
Schreckliches angetan hat.«<br />
»Was denn?« fragte Lyra mit großen Augen.<br />
»Die nördlichen Tataren brechen ihnen die Rippen auf und<br />
123
ziehen die Lungen heraus. Sie machen das sehr geschickt, denn<br />
sie töten ihre Opfer dabei nicht. Allerdings funktionieren die<br />
Lungen der Atemlosen nur noch, wenn ihre Dæmonen von<br />
Hand Luft hineinpumpen, deshalb schweben sie immer zwischen<br />
Atmen und Nichtatmen, Leben und Tod — sie sind eben<br />
halb tot, ja? Und ihre Dæmonen müssen Tag und Nacht pumpen<br />
und pumpen, sonst würden sie zusammen mit ihnen sterben.<br />
Ich habe gehört, daß man im Wald manchmal ganzen<br />
Gruppen von Atemlosen begegnet. Und dann gibt es noch die<br />
Panserbjørne — schon mal was von denen gehört? Das sind<br />
gepanzerte Bären, eine Art Eisbären, nur daß sie…«<br />
»Natürlich! Von denen habe ich schon gehört! Einer der<br />
Männer gestern abend hat erzählt, daß mein Onkel Lord Asriel<br />
in einer Festung gefangen ist, die von Panserbjørne bewacht<br />
wird.«<br />
»Wirklich? Warum war er denn im Norden?«<br />
»Er hat geforscht. Aber so wie der Mann geredet hat, glaube<br />
ich nicht, daß mein Onkel auf der Seite der Gobbler steht. Ich<br />
glaube, sie waren froh, daß er im Gefängnis ist.«<br />
»Wenn die Panserbjørne ihn bewachen, kommt er da nicht<br />
mehr raus. Diese Bären sind wie Söldner, wenn du verstehst,<br />
was ich meine. Sie verkaufen sich an jeden, der dafür bezahlt.<br />
Sie haben Hände wie Menschen und sind erfahrene Schmiede.<br />
Meistens verwenden sie Meteoreisen. Sie verarbeiten es zu großen<br />
Platten und Schilden, mit denen sie sich panzern. Seit Jahrhunderten<br />
überfallen sie die Skrälinge. Sie sind brutale,<br />
unbarmherzige Mörder, aber sie halten ihr Wort. Wenn du mit<br />
einem Panserbjørn etwas abmachst, kannst du dich drauf verlassen,<br />
daß er sich daran hält.«<br />
Lyra war von Tonys Greuelgeschichten zutiefst beeindruckt.<br />
»Ma will nichts vom Norden hören«, meinte Tony nach<br />
einer Weile, »denn wer weiß, was Billy zugestoßen ist. Wir wissen<br />
nämlich, daß man ihn in den Norden gebracht hat.«<br />
124
»Woher denn?«<br />
»Wir haben einen von den Gobblern erwischt und zum<br />
Reden gebracht. Deshalb wissen wir ein paar Sachen über sie.<br />
Die beiden Männer letzte Nacht waren keine Gobbler; sie<br />
waren zu ungeschickt. Wenn es Gobbler gewesen wären, hätten<br />
wir sie lebend mitgenommen. Wir Gypter haben unter den<br />
Gobblern mehr gelitten als sonst jemand, und wir treffen uns<br />
jetzt, um zu beraten, was wir dagegen tun können. Deshalb<br />
waren wir letzte Nacht im Hafen; wir mußten unsere Vorräte<br />
aufstocken, denn die Gypter versammeln sich oben in den Fens<br />
zu einem Thing, wie wir es nennen. Und ich schätze, wenn wir<br />
unsere Erfahrungen ausgetauscht und unser Wissen zusammengebracht<br />
haben, werden wir einen Rettungstrupp losschikken.<br />
Das würde ich jedenfalls an John Faas Stelle tun.«<br />
»Wer ist John Faa?«<br />
»<strong>Der</strong> König der Gypter.«<br />
»Ihr wollt wirklich die Kinder retten? Und was ist mit<br />
Roger?«<br />
»Wer ist Roger?«<br />
»<strong>Der</strong> Küchenjunge aus Jordan College. Er wurde genau wie<br />
Billy einen Tag, bevor ich mit Mrs. Coulter fortging, entführt.<br />
Ich wette, wenn ich entführt worden wäre, würde er kommen<br />
und mich befreien. Wenn ihr Billy rettet, komm ich mit und<br />
rette Roger.«<br />
Und Onkel Asriel, dachte sie; aber das sagte sie nicht laut.<br />
125
Sieben<br />
John Faa<br />
Mit diesem Ziel vor Augen ging es Lyra schon viel besser. Mrs.<br />
Coulter zu helfen war schön und gut gewesen, aber Pantalaimon<br />
hatte recht: Lyra hatte dort im Grunde nichts zu tun<br />
gehabt, außer zu allen lieb und nett zu sein. Auf dem gyptischen<br />
Boot dagegen gab es richtige Arbeit, und Ma Costa sorgte dafür,<br />
daß Lyra diese Arbeit tat. Lyra putzte und fegte, schälte Kartoffeln<br />
und kochte Tee, ölte die Welle der Schiffsschraube und<br />
entfernte das Gras aus dem Schutzgitter der Schraube, sie wusch<br />
ab, öffnete Schleusentore und vertäute das Schiff an den Pollern<br />
der Liegeplätze, und innerhalb weniger Tage hatte sie sich so an<br />
ihr neues Leben gewöhnt, als wäre sie schon immer eine Gypterin<br />
gewesen.<br />
Was sie nicht bemerkte, war, daß die Costas sich auf ihren<br />
Landgängen aufmerksam umhörten, ob jemand auffallendes<br />
Interesse für Lyra zeigte. Lyra war, auch wenn sie es nicht<br />
wußte, eine wichtige Person, und offenbar suchten Mrs. Coulter<br />
und die Oblations-Behörde überall nach ihr. Wie Tony<br />
unterwegs in Kneipen erfuhr, führte die Polizei ohne jede<br />
Erklärung Razzien in Häusern und Farmen, Hinterhöfen und<br />
Fabriken durch, und es kursierte das Gerücht, sie würde nach<br />
einem vermißten Mädchen fahnden. Und das war schon merkwürdig<br />
angesichts der vielen Kinder, die verschwunden waren,<br />
126
ohne daß man nach ihnen gesucht hatte. Gypter und Landbevölkerung<br />
waren verunsichert und zutiefst beunruhigt.<br />
Es gab auch noch einen anderen Grund, warum Lyra den<br />
Costas so wichtig war, aber das sollte sie erst ein paar Tage<br />
später<br />
erfahren.<br />
Lyra mußte unter Deck bleiben, wenn das Boot an der Hütte<br />
eines Schleusenwärters, einem Kanalhafen oder einem anderen<br />
Ort vorbeikam, wo sie gesehen werden konnte. Einmal fuhren<br />
sie durch eine Stadt, in der die Polizei den Verkehr in beiden<br />
Richtungen anhielt und alle passierenden Schiffe durchsuchte.<br />
Doch die Costas waren gewappnet. Unter Ma Costas Koje<br />
befand sich ein Geheimfach, in dem Lyra zwei Stunden lang<br />
zusammengekauert lag, während die Polizisten erfolglos jeden<br />
Winkel des Bootes durchsuchten.<br />
»Wieso haben ihre Dæmonen mich eigentlich nicht entdeckt?«<br />
fragte Lyra hinterher. Ma Costa zeigte ihr, daß das Versteck<br />
innen mit Zedernholz ausgekleidet war, das auf Daemonen<br />
wie ein Schlafmittel wirkte. Tatsächlich hatte Pantalaimon<br />
die ganze Zeit friedlich an Lyras Kopf geschlafen.<br />
Langsam, mit zahlreichen Unterbrechungen und Umwegen,<br />
näherte sich das Boot der Costas den Fens, jener weiten und nie<br />
vollständig kartographierten Wildnis in East Anglia. Unter<br />
einem unermeßlich hohen Himmel erstreckte sich eine endlose<br />
Moorlandschaft, die an ihrem äußersten Saum unmerklich in<br />
die Wasserläufe und seichten Buchten des Meeres überging, an<br />
dessen anderem Ende ebenso allmählich die Küste Hollands<br />
auftauchte. Teile der Fens waren von Holländern trocken gelegt<br />
und eingedeicht worden, und einige Holländer hatten sich hier<br />
angesiedelt, deshalb war die Sprache der Fens mit vielen holländischen<br />
Wörtern durchsetzt. Andere Teile waren jedoch nie<br />
trocken gelegt und bepflanzt oder besiedelt worden, und hier,<br />
in den wildesten Gegenden im Landesinnern, wo Aale die<br />
Flüsse bevölkerten und Schwärme von Wasservögeln brüteten,<br />
127
wo gespenstische Sumpffeuer flackerten und Wegelagerer arglose<br />
Reisende auf verhängnisvolle Irrwege in Sümpfe und<br />
Schlammlöcher lockten, hatten die Gypter sich stets ungestört<br />
versammeln können.<br />
Durch tausend gewundene Kanäle, Bäche und Wasserläufe<br />
strebten gyptische Boote den Byanplats zu, dem einzigen etwas<br />
höher gelegenen Landstück in der Hunderte von Quadratmeilen<br />
großen Sumpf- und Moorlandschaft. Inmitten von Anlegestellen,<br />
Hafendämmen, einem Aalmarkt und einer kleinen<br />
Siedlung stand dort eine uralte Versammlungshalle aus Holz.<br />
Wenn dort ein Thing, eine Versammlung der Gypter, einberufen<br />
wurde, drängten sich so viele Boote auf den Wasserstraßen,<br />
daß man — so sagte man — über ihre Decks in alle Richtungen<br />
eine Meile laufen konnte. In den Sümpfen herrschten die Gypter.<br />
Niemand sonst wagte es, sie zu betreten, und solange die<br />
Gypter sich friedlich verhielten und die öffentliche Ruhe nicht<br />
störten, drückten die Landloper, die Bewohner des Festlandes,<br />
bei dem regen Schmuggel und den gelegentlichen Fehden ein<br />
Auge zu. Wenn die Leiche eines Gypters an die Küste gespült<br />
wurde oder einem Fischer ins Netz ging, na ja — dann war es<br />
eben nur ein Gypter.<br />
Lyra lauschte gespannt den Geschichten der Fenbewohner<br />
vom großen Geisterhund Black oder den Sumpffeuern, die aufloderten,<br />
wenn Hexenöl in Blasen an die Oberfläche stieg, und<br />
noch ehe sie die Fens erreichten, fühlte sie sich als Gypterin. Sie<br />
war schnell wieder in die Ausdrucksweise ihrer Oxforder Zeit<br />
verfallen und bereicherte ihre Sprache jetzt auch noch mit holländischen<br />
Worten der gyptischen Fenbewohner. Ma Costa<br />
mußte sie an gewisse Dinge erinnern.<br />
»Du bist keine Gypterin, Lyra. Vielleicht sprichst du mit<br />
einiger Übung wie wir, aber die Sprache allein macht dich noch<br />
lange nicht zu einer Gypterin. In uns gibt es Tiefen und starke<br />
Strömungen. Wir sind Wassermenschen durch und durch und<br />
128
du nicht, du bist ein Feuermensch. Du gleichst am meisten dem<br />
Sumpffeuer, jedenfalls aus der Perspektive der Gypter; du hast<br />
Hexenöl in der Seele. Du führst in die Irre, Kind.«<br />
Lyra war gekränkt.<br />
»Ich habe noch nie jemanden in die Irre geführt! Frag<br />
doch…«<br />
Aber natürlich gab es niemanden, den man hätte fragen können,<br />
und Ma Costa lachte, doch es war ein freundliches Lachen.<br />
»Merkst du nicht, daß ich dir ein Kompliment mache, du<br />
Gänschen?« fragte sie, und Lyra war besänftigt, auch wenn sie<br />
nichts verstand.<br />
Als sie die Byanplats erreichten, war es Abend, und die Sonne<br />
stand rief am blutroten Himmel. Die flache Insel mit dem Zaal<br />
inmitten eines Gewirrs von Häusern hob sich als schwarze<br />
Masse gegen das Licht ab; Rauchfäden stiegen in die windstille<br />
Luft empor, und aus dem Gedränge der Boote ringsum wehte<br />
der Geruch von gebratenem Fisch, Tabak und Genever herüber.<br />
Sie vertäuten das Boot an einem Liegeplatz in der Nähe des<br />
Zaal, der laut Tony schon seit Generationen von ihrer Familie<br />
benutzt wurde. Bald daraufzischten und bruzelten fette Aale in<br />
Ma Costas Bratpfanne und im Kessel sprudelte Wasser für Kartoffelpürree.<br />
Tony und Kerim ölten sich das Haar ein, zogen<br />
ihre schönsten Lederjacken und blau getupfte Halstücher an,<br />
schmückten die Finger mit zahlreichen Silberringen und<br />
machten sich dann auf, um alte Freunde auf den Nachbarbooten<br />
zu begrüßen und in der nächsten Bar etwas zu trinken. Sie<br />
kehrten mit wichtigen Neuigkeiten zurück.<br />
»Wir sind gerade rechtzeitig angekommen. Das Thing findet<br />
schon heute abend statt. Und wißt ihr, was sie in der Stadt<br />
sagen? Es heißt, das vermißte Mädchen befinde sich auf einem<br />
gyptischen Boot und würde heute abend beim Thing erscheinen.«<br />
Tony lachte laut und zauste Lyras Haar. Seit sie die Sümpfe<br />
129
erreicht hatten, besserte sich seine Laune zusehends, als sei die<br />
grimmige Schwermut, die seine Miene nach außen zeigte, nur<br />
eine Maske. Und Lyra wurde immer aufgeregter. Sie schlang<br />
das Essen hinunter, wusch das Geschirr ab, kämmte sich die<br />
Haare und steckte das Alethiometer in die Tasche des Wolfspelzmantels.<br />
Dann sprang sie an Land und folgte den anderen<br />
Familien die Anhöhe zum Zaal hinauf.<br />
Sie hatte geglaubt, Tony mache einen Scherz, stellte aber bald<br />
fest, daß dem nicht so war oder daß sie vielleicht doch weniger<br />
einer Gypterin glich, als sie geglaubt hatte. Zahlreiche Menschen<br />
starrten sie an, und Kinder zeigten auf sie. Als sie die großen<br />
Türen des Zaal erreichten, wich die Menge auf beiden Seiten<br />
zurück, um ihnen Platz zu machen, und sie schritten durch<br />
ein Spalier von Menschen.<br />
Jetzt wurde Lyra erst recht nervös. Sie blieb dicht bei Ma<br />
Costa, und Pantalaimon machte sich so groß er konnte und verwandelte<br />
sich in einen Panther, um sie zu beruhigen. Ma Costa<br />
stapfte die Stufen empor, als könne nichts auf der Welt sie aufhalten<br />
oder ihren Schritt beschleunigen, und rechts und links<br />
von ihr gingen stolz wie zwei Prinzen Tony und Kerim.<br />
In der Halle brannten Naphthalampen, die Gesichter und<br />
Körper der Anwesenden beleuchteten, das Dachgebälk in der<br />
Höhe jedoch im Dunkeln ließen. Die hereinströmenden Menschen<br />
hatten Mühe, einen Platz zu finden — die meisten Bänke<br />
waren bereits voll —, aber die Familien rückten noch enger<br />
aneinander und nahmen die Kinder auf den Schoß, um Platz zu<br />
machen, und die Dæmonen rollten sich entweder am Boden<br />
zusammen oder hockten auf den Balken der grobgezimmerten<br />
Holzwände.<br />
An der Stirnseite des Zaal war ein Podium mit acht holzgeschnitzten<br />
Stühlen aufgebaut. Als Lyra und die Costas an der<br />
seitlichen Wand der Halle schließlich einen Stehplatz gefunden<br />
hatten, tauchten acht Männer aus dem Schatten hinter dem<br />
130
Podium auf und traten vor die Stühle. Erregtes Gemurmel ging<br />
durch die Menge, und die Anwesenden bedeuteten einander zu<br />
schweigen und quetschten sich auf die letzten freien Plätze auf<br />
den Bänken. Schließlich herrschte Stille, und sieben der Männer<br />
auf dem Podium setzten sich.<br />
<strong>Der</strong> Mann, der stehen blieb, war in den Siebzigern, aber<br />
immer noch hochgewachsen, stiernackig und kräftig. Wie die<br />
meisten gyptischen Männer trug er eine schlichte Segeltuchjacke<br />
und ein kariertes Hemd; allein durch die Stärke und<br />
Autorität, die er ausstrahlte, unterschied er sich von den anderen.<br />
Lyra erkannte diese Ausstrahlung wieder: Onkel Asriel<br />
hatte sie und ebenso der Rektor von Jordan. <strong>Der</strong> Dæmon des<br />
Mannes war eine Krähe, die dem Raben des Rektors ähnelte.<br />
»Das ist John Faa, der Herrscher der westlichen Gypter«, flüsterte<br />
Tony.<br />
Dann begann John Faa mit einer tiefen, langsamen Stimme<br />
zu sprechen.<br />
»Gypter! Willkommen zu unserem Thing. Wir sind hier, um<br />
zu beraten und zu entscheiden. Ihr wißt alle, um was es geht.<br />
Unter uns sind viele Familien, die ein Kind verloren haben,<br />
manche sogar zwei. Jemand raubt sie. Auch die Landloper verlieren<br />
Kinder. Sie sind in derselben Lage wie wir.<br />
Es hat viel Gerede gegeben über ein Kind und eine Belohnung.<br />
Hier ist die Wahrheit, damit der Klatsch ein Ende hat.<br />
Das Kind heißt Lyra Belacqua, und es wird von der Polizei der<br />
Landloper gesucht. Wer es der Polizei ausliefert, erhält eine<br />
Belohnung von tausend Sovereign. Das Mädchen ist ein Landloperkind,<br />
und es befindet sich in unserer Obhut, wo es auch<br />
bleiben wird. Wen diese tausend Sovereign in Versuchung führen,<br />
der wird weder an Land noch auf dem Wasser vor uns<br />
sicher sein. Wir liefern das Mädchen nicht aus.«<br />
Lyra spürte, wie sie von den Haarwurzeln bis zu den Fußsohlen<br />
errötete; Pantalaimon verwandelte sich in eine braune<br />
131
Motte, um sich zu verstecken. Aller Augen wandten sich ihnen<br />
zu, und Lyra sah hilfesuchend zu Ma Costa auf.<br />
John Faa sprach bereits weiter.<br />
»Aber durch Reden ändern wir nichts. Wenn wir etwas verändern<br />
wollen, müssen wir handeln. Was ihr noch wissen solltet:<br />
Die Gobbler, diese Kindsräuber, bringen ihre Gefangenen<br />
in eine Stadt im hohen Norden, hoch hinauf ins Land der Finsternis.<br />
Ich weiß nicht, was sie dort mit ihnen machen. Manche<br />
sagen, sie würden sie töten, aber jeder behauptet etwas anderes.<br />
Wir wissen es nicht. Wir wissen jedoch, daß Polizei und Klerus<br />
ihnen dabei helfen. Die Mächtigen des Landes helfen ihnen.<br />
Merkt euch das. Sie alle wissen, was vorgeht, und helfen nach<br />
Kräften. Was ich vorhabe, ist daher nicht leicht, und ich brauche<br />
dazu eure Zustimmung. Ich schlage vor, daß wir Krieger in<br />
den Norden entsenden, um die Kinder zu retten und zurückzubringen,<br />
und daß wir unser Gold und unser ganzes Geschick<br />
und unseren Mut in dieses Vorhaben stecken. Ja, Raymond van<br />
Gerrit?«<br />
Ein Mann im Publikum hatte die Hand gehoben, und John<br />
Faa erteilte ihm das Wort und setzte sich.<br />
»Entschuldigung, Lord Faa. Nicht nur gyptische, sondern<br />
auch Landloperkinder wurden gefangengenommen. Soll das<br />
heißen, daß wir die auch retten?«<br />
John Faa stand auf, um zu antworten.<br />
»Raymond, willst du damit sagen, wir sollten alle möglichen<br />
Gefahren auf uns nehmen, um zu einer Gruppe verängstigter<br />
Kinder zu gelangen und dann einigen zu sagen, sie könnten mit<br />
nach Hause kommen, und den übrigen, sie müßten dort bleiben?<br />
Nein, das willst du sicher nicht. Also, meine Freunde, habe<br />
ich euer Einverständnis?«<br />
Niemand hatte mit dieser Frage gerechnet, und im ersten<br />
Moment waren alle unschlüssig; doch dann ging ein Aufschrei<br />
durch die Halle, Hände hoben sich und applaudierten, Fäuste<br />
132
wurden geschüttelt, und die Stimmen schwollen zum Orkan<br />
an. Das Dachgebälk des Zaal erzitterte, und ein Dutzend<br />
Vögel, die dort oben im Dunkel geschlafen hatten, wachten<br />
erschrocken auf und schlugen mit den Flügeln. Kleine Staubwolken<br />
rieselten herab.<br />
John Faa hörte dem Lärmen kurze Zeit zu, dann hob er die<br />
Hand, um sich wieder Gehör zu verschaffen.<br />
»Wir werden eine Weile brauchen, um alles zu organisieren.<br />
Ich möchte, daß die Familienoberhäupter eine Steuer erheben<br />
und eine Truppe aufstellen. In drei Tagen treffen wir uns wieder<br />
hier. In der Zwischenzeit werde ich mit besagtem Kind und<br />
mit Farder Coram sprechen und einen Plan ausarbeiten, den<br />
ich euch beim nächsten Treffen vorlege. Gute Nacht, euch<br />
allen.«<br />
Mit seinen entschiedenen, klaren Worten gelang es ihm<br />
sofort, die Menge wieder zu beruhigen. Die Menschen strömten<br />
durch die großen Türen in die kühle Abendluft hinaus und<br />
machten sich auf den Weg zu den Booten oder in die überfüllten<br />
Bars.<br />
»Wer waren die anderen Männer auf dem Podium?« fragte<br />
Lyra Ma Costa.<br />
»Die Oberhäupter der sechs Familien. <strong>Der</strong> andere Mann war<br />
Farder Coram.«<br />
Es war klar, wen sie mit dem anderen Mann meinte. Er war<br />
der älteste gewesen, ging am Stock und hatte, während er hinter<br />
John Faa saß, die ganze Zeit gezittert, als habe er Schüttelfrost.<br />
»Komm mit«, sagte Tony. »Ich bring dich am besten zu John<br />
Faa, damit du dich vorstellen kannst. Du redest ihn mit Lord<br />
Faa an. Ich weiß nicht, was er dich fragen wird, aber gib acht,<br />
daß du die Wahrheit sagst.«<br />
Pantalaimon hatte sich in einen Spatz verwandelt. Neugierig<br />
saß er auf Lyras Schulter, die Krallen tief im Wolfspelzmantel<br />
vergraben, während sie Tony durch die Menge folgte.<br />
133
Tony hob sie auf das Podium. Sie spürte, wie alle, die noch in<br />
der Halle waren, sie anstarrten. Ihr wurde klar, daß sie plötzlich<br />
tausend Sovereign wert war, und sie wurde rot und zögerte.<br />
Pantalaimon hüpfte ihr auf die Brust und verwandelte sich in<br />
eine Wildkatze. Er machte es sich in ihren Armen bequem und<br />
sah sich leise fauchend um.<br />
Lyra fühlte einen Stoß im Rücken und trat auf John Faa zu.<br />
Mit seinem strengen, kantigen und unbewegten Gesicht<br />
ähnelte er mehr einem steinernen Pfeiler als einem Menschen,<br />
aber er beugte sich zu ihr herunter und streckte ihr die Hand<br />
entgegen. Als sie ihre Hand hineinlegte, verschwand sie fast.<br />
»Willkommen, Lyra«, sagte er.<br />
Seine Stimme klang aus der Nähe wie das Grollen der Erde.<br />
Wäre nicht Pantalaimon gewesen und wäre nicht die versteinerte<br />
Miene von John Faa etwas weicher geworden, Lyra hätte<br />
Angst gehabt. Doch John Faa behandelte sie sehr freundlich.<br />
»Danke, Lord Faa«, antwortete sie.<br />
»Komm mit ins Besprechungszimmer, damit wir reden können«,<br />
sagte John Faa. »Bekommst du bei den Costas etwas<br />
Anständiges zu essen?«<br />
»O ja, zum Abendessen gab es Aale.«<br />
»Echte Sumpfaale, will ich hoffen.«<br />
Das Besprechungszimmer war ein behaglicher Raum. Im<br />
Kamin brannte ein großes Feuer, auf den Anrichten türmten<br />
sich Silber und Porzellan, und um einen schweren, alten Tisch,<br />
dessen Holz dunkel glänzte, standen zwölf Stühle.<br />
Die anderen Männer, die auf dem Podium gesessen hatten,<br />
waren verschwunden, nur der zitternde alte Mann war noch da.<br />
John Faa führte ihn zu einem Platz am Tisch.<br />
»Setz dich rechts von mir hin«, sagte John Faa zu Lyra; er<br />
selbst nahm auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches Platz. Lyra<br />
saß Farder Coram gegenüber. Sie fürchtete sich ein wenig vor<br />
seinem totenkopfähnlichen Gesicht und seinem unablässigen<br />
134
Zittern. Sein Dæmon war eine schöne, braun<strong>goldene</strong> Katze von<br />
stattlicher Größe, die mit erhobenem Schwanz um den Tisch<br />
herumstolzierte, anmutig Pantalaimon beäugte und dessen<br />
Nase kurz mit ihrer berührte, bevor sie sich auf dem Schoß von<br />
Farder Coram niederließ, die Augen halb schloß und leise<br />
schnurrte.<br />
Eine Frau, die Lyra vorher nicht bemerkt hatte, löste sich aus<br />
dem Schatten und brachte ein Tablett mit Gläsern, stellte es vor<br />
John Faa, knickste und verschwand. John Faa goß sich und Farder<br />
Coram aus einem Steinkrug Genever in kleine Gläser, und<br />
Lyra bekam Wein.<br />
»So«, sagte John Faa. »Du bist weggelaufen, Lyra.«<br />
»Ja.«<br />
»Und wer war die Frau, vor der du weggelaufen bist?«<br />
»Sie hieß Mrs. Coulter. Am Anfang mochte ich sie, aber dann<br />
fand ich heraus, daß sie eine von den Gobblern ist. Ich habe<br />
gehört, wie jemand sagte, wer die Gobbler sind. Sie heißen<br />
eigentlich General-Oblations-Behörde, und Mrs. Coulter ist<br />
die Leiterin dieser Behörde, weil alles ihre Idee war. Sie haben<br />
etwas vor, aber ich weiß nicht, was, nur daß ich ihr helfen sollte,<br />
Kinder für die Gobbler zu besorgen. Aber sie wußten ja<br />
nicht…«<br />
»Was wußten sie nicht?«<br />
»Also erst mal hatten sie keine Ahnung, daß ich ein paar von<br />
den entführten Kindern kannte: meinen Freund Roger, den<br />
Küchenjungen von Jordan College, und Billy Costa und ein<br />
Mädchen aus der Markthalle von Oxford. Und noch etwas…<br />
Mein Onkel, also Lord Asriel… ich habe gehört, wie sie über<br />
seine Reisen in den Norden gesprochen haben, und ich glaube<br />
nicht, daß er etwas mit den Gobblern zu tun hat. Denn ich habe<br />
dem Rektor und den Wissenschaftlern von Jordan nachspioniert,<br />
ja, und ich habe mich im Ruhezimmer versteckt, das keiner<br />
außer ihnen betreten darf, und habe gehört, wie mein<br />
135
Onkel ihnen alles von seiner Expedition in den Norden erzählt<br />
hat und von diesem Staub, den er gesehen hat; und er hat den<br />
Kopf von Stanislaus Grumman mitgebracht, in den die Tataren<br />
ein Loch gebohrt haben. Und jetzt haben die Gobbler ihn<br />
irgendwo eingesperrt, wo ihn die gepanzerten Bären bewachen,<br />
und ich möchte ihn befreien.«<br />
Sie sah grimmig und wild entschlossen aus, wie sie da saß, ein<br />
kleines Mädchen vor der hohen, mit Schnitzereien verzierten<br />
Lehne des Stuhles. Die beiden alten Männer konnten ein<br />
Lächeln nicht unterdrücken. Während das Lächeln von Farder<br />
Coram zögernd und vieldeutig über sein Gesicht huschte wie<br />
ein den Schatten hinterherjagender Sonnenstrahl an einem<br />
windigen Märztag, war John Faas Lächeln langsam, herzlich,<br />
klar und offen.<br />
»Erzähl uns, was dein Onkel an jenem Abend gesagt hat«,<br />
meinte John Faa. »Und laß nichts aus. Wir wollen alles hören.«<br />
Lyra gehorchte und berichtete langsamer, aber auch genauer<br />
als bei den Costas. Sie hatte Angst vor John Faa, und am meisten<br />
fürchtete sie seine Freundlichkeit. Als sie geendet hatte, sprach<br />
Farder Coram zum ersten Mal. Seine Stimme war voll und<br />
melodisch, mit ebenso vielen Abstufungen im Tonfall, wie Farben<br />
im Pelz seines Dæmons schimmerten.<br />
»Lyra«, fragte er, »haben die Wissenschaftler diesen Staub<br />
jemals anders genannt?«<br />
»Nein, immer nur Staub. Mrs. Coulter erklärte mir, daß er<br />
aus Elementarteilchen besteht, aber anders hat sie ihn auch<br />
nicht genannt.«<br />
»Und sie glauben, daß sie durch irgendwelche Experimente<br />
mit Kindern mehr über ihn herausfinden können?«<br />
»Ja, aber ich weiß nicht, was. Das heißt, mein Onkel… Ich<br />
hab vergessen, Ihnen etwas zu erzählen. Er hatte noch ein anderes<br />
Lichtbild, das er ihnen zeigte. Darauf waren die Rohre zu<br />
sehen…«<br />
136
»Die was?« fragte John Faa.<br />
»Die Aurora«, sagte Farder Coram. »Stimmt das, Lyra?«<br />
»Ja, genau, das war’s. Und im Schein der Rohre sah man so<br />
etwas wie eine Stadt, mit Türmen und Kirchen und Kuppeln<br />
und so weiter. Ein bißchen wie Oxford, fand ich jedenfalls. Und<br />
ich glaube, Onkel Asriel interessierte sich vor allem dafür, aber<br />
der Rektor und die Wissenschaftler wollten mehr über Staub<br />
hören, genau wie Mrs. Coulter und Lord Boreal und die anderen.«<br />
»Ich verstehe«, sagte Farder Coram. »Das ist sehr interessant.«<br />
»Gut, Lyra«, sagte John Faa, »nun will ich dir etwas erzählen.<br />
Unser Farder Coram hier ist ein weiser Mann. Er ist ein Seher.<br />
Er hat alles verfolgt, was mit Staub und mit den Gobblern und<br />
Lord Asriel und allem anderen zu tun hat und auch mit dir.<br />
Jedesmal, wenn die Costas und ein halbes Dutzend anderer<br />
Familien nach Oxford fuhren, kehrten sie mit ein paar Neuigkeiten<br />
zurück. Über dich, mein Kind. Wußtest du das?«<br />
Lyra schüttelte den Kopf. Langsam wurde ihr das unheimlich.<br />
Pantalaimon knurrte unhörbar tief in seinem Innern, aber<br />
sie spürte es in den Fingerspitzen, die sie in sein Fell gegraben<br />
hatte.<br />
»Ja«, sagte John Faa, »unser Farder Coram erfährt alles, was<br />
du tust.«<br />
Jetzt platzte es aus Lyra heraus.<br />
»Wir haben es nicht kaputt gemacht, Ehrenwort! Nur drekkig!<br />
Und wir sind nicht weit gefahren…«<br />
»Wovon sprichst du, mein Kind?« fragte John Faa.<br />
Farder Coram lachte, und beim Lachen hörte er auf zu zittern,<br />
und sein Gesicht strahlte und sah auf einmal sehr jung aus.<br />
Aber Lyra war nicht zum Lachen zumute, und ihre Lippen<br />
bebten. »Selbst wenn wir den Stöpsel gefunden hätten, nie im<br />
Leben hätten wir ihn herausgezogen! Es war doch alles nur<br />
Spaß. Niemals hätten wir es versenkt!«<br />
137
Da begann auch John Faa zu lachen. Mit der flachen Hand<br />
schlug er so kräftig auf den Tisch, daß die Gläser klirrten, und<br />
seine massigen Schultern zuckten, und er mußte sich die Tränen<br />
aus den Augen wischen. Lyra hatte so etwas noch nie gesehen,<br />
geschweige denn ein solches Brüllen gehört; es klang, als<br />
lache ein Berg.<br />
»Ach ja«, keuchte er, als er wieder sprechen konnte, »davon<br />
haben wir auch gehört, Mädchen! Und ich weiß, daß die Costas<br />
seitdem auf Schritt und Tritt daran erinnert werden. ›Laß lieber<br />
eine Wache auf deinem Boot, Tony‹, spotten die Leute. ›Hier<br />
treiben sich böse kleine Mädchen herum!‹ Diese Geschichte hat<br />
sich wie ein Lauffeuer überall in den Fens ausgebreitet. Aber<br />
wir bestrafen dich dafür nicht. Nein, nein! Sei unbesorgt.«<br />
Er sah Farder Coram an, und die beiden Männer lachten<br />
wieder, wenn auch diesmal leiser.<br />
Lyra war beruhigt.<br />
Schließlich schüttelte John Faa den Kopf und wurde wieder<br />
ernst.<br />
»Lyra, was ich sagen wollte, war, daß wir dich von Kind auf<br />
kennen. Seit du ein Baby warst. Und du sollst wissen, was wir<br />
wissen. Ich habe keine Ahnung, was sie dir in Jordan College<br />
über deine Herkunft erzählt haben, jedenfalls kennt man dort<br />
nicht die ganze Wahrheit. Haben sie dir je gesagt, wer deine<br />
Eltern waren?«<br />
Nun war Lyra völlig verwirrt.<br />
»Ja«, antwortete sie. »Sie sagten, ich sei… sie sagten, sie… sie<br />
sagten also, Lord Asriel hätte mich ins College gebracht, weil<br />
meine Eltern beim Absturz eines Luftschiffes gestorben sind.<br />
Das sagten sie.«<br />
»So, so. Na gut, Kind, jetzt erzähle ich dir eine andere<br />
Geschichte, eine wahre Geschichte. Daß sie wahr ist, weiß ich,<br />
weil eine Gypterin sie mir erzählt hat und kein Gypter jemals<br />
John Faa oder Farder Coram belügen würde. Also höre die<br />
138
Wahrheit über dich, Lyra. Dein Vater kam nicht bei einem<br />
Luftunfall ums Leben, denn dein Vater ist Lord Asriel.«<br />
Lyra erstarrte.<br />
»Es war so«, fuhr John Faa fort. »Als junger Mann unternahm<br />
Lord Asriel ausgedehnte Forschungsreisen in den Norden und<br />
kehrte mit einem großen Vermögen zurück Er war ein temperamentvoller<br />
Mensch, aufbrausend und leidenschaftlich. Auch<br />
deine Mutter war eine leidenschaftliche Frau. Zwar nicht von<br />
so vornehmer Herkunft wie er, aber sehr klug. Sie war Studentin,<br />
und alle, die sie sahen, sagten, sie sei sehr schön. Sie und dein<br />
Vater verliebten sich gleich bei ihrer ersten Begegnung ineinander.<br />
Das Problem war jedoch, daß deine Mutter bereits verheiratet<br />
war. Sie hatte einen Politiker geheiratet, ein Mitglied der<br />
Partei des Königs und einer von dessen engsten Beratern. Einen<br />
aufstrebenden Mann.<br />
Als deine Mutter merkte, daß sie schwanger war, fürchtete<br />
sie sich davor, ihrem Mann zu gestehen, daß das Kind nicht von<br />
ihm war. Und als das Baby zur Welt kam — und das warst du,<br />
Mädchen —, war auf den ersten Blick klar, daß du nicht ihrem<br />
Mann, sondern deinem wahren Vater ähnlich sahst, und deshalb<br />
hielt deine Mutter es für das Beste, dich zu verstecken und<br />
so zu tun, als wärst du gestorben.<br />
Also wurdest du nach Oxfordshire gebracht, wo dein Vater<br />
Land besaß, und in die Obhut einer gyptischen Amme gegeben.<br />
Aber irgend jemand verriet dem Mann deiner Mutter, was<br />
geschehen war. Sofort eilte er dorthin und durchsuchte die<br />
Hütte der Gypterin, doch sie war in das Herrenhaus geflohen,<br />
wohin der Mann deiner Mutter ihr in mörderischem Zorn<br />
folgte. Dein Vater war auf der Jagd, aber man benachrichtigte<br />
ihn, und er kam gerade noch rechtzeitig, um sich dem Mann<br />
deiner Mutter am Fuß der großen Treppe in den Weg zu stellen.<br />
Einen Augenblick später, und er hätte den Schrank aufgebrochen,<br />
in dem sich die Gypterin mit dir versteckte; so aber for<br />
139
derte Lord Asriel ihn zum Duell, und sie kämpften auf den Stufen,<br />
und Lord Asriel tötete ihn. Die Gypterin hat alles gesehen<br />
und gehört, Lyra, und von ihr haben wir es erfahren.<br />
Danach kam es zu einem großen Rechtsstreit. Dein Vater ist<br />
kein Mann, der die Wahrheit abstreitet oder vertuscht, und der<br />
Fall brachte die Richter in Bedrängnis. Zwar hatte dein Vater<br />
getötet und Blut vergossen, aber im Grunde hatte er ja nur sein<br />
Haus und sein Kind gegen einen Eindringling verteidigt. Andererseits<br />
erlaubt das Gesetz jedem Mann, die Vergewaltigung<br />
seiner Frau zu rächen, und die Anwälte des Toten behaupteten,<br />
nichts anderes hätte ihr Mandant vorgehabt.<br />
<strong>Der</strong> Fall zog sich wochenlang hin, und Berge von Beweisen<br />
und Gegenbeweisen wurden hin- und hergeschoben. Am Ende<br />
bestraften die Richter Lord Asriel, indem sie sein ganzes Vermögen<br />
und seine Ländereien beschlagnahmten und ihn, der<br />
reicher als der König gewesen war, zu einem armen Mann<br />
machten.<br />
Was deine Mutter anbelangt: Sie wollte von alldem nichts<br />
wissen, auch von dir nicht. Sie ließ dich im Stich. Die gyptische<br />
Amme erzählte mir, sie hätte oft Angst gehabt, deine Mutter,<br />
eine stolze und hochmütige Frau, könnte dir etwas antun.<br />
Soviel zu ihr.<br />
Dann gab es noch dich. Wäre die Sache anders ausgegangen,<br />
wärst du vielleicht als Gypterin erzogen worden, Lyra, denn die<br />
Gypterin flehte das Gericht an, dich ihr zu überlassen; aber wir<br />
Gypter haben einen schweren Stand vor dem Gesetz. Das<br />
Gericht entschied, daß du in einem Kloster untergebracht werden<br />
solltest, und so kamst du zu den Demütigen Schwestern<br />
von Watlington. Daran wirst du dich kaum erinnern.<br />
Doch Lord Asriel widersetzte sich diesem Urteil. Er haßte<br />
Äbte, Mönche und Nonnen, und als eigenmächtiger Mann, der<br />
er war, kam er eines Tages angeritten und nahm dich mit. Allerdings<br />
nicht, um sich selbst deiner anzunehmen oder dich den<br />
140
Gyptern zu überlassen, sondern er brachte dich nach Jordan<br />
College und warnte das Gericht davor, seine Tat rückgängig zu<br />
machen.<br />
Das Gericht ließ den Dingen ihren Lauf. Lord Asriel widmete<br />
sich wieder seinen Forschungen, und du lebtest in Jordan<br />
College. Alles, was dein Vater verlangte, seine einzige Bedingung<br />
war, daß deine Mutter dich nicht sehen dürfe. Jeder Versuch<br />
von ihr mußte verhindert und ihm mitgeteilt werden,<br />
denn all sein Zorn richtete sich mittlerweile gegen sie. <strong>Der</strong> Rektor<br />
versprach ihm das hoch und heilig, und so verging die Zeit.<br />
Dann brach plötzlich die Aufregung um diesen Staub aus.<br />
Gelehrte Männer und Frauen im ganzen Land und auf der ganzen<br />
Welt fingen besorgt an, darüber zu forschen. Uns Gypter<br />
hätte das nicht weiter interessiert, wären nicht eines Tages unsere<br />
Kinder entführt worden. Von da an wurden wir hellhörig. Wir<br />
knüpften Verbindungen, unter anderem zu Jordan College.<br />
Wahrscheinlich wußtest du nichts davon, aber es gab dort<br />
jemanden, der dich seit deiner Ankunft bewachte und uns darüber<br />
berichtete. Denn dein Schicksal lag uns am Herzen, und<br />
deine gyptische Amme hörte nie auf, sich um dich zu sorgen.«<br />
»Wer hat denn über mich berichtet?« fragte Lyra. Sie kam<br />
sich ungeheuer wichtig vor und war erstaunt, daß ihr Tun mit<br />
derartigem Interesse von so weit weg verfolgt worden war.<br />
»Ein Bediensteter aus der Küche, Bernie Johansen, der Konditor.<br />
Er ist Halbgypter, was du sicher nicht gewußt hast.«<br />
Bernie war ein freundlicher, alleinstehender Mann gewesen,<br />
einer der wenigen Menschen, deren Dæmonen das gleiche<br />
Geschlecht hatten wie sie selbst. Bernie war es gewesen, den sie<br />
in ihrer Verzweiflung angeschrien hatte, als Roger entführt<br />
worden war. Bernie hatte den Gyptern also alles erzählt! Lyra<br />
staunte.<br />
»Und dann«, fuhr John Faa fort, »erfuhren wir, daß du Jordan<br />
College verlassen solltest, und zwar genau zu der Zeit, als Lord<br />
141
Asriel verhaftet wurde und es nicht verhindern konnte. Wir<br />
erinnerten uns daran, daß er dem Rektor befohlen hatte, so<br />
etwas niemals zuzulassen; außerdem wußten wir noch, daß der<br />
Mann, mit dem deine Mutter verheiratet gewesen war, der<br />
Politiker also, den Lord Asriel getötet hatte, Edward Coulter<br />
geheißen hatte.«<br />
»Mrs. Coulter?« fragte Lyra bestürzt. »Sie ist meine Mutter?«<br />
»Ja. Wenn dein Vater nicht gefangen gewesen wäre, hätte sie<br />
niemals gewagt, ihm zu trotzen, und du wärst immer noch in<br />
Jordan, ohne davon etwas zu ahnen. Aber daß der Rektor dich<br />
gehen ließ, ist ein unerklärliches Rätsel. Er war für dich verantwortlich.<br />
Ich kann nur vermuten, daß sie ihn irgendwie in der<br />
Hand hatte.«<br />
Plötzlich verstand Lyra das merkwürdige Verhalten des Rektors<br />
am Morgen ihrer Abreise.<br />
»Aber er wollte nicht…«, begann sie und versuchte sich<br />
genau zu erinnern. »Er… Ich sollte an diesem Morgen ganz früh<br />
zu ihm kommen und durfte Mrs. Coulter nichts davon sagen…<br />
Er schien mich irgendwie vor Mrs. Coulter schützen zu wollen…«<br />
Sie stockte und warf einen abschätzenden Blick auf die<br />
beiden Männer. Dann beschloß sie, ihnen die Wahrheit über<br />
den Vorfall im Ruhezimmer zu sagen. »Da war übrigens noch<br />
was. An dem Abend, als ich mich im Ruhezimmer versteckte,<br />
sah ich, wie der Rektor versuchte, Lord Asriel zu vergiften. Ich<br />
beobachtete, wie er ein Pulver in den Wein schüttete, und<br />
erzählte meinem Onkel davon. Er stieß die Karaffe vom Tisch<br />
und verschüttete den Wein. So habe ich ihm das Leben gerettet.<br />
Aber ich konnte nicht verstehen, warum der Rektor, der immer<br />
so freundlich war, ihn vergiften wollte. Dann, am Morgen, als<br />
ich fortging, rief er mich in aller Frühe in sein Arbeitszimmer.<br />
Ich mußte heimlich hingehen, damit niemand davon erfuhr,<br />
und er sagte dann…« Lyra überlegte angestrengt, was genau der<br />
Rektor gesagt hatte, doch vergeblich. Sie schüttelte den Kopf.<br />
142
»Ich verstand nur, daß er mir etwas geben wollte, das ich vor<br />
Mrs. Coulter geheim halten mußte. Aber Ihnen kann ich es,<br />
glaube ich, verraten…«<br />
Lyra griff in die Tasche des Wolfspelzmantels und holte das<br />
in Samt eingewickelte Päckchen heraus. Sie legte es auf den<br />
Tisch und spürte die fragenden Blicke der beiden Männer, die<br />
unverhohlene Neugier John Faas und den lebhaften Verstand<br />
Farder Corams.<br />
Als sie das Alethiometer ausgewickelt hatte, sprach als erster<br />
Farder Coram.<br />
»Nie hätte ich mir träumen lassen, jemals wieder ein solches<br />
Instrument zu Gesicht zu bekommen. Das ist ein Zeichendeuter.<br />
Hat der Rektor noch etwas darüber gesagt, mein Kind?«<br />
»Nein, nur daß ich selbst herausfinden muß, wie man es liest.<br />
Und er nannte es Alethiometer.«<br />
»Was heißt das?« wollte John Faa wissen.<br />
»Alethiometer ist griechisch. Ich glaube, es kommt von<br />
aletheia, was Wahrheit bedeutet. Es handelt sich also um einen<br />
Wahrheitsmesser. Weißt du inzwischen, wie man es benutzt,<br />
Lyra?«<br />
»Nein. Ich kann zwar die drei kurzen Zeiger auf verschiedene<br />
Bilder stellen, aber mit dem langen kann ich nichts anfangen.<br />
Er schlägt nach allen möglichen Seiten aus. Nur manchmal,<br />
wenn ich mich konzentriere, kann ich die lange Nadel<br />
durch meine Gedanken in die eine oder andere Richtung lenken.«<br />
»Wozu ist es gut, Farder Coram?« fragte John Faa. »Und wie<br />
liest man es?«<br />
»All diese Bilder hier am Rand sind Symbole«, sagte Farder<br />
Coram und hielt das Alethiometer vorsichtig John Faa entgegen,<br />
der verständnislos daraufblickte. »Jedes von ihnen hat verschiedene<br />
Bedeutungen. Nimm zum Beispiel den Anker hier.<br />
Zunächst einmal bedeutet er Hoffnung, denn die Hoffnung<br />
143
hält dich fest wie ein Anker und verhindert, daß du abtreibst.<br />
Seine zweite Bedeutung ist Beständigkeit. Drittens kann er<br />
Schwierigkeiten oder ein Hindernis bedeuten. Viertens verkörpert<br />
er das Meer, und so weiter. Er kann bis zu zehn, zwölf oder<br />
sogar unendlich viele Bedeutungen haben.«<br />
»Und Ihr kennt sie alle?«<br />
»Ich kenne einige, aber um alle zu verstehen, brauchte ich das<br />
Buch. Ich habe das Buch gesehen und weiß, wo es sich befindet,<br />
aber ich habe es nicht.«<br />
»Darüber müssen wir noch sprechen«, sagte John Faa. »Aber<br />
jetzt erklärt uns weiter, wie man das Instrument liest.«<br />
»Es gibt also drei Zeiger, die man bewegen kann«, sagte Farder<br />
Coram, »und man kann mit ihnen eine Frage stellen. Indem<br />
man sie auf drei Symbole richtet, läßt sich jede beliebige Frage<br />
stellen, denn jedes Symbol verweist ja wieder auf viele Ebenen.<br />
Sobald man eine Frage formuliert hat, schlägt die lange Nadel<br />
aus und zeigt auf weitere Symbole, in denen die Antwort<br />
steckt.«<br />
»Aber woher weiß die Nadel, welche Ebene mit der jeweiligen<br />
Frage angesprochen wird?« fragte John Faa.<br />
»Von allein weiß sie es nicht. Es funktioniert nur, wenn der<br />
Fragesteller zur gleichen Zeit an die Ebenen denkt. Zunächst<br />
muß er alle Bedeutungen kennen, und das dürften mindestens<br />
tausend sein. Dann muß er sie im Gedächtnis behalten und darf<br />
weder eingreifen noch ungeduldig werden, wenn die Nadel<br />
sich dreht. Wenn sie das Zifferblatt einmal umrundet hat, kennt<br />
er die Antwort. Ich weiß, wie es funktioniert, weil ich in Uppsala<br />
einmal einem Weisen dabei zugeschaut habe, aber das war<br />
bis zum heutigen Tag meine einzige Begegnung mit einem<br />
Alethiometer. Weißt du, wie selten sie sind, Lyra?«<br />
»<strong>Der</strong> Rektor sagte, daß nur sechs gebaut wurden.«<br />
»Wie viele es auch immer sein mögen, jedenfalls sind es nicht<br />
viele.«<br />
144
»Und du hast Mrs. Coulter nichts davon gesagt, wie der Rektor<br />
dir aufgetragen hatte?« fragte John Faa.<br />
»Ja. Aber ihr Dæmon schnüffelte oft in meinem Zimmer<br />
herum, und ich bin sicher, daß er das Alethiometer entdeckt<br />
hat.«<br />
»Ich verstehe. Hör zu, Lyra, ich weiß nicht, ob wir jemals die<br />
volle Wahrheit erfahren werden, aber nach allem, was ich weiß,<br />
vermute ich folgendes. <strong>Der</strong> Rektor wurde von Lord Asriel<br />
beauftragt, für dich zu sorgen und dich vor deiner Mutter zu<br />
schützen, was er auch zehn Jahre oder noch länger tat. Dann<br />
gründete Mrs. Coulter mit Unterstützung ihrer Freunde in der<br />
Kirche die Oblations-Behörde, wobei wir nicht wissen, welche<br />
Absicht dahintersteckte, und wurde auf diese Weise ebenso<br />
mächtig wie Lord Asriel. Deine Eltern sind einflußreich und<br />
ehrgeizig, und der Rektor von Jordan stand zwischen beiden.<br />
Nun muß sich der Rektor aber um viele Dinge kümmern.<br />
Sein wichtigstes Anliegen ist das College mit seinen Wissenschaftlern.<br />
Sieht er es bedroht, muß er etwas unternehmen.<br />
Und die Kirche, Lyra, ist in letzter Zeit immer mächtiger<br />
geworden. Beim geringsten Anlaß werden Konzile einberufen,<br />
und es ist sogar die Rede davon, die Inquisitionsbehörde wiederzubeleben,<br />
wovor Gott uns bewahren möge. <strong>Der</strong> Rektor<br />
muß vorsichtig zwischen all diesen Mächten taktieren. Er muß<br />
verhindern, daß Jordan College der Kirche abtrünnig wird,<br />
sonst könnte es nicht überleben.<br />
Aber auch du liegst dem Rektor am Herzen, mein Kind. Bernie<br />
Johansen hat uns das immer wieder versichert. <strong>Der</strong> Rektor<br />
von Jordan und die Wissenschaftler haben dich wie ihr eigenes<br />
Kind geliebt. Sie hätten alles getan, um dich zu schützen, und<br />
zwar nicht nur, weil sie es Lord Asriel versprochen hatten, sondern<br />
deinetwegen. Wenn dich der Rektor also Mrs. Coulter<br />
anvertraute, obwohl er Lord Asriel das Gegenteil versprochen<br />
hatte, muß er trotz allem geglaubt haben, du wärst bei ihr siche<br />
145
er aufgehoben als in Jordan College. Und als er versuchte, Lord<br />
Asriel zu vergiften, muß er befürchtet haben, Lord Asriels Tun<br />
würde euch alle und vielleicht auch uns oder sogar die ganze<br />
Welt in Gefahr bringen. <strong>Der</strong> Rektor ist für mich ein Mann, der<br />
vor schreckliche Entscheidungen gestellt ist; wofür er sich auch<br />
entscheidet, es wird verhängnisvolle Folgen haben, aber vielleicht<br />
richtet die richtige Entscheidung weniger Schaden an als<br />
die falsche. Möge Gott mich vor solchen Entscheidungen<br />
bewahren.<br />
Und als er dich gehen lassen mußte, gab er dir den Zeichendeuter<br />
und beschwor dich, ihn sicher zu verwahren. Ich frage<br />
mich, was du seiner Meinung nach damit machen sollst. Da du<br />
ihn nicht lesen kannst, ist mir schleierhaft, was er damit beabsichtigt<br />
hat.«<br />
»Er meinte, Onkel Asriel hätte das Alethiometer Vorjahren<br />
Jordan College geschenkt«, sagte Lyra. Wieder versuchte sie<br />
angestrengt, sich zu erinnern. »Und er wollte noch etwas anderes<br />
sagen, aber da klopfte es, und er konnte nicht weitersprechen.<br />
Vielleicht wollte er mir sagen, ich sollte es auch vor Lord<br />
Asriel verstecken.«<br />
»Oder auch das Gegenteil«, sagte John Faa.<br />
»Was meinst du damit, John?« fragte Farder Coram.<br />
»Vielleicht wollte er Lyra bitten, es Lord Asriel zurückzugeben,<br />
als eine Art Wiedergutmachung dafür, daß er versucht<br />
hatte, ihn zu vergiften. Vielleicht glaubte er, daß von Lord<br />
Asriel keine Gefahr mehr ausgehe. Oder daß das Instrument<br />
Lord Asriel Dinge offenbaren und ihn damit von seinen Zielen<br />
abbringen würde. Wenn Lord Asriel jetzt gefangengehalten<br />
wird, könnte es ihm helfen freizukommen. Tja, Lyra, am besten<br />
nimmst du den Zeichendeuter wieder an dich und paßt gut auf<br />
ihn auf. Du hast ihn ja bis jetzt sicher aufbewahrt, ich überlasse<br />
ihn dir unbesorgt. Aber eines Tages brauchen wir vielleicht seinen<br />
Rat, und dann werden wir dich wohl darum bitten.«<br />
146
Er legte den Samt wieder über dem Alethiometer zusammen<br />
und schob es über den Tisch zurück.<br />
Lyra hätte gern noch alle möglichen Fragen gestellt, empfand<br />
aber plötzlich Scheu vor dem massigen Mann mit den von<br />
Falten und Runzeln umgebenen, scharfen und zugleich<br />
freundlichen Augen.<br />
Aber eines mußte sie noch wissen.<br />
»Wer war die Gypterin, die mich gestillt hat?«<br />
»Ach so, das war natürlich Billy Costas Mutter. Sie hat es dir<br />
nicht gesagt, weil ich es ihr verboten habe, aber sie weiß, worüber<br />
wir uns hier unterhalten, und du sollst es ruhig wissen. Du<br />
gehst jetzt am besten zu ihr zurück. Du hast eine Menge zum<br />
Nachdenken, mein Kind. In drei Tagen haben wir wieder ein<br />
Thing, und dort besprechen wir, was wir tun werden. Mach’s<br />
gut. Gute Nacht, Lyra.«<br />
»Gute Nacht, Lord Faa, gute Nacht, Farder Coram«, sagte<br />
Lyra höflich und drückte mit einer Hand das Alethiometer an<br />
die Brust, mit der anderen Pantalaimon.<br />
Die beiden Alten lächelten ihr freundlich zu. Vor der Tür des<br />
Besprechungszimmers wartete Ma Costa, und als wäre seit<br />
Lyras Geburt nichts geschehen, schloß die Bootsmutter sie in<br />
ihre mächtigen Arme und gab ihr einen Kuß, bevor sie sie zum<br />
Boot zurückbrachte.<br />
147
Acht<br />
Enttäuschung<br />
Lyra mußte sich erst daran gewöhnen, was sie über ihre Vergangenheit<br />
erfahren hatte, und das konnte nicht von heute auf<br />
morgen gelingen. Daß Lord Asriel ihr Vater war, nun gut, doch<br />
Mrs. Coulter als Mutter zu akzeptieren war längst nicht so einfach,<br />
auch wenn sie darüber vor wenigen Monaten noch begeistert<br />
gewesen wäre, wie sie sich verwirrt eingestehen mußte.<br />
Doch es war nicht Lyras Art, sich lange zu grämen. Schließlich<br />
gab es in der Stadt vieles zu entdecken, und nur zu gern verblüffte<br />
sie die gyptischen Kinder mit ihren Geschichten. Noch<br />
vor Ablauf der drei Tage war sie eine Meisterin im Stocherkahnfahren<br />
— oder hielt sich zumindest dafür — und hatte eine<br />
Schar von Kindern um sich versammelt, die gebannt den<br />
Geschichten über ihren mächtigen, zu Unrecht gefangengehaltenen<br />
Vater lauschten.<br />
»Und dann war eines Abends der türkische Botschafter zum<br />
Abendessen in Jordan. Er hatte vom Sultan persönlich den Auftrag,<br />
meinen Vater zu töten, und er trug am Finger einen Ring<br />
mit einem Stein, der innen hohl und mit Gift gefüllt war. Als<br />
der Wein bei Tisch herumgereicht wurde, tat er so, als wolle er<br />
über das Glas meines Vaters langen, und dabei schüttete er<br />
heimlich das Gift hinein. Das geschah so schnell, daß niemand<br />
es sah, außer…«<br />
148
»Was denn für ein Gift?« wollte ein Mädchen mit magerem<br />
Gesicht wissen.<br />
»Das Gift einer ganz besonderen türkischen Schlange«,<br />
phantasierte Lyra, »die durch Flötenspiel angelockt wird. Dann<br />
wirft man ihr einen in Honig getränkten Schwamm hin, und<br />
wenn die Schlange hineinbeißt, bleibt sie mit ihren Zähnen<br />
darin hängen. Dann packt man sie und zapft ihr das Gift ab.<br />
Jedenfalls hatte mein Vater gesehen, was der Türke getan hatte,<br />
und er sagte: Meine Herren, ich möchte einen Toast auf die<br />
Freundschaft zwischen Jordan College und dem College von<br />
Izmir ausbringen.‹ Dem College von Izmir gehörte nämlich der<br />
türkische Botschafter an. Dann sagte er: ›Und zum Zeichen<br />
unserer Freundschaft wollen wir die Gläser austauschen und<br />
aus dem Glas unseres Nachbarn trinken.‹<br />
Da saß der türkische Botschafter in der Klemme, denn eine<br />
Weigerung wäre eine tödliche Beleidigung gewesen, und weil<br />
er wußte, daß der Wein vergiftet war, konnte er ihn auch nicht<br />
trinken. Er wurde totenblaß und fiel in Ohnmacht. Als er wieder<br />
zu sich kam, saßen die anderen alle noch wartend da und<br />
sahen ihn an. Und da mußte er entweder das Gift trinken oder<br />
alles zugeben.«<br />
»Und was hat er getan?«<br />
»Er hat es getrunken. Er brauchte fünf volle Minuten, um zu<br />
sterben, und litt die ganze Zeit furchtbare Qualen.«<br />
»Warst du dabei?«<br />
»Nein, denn Mädchen dürfen nicht am Tisch mit den<br />
Ehrengästen sitzen. Aber hinterher, als man ihn aufbahrte, habe<br />
ich seine Leiche gesehen. Die Haut war verschrumpelt wie ein<br />
alter Apfel, und die Augen waren schon fast aus dem Kopf<br />
gesprungen. Man mußte sie wirklich wieder in die Augenhöhlen<br />
hineindrücken…«<br />
Und so weiter.<br />
Zur gleichen Zeit klopfte die Polizei am Rand der Fens an<br />
149
Türen, durchsuchte Dachkammern und Nebengebäude, überprüfte<br />
Papiere und verhörte jeden, der behauptete, ein kleines<br />
blondes Mädchen gesehen zu haben. In Oxford wurde noch<br />
verbissener gefahndet. Jordan College wurde von der staubigsten<br />
Rumpelkammer bis zum finstersten Keller durchkämmt,<br />
desgleichen die Colleges von Gabriel und St. Michael, bis die<br />
Leiter aller Colleges gemeinsam protestierten und auf ihre<br />
alten Rechte pochten. Das einzige, was Lyra von dieser Suche<br />
mitbekam, war das unaufhörliche Brummen der am Himmel<br />
kreuzenden, mit Gasmotoren betriebenen Luftschiffe. Wegen<br />
der tiefhängenden Wolken und der gesetzlich vorgeschriebenen<br />
Mindestflughöhe über den Fens waren die Luftschiffe zwar<br />
nicht zu sehen, aber niemand wußte, ob sie nicht ausgeklügelte<br />
Spionagegeräte an Bord hatten. Auf jeden Fall ging Lyra in<br />
Deckung, sobald sie sie hörte, oder sie bedeckte ihr auffallend<br />
helles Haar mit ihrem Regenhut aus Ölzeug.<br />
Sie fragte Ma Costa über jede Einzelheit ihrer Geburt und<br />
der Zeit danach aus. Die einzelnen Ereignisse verwob sie in<br />
ihrer Phantasie zu einem Bildteppich, der noch anschaulicher<br />
und suggestiver war als ihre erfundenen Geschichten. Immer<br />
wieder malte sie sich die Flucht aus der Hütte aus, das Versteck<br />
im Schrank, die barsche Herausforderung zum Duell, das Klirren<br />
der Schwerter…<br />
»Schwerter? Großer Gott, Mädchen, wo denkst du hin?« rief<br />
Ma Costa. »Mr. Coulter hatte ein Gewehr, und Lord Asriel<br />
schlug es ihm aus der Hand und streckte ihn mit einem Schlag<br />
nieder. Dann fielen zwei Schüsse. Erstaunlich, daß du das nicht<br />
mehr weißt, aber du warst noch klein. Den ersten Schuß hatte<br />
Edward Coulter abgegeben, der sein Gewehr wieder in die<br />
Hände bekam und einfach losfeuerte. <strong>Der</strong> zweite stammte von<br />
Lord Asriel, der Coulter das Gewehr ein zweites Mal entriß und<br />
auf ihn anlegte. Lord Asriel schoß ihm genau zwischen die<br />
Augen, so daß er keinen Muckser mehr tat. Dann sagte er see<br />
150
lenruhig: ›Kommen Sie raus, Mrs. Costa, und geben Sie mir das<br />
Kind‹, denn ihr beide, du und dein Dæmon, habt fürchterlich<br />
geschrien. Er nahm dich und wiegte dich in den Armen, nahm<br />
dich auf die Schultern, lief glänzend gelaunt mit dir auf und ab,<br />
den Toten zwischen den Füßen, rief nach Wein und befahl mir,<br />
den Boden aufzuwischen.«<br />
Nach der vierten Wiederholung der Geschichte war Lyra<br />
vollkommen überzeugt, sich an alles zu erinnern, und ergänzte<br />
sogar noch die Farbe von Mr. Coulters Mantel oder zählte auf,<br />
welche Umhänge und Pelze im Schrank hingen. Ma Costa<br />
lachte.<br />
Immer wenn Lyra allein war, holte sie das Alethiometer heraus<br />
und vertiefte sich in seinen Anblick wie eine Liebende in<br />
das Bild des Geliebten. Jedes Bild hatte also mehrere Bedeutungen.<br />
Warum sollte sie die nicht herausfinden? Schließlich war<br />
sie die Tochter Lord Asriels!<br />
Sie rief sich die Worte Farder Corams in Erinnerung und<br />
versuchte, sich auf drei willkürlich ausgewählte Symbole zu<br />
konzentrieren, und ließ die Zeiger an den entsprechenden Stellen<br />
einrasten. Wenn sie das Alethiometer auf ihre Handfläche<br />
legte und es mit einem besonders trägen Blick anschaute und<br />
sich hineinvertiefte, schien die lange Nadel sich zielstrebiger zu<br />
bewegen. Statt unberechenbar auf dem Zifferblatt hin- und<br />
herzupendeln, schwang sie gleichmäßig von Bild zu Bild.<br />
Manchmal verweilte sie bei drei, manchmal bei zwei, manchmal<br />
bei fünf oder mehr Bildern, und wenn auch Lyra von alldem<br />
nichts begriff, bereitete es ihr doch eine tiefe Befriedigung,<br />
die anders war als alles, was sie kannte. Pantalaimon beugte sich<br />
als Katze oder als Maus über das Zifferblatt und folgte der<br />
Nadel mit dem Kopf, und ein- oder zweimal hatten beide das<br />
Gefühl, gleichsam ahnungsweise etwas zu verstehen, als würde<br />
ein Sonnenstrahl die Wolken durchstoßen und in der Ferne ein<br />
majestätisches Gebirge aufleuchten lassen — etwas völlig Uner<br />
151
wartetes, weit jenseits ihrer bisherigen Vorstellungen. Lyra<br />
überkam dann dasselbe prickelnde Gefühl, das sie ihr Leben<br />
lang gespürt hatte, wenn sie das Wort Norden hörte.<br />
Drei Tage vergingen, in denen zwischen den zahllosen Booten<br />
und dem Zaal ein ständiges Kommen und Gehen herrschte.<br />
Dann kam der Abend des zweiten Things. <strong>Der</strong> Saal war noch<br />
voller als beim ersten Mal, falls das überhaupt möglich war.<br />
Lyra und die Costas waren rechtzeitig erschienen und saßen in<br />
der ersten Reihe, und sobald man im flackernden Licht erkennen<br />
konnte, daß der Saal voll war, betraten John Faa und Farder<br />
Coram das Podium und setzten sich hinter den Tisch. John Faa<br />
brauchte nicht um Ruhe zu bitten; es genügte, daß er seine großen<br />
Hände flach auf den Tisch legte und zu den Menschen hinunterschaute,<br />
und schon erstarb der Lärm.<br />
»Ihr habt getan, worum ich euch gebeten hatte«, begann er.<br />
»Meine Hoffnungen wurden sogar noch übertroffen. Ich bitte<br />
jetzt die Oberhäupter der sechs Familien heraufzukommen, das<br />
Gold zu übergeben und zu sagen, wie viele Männer sie aufstellen<br />
können. Nicholas Rokeby, du bist der erste.«<br />
Ein stämmiger Mann mit einem schwarzen Bart stieg aufs<br />
Podium und stellte einen schweren Ledersack auf den Tisch.<br />
»Hier ist unser Gold«, sagte er. »Außerdem stellen wir achtunddreißig<br />
Mann.«<br />
»Vielen Dank, Nicholas«, sagte John Faa, und Farder Coram<br />
notierte etwas. Nicholas Rokeby trat nach hinten, und John Faa<br />
rief nacheinander die anderen auf. Sie kamen auf das Podium,<br />
legten einen Sack auf den Tisch und gaben die Zahl der Männer<br />
bekannt, die sie aufbieten konnten. Die Costas gehörten zur<br />
Familie Stefanski, und natürlich hatte sich Tony als einer der<br />
ersten freiwillig gemeldet. Lyra bemerkte, daß sein Dæmon, ein<br />
Falke, unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und die<br />
Flügel ausbreitete, als John Faa das Geld der Stefanskis und die<br />
Zusage von dreiundzwanzig Mann erhielt.<br />
152
Als alle sechs Familienoberhäupter auf dem Podium versammelt<br />
waren, gab Farder Coram John Faa das Blatt mit seinen<br />
Notizen, worauf dieser sich erneut an die Versammelten<br />
wandte.<br />
»Freunde, wir haben ein Aufgebot von einhundertsiebzig<br />
Mann. Ich bin stolz darauf und danke euch. Und so schwer, wie<br />
das Gold ist, zweifle ich nicht daran, daß ihr tief in eure Truhen<br />
gegriffen habt, und auch dafür danke ich euch herzlich. Wie<br />
geht es jetzt weiter? Wir mieten ein Schiff, fahren nach Norden,<br />
suchen die Kinder und befreien sie. Nach allem, was wir<br />
wissen, kann es dabei zu Kämpfen kommen. Es wären weder<br />
unsere ersten noch unsere letzten, aber wir haben noch nie<br />
gegen Menschen kämpfen müssen, die Kinder entführen, und<br />
dazu brauchen wir unser ganzes Können. Aber wir werden<br />
nicht ohne unsere Kinder zurückkehren. Ja, bitte, Dirk Vries?«<br />
Ein Mann stand auf und sagte: »Lord Faa, wißt Ihr, warum<br />
die Kinder entführt wurden?«<br />
»Soviel wir gehört haben, aus einem theologischen Grund. Es<br />
geht um ein Experiment, wir wissen aber nicht, was für eins.<br />
Ehrlich gesagt wissen wir nicht einmal, ob den Kindern Schaden<br />
zugefügt wird. Aber egal, ob es gut oder schlecht ist, was sie<br />
tun, sie haben kein Recht, sich nachts an Kinder heranzumachen<br />
und sie aus ihren Familien zu reißen. Ja, Raymond van<br />
Gerrit?«<br />
<strong>Der</strong> Mann, der bereits beim ersten Thing gesprochen hatte,<br />
erhob sich und sagte: »Es geht um das Kind, von dem Ihr gesagt<br />
habt, es würde gesucht, und das heute in der ersten Reihe sitzt.<br />
Ich habe gehört, die Häuser der Leute, die am Rand der Fens<br />
leben, wurden ihretwegen auf den Kopf gestellt. Und wie ich<br />
erfahren habe, soll genau am heurigen Tag wegen dieses Kindes<br />
im Parlament die Aufhebung unserer alten Privilegien beantragt<br />
werden. Jawohl, Freunde« — er übertönte das erschrokkene<br />
Geflüster im Saal — »ein Gesetz soll verabschiedet werden,<br />
153
das uns das Recht auf freie Bewegung innerhalb und außerhalb<br />
der Fens nimmt. Deshalb, Lord Faa, wollen wir wissen: Wer ist<br />
dieses Kind, dessentwegen wir in solche Bedrängnis geraten?<br />
Soviel ich weiß, ist es kein gyptisches Kind. Wie konnte es so<br />
weit kommen, daß ein Kind von Landlopern uns alle in Gefahr<br />
bringt?«<br />
Lyra sah zu John Faas mächtiger Gestalt auf. Ihr Herz pochte<br />
so laut, daß sie kaum die ersten Worte seiner Antwort verstehen<br />
konnte.<br />
»Sprich es ruhig aus, Raymond, ziere dich nicht«, sagte er.<br />
»Du willst also, daß wir das Kind jenen ausliefern, vor denen es<br />
geflohen ist, stimmt das?«<br />
Trotzig und mit finsterem Blick stand der Mann da und<br />
schwieg.<br />
»Na gut, vielleicht willst du es, vielleicht auch nicht«, fuhr<br />
John Faa fort. »Aber wenn hier jemand einen Grund braucht,<br />
Gutes zu tun, möge er über folgendes nachdenken. Das kleine<br />
Mädchen ist die Tochter von keinem Geringeren als Lord<br />
Asriel. Für alle, die es vergessen haben: Es war Lord Asriel, der<br />
sich bei den Türken für das Leben von Sam Broekman eingesetzt<br />
hat. Es war Lord Asriel, der den gyptischen Booten freie<br />
Fahrt auf den Kanälen seiner Ländereien gewährte. Es war Lord<br />
Asriel, der zu unserem großen und nachhaltigen Nutzen im<br />
Parlament das Gesetz über Wasserstraßen zu Fall brachte. Und<br />
es war Lord Asriel, der beim Hochwasser im Jahre 53 Tag und<br />
Nacht aktiv war und zweimal selbst ins Wasser sprang, um die<br />
Kinder Ruud und Nellie Koopman zu retten. Hast du das alles<br />
vergessen? Schäme dich!<br />
Und nun wird derselbe Lord Asriel in der entlegensten, kältesten<br />
und finstersten Wildnis gefangengehalten, in der<br />
Festung von Svalbard. Muß ich dir erklären, welche Kreaturen<br />
ihn dort bewachen? Seine kleine Tochter befindet sich hier in<br />
unserer Obhut, und Raymond van Gerrit will sie für ein wenig<br />
154
Ruhe und Frieden den Behörden übergeben. Stimmt das, Raymond?<br />
Steh auf und antworte, Mann.«<br />
Aber Raymond van Gerrit war auf seinen Platz gesunken,<br />
und nichts hätte ihn dazu bringen können, wieder aufzustehen.<br />
Ein leises mißbilligendes Gemurmel lief durch die Halle, und<br />
neben einem tiefen, glühenden Stolz auf ihren tapferen Vater<br />
empfand Lyra zugleich die Scham, die van Gerrit verspüren<br />
mußte.<br />
John Faa wandte sich an die Männer auf dem Podium.<br />
»Nicholas Rokeby, ich beauftrage dich, ein Schiff zu beschaffen<br />
und darauf das Kommando zu führen, wenn wir aufbrechen.<br />
Adam Stefanski, du bist für Waffen und Munition zuständig<br />
und befehligst die Männer im Kampf. Roger van Poppel, du<br />
kümmerst dich um die Einkäufe, von der Verpflegung bis zur<br />
warmen Kleidung. Simon Hartmann, du bist Schatzmeister<br />
und verantwortlich dafür, daß unser Gold vernünftig eingesetzt<br />
wird. Benjamin de Ruyter, du bist für Spionage zuständig. Wir<br />
brauchen viele Informationen, die du herausfinden sollst; du<br />
wirst Farder Coram Bericht erstatten. Michael Canzona, du bist<br />
für die Koordination der Arbeit der vier Befehlshaber verantwortlich,<br />
und wenn ich ums Leben komme, wirst du als mein<br />
Stellvertreter das Kommando übernehmen.<br />
Nachdem ich nun dem Brauch gemäß meine Vorkehrungen<br />
getroffen habe, mögen alle Männer und Frauen, die nicht mit<br />
mir übereinstimmen, ihre Meinung äußern.«<br />
Eine Frau stand auf.<br />
»Lord Faa, wollt Ihr bei dieser Expedition keine Frau mitnehmen,<br />
die sich um die Kinder kümmert, wenn ihr sie gefunden<br />
habt?«<br />
»Nein, Nell. Wie es aussieht, haben wir wenig Platz. Und die<br />
Kinder, die wir befreien, sind bei uns in jedem Fall besser aufgehoben<br />
als dort, wo sie jetzt sind.«<br />
»Aber angenommen, ihr braucht Frauen, die sich als Wäch<br />
155
terinnen oder Kinderpflegerinnen oder was immer verkleiden,<br />
um sie zu retten?«<br />
»Darüber habe ich nicht nachgedacht«, gab John Faa zu.<br />
»Wir überlegen uns das gründlich, wenn wir uns ins Beratungszimmer<br />
zurückziehen, ich verspreche es dir.«<br />
Die Frau setzte sich, und ein Mann stand auf.<br />
»Lord Faa, ich hörte Euch sagen, Lord Asriel befinde sich in<br />
Gefangenschaft. Plant Ihr auch, ihn zu befreien? Denn wenn<br />
das stimmt und er, wenn ich das richtig verstanden habe, in der<br />
Gewalt der Bären ist, brauchte man dazu mehr als hundertsiebzig<br />
Mann. Und auch wenn Lord Asriel ein guter Freund von<br />
uns ist, weiß ich nicht, ob wir so weit gehen sollten.«<br />
»Du hast nicht unrecht, Adriaan Braks. Was ich vorhatte,<br />
war, Augen und Ohren offenzuhalten und zu sehen, was wir in<br />
Erfahrung bringen können, solange wir im Norden sind. Vielleicht<br />
können wir ihm helfen, vielleicht nicht, aber du kannst<br />
dich darauf verlassen, daß ich nichts von dem, was ihr mir an<br />
Männern und Gold gegeben habt, zu einem anderen Zweck<br />
verwenden werde als dem, unsere Kinder zu finden und nach<br />
Hause zu bringen.«<br />
Eine weitere Frau stand auf.<br />
»Lord Faa, wir wissen nicht, was die Gobbler unseren Kindern<br />
angetan haben. Wir haben alle schreckliche Gerüchte und<br />
Geschichten von Kindern ohne Köpfe gehört, von Kindern, die<br />
in zwei Hälften geschnitten und wieder zusammengenäht wurden,<br />
und von Dingen, die zu furchtbar sind, um sie auszusprechen.<br />
Ich möchte wirklich niemanden unglücklich machen,<br />
aber wir haben alle von derartigen Dingen gehört, und ich will,<br />
daß sie offen ausgesprochen werden. Falls Ihr auf solche Greuel<br />
stoßt, Lord Faa, hoffe ich, daß Ihr furchtbare Rache üben werdet,<br />
daß Euch nicht Gnade und Milde daran hindern zurückzuschlagen,<br />
und zwar hart zurückzuschlagen und diese teuflische<br />
Niedertracht ins Herz zu treffen. Ich bin sicher, daß ich im<br />
156
Namen aller Mütter spreche, die Kinder an die Gobbler verloren<br />
haben.«<br />
Als sie sich setzte, wurde zustimmendes Murmeln laut, und<br />
im ganzen Zaal wurde genickt.<br />
John Faa wartete, bis wieder Ruhe einkehrte.<br />
»Nichts wird meine Hand aufhalten, Margaret, als das nüchterne<br />
Urteil. Wenn ich mich im Norden zurückhalte, dann nur,<br />
um im Süden um so heftiger zuzuschlagen. Einen Tag zu früh<br />
anzugreifen wäre genauso verkehrt, wie an der falschen Stelle<br />
anzugreifen. Sicher, aus deinen Worten spricht der Zorn der<br />
Gerechten. Aber wenn ihr euch diesem Zorn überlaßt, Freunde,<br />
macht ihr genau das, wovor ich euch stets gewarnt habe: Ihr<br />
stellt eure Rachsucht über die Aufgabe, die zu tun ist. Und<br />
unsere Aufgabe ist zuallererst die Befreiung der Kinder, erst<br />
dann die Bestrafung der Übeltäter. Es geht nicht um die Befriedigung<br />
verletzter Gefühle; unsere Gefühle spielen keine Rolle.<br />
Wenn wir die Kinder retten, ohne die Gobbler bestrafen zu<br />
können, haben wir unsere wichtigste Aufgabe erfüllt. Wenn wir<br />
aber danach trachten, zuerst die Gobbler zu bestrafen, und<br />
dadurch die Chance verspielen, die Kinder zu befreien, sind wir<br />
gescheitert.<br />
Aber verlaß dich darauf, Margaret, wenn die Zeit der Bestrafung<br />
gekommen ist, werden wir ihnen einen Schlag versetzen,<br />
der ihre Herzen verzagen läßt und sie mit Angst erfüllt. Wir<br />
werden ihnen all ihre Kraft rauben. Wir werden sie vernichten<br />
und zugrunde richten, zerbrechen und zerschmettern, in tausend<br />
Stücke reißen und in alle Winde zerstreuen. Mein Hammer<br />
dürstet nach Blut, Freunde. Er hat kein Blut mehr<br />
geschmeckt, seit ich den tatarischen Helden der Steppe von<br />
Kasachstan getötet habe; träumend hängt mein Hammer in<br />
meinem Boot, aber er wittert Blut in dem Wind, der aus Norden<br />
kommt. Letzte Nacht sprach er zu mir von seinem Durst,<br />
und ich sagte zu ihm: ›Bald ist es soweit.‹ Margaret, dich mögen<br />
157
viele Sorgen quälen, aber fürchte nicht, daß John Faas Herz zu<br />
weich sein könnte, um zuzuschlagen, wenn es an der Zeit ist.<br />
Und diese Zeit wird kommen, wenn der Verstand es sagt, nicht<br />
der blinde Zorn. — Will sonst noch jemand etwas sagen? Dann<br />
sprecht jetzt.«<br />
Aber niemand meldete sich, und nach einer Weile griff John<br />
Faa nach der Glocke, um die Versammlung zu beenden. Er<br />
schwang sie kraftvoll hin und her und läutete so kräftig und<br />
laut, daß das Läuten die ganze Halle erfüllte und das Gebälk<br />
zum Klingen brachte.<br />
John Faa und die anderen Männer verließen das Podium und<br />
begaben sich ins Besprechungszimmer. Lyra war ein bißchen<br />
enttäuscht. Wurde sie nicht aufgefordert mitzukommen?<br />
Tony lachte nur. »Sie müssen jetzt die Reise planen«, sagte er.<br />
»Du hast deinen Teil beigetragen, Lyra. Jetzt sind John Faa und<br />
der Rat an der Reihe.«<br />
»Aber ich habe doch noch gar nichts gemacht!« protestierte<br />
Lyra, als sie widerwillig hinter den anderen herging, zuerst aus<br />
der Halle hinaus und dann die mit Kopfsteinen gepflasterte<br />
Straße zur Anlegestelle hinunter. »Bisher bin ich doch nur vor<br />
Mrs. Coulter davongelaufen! Das war doch erst der Anfang. Ich<br />
will in den Norden!«<br />
»Hör zu«, sagte Tony, »ich bring dir einen Walroßzahn mit,<br />
das versprech ich dir.«<br />
Lyra machte ein finsteres Gesicht. Pantalaimon war damit<br />
beschäftigt, Tonys Dæmon Affengrimassen zu schneiden, aber<br />
der schloß verächtlich die gelbbraunen Augen. Ziellos schlenderte<br />
Lyra zur Anlegestelle, wo sie sich mit ihren neuen Freunden<br />
die Zeit vertrieb und Laternen an Schnüren über das<br />
dunkle Wasser baumeln ließ, um die glotzäugigen Fische anzuziehen.<br />
Wenn die Fische dann langsam zur Wasseroberfläche<br />
schwammen, versuchten die Kinder sie mit spitzen Stöcken<br />
aufzuspießen, allerdings ohne sie zu treffen.<br />
158
Doch in Gedanken war Lyra im Besprechungszimmer bei<br />
John Faa, und schon bald stahl sie sich fort und über das Kopfsteinpflaster<br />
wieder zum Zaal hinauf. Im Fenster des Besprechungszimmers<br />
brannte Licht. Es war zwar zu hoch, um hineinzuschauen,<br />
aber aus dem Innern hörte Lyra gedämpftes<br />
Stimmengemurmel.<br />
Sie ging zur Tür und klopfte fünfmal entschlossen an. Das<br />
Gespräch brach ab, ein Stuhl schrammte über den Boden, dann<br />
ging die Tür auf. Ein breiter Strahl des warmen Naphthalichts<br />
fiel auf die feuchten Stufen.<br />
»Ja?« fragte der Mann, der die Tür geöffnet hatte.<br />
Hinter ihm sah Lyra die anderen Männer am Tisch sitzen,<br />
vor sich die Säcke mit Gold, Papier und Stifte, Gläser und einen<br />
Krug mit Genever.<br />
»Ich will mit in den Norden kommen«, sagte Lyra so laut,<br />
daß alle es hören konnten. »Ich will mitkommen und helfen,<br />
die Kinder zu befreien. Deswegen bin ich doch von Mrs. Coulter<br />
weggelaufen. Und ich wollte sogar schon vorher meinen<br />
Freund Roger befreien, den Küchenjungen von Jordan, der<br />
auch entführt wurde. Ich will mitkommen und helfen. Ich<br />
kenne mich in Navigation aus und kann anbaromagnetische<br />
Messungen an der Aurora vornehmen. Ich weiß, welche Teile<br />
von Bären eßbar sind, und ich kenne alle möglichen anderen<br />
nützlichen Dinge. Sie bereuen es bestimmt, wenn Sie mich<br />
hierlassen und dann dort feststellen, daß Sie mich brauchen.<br />
Und genauso, wie die Frau vorhin gesagt hat, daß Sie vielleicht<br />
auch Frauen brauchen, kann es doch sein, daß Sie auch Kinder<br />
brauchen. Sie können es nicht wissen, deshalb sollten Sie mich<br />
lieber mitnehmen, Lord Faa, und entschuldigen Sie bitte, daß<br />
ich das Gespräch unterbrochen habe.«<br />
Sie stand jetzt mitten im Zimmer, und die Männer und ihre<br />
Dæmonen musterten sie aufmerksam, einige schmunzelnd,<br />
andere verärgert, aber Lyra hatte nur Augen für John Faa. Pan<br />
159
talaimon setzte sich in ihren Armen auf, und seine Wildkatzenaugen<br />
leuchteten grün.<br />
»Daß wir dich mitnehmen und in Gefahr bringen, Lyra,<br />
kommt nicht in Frage«, sagte John Faa. »Sei dir darüber im klaren.<br />
Bleib hier, wo du sicher bist, und hilf Ma Costa. Das ist<br />
deine Aufgabe.«<br />
»Aber ich lerne jetzt allmählich, das Alethiometer zu lesen.<br />
Ich verstehe jeden Tag mehr davon! Das brauchen Sie doch<br />
unbedingt — unbedingt!«<br />
Er schüttelte den Kopf.<br />
»Nein«, sagte er. »Ich weiß, wieviel dir daran liegt, in den<br />
Norden zu fahren, aber ich bin überzeugt, daß nicht einmal<br />
Mrs. Coulter dich dorthin mitgenommen hätte. Wenn du den<br />
Norden sehen willst, warte, bis der ganze Ärger vorbei ist. Jetzt<br />
fort mit dir.«<br />
Pantalaimon fauchte leise, aber da schwang sich der Dæmon<br />
John Faas, der auf dessen Stuhllehne gesessen hatte, in die Luft<br />
und flog ihnen mit ausgebreiteten schwarzen Schwingen entgegen<br />
— nicht drohend, sondern als Ermahnung, sich gefälligst<br />
zu benehmen. Die Krähe flog über Lyras Kopf, und als sie kehrt<br />
machte, um zu John Faa zurückzukehren, drehte auch Lyra sich<br />
um. Hinter ihr fiel die Tür mit einem endgültigen Schnappen<br />
ins Schloß.<br />
»Und wir kommen doch mit«, sagte sie zu Pantalaimon. »Sollen<br />
sie doch versuchen, uns aufzuhalten. Wir kommen mit!«<br />
160
Neun<br />
Die Spione<br />
Während der nächsten Tage schmiedete Lyra ein Dutzend<br />
Pläne, verwarf sie aber ungeduldig sofort wieder, da sie alle darauf<br />
hinausliefen, daß sie sich als blinder Passagier an Bord<br />
schlich, und wie sollte sie es anstellen, auf einem kleinen Boot<br />
unentdeckt zu bleiben? Natürlich, die eigentliche Seereise<br />
würde auf einem richtigen Schiff stattfinden; und Lyra kannte<br />
aus zahlreichen Geschichten alle möglichen Verstecke auf<br />
einem solchen Schiff, etwa die Rettungsboote, den Laderaum<br />
oder den Kielraum; aber zuerst mußte sie zum Schiff gelangen,<br />
und aus den Fens kam man nur heraus, wenn man reiste wie die<br />
Gypter: mit dem Boot.<br />
Und selbst wenn sie die Küste auf eigene Faust erreichte,<br />
konnte es immer noch passieren, daß sie sich auf dem falschen<br />
Schiff versteckte. Das wäre eine schöne Überraschung, wenn sie<br />
sich in einem Rettungsboot verstecken und auf dem Weg nach<br />
Hochbrasilien aufwachen würde.<br />
Um sie herum waren inzwischen Tag und Nacht die Expeditionsvorbereitungen<br />
in Gang, was ihre Qualen noch<br />
steigerte. Lyra sah Adam Stefanski bei der Auswahl der Freiwilligen<br />
für die Kampftruppe zu, und sie bombardierte Roger<br />
van Poppel mit Vorschlägen, welche Vorräte unbedingt mitzunehmen<br />
seien: Hatte er auch an Schneebrillen gedacht?<br />
161
Wußte er, in welchem Laden man die besten Karten der<br />
Arktis bekam?<br />
<strong>Der</strong> Mann, dem sie am liebsten geholfen hätte, war Benjamin<br />
de Ruyter, der Spion. Er war allerdings am Morgen nach<br />
dem zweiten Thing in aller Frühe verschwunden, und natürlich<br />
wußte keiner, wohin er gegangen war und wann er zurückkehren<br />
würde. Lyra heftete sich also an Farder Corams Fersen.<br />
»Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich Ihnen helfe, Farder<br />
Coram«, sagte sie, »denn wahrscheinlich weiß ich mehr über<br />
die Gobbler als sonst jemand, weil ich fast selbst mal einer war.<br />
Wahrscheinlich brauchen Sie meine Hilfe, wenn Sie Mr. de<br />
Ruyters Nachrichten verstehen wollen.«<br />
Farder Coram hatte Mitleid mit dem wildentschlossenen<br />
Mädchen und schickte sie nicht fort. Statt dessen unterhielt er<br />
sich mit ihr, hörte zu, wenn sie von Oxford und Mrs. Coulter<br />
erzählte, und beobachtete sie, wenn sie das Alethiometer studierte.<br />
»Wo ist eigentlich das Buch mit den Symbolen?«, fragte sie<br />
ihn eines Tages.<br />
»In Heidelberg.«<br />
»Und gibt es nur das eine?«<br />
»Vielleicht gibt es noch andere, aber ich kenne nur das.«<br />
»Ich wette, in Bodleys Bibliothek in Oxford gibt es auch<br />
eins«, sagte sie.<br />
Sie konnte kaum die Augen von Farder Corams Dæmon<br />
abwenden. Noch nie hatte sie einen schöneren Dæmon gesehen.<br />
Wenn sich Pantalaimon in eine Katze verwandelte, war er<br />
mager und hatte struppiges, rauhes Fell. Sophonax dagegen war<br />
eine unbeschreiblich vornehme Erscheinung, mit goldfarbenen<br />
Augen und dichtem Fell und etwa der doppelten Größe von<br />
einer normalen Katze. Wenn die Sonne auf das Fell schien,<br />
leuchtete es gelbbraun, braun, laubfarben, haselnußbraun,<br />
goldgelb, golden, herbstfarben und rotbraun; Lyra wußte gar<br />
162
nicht, wie die Farben alle hießen. Wie gern hätte sie dieses Fell<br />
gestreichelt und ihre Wange daran geschmiegt, aber das tat sie<br />
natürlich nicht, denn einen fremden Dæmon anzufassen galt<br />
als der schwerste Verstoß gegen die Etikette, den man sich vorstellen<br />
konnte. Dæmonen durften sich gegenseitig berühren<br />
oder auch gegeneinander kämpfen, doch das Verbot von Kontakten<br />
zwischen Mensch und Dæmon war so streng, daß man<br />
nicht einmal im Krieg den Dæmon des Feindes berührt hätte.<br />
So etwas war völlig undenkbar. Lyra konnte sich nicht daran<br />
erinnern, daß man ihr das jemals hatte sagen müssen, sie wußte<br />
es instinktiv, wie sie fühlte, daß Übelkeit schlecht und Wohlbefinden<br />
gut war. Deshalb bewunderte sie zwar das Fell von<br />
Sophonax und stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, aber<br />
sie versuchte nie, Sophonax zu berühren.<br />
So gepflegt, gesund und schön Sophonax war, so entstellt<br />
und schwach war Farder Coram. Vielleicht war er krank gewesen<br />
oder durch einen Schlaganfall zum Krüppel geworden,<br />
jedenfalls konnte er nicht laufen, ohne sich auf zwei Stöcke zu<br />
stützen, und er zitterte unaufhörlich wie Espenlaub. Er hatte<br />
jedoch einen bemerkenswert scharfen und klaren Verstand,<br />
und schon bald hatte Lyra ihn besonders gern, weil er viel<br />
wußte und ihr so vieles beibringen konnte.<br />
»Was bedeutet dieses Stundenglas, Farder Coram?« fragte<br />
sie, als sie sich eines sonnigen Morgens auf seinem Boot über<br />
das Alethiometer beugte. »Die Nadel kehrt immer wieder dorthin<br />
zurück.«<br />
»Man findet oft einen Hinweis, wenn man genau hinsieht.<br />
Was ist der kleine Gegenstand über dem Stundenglas?«<br />
Lyra sah mit zusammengekniffenen Augen auf das Zifferblatt.<br />
»Ein Schädel!«<br />
»Und was, glaubst du, bedeutet ein Schädel?«<br />
»Tod… ist das der Tod?«<br />
163
»Richtig. Eine der vielen Bedeutungen des Stundenglases ist<br />
also der Tod. <strong>Der</strong> Tod ist sogar — nach der Zeit — die zweitwichtigste<br />
Bedeutung.«<br />
»Wissen Sie, was mir aufgefallen ist, Farder Coram? Die<br />
Nadel hat das Zifferblatt einmal umrundet, und beim zweitenmal<br />
ist sie genau an dieser Stelle stehengeblieben! Beim erstenmal<br />
hat sie so komisch gezuckt, beim zweitenmal ist sie stehengeblieben.<br />
Heißt das, die zweite Bedeutung ist gemeint?«<br />
»Wahrscheinlich. Welche Frage stellst du denn gerade,<br />
Lyra?«<br />
»Ich überlege…« Sie stockte überrascht, als sie merkte, daß sie<br />
tatsächlich unbewußt eine Frage gestellt hatte. »Ich habe<br />
eigentlich nur drei Bilder verknüpft, weil… Wissen Sie, ich<br />
habe an Mr. Ruyter gedacht… Und ich habe die Symbole<br />
Schlange, Tiegel und Bienenstock verknüpft, um zu fragen, wie<br />
er mit der Spionage vorankommt, und…«<br />
»Warum ausgerechnet diese drei Symbole?«<br />
»Weil ich dachte, daß ein Spion listig sein muß wie eine<br />
Schlange, und der Schmelztiegel könnte das Wissen bedeuten,<br />
das man aus den Dingen herauszieht, und der Bienenstock den<br />
Fleiß, weil Bienen immer so fleißig sind; aus Fleiß und Klugheit<br />
entsteht Wissen, ja, und darin besteht doch die Aufgabe des<br />
Spions. Also habe ich die Zeiger auf diese Bilder gestellt und in<br />
Gedanken diese Frage gestellt, und dann blieb die Nadel beim<br />
Tod stehen… Glauben Sie, daß es wirklich so funktioniert, Farder<br />
Coram?«<br />
»Es funktioniert bestimmt, Lyra. Wir wissen nur nicht, ob<br />
wir es richtig lesen, denn das ist eine Kunst für sich. Ich frage<br />
mich, ob…«<br />
Bevor er ausreden konnte, ertönte ein dringendes Klopfen an<br />
der Tür, und ein junger Gypter trat ein.<br />
»Verzeihung, Farder Coram, gerade ist Jacob Huismans<br />
zurückgekehrt. Er ist schwer verletzt.«<br />
164
»Er hat Benjamin de Ruyter begleitet«, sagte Farder Coram.<br />
»Was ist passiert?«<br />
»Er spricht nicht«, antwortete der junge Mann. »Kommt am<br />
besten sofort mit, Farder Coram, denn er wird nicht mehr lange<br />
durchhalten; er hat innere Blutungen.«<br />
Farder Coram und Lyra wechselten einen bestürzten und<br />
zugleich erstaunten Blick, und im nächsten Augenblick humpelte<br />
Farder Coram so schnell er konnte auf seinen Krücken<br />
hinaus. Sein Dæmon ging voraus, Lyra hüpfte ungeduldig<br />
neben ihm her.<br />
<strong>Der</strong> junge Mann führte sie zu einem Boot, das am Zuckerrübensteg<br />
vertäut lag. Eine Frau in roter Flanellschürze hielt<br />
ihnen die Tür auf. Sie sah Lyra mißtrauisch an, und als Farder<br />
Coram das merkte, sagte er beschwichtigend: »Es ist wichtig,<br />
daß das Mädchen hört, was Jacob zu sagen hat.«<br />
Daraufhin trat die Frau zurück und ließ sie herein. Ihr<br />
Dæmon, ein Eichhörnchen, hockte stumm auf einer hölzernen<br />
Standuhr. In einer Koje lag unter einer Flickendecke ein Mann<br />
mit bleichem, schweißüberströmtem Gesicht und glasigen<br />
Augen.<br />
»Ich habe nach dem Arzt geschickt, Farder Coram«, sagte die<br />
Frau mit bebender Stimme. »Bitte regt ihn nicht auf. Er hat<br />
furchtbare Schmerzen. Sie haben ihn eben erst von Peter Hawkers<br />
Boot gebracht.«<br />
»Wo ist Peter jetzt?«<br />
»Er macht gerade das Boot fest. Er hat gesagt, ich soll Euch<br />
rufen lassen.«<br />
»Das war völlig richtig.« Farder Coram wandte sich dem Verletzten<br />
zu. »Jacob, hörst du mich?«<br />
Jacob verdrehte die Augen, um Farder Coram anzublicken,<br />
der einen halben Meter entfernt auf der gegenüberliegenden<br />
Koje saß.<br />
»Guten Tag, Farder Coram«, murmelte er.<br />
165
Lyra sah seinen Dæmon an, ein Frettchen, das reglos neben<br />
seinem Kopf lag. Es hatte sich zusammengerollt, schlief aber<br />
nicht, denn seine Augen waren offen und genauso glasig wie die<br />
von Jacob.<br />
»Was ist geschehen?« fragte Farder Coram.<br />
»Benjamin ist tot«, kam die Antwort. »Er ist tot und Gerard<br />
gefangen.«<br />
Jacobs Stimme klang heiser, und er atmete nur noch<br />
schwach. Als er stockte, streckte sich sein Dæmon unter<br />
Schmerzen aus und leckte seine Wange; nachdem er so wieder<br />
etwas zu Kräften gekommen war, konnte er fortfahren.<br />
»Wir drangen heimlich ins Ministerium für Theologie ein,<br />
denn Benjamin hatte von einem der Gobbler, die wir erwischten,<br />
erfahren, daß dort ihr Hauptquartier ist, aus dem sie die<br />
Befehle empfangen…« Wieder versagte ihm die Stimme.<br />
»Ihr habt Gobbler gefangengenommen?« fragte Farder<br />
Coram.<br />
Jacob nickte, dann sah er seinen Dæmon an. Dæmonen sprachen<br />
normalerweise nicht mit anderen Menschen, sondern nur<br />
mit dem, dem sie zugehörten, aber manchmal, so wie jetzt,<br />
geschah es doch.<br />
»In Clerkenwell«, sagte das Frettchen, »haben wir drei Gobbler<br />
geschnappt und gezwungen, uns zu sagen, für wen sie arbeiten,<br />
von wem sie ihre Befehle erhalten und so weiter. Wohin<br />
genau die Kinder gebracht werden, wußten sie nicht, nur daß<br />
sie nach Norden kommen, nach Lappland…«<br />
Das Frettchen mußte abbrechen und nach Luft schnappen,<br />
bevor es fortfahren konnte. Seine kleine Brust zitterte.<br />
»Die Gobbler haben uns also vom Ministerium für Theologie<br />
und von Lord Boreal erzählt. Benjamin meinte, er und<br />
Gerard Hook sollten ins Ministerium einbrechen, und Frans<br />
Broekman und Tom Mendham sollten versuchen, etwas über<br />
Lord Boreal zu erfahren.«<br />
166
»Haben sie das?«<br />
»Wir wissen es nicht. Sie kamen nicht zurück. Farder Coram,<br />
was wir auch anstellten, es war, als kannten sie unsere Pläne<br />
schon im voraus. Soweit wir wissen, wurden Frans und Tom, als<br />
sie in die Nähe von Lord Boreal kamen, bei lebendigem Leib<br />
gefressen.«<br />
»Was geschah mit Benjamin?« fragte Farder Coram, als er<br />
bemerkte, daß Jacob immer rasselnder atmete und vor Schmerzen<br />
die Augen schloß.<br />
Jacobs Dæmon ließ ein ängstliches und zärtliches Miauen<br />
hören, und die Frau schlug die Hände vor den Mund und trat<br />
ein oder zwei Schritte näher; sie sagte jedoch nichts, und der<br />
Dæmon sprach mit schwacher Stimme weiter.<br />
»Benjamin, Gerard und wir begaben uns zum Ministerium<br />
nach White Hall, wo wir einen kleinen, kaum bewachten<br />
Nebeneingang fanden. Während die anderen das Schloß öffneten<br />
und hineingingen, standen wir draußen Wache. Sie waren<br />
kaum eine Minute drin, als wir einen Angstschrei hörten. Benjamins<br />
Dæmon kam herausgeflogen, winkte uns zu Hilfe und<br />
flog wieder hinein, wir zückten unsere Messer und stürzten<br />
ihm nach. Drinnen war es dunkel, und unheimliche Schatten<br />
und schreckliche Geräusche kamen von allen Seiten und brachten<br />
uns völlig durcheinander. Wir versuchten, etwas zu erkennen,<br />
als über uns plötzlich ein Tumult entstand. Ein entsetzlicher<br />
Schrei gellte durch das Treppenhaus, und dann stürzten<br />
Benjamin und sein Dæmon von oben herunter; der Dæmon<br />
versuchte noch verzweifelt, Benjamin aufzufangen, und<br />
umkreiste ihn flatternd, aber vergeblich — sie schlugen beide<br />
auf dem Steinboden auf und waren sofort tot.<br />
Von Gerard konnten wir zwar nichts sehen, wir hörten ihn<br />
aber über uns schreien, und wir waren vor Angst wie gelähmt.<br />
Im nächsten Augenblick bohrte sich ein Pfeil, der von oben<br />
abgeschossen wurde, tief in unsere Schulter…«<br />
167
Die Stimme des Dæmons wurde immer schwächer, und der<br />
verletzte Jacob stöhnte auf. Farder Coram lehnte sich vor und<br />
schlug sacht die Decke zurück. Aus einem Klumpen geronnenen<br />
Blutes an Jacobs Schulter ragte das gefiederte Ende eines<br />
Pfeiles. Schaft und Spitze steckten so tief in der Brust des armen<br />
Mannes, daß nur noch ungefähr fünfzehn Zentimeter zu sehen<br />
waren. Lyra wurde ganz mulmig.<br />
Von der Anlegestelle erklangen Schritte und Stimmen. Farder<br />
Coram richtete sich auf und sagte: »<strong>Der</strong> Arzt ist da, Jacob,<br />
wir lassen dich jetzt in Ruhe. Sobald es dir bessergeht, unterhalten<br />
wir uns ausführlicher.«<br />
Beim Hinausgehen drückte er der Frau die Schulter. Lyra<br />
hielt sich dicht hinter ihm, denn schon versammelten sich an<br />
der Anlegestelle Menschen, die tuschelnd auf sie zeigten. Farder<br />
Coram befahl Peter Hawker, sofort John Faa aufzusuchen.<br />
Dann wandte er sich an Lyra.<br />
»Lyra, sobald wir wissen, ob Jacob überlebt oder stirbt, müssen<br />
wir uns noch mal über das Alethiometer unterhalten. Geh<br />
jetzt und beschäftige dich eine Weile allein, mein Kind; wir lassen<br />
dich rufen.«<br />
Ziellos wanderte Lyra umher und setzte sich schließlich auf<br />
das schilfbewachsene Ufer und warf Schlammklumpen ins<br />
Wasser. Soviel stand fest: Sie war weder froh noch stolz darüber,<br />
das Alethiometer lesen zu können — sie hatte Angst. Welche<br />
Macht die Nadel auch ausschwingen und anhalten ließ, sie<br />
wußte Dinge wie ein intelligentes Wesen.<br />
»Wahrscheinlich ein Geist«, sagte Lyra, und einen Augenblick<br />
lang war sie versucht, das kleine Ding im hohen Bogen in<br />
den Sumpf zu werfen.<br />
»Ich würde es sehen, wenn da ein Geist drin wäre«, sagte Pantalaimon.<br />
»Wie den alten Geist in Godstow, den ich ja auch<br />
sehen konnte, aber du nicht.«<br />
»Aber es gibt verschiedene Sorten Geister«, sagte Lyra verär<br />
168
gert. »Und du kannst auch nicht alle sehen. Und erinnerst du<br />
dich nicht an die toten Wissenschaftler ohne Köpfe? Ich hab sie<br />
gesehen, vergiß das nicht.«<br />
»Das war doch bloß ein Spuk«<br />
»Stimmt nicht. Es waren richtige Geister, das weißt du ganz<br />
genau. Aber auf jeden Fall gehört der Geist, der die Nadel<br />
bewegt, zu einer anderen Sorte.«<br />
»Vielleicht ist es aber kein Geist«, sagte Pantalaimon hartnäkkig.<br />
»Was denn dann?«<br />
»Vielleicht… Vielleicht sind es Elementarteilchen.«<br />
Lyra schnaubte verächtlich.<br />
»Könnte doch sein!« beharrte Pantalaimon. »Erinnerst du<br />
dich an die Photomühle, die es in Gabriel College gab? Na<br />
bitte.«<br />
In Gabriel College wurde auf dem Hochaltar des Bethauses<br />
ein heiliger Gegenstand aufbewahrt, der, wie Lyra jetzt einfiel,<br />
ebenfalls in ein schwarzes Samttuch eingehüllt war. Sie hatte<br />
ihn gesehen, als sie den Bibliothekar von Jordan zu einem Gottesdienst<br />
in Gabriel College begleitet hatte. Auf dem Höhepunkt<br />
der Zeremonie hatte der Fürsprecher das Tuch gelüftet,<br />
und im Dämmerlicht war eine gläserne Glocke zum Vorschein<br />
gekommen, in deren Innern sich etwas befand, das Lyra aus der<br />
großen Entfernung nicht erkennen konnte. Erst als der Fürsprecher<br />
an einer Schnur zog, die ein Fenster weiter oben öffnete,<br />
und ein Sonnenstrahl genau auf die Glasglocke fiel, war es<br />
deutlich zu sehen gewesen, das kleine Ding, das aussah wie eine<br />
Wetterfahne mit vier Segeln, die auf einer Seite schwarz und<br />
auf der anderen weiß waren. Sobald Licht darauf fiel, fing das<br />
Ding an, im Kreis herumzuwirbeln. Wie der Fürsprecher<br />
erklärte, verdeutlichte es ein moralisches Prinzip, denn das<br />
Schwarz der Unwissenheit floh vor dem Licht, während das<br />
Weiß der Weisheit sich ihm entgegendrängte. Lyra nickte zu<br />
169
allem, was er sagte, aber die kleinen herumwirbelnden Fähnchen<br />
waren auch ohne ihre tiefere Bedeutung reizend anzusehen<br />
gewesen — bewegt nur durch die Kraft der Photonen, wie<br />
der Bibliothekar auf dem Heimweg nach Jordan erklärt hatte.<br />
Also hatte Pantalaimon vielleicht doch recht. Wenn Elementarteilchen<br />
eine Photomühle antreiben konnten, konnten sie<br />
sicher auch eine Nadel bewegen. Trotzdem ließ ihr das Problem<br />
keine Ruhe.<br />
»Lyra! Lyra!« Tony winkte von der Anlegestelle.<br />
»Komm her«, rief er. »John Faa erwartet dich im Zaal. Lauf,<br />
Mädel, es eilt!«<br />
John Faa empfing sie mit besorgter Miene im Kreis von Farder<br />
Coram und den anderen Anführern.<br />
»Lyra, mein Kind«, begann er, »Farder Coram hat mir<br />
erzählt, was du von diesem Instrument abgelesen hast. Leider<br />
muß ich dir mitteilen, daß der arme Jacob gerade gestorben ist.<br />
Ich denke, wir müssen dich jetzt doch mitnehmen, obwohl ich<br />
eigentlich dagegen bin. Ich habe dabei ein sehr ungutes Gefühl,<br />
aber es scheint keine andere Möglichkeit zu geben. Sobald<br />
Jacob begraben ist, wie es bei uns Brauch ist, brechen wir auf.<br />
Aber damit eins klar ist, Lyra: Du kommst mit, aber es wird<br />
keine Vergnügungsreise. Uns erwarten Schwierigkeiten und<br />
Gefahren. Farder Coram wird dich unter seine Fittiche nehmen.<br />
Falls du ihm Ärger machst oder ihn in Gefahr bringst,<br />
bekommst du meinen Zorn zu spüren. Jetzt beeil dich und sag<br />
Ma Costa Bescheid, und dann mach dich bereit.<br />
Obwohl um Lyra herum in den nächsten beiden Wochen mehr<br />
los war als je zuvor in ihrem Leben, schien die Zeit nicht vergehen<br />
zu wollen. Lyra selbst mußte endlos herumsitzen und sich<br />
in feuchten, dunklen Schränken verstecken, während draußen<br />
vor dem Fenster eine trostlose, regennasse Herbstlandschaft<br />
vorbeizog; sie schlief in der Nähe der Motorabgase und wachte<br />
170
dann mit Kopfschmerzen und Übelkeit auf, und, am allerschlimmsten,<br />
sie durfte kein einziges Mal ins Freie, um am Ufer<br />
entlangzulaufen, auf Deck herumzuklettern, Schleusentore<br />
aufzuziehen oder ein Tau aufzufangen, das vom Ufer herübergeworfen<br />
wurde.<br />
Denn natürlich durfte niemand sie sehen. Tony Costa<br />
erzählte ihr den Klatsch aus den Kneipen am Ufer: Im ganzen<br />
Königreich wurde Jagd auf ein kleines blondes Mädchen<br />
gemacht; für seine Ergreifung war eine große Belohnung ausgesetzt<br />
worden, während jedem, der sie versteckte, eine harte<br />
Strafe drohte. Außerdem kursierten die seltsamsten Gerüchte.<br />
So wurde behauptet, sie sei das einzige Kind, das den Gobblern<br />
entkommen sei, und kenne schreckliche Geheimnisse. Einem<br />
anderen Gerücht zufolge war sie kein Menschenkind, sondern<br />
ein Doppelgeist, halb Kind, halb Dæmon, der im Auftrag teuflischer<br />
Mächte die Erde vernichten sollte, und wieder anderen<br />
Gerüchten zufolge war sie kein Kind, sondern eine durch einen<br />
Zauberspruch geschrumpfte Erwachsene im Sold der Tataren,<br />
die das englische Volk auszuspionieren und eine tatarische<br />
Invasion vorbereiten sollte.<br />
Am Anfang hörte sich Lyra solche Geschichten noch gern an,<br />
später war sie darüber verzweifelt. Daß so viele Menschen sie<br />
haßten und fürchteten! Sie hielt es kaum noch in ihrer engen,<br />
kistenartigen Kabine aus und sehnte sich danach, endlich im<br />
Norden zu sein, auf weiten, verschneiten Flächen unter dem<br />
gleißenden Licht der Aurora. Und manchmal wäre sie am liebsten<br />
wieder in Jordan College gewesen und mit Roger über die<br />
Dächer geklettert, bis eine halbe Stunde vor dem Essen die<br />
Glocke des Stewards läutete und Klappern, Brutzeln und Rufen<br />
aus der Küche drang… Dann wünschte sie inbrünstig, daß sich<br />
nie etwas geändert hätte, daß alles immer gleich wäre und sie<br />
für immer und ewig die Lyra aus Jordan College bleiben<br />
könnte.<br />
171
Das einzige, das ihre Langeweile und Gereiztheit vertrieb,<br />
war das Alethiometer. Sie übte sich täglich im Lesen, manchmal<br />
zusammen mit Farder Coram, manchmal allein, und sie<br />
merkte, daß sie immer leichter jenen Zustand der Seelenruhe<br />
herstellen konnte, in dem sich die Symbole von selbst erklärten<br />
und, von einem Sonnenstrahl getroffen, jenes ferne Gebirge<br />
aufleuchtete.<br />
Sie bemühte sich, Farder Coram ihr Gefühl zu erklären.<br />
»Es ist fast, als ob man sich mit jemandem unterhält, bloß daß<br />
man die anderen nicht genau verstehen kann, und weil sie klüger<br />
sind als man selber, kommt man sich irgendwie blöd vor,<br />
obwohl die anderen deshalb nicht böse sind… Und was sie alles<br />
wissen, Farder Coram! Eigentlich alles! Mrs. Coulter war so<br />
klug und wußte immer so viel, aber das hier ist eine andere Art<br />
von Wissen… mehr eine Art Verstehen, glaube ich…«<br />
Oft stellte Farder Coram bestimmte Fragen, und Lyra suchte<br />
nach den Antworten.<br />
»Was macht Mrs. Coulter gerade?« wollte er einmal wissen,<br />
und sofort begann Lyra, an den Zeigern zu drehen. »Erkläre mir<br />
doch, was du tust«, bat er.<br />
»Also, die Madonna ist Mrs. Coulter, und wenn ich den Zeiger<br />
auf sie richte, denke ich: meine Mutter. Die Ameise steht für<br />
beschäftigt — das ist leicht, das ist die erste Bedeutung. Und das<br />
Stundenglas hat als eine seiner Bedeutungen die Zeit, und eine<br />
andere Bedeutung ist jetzt, und darauf konzentriere ich mich.«<br />
»Woher weißt du, unter welchen Symbolen diese Bedeutungen<br />
liegen?«<br />
»Ich sehe sie. Oder besser gesagt, ich fühle sie, als wenn man<br />
nachts eine Leiter hinuntersteigt und mit dem Fuß Sprosse für<br />
Sprosse abtastet. So taste ich in Gedanken Bedeutung für<br />
Bedeutung ab und ahne irgendwie den Sinn. Dann füge ich<br />
alles zusammen. Das ist, als wenn man die Augen auf etwas<br />
scharfstellt.«<br />
172
»Dann mach das jetzt, und versuche herauszubekommen,<br />
was das Alethiometer sagt.«<br />
Lyra tat, wie ihr geheißen. Sofort schlug die lange Nadel aus,<br />
hielt an, pendelte weiter und blieb wieder stehen, in einer präzisen<br />
Abfolge von Schwüngen und Pausen. Lyra fühlte sich<br />
dabei leicht und beschwingt wie ein junger Vogel, der das Fliegen<br />
lernt. Farder Coram, der ihr vom anderen Tischende aus<br />
zusah, merkte sich die Stellen, an denen die Nadel stehenblieb,<br />
und beobachtete Lyra aufmerksam. Das kleine Mädchen strich<br />
sich eine Strähne aus dem Gesicht und kaute auf der Unterlippe,<br />
während seine Augen zunächst der Nadel folgten, dann<br />
aber, sobald diese sich eingependelt hatte, zielbewußt zu anderen<br />
Stellen des Zifferblattes wanderten. Als Schachspieler<br />
kannte Farder Coram den Blick, mit dem Schachspieler während<br />
einer Partie das Schachbrett betrachten. Und wie das Brett<br />
für einen erfahrenen Spieler ein Feld von Kräften zu sein<br />
scheint, das er für seine Züge nutzt, schien auch Lyras Blick auf<br />
ein ähnlich magnetisches Feld gerichtet, das sie — im Unterschied<br />
zu ihm — sehen konnte.<br />
Die Nadel blieb bei den Symbolen Blitz, Kleinkind,<br />
Schlange, Elefant und bei einem Wesen stehen, dessen Namen<br />
Lyra nicht kannte, einer Art Echse mit großen Augen und<br />
einem Schwanz, der sich um den Zweig ringelte, auf dem sie<br />
saß. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte Lyra, wie die<br />
Nadel immer wieder in dieser Reihenfolge um das Zifferblatt<br />
kreiste.<br />
»Was bedeutet die Echse?« fragte Farder Coram in die konzentrierte<br />
Stille hinein.<br />
»Sie ergibt keinen Sinn… Wahrscheinlich verstehe ich da<br />
etwas falsch. <strong>Der</strong> Blitz bedeutet glaube ich Zorn, und das Kind<br />
… bin wohl ich… Ich hatte auch schon fast die Bedeutung von<br />
diesem Echsending, aber als Sie mich fragten, war sie wieder<br />
weg. Sie ist irgendwo, aber ich kann sie nicht fassen.«<br />
173
»Verstehe. Tut mir leid, Lyra. Bist du jetzt müde? Willst du<br />
lieber aufhören?«<br />
»Nein«, sagte Lyra, ihre Wangen glühten, und ihre Augen<br />
glänzten. Sie war völlig überdreht, wozu auch die lange Gefangenschaft<br />
in der stickigen Kabine beigetragen hatte.<br />
Farder Coram blickte zum Fenster hinaus. Draußen war es<br />
fast dunkel, und sie passierten die letzte Strecke des Binnenlandes;<br />
bald würden sie die Küste erreichen. Unter dem düsteren<br />
Himmel erstreckte sich die weite, schmutzigbraune Wasserfläche<br />
einer Flußmündung; in der Ferne konnte man<br />
verrostete und von Rohrleitungen überzogene Kohlenspiritustanks<br />
erkennen und daneben eine Raffinerie, aus der dicker<br />
Rauch quoll und träge zu den Wolken aufstieg.<br />
»Wo sind wir?« fragte Lyra. »Darf ich kurz raus, Farder<br />
Coram?«<br />
»Wir sind in der Bucht von Colby«, antwortete er. »Das ist<br />
die Mündung des Cole. Wenn wir in Colby sind, machen wir<br />
am Räuchermarkt fest und gehen dann zu Fuß zu den Docks. In<br />
ein bis zwei Stunden sind wir dort…«<br />
Weil es bereits dunkel wurde und in der endlosen Weite der<br />
Bucht kein Schiff zu sehen war außer ihrem eigenen Boot und<br />
einem weit entfernten, mit Kohle beladenen Lastkahn, der sich<br />
langsam auf die Raffinerie zuschob, und weil Lyra so überspannt<br />
und müde war und so lange hatte drinnen bleiben müssen,<br />
sagte Farder Coram schließlich: »Na gut, ich glaube nicht,<br />
daß ein paar Minuten an der frischen Luft schaden können.<br />
Obwohl die Luft alles andere als frisch ist, denn der Wind<br />
kommt heute nicht vom Meer. Geh ruhig an Deck und sieh<br />
dich um, bis wir näher an der Stadt sind.«<br />
Lyra sprang auf, und Pantalaimon verwandelte sich augenblicklich<br />
in eine Möwe. Er konnte es kaum erwarten, seine Flügel<br />
im Freien auszubreiten. Draußen war es kalt, und obwohl<br />
Lyra warm eingemummt war, fröstelte sie schon bald. Pantalai<br />
174
mon aber stieg mit lautem Freudenkrächzen hoch hinauf, kreiste<br />
über dem Boot, ließ sich herabfallen und stand im nächsten<br />
Moment vor dem Bug und dann wieder hinter dem Heck. Lyra<br />
freute sich mit ihm am Fliegen, und in Gedanken feuerte sie ihn<br />
an, den Dæmon des alten Steuermanns, einen Kormoran, zu<br />
einem Rennen zu provozieren. <strong>Der</strong> Kormoran beachtete ihn<br />
freilich nicht, sondern ließ sich schläfrig auf der Ruderpinne<br />
neben seinem Herrn nieder.<br />
Nichts rührte sich in der öden, braunen Weite, und nur das<br />
stetige Tuckern des Motors und das gedämpfte Klatschen der<br />
Wellen am Bug durchbrachen die tiefe Stille. Schwere Wolken<br />
hingen tief am Himmel, ohne daß es regnete, und darunter<br />
zogen trübe Rauchschwaden vorbei. Das einzige Lebenszeichen<br />
war Pantalaimon, der ausgelassen und elegant wie ein Pfeil den<br />
Himmel durchschnitt.<br />
Als er sich nach einem Sturzflug wieder mit ausgebreiteten,<br />
vor dem Himmelgrau weiß aufleuchtenden Flügeln emporschwang,<br />
wirbelte auf einmal etwas Schwarzes durch die Luft<br />
und stieß mit ihm zusammen. Vor Schreck und Schmerzen wie<br />
benommen, taumelte er durch die Luft, und Lyra, die seine heftigen<br />
Schmerzen spürte, schrie laut auf. Plötzlich tauchte noch<br />
ein zweites kleines, schwarzes Wesen auf; beide flogen nicht<br />
wie Vögel, sondern wie Käfer schwerfällig und mit einem<br />
brummenden Geräusch.<br />
Im Fallen versuchte Pantalaimon abzudrehen, um sich ins<br />
Boot und Lyras verzweifelt geöffnete Arme zu retten, aber die<br />
mordlüsternen schwarzen Kreaturen stießen weiter brummend<br />
und surrend nach ihm. Lyra war vor Angst — Pantalaimons und<br />
ihrer eigenen — halb wahnsinnig, als plötzlich etwas an ihr vorbei<br />
nach oben rauschte.<br />
Es war der Dæmon des Steuermanns. So plump und schwerfällig<br />
er wirkte, sein Flug war kraftvoll und schnell. Er<br />
schnappte mit dem Kopf hierhin und dorthin, schwarze Flügel<br />
175
auschten und etwas Weißes blitzte auf, und dann fiel ein kleines<br />
schwarzes Etwas vor Lyra auf das geteerte Dach der Kabine,<br />
im selben Moment, in dem Pantalaimon auf ihrer ausgestreckten<br />
Hand landete.<br />
Bevor sie ihn beruhigen konnte, hatte er sich schon in eine<br />
Wildkatze verwandelt und ging auf das Wesen los. Mit einem<br />
Tatzenhieb schlug er es vom Rand des Daches zurück, wohin es<br />
bereits hurtig gekrochen war, um zu fliehen. Dann hielt er es<br />
mit spitzen Krallen fest und sah zum bereits dämmernden<br />
Himmel empor, wo der Kormoran sich mit kräftigen Schlägen<br />
seiner schwarzen Schwingen immer höher emporschraubte<br />
und dem anderen Wesen nachjagte.<br />
Schließlich kehrte der Kormoran im schnellen Gleitflug<br />
zurück und krächzte etwas zum Steuermann, der daraufhin<br />
sagte: »Es ist weg. Laß das andere nicht entkommen. Hier…«, er<br />
schüttete den Bodensatz aus einem Zinnbecher, aus dem er<br />
getrunken hatte, und warf Lyra den Becher zu.<br />
Sofort stülpte sie ihn über die Kreatur. Im Becher summte<br />
und brummte sie wie eine kleine Maschine.<br />
»Halt den Becher ganz ruhig«, ertönte die Stimme von Farder<br />
Coram hinter ihr. Er kniete sich hin, um ein Stück Pappe<br />
unter den Becher zu schieben.<br />
»Was ist das, Farder Coram?« fragte Lyra mit zittriger<br />
Stimme.<br />
»Laßt uns runtergehen und es ansehen. Sei vorsichtig, Lyra,<br />
und drück die Pappe fest auf den Becher.«<br />
Auf dem Weg nach unten sah Lyra zum Dæmon des Steuermanns<br />
hinüber, um ihm zu danken, aber er hatte seine alten<br />
Augen geschlossen. Statt dessen bedankte sie sich beim Steuermann.<br />
»Du hättest unten bleiben sollen« war alles, was er sagte.<br />
Sie brachte den Becher in die Kabine. Farder Coram nahm<br />
ein Bierglas, hielt den Zinnbecher verkehrt herum darüber und<br />
176
zog die Pappe weg, so daß die Kreatur ins Glas fiel. Dann hielt er<br />
das Glas hoch, so daß sie das wütende kleine Ding genauer<br />
betrachten konnten.<br />
Es war ungefähr so lang wie Lyras Daumen und nicht<br />
schwarz, sondern dunkelgrün. Die Deckflügel waren aufgerichtet<br />
wie bei einem Marienkäfer, der gerade losfliegen will,<br />
und die inneren Flügel schlugen so rasend schnell, daß nur ein<br />
Flirren zu sehen war. Die sechs mit Klauen bewehrten Beine<br />
waren auf dem glatten Glas ständig in Bewegung.<br />
»Was ist das?« fragte Lyra.<br />
Pantalaimon, der immer noch eine Wildkatze war, kauerte<br />
zwei Handbreit davor auf dem Tisch und verfolgte mit seinen<br />
grünen Augen, wie das Geschöpf unermüdlich auf dem Boden<br />
des Glases im Kreis herum lief.<br />
»Würde man es aufknacken, fände man in seinem Innern<br />
kein Leben«, sagte Farder Coram. »Ein Insekt ist das jedenfalls<br />
nicht. Ich habe einmal eins dieser Biester gesehen, hätte aber nie<br />
damit gerechnet, ihnen so weit nördlich zu begegnen. Sie stammen<br />
aus Afrika. In ihrem Innern läuft ein Uhrwerk, und an der<br />
Feder ist ein böser Geist mit einem verfluchten Herzen befestigt.«<br />
»Aber wer hat es zu uns geschickt?«<br />
»Dazu brauchst du nicht einmal das Alethiometer, Lyra; du<br />
errätst es so leicht wie ich.«<br />
»Mrs. Coulter?«<br />
»Natürlich. Sie hat nicht nur im Norden geforscht, auch in<br />
der Wildnis im Süden gibt es viele seltsame Dinge. Ich habe eins<br />
von diesen Dingern in Marokko gesehen. Solange der Geist in<br />
ihnen steckt, sind sie in Bewegung, und wenn man den Geist<br />
freiläßt, ist er so unbeschreiblich zornig, daß er den ersten, den<br />
er erwischt, tötet.«<br />
»Aber hinter was war es her?«<br />
»Es hat spioniert. Ich war ein verdammter Idiot, daß ich dich<br />
177
nach oben gelassen habe. Ich hätte dich auch vorhin nicht stören<br />
dürfen, als du mit den Symbolen beschäftigt warst.«<br />
»Aber jetzt kapiere ich es!« rief Lyra plötzlich aufgeregt. »Das<br />
Echsendings bedeutet Luft! Das hatte ich zwar gesehen, aber ich<br />
verstand den Zusammenhang nicht, und als ich versuchte, ihn<br />
zu verstehen, entglitt mir die Bedeutung wieder.«<br />
»Ach so«, sagte Farder Coram, »jetzt verstehe ich. Das<br />
Symbol<br />
ist nämlich gar keine Echse, sondern ein Chamäleon. Und es<br />
verkörpert Luft, weil das Chamäleon weder ißt noch trinkt,<br />
sondern nur von Luft lebt.«<br />
»Und der Elefant…«<br />
»Afrika. Aha.«<br />
Sie sahen sich an. Ihre Ehrfurcht vor dem Alethiometer wuchs<br />
mit jedem neuen Beweis seiner Macht.<br />
»Es hat uns die ganze Zeit vor diesen Dingern gewarnt«, sagte<br />
Lyra. »Wir hätten genauer hinhören sollen. Aber was machen<br />
wir jetzt mit dem hier, Farder Coram? Können wir es irgendwie<br />
töten?«<br />
»Ich glaube nicht, daß wir etwas tun können. Am besten setzen<br />
wir es in eine fest verschließbare Schachtel und lassen es nie<br />
mehr heraus. Viel mehr Sorgen macht mir, daß das andere entkommen<br />
konnte. Es fliegt jetzt bestimmt zu Mrs. Coulter<br />
zurück und sagt ihr, daß es dich gesehen hat. Verflucht, Lyra!<br />
Was bin ich nur für ein Idiot!«<br />
Er klapperte in einem Schrank herum und fand eine Tabakdose<br />
von knapp acht Zentimeter Durchmesser, in der Schrauben<br />
aufbewahrt wurden. Er kippte die Schrauben heraus,<br />
wischte das Innere mit einem Lappen aus und stülpte das Glas<br />
darüber, dessen Öffnung noch immer durch die Pappe verschlossen<br />
war. Dann zog er die Pappe weg. Sie hielten beide den<br />
Atem an, als eins der Beine der Kreatur freikam und die Dose<br />
mit erstaunlicher Kraft wegzustoßen versuchte, doch dann hatten<br />
sie es gefangen und drehten den Deckel fest zu.<br />
178
»Sobald wir das Schiff verlassen, löte ich den Deckel an,<br />
damit das Biest nicht ausbrechen kann«, sagte Farder Coram.<br />
»Aber ist das Uhrwerk nicht irgendwann abgelaufen?«<br />
»Wäre es ein normales Uhrwerk, dann ja. Aber wie gesagt,<br />
dieses wird durch den Geist, der in ihm steckt, ständig aufgezogen.<br />
Je mehr das Biest kämpft, desto mehr zieht es sich auf und<br />
desto stärker ist es. Aber laß uns das Ding jetzt wegräumen…«<br />
Er wickelte die Dose in ein Flanelltuch, um das unaufhörliche<br />
Summen und Brummen zu ersticken, und verstaute sie<br />
unter seiner Koje.<br />
Inzwischen war es dunkel geworden, und Lyra sah durch das<br />
Fenster, wie die Lichter von Colby langsam näher kamen. <strong>Der</strong><br />
Dunst verdichtete sich zu Nebel, und als sie am Kai entlang des<br />
Räuchermarktes festmachten, konnte man nur noch weiche<br />
und verschwommene Umrisse erkennen. Die Dunkelheit ging<br />
allmählich in einen silbergrau schimmernden Schleier über, der<br />
sich auf Lagerhäuser, Kräne und hölzerne Marktstände legte<br />
und das granitene Gebäude mit seinen vielen Schornsteinen<br />
einhüllte, nach dem der Markt benannt war und in dem Tag<br />
und Nacht im duftenden Rauch von Eichenholz Fische geräuchert<br />
wurden. <strong>Der</strong> Qualm aus den Schornsteinen machte die<br />
Luft noch klammer und rußiger, und selbst das Kopfsteinpflaster<br />
schien den Geruch von geräucherten Heringen, Makrelen<br />
und Schellfisch auszuströmen.<br />
Lyra ging, in eine Ölhaut eingewickelt und das verräterische<br />
Haar unter einer großen Kapuze versteckt, zwischen Farder<br />
Coram und dem Steuermann. Die drei Dæmonen erkundeten<br />
wachsam die vor ihnen liegenden Ecken, spähten immer wieder<br />
nach hinten und lauschten auf den leisesten Schritt.<br />
Doch außer ihnen war niemand zu sehen. Die Einwohner<br />
Colbys saßen alle in ihren Häusern und tranken wahrscheinlich<br />
gerade ein Gläschen Genever am warmen Ofen. Auf dem Weg<br />
zum Dock trafen sie keine Menschenseele, und dort angekom<br />
179
men, begegneten sie als erstem Tony Costa, der das Tor<br />
bewachte.<br />
»Da seid ihr ja, Gott sei Dank«, sagte er leise und ließ sie hinein.<br />
»Wir haben soeben erfahren, daß Jack Verhoeven erschossen<br />
und sein Boot versenkt wurde, und keiner wußte, wo ihr<br />
steckt. John Faa ist bereits an Bord und will so bald wie möglich<br />
los.«<br />
Das Schiff mit seinem Ruderhaus und dem Schornstein in<br />
der Mitte, dem hohen Vorderdeck und dem dicken Ladebaum<br />
über einer mit Segeltuch verhängten Luke kam Lyra riesig vor.<br />
Bullaugen und Kommandobrücke waren gelb erleuchtet, und<br />
an der Mastspitze brannte eine weiße Lampe. Drei oder vier<br />
Männer arbeiteten hektisch; woran, konnte Lyra nicht erkennen.<br />
Sie sprang vor Farder Coram die hölzerne Gangway hinauf<br />
und sah sich aufgeregt um. Pantalaimon verwandelte sich in<br />
einen Affen und kletterte sogleich auf den Ladebaum, doch<br />
Lyra rief ihn wieder zurück; Farder Coram wollte, daß sie sich<br />
drinnen aufhielten, unter Deck.<br />
Einige Stufen tiefer, am Ende eines Niedergangs, lag ein kleiner<br />
Salon, in dem John Faa leise mit Nicholas Rokeby sprach,<br />
dem Kapitän des Schiffes. John Faa überstürzte nichts. Lyra<br />
hatte erwartet, daß er sie begrüßen würde, aber er beendete<br />
zuerst das Gespräch über Gezeiten und Lotsen, bevor er sich<br />
den Neuankömmlingen zuwandte.<br />
»Guten Abend, Freunde«, sagte er. »Wie ihr vielleicht schon<br />
gehört habt, ist der arme Jack Verhoeven tot. Und seine Jungs<br />
wurden gefangengenommen.«<br />
»Auch wir haben schlechte Nachrichten.« Farder Coram<br />
berichtete von ihrer Begegnung mit den fliegenden Geistern.<br />
John Faa schüttelte seinen großen Kopf, machte ihnen aber<br />
keine Vorwürfe.<br />
»Wo steckt die Kreatur jetzt?« fragte er.<br />
180
Farder Coram zog die Tabakdose heraus und stellte sie auf<br />
den Tisch. Das Summen, das aus der Dose zu hören war, war<br />
dermaßen wütend, daß sie von ganz allein langsam über das<br />
Holz rutschte.<br />
»Gehört habe ich schon von diesen aufgezogenen Teufeln,<br />
aber gesehen habe ich noch keinen«, sagte John Faa. »Soviel ich<br />
weiß, kann man sie weder beruhigen noch abstellen, noch hätte<br />
es Sinn, sie mit Blei zu beschweren und im Ozean zu versenken,<br />
denn eines Tages würde die Dose durchrosten, und der Teufel<br />
käme heraus und würde sich auf das Kind stürzen, wo immer es<br />
ist. Nein, wir müssen ihn wohl hierbehalten und gut bewachen.«<br />
Lyra war die einzige weibliche Person an Bord — John Faa<br />
hatte sich dagegen entschieden, Frauen mitzunehmen — und<br />
bekam eine Kabine für sich allein. Die Kabine war allerdings<br />
nicht groß, tatsächlich kaum größer als ein Schrank, und hatte<br />
eine Koje und eine Luke, wie das Bullauge eigentlich hieß. Lyra<br />
verstaute ihre Habseligkeiten in dem Schubfach unter der Koje<br />
und rannte dann aufgeregt nach oben, um an der Reling stehend<br />
England verschwinden zu sehen; doch sie mußte feststellen,<br />
daß England schon beinahe vollständig im Nebel verschwunden<br />
war.<br />
Aber das Rauschen des Wassers unter ihr, der Fahrtwind, die<br />
unerschrocken in der Dunkelheit blinkenden Schiffslampen,<br />
das Rumpeln der Maschine und der Geruch nach Salz, Fisch<br />
und Kohlenspiritus waren schon aufregend genug. Wenig später,<br />
als das Schiff von der Dünung des Deutschen Ozeans erfaßt<br />
wurde, stellte sich ein weiteres Gefühl ein. Als Lyra zum<br />
Abendessen gerufen wurde, merkte sie, daß sie weniger hungrig<br />
war, als sie gedacht hatte, und im nächsten Augenblick<br />
beschloß sie auch schon, sich lieber hinzulegen, Pantalaimon<br />
zuliebe, denn dem armen Kerl war speiübel.<br />
Und so begann ihre Reise in den Norden.<br />
181
182
II<br />
Bolvangar<br />
183
184
Zehn<br />
<strong>Der</strong> Konsul und der Bär<br />
John Faa und die anderen Anführer hatten beschlossen, Kurs<br />
auf Trollesund zu nehmen, den wichtigsten Hafen Lapplands.<br />
Die Hexen hatten in der Stadt ein Konsulat, und John Faa<br />
wußte, daß es ohne ihre Hilfe oder zumindest wohlwollende<br />
Neutralität unmöglich war, die Kinder zu befreien.<br />
Am nächsten Tag, als Lyras Seekrankheit etwas abgeklungen<br />
war, erklärte er Lyra und Farder Coram seinen Plan. Die Sonne<br />
schien hell vom Himmel, und die grünen Wellen klatschten an<br />
den Bug und entfernten sich auf beiden Seiten als schaumbekrönte<br />
Linien. An Deck, wo eine frische Brise wehte und das<br />
Meer als bewegte, glitzernde Fläche vor ihr lag, war Lyra nicht<br />
mehr übel; und als Pantalaimon begeistert als Möwe oder<br />
Sturmschwalbe über die Wellenkämme glitt, ließ Lyra sich von<br />
seiner Freude anstecken und hatte ihr Elend schnell vergessen.<br />
John Faa, Farder Coram und zwei andere Männer saßen am<br />
Heck und besprachen, was als nächstes zu tun sei.<br />
»Farder Coram kennt also die lappländischen Hexen«,<br />
meinte John Faa. »Und wenn ich ihn richtig verstanden habe,<br />
stehen sie sogar in seiner Schuld.«<br />
»Das stimmt, John«, sagte Farder Coram. »<strong>Der</strong> Anlaß liegt<br />
zwar schon vierzig Jahre zurück, aber für eine Hexe ist das keine<br />
lange Zeit. Manche Hexen werden steinalt.«<br />
185
»Wie kam es dazu, Farder Coram?« fragte Adam Stefanski,<br />
der Anführer der kleinen gyptischen Streitmacht.<br />
»Ich habe einer Hexe das Leben gerettet. Sie wurde von<br />
einem großen roten Vogel verfolgt, wie ich nie zuvor einen<br />
gesehen hatte, stürzte verletzt vom Himmel und fiel in den<br />
Sumpf. Ich machte mich sofort auf die Suche nach ihr. Sie wäre<br />
beinahe ertrunken, aber ich konnte sie gerade noch an Bord<br />
meines Bootes hieven und erschoß den Vogel. Er fiel in ein<br />
Sumpfloch, sehr zu meinem Bedauern, denn er war so groß wie<br />
eine Rohrdommel und feuerrot.«<br />
Die anderen Männer hingen wie gebannt an Farder Corams<br />
Lippen.<br />
»Als ich sie in meinem Boot hatte«, fuhr er fort, »bekam ich<br />
den größten Schreck meines Lebens: Die junge Frau hatte keinen<br />
Dæmon.«<br />
Er hätte genausogut sagen können: »Sie hatte keinen Kopf.«<br />
Schon der Gedanke war entsetzlich. Den Männern schauderte.<br />
Ihren Dæmonen sträubten sich Fell und Gefieder, sie schüttelten<br />
sich oder stießen ein heiseres Krächzen aus, und die Männer<br />
mußten sie beruhigen. Pantalaimon verkroch sich an Lyras<br />
Brust; sein Herz schlug genauso heftig wie ihres.<br />
»Zumindest schien es so«, sagte Farder Coram. »Ich hatte<br />
schon vermutet, daß sie eine Hexe war, weil sie aus der Luft fiel.<br />
Sie sah wie eine ganz normale junge Frau aus, nur schlanker als<br />
viele und hübscher als die meisten, aber als ich ihren Dæmon<br />
nirgends entdecken konnte, bekam ich einen furchtbaren<br />
Schrecken.«<br />
»Haben Hexen denn keine Dæmonen?« fragte der andere<br />
Mann, der Michael Canzona hieß.<br />
»Wahrscheinlich sind ihre Dæmonen unsichtbar«, sagte<br />
Adam Stefanski. »Und ihr Dæmon war zwar die ganze Zeit da,<br />
aber Farder Coram konnte ihn nicht sehen.«<br />
»Nein, Adam, du irrst dich«, widersprach Farder Coram. »Er<br />
186
war nicht da. Hexen können über viel größere Entfernungen<br />
von ihren Dämonen getrennt sein als wir. Wenn es sein muß,<br />
können sie ihre Dæmonen mit dem Wind oder den Wolken<br />
oder über den Meeresboden weit weg schicken. Die Hexe, die<br />
ich kennenlernte, hatte sich gerade etwas ausgeruht, als ihr<br />
Dæmon angeflogen kam, denn natürlich hatte er ihre Angst<br />
und ihre Verletzung gespürt. Und ich bin überzeugt, auch wenn<br />
sie es nicht zugeben wollte, daß der große rote Vogel, den ich<br />
erschossen habe, der Dæmon einer anderen Hexe war, die sie<br />
verfolgte. Mein Gott! Wenn ich daran denke, überläuft es mich<br />
kalt. Hätte ich das geahnt, hätte ich das Gewehr stecken lassen<br />
und etwas anderes getan; aber nun war es geschehen. Jedenfalls<br />
hatte ich ihr ohne Zweifel das Leben gerettet, und sie schenkte<br />
mir ein Andenken und versprach, mir zu helfen, wenn ich Hilfe<br />
brauchte. Und einmal, als die Skrälinge mich mit einem vergifteten<br />
Pfeil angeschossen hatten, schickte sie mir tatsächlich<br />
Hilfe. Wir hatten auch noch andere Verbindungen… Zwar<br />
habe ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen, aber sie erinnert<br />
sich bestimmt noch an mich.«<br />
»Und lebt sie in Trollesund, diese Hexe?«<br />
»Nein, nein. Hexen leben in Wäldern und in der Tundra,<br />
aber nicht in einem Seehafen unter Männern und Frauen. Sie<br />
bevorzugen ein ungebundenes Leben. Aber sie haben dort ein<br />
Konsulat, und seid versichert, ich werde sie benachrichtigen.«<br />
Lyra hätte gern mehr über Hexen erfahren, aber die Unterhaltung<br />
der Männer wandte sich anderen Themen wie Brennstoff<br />
und Vorräten zu, und so ging sie neugierig daran, den Rest<br />
des Schiffes zu erforschen. Sie schlenderte über das Deck in<br />
Richtung Bug und machte bald die Bekanntschaft eines Matrosen,<br />
auf den sie Apfelkerne schnippte, die sie noch vom Frühstück<br />
aufbewahrt hatte. <strong>Der</strong> Matrose war ein untersetzter und<br />
im Grunde friedfertiger Mensch, und nachdem er sie zuerst<br />
beschimpft und danach sie ihn beschimpft hatte, wurden sie<br />
187
dicke Freunde. Er hieß Jerry, und von ihm lernte Lyra, daß man<br />
Seekrankheit vorbeugen konnte, wenn man sich mit etwas<br />
beschäftigte, und daß selbst eine Arbeit wie Deckschrubben<br />
Spaß machen konnte, solange sie auf Seemannsart getan wurde.<br />
Lyra war davon so begeistert, daß sie später die Decken auf ihrer<br />
Koje auf Seemannsart faltete und ihre Sachen auf Seemannsart<br />
in den Schrank legte und das dann »verstauen« statt »aufräumen«<br />
nannte.<br />
Nach zwei Tagen auf See fand Lyra, daß sie immer so leben<br />
wollte. Sie durfte sich vom Maschinenraum bis zur Brücke<br />
überall frei bewegen, und bald duzte sie sich mit der ganzen<br />
Mannschaft. Kapitän Rokeby ließ sie am Griff der Dampfpfeife<br />
ziehen, um einer holländischen Fregatte ein Signal zu geben,<br />
der Koch ließ ihre Hilfe beim Rühren des Mehlpuddings über<br />
sich ergehen, und nur ein strenges Wort von Farder Coram<br />
hielt sie davor zurück, den Fockmast hinaufzuklettern, um vom<br />
Krähennest aus den Horizont abzusuchen.<br />
Die ganze Zeit fuhren sie Richtung Norden, und täglich<br />
wurde es kälter. Man suchte im Schiffsbauch nach Ölzeug, das<br />
auf Lyras Größe zurechtgeschnitten werden konnte, und Jerry<br />
brachte ihr Nähen bei, eine Kunst, die sie bereitwillig von ihm<br />
lernte, obwohl sie sie in Jordan College verachtet hatte und Mrs.<br />
Lonsdales Anleitungen aus dem Weg gegangen war. Gemeinsam<br />
mit Jerry schneiderte sie einen wasserdichten Beutel für das<br />
Alethiometer, den sie um die Taille tragen konnte — falls sie ins<br />
Wasser fiel, wie sie sagte. Das Alethiometer sicher verpackt,<br />
stand sie in Ölzeug und Regenhut an der Reling, wenn die salzig<br />
in den Augen brennende Gischt über den Bug spritzte und<br />
über das Deck strömte. Manchmal, vor allem wenn der Wind<br />
auffrischte und das Schiff in graugrünen Wellenbergen versank,<br />
wurde sie noch immer seekrank. Dann war es Pantalaimons<br />
Aufgabe, sie abzulenken, indem er als Sturmschwalbe über die<br />
Wellen glitt. Sobald sie die unbändige Freude spürte, mit der er<br />
188
durch Wind und Wetter schoß, vergaß sie ihre Übelkeit. Hin<br />
und wieder versuchte er sich sogar als Fisch, und einmal schloß<br />
er sich sogar, zu deren freudiger Überraschung, einer Gruppe<br />
Delphinen an. Lyra stand frierend auf dem Vorderdeck und<br />
lachte vergnügt, als ihr geliebter Pantalaimon zusammen mit<br />
einem halben Dutzend anderer grauer Leiber in eleganten,<br />
kraftvollen Sprüngen aus dem Wasser schnellte. Ihre Freude<br />
war allerdings nicht ungetrübt, denn gleichzeitig quälte sie eine<br />
bange Frage. Angenommen, die Verlockungen des Lebens als<br />
Delphin wären stärker als seine Liebe zu ihr?<br />
Ihr Freund, der Matrose, war in ihrer Nähe damit beschäftigt,<br />
das Segeltuch über der vorderen Luke zurechtzurücken. Er<br />
unterbrach seine Arbeit, um zuzuschauen, wie der Dæmon des<br />
Weinen Mädchens mit den Delphinen durch die Wellen glitt<br />
und aus dem Wasser sprang. Sein eigener Dæmon, eine Möwe,<br />
saß auf der Ankerwinde und hatte den Kopf unter den Flügel<br />
gesteckt. Jerry wußte, was Lyra empfand.<br />
»Als ich das erste Mal zur See fuhr, hatte meine Belisaria<br />
noch nicht ihre endgültige Gestalt angenommen — so jung war<br />
ich damals —, und sie verwandelte sich für ihr Leben gern in<br />
einen Tümmler. Ich hatte Angst, daß sie irgendwann mal endgültig<br />
einer bleiben würde. Auf meinem ersten Schiff war nämlich<br />
ein alter Seemann, der überhaupt nie an Land gehen<br />
konnte, weil sein Dæmon für immer ein Delphin geworden<br />
war und das Wasser nicht verlassen konnte. Er war ein wunderbarer<br />
Seemann, der beste Navigator, den es jemals gab; er hätte<br />
in der Fischerei ein Vermögen machen können, aber er wollte<br />
nicht. Er war nie richtig glücklich, bis er starb und im Meer<br />
begraben werden konnte.«<br />
»Warum nehmen Dæmonen irgendwann eine feste Gestalt<br />
an?« fragte Lyra. »Ich will, daß Pantalaimon sich immer verwandelt,<br />
und er will das auch.«<br />
»Das war immer so und wird auch immer so sein. Es gehört<br />
189
zum Erwachsenwerden dazu. Eines Tages wirst du es leid sein,<br />
daß er sich verwandelt, und dann willst du, daß er eine feste<br />
Gestalt annimmt.«<br />
»Das will ich nie!«<br />
»Doch, glaube mir. Du wirst erwachsen sein wollen wie alle<br />
anderen Mädchen. Außerdem hat das auch einen Vorteil.«<br />
»Was für einen denn?«<br />
»Man weiß, was für ein Mensch man ist. Schau dir die alte<br />
Belisaria an. Sie ist eine Möwe, und das bedeutet, auch ich bin<br />
eine Art Möwe. Ich bin nicht schön oder sonstwie außergewöhnlich,<br />
aber ich bin ein zäher alter Kerl, der überall Freunde<br />
und etwas zum Beißen findet. So etwas ist gut zu wissen. Wenn<br />
dein Dæmon seine endgültige Gestalt annimmt, weißt du, zu<br />
welcher Sorte Mensch du gehörst.«<br />
»Aber wenn er eine Gestalt annimmt, die ich nicht mag?«<br />
»Tja, dann bist du natürlich unzufrieden. Was glaubst du,<br />
wie viele Leute sich einen Löwen als Dæmon wünschen und<br />
schließlich einen Pudel bekommen. Sie ärgern sich, bis sie lernen,<br />
sich mit dem zufriedenzugeben, was sie sind. Da ist aller<br />
Ärger umsonst.«<br />
Trotzdem konnte Lyra sich nicht vorstellen, jemals erwachsen<br />
zu werden.<br />
Eines Morgens hing ein fremdartiger Geruch in der Luft, und<br />
das Schiff machte seltsame Bewegungen. Statt wie bisher auf<br />
und ab über die Wellenberge zu stampfen, schaukelte es lebhaft<br />
von einer Seite auf die andere. Lyra war eine Minute nach dem<br />
Aufwachen an Deck und starrte begierig dem Land entgegen:<br />
Was für ein ungewohnter Anblick nach all dem Wasser! Denn<br />
obwohl sie nur wenige Tage auf See verbracht hatten, hatte Lyra<br />
das Gefühl, sie wären monatelang unterwegs gewesen. Unmittelbar<br />
vor dem Schiff ragte ein Berg mit grünen Hängen und<br />
schneebedecktem Gipfel auf. An seinem Fuß lag eine kleine<br />
190
Stadt mit einem Hafen; zu sehen waren Holzhäuser mit spitzen<br />
Dächern, der Turm eines Bethauses, Hafenkräne und<br />
Schwärme kreisender, schreiender Möwen. Es stank nach Fisch,<br />
vermischt mit Gerüchen vom Festland wie Kiefernharz, Erde,<br />
einem Geruch nach Tieren und Moschus und noch etwas Kaltem,<br />
Leerem und Wildem, vielleicht Schnee. Es war der Geruch<br />
des Nordens.<br />
Seehunde tollten ums Schiff herum und streckten ihre<br />
Clownsgesichter aus dem Wasser, bevor sie lautlos wieder<br />
untertauchten. <strong>Der</strong> Wind, der die Gischt von den weißen<br />
Schaumkronen der Wellen wehte, war eisig und drang durch<br />
jede Ritze in Lyras Wolfspelz. Bald schmerzten ihre Hände, und<br />
ihr Gesicht war taub vor Kälte. Pantalaimon wärmte ihr zwar<br />
als Hermelin den Hals, aber es war trotzdem zu kalt, um lange<br />
untätig draußen herumzustehen, selbst wenn man dabei Seehunde<br />
beobachtete, und so ging Lyra unter Deck, aß im Salon<br />
ihren Haferbrei und sah zum Bullauge hinaus.<br />
Im Hafen war das Wasser ruhig, und als sie an dem wuchtigen<br />
Wellenbrecher vorbeifuhren, hatte Lyra plötzlich Gleichgewichtsstörungen,<br />
weil jede Bewegung fehlte. Gespannt beobachteten<br />
sie und Pantalaimon, wie sich das schwerfällige Schiff<br />
zentimeterweise der Kaimauer näherte. In der folgenden<br />
Stunde waren alle mit Vorbereitungen für die Landung<br />
beschäftigt. Das Maschinengeräusch ging in ein gedämpftes<br />
Brummen über, und Befehle und Fragen wurden gebrüllt, Taue<br />
durch die Luft geschleudert, Gangways heruntergelassen und<br />
Luken geöffnet.<br />
»Komm, Lyra!« sagte Farder Coram schließlich. »Hast du<br />
alles gepackt?«<br />
Lyras wenige Sachen waren gepackt, seit sie aufgewacht war<br />
und Land gesehen hatte. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als<br />
die Einkaufstasche aus der Kabine zu holen, und schon war sie<br />
fertig.<br />
191
An Land machten sie und Farder Coram sich als erstes auf die<br />
Suche nach dem Haus des Hexenkonsuls. Sie brauchten nicht<br />
lange zu suchen; die Häuser der kleinen Stadt drängten sich um<br />
den Hafen, und die einzigen größeren Gebäude waren das Bethaus<br />
und das Haus des Gouverneurs. <strong>Der</strong> Hexenkonsul wohnte<br />
in einem grün gestrichenen Holzhaus mit Blick aufs Meer. Als<br />
sie an der Tür läuteten, tönte die Glocke schrill durch die<br />
ruhige Straße.<br />
Ein Diener führte sie in einen kleinen Salon und brachte<br />
ihnen Kaffee. Bald darauftrat der Konsul ein und begrüßte sie.<br />
Er war ein beleibter Mann mit rosiger Gesichtsfarbe; er trug<br />
einen schlichten, dunklen Anzug und hieß Martin Lanselius.<br />
Sein Dæmon war eine kleine Schlange, genauso tiefgrün wie<br />
die Augen des Konsuls, die das einzig Hexenähnliche an ihm<br />
waren; obwohl Lyra gar nicht genau wußte, wie sie sich eigentlich<br />
eine Hexe vorgestellt hatte.<br />
»Was kann ich für Sie tun, Farder Coram?« fragte er.<br />
»Zweierlei, Doktor Lanselius. Erstens liegt mir viel daran,<br />
mich mit einer Hexe in Verbindung zu setzen, der ich vor Jahren<br />
in den Fens von East Anglia begegnet bin. Sie heißt Serafina<br />
Pekkala.«<br />
Dr. Lanselius notierte sich etwas mit einem silbernen Stift.<br />
»Wie lange liegt diese Begegnung zurück?« fragte er.<br />
»An die vierzig Jahre. Aber ich glaube, daß sie sich daran<br />
erinnert.«<br />
»Und Ihr zweites Anliegen?«<br />
»Ich vertrete mehrere gyptische Familien, die Kinder verloren<br />
haben. Wir haben Grund anzunehmen, daß es eine Organisation<br />
gibt, die diese Kinder — unsere und andere — entführt<br />
und in den Norden bringt. Den Grund kennen wir nicht. Ich<br />
wüßte gern, ob Sie oder Ihr Volk von solchen Vorgängen gehört<br />
haben.«<br />
Dr. Lanselius nippte am Kaffee, seine Miene war höflich.<br />
192
»Es ist nicht ausgeschlossen, daß uns derartige Unternehmungen<br />
zu Ohren gekommen sind«, sagte er. »Verstehen Sie<br />
aber bitte, daß die Beziehungen zwischen meinem Volk und<br />
den Nordländern überaus herzlich sind und ich mir nicht<br />
erlauben darf, sie aufs Spiel zu setzen.«<br />
Farder Coram nickte, als könne er das sehr gut verstehen.<br />
»Natürlich«, sagte er. »Und ich brauchte Sie auch gar nicht<br />
darum zu bitten, wenn ich die Informationen auf einem anderen<br />
Weg bekommen könnte. Aus diesem Grund habe ich zuerst<br />
nach der Hexe gefragt.«<br />
Jetzt war es an Dr. Lanselius, verständnisvoll zu nicken. Lyra<br />
sah diesem Hin und Her erstaunt und bewundernd zu. Unter<br />
der Oberfläche der Worte spielten sich die verschiedensten<br />
Dinge ab, und sie merkte, daß der Hexenkonsul einen Entschluß<br />
faßte.<br />
»Also gut«, sagte er. »Sie haben natürlich ganz recht, und Sie<br />
wissen ja auch, Farder Coram, daß Ihr Name uns keineswegs<br />
unbekannt ist. Serafina Pekkala ist die Königin eines Hexenclans<br />
am Enara-See. Was Ihre andere Frage betrifft, so versteht<br />
sich von selbst, daß Sie die gewünschte Auskunft nicht durch<br />
mich erhalten.«<br />
»Selbstverständlich.«<br />
»Gut. In dieser Stadt befindet sich die Niederlassung einer<br />
Organisation mit dem Namen Gesellschaft zur Erforschung des<br />
Nordens, die angeblich nach Bodenschätzen sucht, in Wirklichkeit<br />
aber von der sogenannten General-Oblations-Behörde<br />
aus London gesteuert wird. Zufälligerweise weiß ich, daß diese<br />
Organisation Kinder importiert. In der Stadt ist das im großen<br />
und ganzen unbekannt, und offiziell weiß auch die norrowegische<br />
Regierung nichts davon. Die Kinder bleiben nicht lange<br />
hier, sondern werden weiter ins Landesinnere gebracht.«<br />
»Wissen Sie wohin, Doktor Lanselius?«<br />
»Nein. Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüßte.«<br />
193
»Wissen Sie denn, was dort mit ihnen geschieht?«<br />
Zum ersten Mal sah Doktor Lanselius kurz zu Lyra hinüber.<br />
Sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu<br />
zucken. <strong>Der</strong> kleine grüne Schlangendæmon hob den Kopf vom<br />
Kragen des Konsuls und flüsterte ihm züngelnd etwas ins<br />
Ohr.<br />
Daraufhin sagte der Konsul: »Ich habe gehört, wie in diesem<br />
Zusammenhang der Begriff Maystadt-Verfahren fiel. Offensichtlich<br />
verwenden sie diesen Begriff als Decknamen für ihr eigentliches<br />
Geschäft. Außerdem ist die Rede von Interzision, ich kann<br />
aber nicht sagen, was damit gemeint ist.«<br />
»Sind gegenwärtig Kinder in der Stadt?« fragte Farder<br />
Coram.<br />
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Dr. Lanselius. »Vor einer<br />
Woche kam eine etwa zwölfköpfige Gruppe hier an, sie hat die<br />
Stadt aber vorgestern wieder verlassen.«<br />
»Aha, erst vorgestern? Dann besteht noch Hoffnung. Wie<br />
sind sie abgereist, Doktor Lanselius?«<br />
»Mit Schlitten.«<br />
»Und Sie haben keine Ahnung, wohin sie gefahren sein<br />
könnten?«<br />
»Nein. Solche Dinge interessieren uns nicht.«<br />
»Ich verstehe. Nachdem Sie nun meine Fragen so offen<br />
beantwortet haben, habe ich noch eine letzte. Wenn Sie an meiner<br />
Stelle wären, welche Frage würden Sie dem Konsul der<br />
Hexen stellen?«<br />
Zum ersten Mal lächelte Dr. Lanselius.<br />
»Ich würde ihn fragen, wo ich die Dienste eines gepanzerten<br />
Bären bekommen könnte«, antwortete er.<br />
Lyra setzte sich auf. Sie spürte, wie Pantalaimons Herz in<br />
ihren Händen schlug.<br />
»Ich dachte immer, die Panzerbären ständen im Dienst der<br />
Oblations-Behörde«, erwiderte Farder Coram überrascht. »Ich<br />
194
meine natürlich, der Gesellschaft zur Erforschung des Nordens,<br />
oder wie sie sich nennt.«<br />
»Es gibt zumindest einen, für den das nicht zutrifft. Sie finden<br />
ihn im Schlittendepot am Ende der Langlokur-Straße. Dort<br />
verdient er sich zur Zeit seinen Lebensunterhalt, aber es kann<br />
angesichts seines Temperaments und der Angst, die er den<br />
Hunden einjagt, sein, daß er seine Arbeit bald wieder verliert.«<br />
»Er ist also ein Abtrünniger?«<br />
»So könnte man sagen. Er heißt Iorek Byrnison. Sie wollten<br />
wissen, was ich fragen würde, und ich habe es Ihnen gesagt.<br />
Hören Sie jetzt noch, was ich tun würde: Ich würde mir die<br />
Gelegenheit, die Dienste eines Panzerbären zu bekommen, auf<br />
keinen Fall entgehen lassen, selbst wenn er nicht gerade in der<br />
Nähe wäre.«<br />
Lyra hielt es kaum noch auf ihrem Stuhl aus. Farder Coram<br />
wußte jedoch, wie man sich bei Begegnungen wie dieser zu<br />
benehmen hatte, und nahm noch einen der aromatischen<br />
Honigkuchen vom Teller. Während er ihn aß, wandte sich Dr.<br />
Lanselius an Lyra.<br />
»Soviel ich weiß, besitzt du ein Alethiometer«, sagte er zu<br />
ihrer großen Verwunderung. Woher konnte er das bloß wissen?<br />
»Ja«, sagte sie und fügte, nachdem Pantalaimon sie gezwickt<br />
hatte, hinzu: »Möchten Sie es sehen?«<br />
»Sehr gern.«<br />
Linkisch zog sie das Samtpäckchen aus dem Beutel aus<br />
Ölhaut und reichte es ihm. Er wickelte es aus und hielt das Alethiometer<br />
ganz vorsichtig hoch. Dann starrte er auf das Zifferblatt<br />
wie ein Wissenschaftler auf ein seltenes Schriftstück.<br />
»Herrlich!« sagte er. »Ich habe einmal ein anderes Exemplar<br />
gesehen, aber es war nicht so schön wie dieses. Besitzt du auch<br />
das Buch mit den Deutungen?«<br />
»Nein«, begann Lyra, aber bevor sie noch etwas sagen konnte,<br />
sprach Farder Coram.<br />
195
»Nein, es ist jammerschade. Zwar gehört Lyra das Alethiometer,<br />
aber wir wissen überhaupt nicht, wie man es liest. Es ist<br />
genauso geheimnisvoll wie die Tintenlachen, aus denen Hindus<br />
die Zukunft lesen. Und das nächste Buch der Deutungen,<br />
das ich kenne, befindet sich in der Abtei Sankt Johann in Heidelberg.«<br />
Lyra wußte zwar, warum Farder Coram das sagte; er wollte<br />
nicht, daß Dr. Lanselius von Lyras Fähigkeit erfuhr. Aber sie<br />
merkte auch etwas, das Farder Coram nicht merken konnte: die<br />
plötzliche Aufregung von Dr. Lanselius’ Dæmon. Schlagartig<br />
wurde ihr klar, daß es ein Fehler wäre, sich zu verstellen.<br />
Deshalb sagte sie, halb an Dr. Lanselius und halb an Farder<br />
Coram gewandt: »Ich kann es übrigens doch lesen.«<br />
»Das ist klug von dir«, sagte der Konsul. »Woher hast du das<br />
Alethiometer bekommen?«<br />
»<strong>Der</strong> Rektor von Jordan College in Oxford hat es mir gegeben«,<br />
erwiderte sie. »Wissen Sie, wer diese Instrumente<br />
gemacht hat, Doktor Lanselius?«<br />
»Angeblich stammen sie aus Prag. <strong>Der</strong> Wissenschaftler, der<br />
das erste Alethiometer erfunden hat, suchte offenbar nach einer<br />
Methode, mit der man den Einfluß der Planeten messen<br />
konnte, von dem die Astrologie spricht. Er wollte ein Gerät<br />
bauen, das sich nach dem Mars oder der Venus richtet wie ein<br />
Kompaß nach dem Norden. Damit ist er zwar gescheitert, aber<br />
der von ihm erfundene Mechanismus reagierte ganz eindeutig<br />
auf irgend etwas, wenn auch niemand wußte, was das war.«<br />
»Und woher stammen die Symbole?«<br />
»Oh, aus dem siebzehnten Jahrhundert. Damals gab es überall<br />
Symbole und Sinnbilder. Man sollte Bauwerke und Bilder<br />
wie Bücher lesen können. Alles stand gleichzeitig für etwas<br />
anderes; mit dem richtigen Wörterbuch konnte man selbst die<br />
Natur deuten. Deshalb ist es eigentlich nicht verwunderlich,<br />
daß Philosophen damals auch Erkenntnisse, deren Ursprung<br />
196
ihnen unerklärlich war, mit solchen Symbolen deuten wollten.<br />
Aber seit ungefähr zwei Jahrhunderten verwendet man diese<br />
Symbole eigentlich nicht mehr.«<br />
Er gab Lyra das Instrument zurück. »Darf ich dich etwas<br />
fragen? Wie liest du es ohne das Buch der Symbole?«<br />
»Ich konzentriere mich einfach, und dann ist es irgendwie so,<br />
als würde man ins Wasser schauen. Die Augen müssen die richtige<br />
Ebene finden, auf der sie scharf sehen. Oder so ähnlich.«<br />
»Ob du mir das wohl einmal vormachen könntest?«<br />
Lyra sah Farder Coram an. Sie hätte sofort zugestimmt,<br />
wollte aber sein Einverständnis abwarten. <strong>Der</strong> alte Mann nickte.<br />
»Was soll ich fragen?«<br />
»Was haben die Tataren mit Kamtschatka vor?«<br />
Das war nicht schwer. Lyra richtete die Zeiger auf das Kamel,<br />
das Asien und damit die Tataren symbolisierte, auf das Füllhorn,<br />
das für Kamtschatka mit seinen Goldminen stand, und<br />
auf die Ameise, die Geschäftigkeit verkörperte, die wiederum<br />
Absichten und Pläne symbolisierte. Dann saß sie ganz ruhig da,<br />
konzentrierte sich auf alle drei Bedeutungsebenen zugleich<br />
und öffnete sich der Antwort, die beinahe umgehend eintraf.<br />
Die lange Nadel zuckte zu den Symbolen Delphin, Helm,<br />
Kleinkind und Anker und tanzte zwischen ihnen und dem Tiegel<br />
in einer komplizierten Folge hin und her, der Lyras Augen<br />
ohne zu zögern folgten, die für die beiden Männer aber unverständlich<br />
blieb.<br />
Nachdem die Nadel die Bewegungen mehrere Male vollführt<br />
hatte, sah Lyra auf. Sie blinzelte ein- oder zweimal, als<br />
erwache sie aus einer Trance.<br />
»Sie werden einen Angriff vortäuschen, aber nicht wirklich<br />
angreifen, denn Kamtschatka ist viel zu weit weg, und sie wären<br />
zu weit verstreut.«<br />
»Erklärst du mir, woran du das abliest?«<br />
»Am Delphin. Eine seiner tieferen Bedeutungen ist das Spie<br />
197
len im Sinn von Verspieltheit oder Schabernack«, erklärte Lyra.<br />
»Daß diese Bedeutung gemeint ist, erkenne ich daran, wie oft<br />
die Nadel an dieser Stelle stehenbleibt und daß ich nur diese<br />
Bedeutungsebene scharf sehen kann. <strong>Der</strong> Helm bedeutet Krieg,<br />
und beides zusammen bedeutet Krieg vortäuschen, ohne ihn<br />
wirklich vorzuhaben. Das kleine Kind steht für Schwierigkeiten;<br />
es wäre zu schwer für die Tataren, Kamtschatka anzugreifen,<br />
und der Anker sagt auch, weshalb: Ihre Reihen wären dann<br />
so auseinandergezogen und gespannt wie eine Ankerkette. Ich<br />
sehe das einfach so, verstehen Sie?«<br />
Dr. Lanselius nickte.<br />
»Bemerkenswert«, sagte er. »Ich bin dir sehr dankbar und<br />
werde das nicht vergessen.«<br />
Er warf Farder Coram einen sonderbaren Blick zu, dann<br />
wandte er sich wieder an Lyra.<br />
»Darf ich dich um noch eine Demonstration bitten?« fragte<br />
er sie. »Im Hof hinter dem Haus hängen Wolkenkiefernzweige<br />
an der Wand. Einen von ihnen hat Serafina Pekkala benutzt.<br />
Kannst du herausfinden, welchen?«<br />
»Na klar!« meinte Lyra, immer bereit anzugeben, und nahm<br />
das Alethiometer und stürmte hinaus. Sie konnte es kaum<br />
erwarten, Wolkenkiefern zu sehen, denn die Hexen benutzten<br />
sie zum Fliegen, und sie hatte noch nie zuvor welche gesehen.<br />
Als sie fort war, fragte der Konsul: »Wissen Sie eigentlich,<br />
wer dieses Kind ist?«<br />
»Sie ist die Tochter von Lord Asriel«, antwortete Farder<br />
Coram. »Und ihre Mutter ist Mrs. Coulter von der Oblations-<br />
Behörde.«<br />
»Und weiter?«<br />
<strong>Der</strong> alte Gypter mußte den Kopf schütteln. »Nein«, sagte er,<br />
»mehr weiß ich nicht. Aber sie ist ein seltsames unschuldiges<br />
Wesen, und ich möchte um nichts in der Welt, daß ihr etwas<br />
zustößt. Wie sie es schafft, dieses Instrument zu lesen, ist mir ein<br />
198
Rätsel, aber ich glaube ihr, was sie sagt. Warum fragen Sie, Doktor<br />
Lanselius? Wissen Sie mehr?«<br />
»Die Hexen sprechen seit Jahrhunderten von diesem Mädchen«,<br />
sagte der Konsul. »Sie leben ganz in der Nähe des Ortes,<br />
an dem die Welten nur durch einen dünnen Schleier voneinander<br />
getrennt sind, und hören deshalb manchmal jenes ewige<br />
Raunen, das von den Stimmen der Wesen herrührt, die zwischen<br />
den Welten wandeln. Und diese Wesen sprachen von<br />
einem Kind wie diesem, einem Kind, dem ein großes Schicksal<br />
bestimmt ist, das sich nur woanders erfüllen kann — nicht in<br />
dieser Welt, sondern weit jenseits davon. Ohne dieses Kind<br />
werden wir alle sterben, sagen die Hexen. Aber es muß sein<br />
Schicksal erfüllen, ohne zu wissen, was es tut; nur wenn es völlig<br />
ahnungslos ist, können wir gerettet werden. Verstehen Sie das,<br />
Farder Coram?«<br />
»Nein«, antwortete Farder Coram, »das kann ich nicht<br />
behaupten.«<br />
»Es bedeutet, daß es ihr freistehen muß, Fehler zu machen.<br />
Wir müssen hoffen, daß sie keine macht, aber wir dürfen sie<br />
nicht lenken. Ich bin froh, daß ich dieses Kind noch gesehen<br />
habe, bevor ich sterbe.«<br />
»Aber woher wissen Sie, daß Lyra dieses Kind ist? Und was<br />
meinten Sie mit Wesen, die zwischen den Welten wandeln? Ich<br />
halte Sie für einen aufrichtigen Menschen, Doktor Lanselius,<br />
aber das verstehe ich nicht.«<br />
Bevor jedoch der Konsul antworten konnte, ging die Tür<br />
auf, und Lyra kam triumphierend mit einem kleinen Kiefernzweig<br />
herein.<br />
»Das ist er!« sagte sie. »Ich habe alle untersucht, und dieser ist<br />
es, da bin ich sicher.«<br />
<strong>Der</strong> Konsul begutachtete den Zweig und nickte dann.<br />
»Richtig«, meinte er. »Wirklich, Lyra, das ist beachtlich. Du<br />
kannst dich glücklich schätzen, ein solches Instrument zu besit<br />
199
zen, und ich wünsche dir alles Gute damit. Ich möchte dir zum<br />
Abschied etwas mitgeben…«<br />
Er nahm den Zweig und brach ein kleines Stück ab.<br />
»Ist sie damit geflogen?« fragte Lyra ehrfürchtig.<br />
»Ja. Ich kann dir nicht den ganzen Zweig geben, denn ich<br />
brauche ihn, um Kontakt mit ihr aufzunehmen, aber das hier<br />
wird reichen. Paß gut darauf auf.«<br />
»Das mache ich bestimmt«, sagte sie. »Vielen Dank.«<br />
Sie steckte den Zweig in den Beutel zum Alethiometer. Farder<br />
Coram berührte den Rest des Zweiges, als könne er ihm<br />
Glück bringen, und auf seinem Gesicht lag ein fast sehnsüchtiger<br />
Ausdruck, den Lyra noch nie zuvor bei ihm bemerkt hatte.<br />
<strong>Der</strong> Konsul brachte sie zur Tür, wo er zuerst Farder Coram und<br />
dann Lyra die Hand schüttelte.<br />
»Ich wünsche euch viel Erfolg«, sagte er. Trotz der schneidenden<br />
Kälte blieb er in der Haustür stehen und sah ihnen<br />
nach, wie sie die kleine Straße hinuntergingen.<br />
»Das mit den Tataren wußte er schon vor mir«, erzählte Lyra<br />
Farder Coram. »Das Alethiometer hat mir das gesagt, aber ich<br />
habe es für mich behalten. Es war der Tiegel.«<br />
»Wahrscheinlich wollte er dich auf die Probe stellen, mein<br />
Kind. Aber es war richtig von dir, höflich zu sein, da wir nicht<br />
sicher sein konnten, was er bereits wußte. Und das mit dem<br />
Bären war ein nützlicher Hinweis. Ich weiß nicht, wie wir sonst<br />
davon erfahren hätten.«<br />
Sie fanden das Depot, das aus ein paar Lagerhäusern aus<br />
Beton auf einem Gelände bestand, auf dem zwischen grauen<br />
Felsen und zugefrorenen Schlammpfützen spärliches Unkraut<br />
wuchs. Ein griesgrämiger Mann in einem Büro erklärte ihnen,<br />
daß der Bär ab sechs Uhr Feierabend habe, sie sich aber beeilen<br />
müßten, da er meist schnurstracks den Hof hinter Einarssons<br />
Bar aufsuchte, um sich zu betrinken.<br />
Danach ging Farder Coram mit Lyra in das beste Kleiderge<br />
200
schäft der Stadt und kaufte ihr warme Kleider: einen Anorak<br />
aus Rentierfell, da Rentierhaare hohl sind und deshalb einen<br />
zuverlässigen Schutz gegen Kälte und Nässe bieten; die Kapuze<br />
war mit Marderpelz gefüttert, der das beim Atmen entstehende<br />
Eis abwies. Dann besorgten sie warme Unterwäsche, Einlagen<br />
aus Rentierkalbfell für die Stiefel und Seidenhandschuhe zum<br />
Unterziehen unter die großen Pelzfäustlinge. Stiefel und Fäustlinge<br />
waren aus der besonders strapazierfähigen Haut von Rentiervorderbeinen<br />
gefertigt, und die Stiefel waren mit Bartrobbenhaut<br />
besohlt, die genauso zäh wie Walroßleder war, aber<br />
etwas leichter. Zuletzt kauften sie noch ein Regencape aus<br />
durchscheinendem Seehunddarm, das Lyra ganz umhüllte.<br />
Als sie alles angezogen und dazu noch einen dicken Seidenschal<br />
um den Hals geschlungen, eine Wollmütze über die<br />
Ohren gezogen und die große Kapuze aufgesetzt hatte, war ihr<br />
viel zu warm; aber schließlich würden sie ja noch in viel kältere<br />
Gegenden kommen.<br />
John Faa, der das Entladen des Schiffes beaufsichtigt hatte,<br />
hörte sich aufmerksam an, was der Hexenkonsul gesagt hatte.<br />
Als er von dem Bären hörte, wurde er unruhig.<br />
»Noch heute abend suchen wir ihn auf«, sagte er. »Habt Ihr<br />
jemals mit einer solchen Kreatur gesprochen, Farder Coram?«<br />
»Ja, sogar gekämpft, wenn auch Gott sei Dank nicht eigenhändig.<br />
Wir müssen auf Verhandlungen mit ihm gefaßt sein,<br />
John. Er wird sicher eine Menge fordern und schlecht gelaunt<br />
und anspruchsvoll sein, aber wir brauchen ihn unbedingt.«<br />
»O ja, unbedingt. Und was war mit Eurer Hexe?«<br />
»Tja, sie ist weit weg und inzwischen Königin eines Hexenclans«,<br />
sagte Farder Coram. »Ich hatte gehofft, ich könnte ihr<br />
eine Nachricht zukommen lassen, aber es würde zu lange dauern,<br />
auf die Antwort zu warten.«<br />
»Hm, ja. Aber hört zu, was ich entdeckt habe, alter Freund.«<br />
John Faa konnte es kaum erwarten, ihnen das mitzuteilen. Er<br />
201
hatte am Kai einen Goldsucher getroffen, einen Neudänen<br />
namens Lee Scoresby aus Texas, und dieser Mann besaß doch<br />
tatsächlich einen Ballon. Die Expedition, der er sich ursprünglich<br />
hatte anschließen wollen, war, noch bevor sie Amsterdam<br />
verlassen konnte, aus Geldmangel gescheitert, und deshalb saß<br />
er jetzt hier fest.<br />
»Stellt Euch vor, was wir mit der Hilfe eines Aeronauten alles<br />
machen könnten, Farder Coram!« sagte John Faa und rieb sich<br />
die Hände. »Ich habe ihn bereits angeheuert. Scheint ein<br />
Glückstreffer gewesen zu sein, daß wir hierhergekommen<br />
sind.«<br />
»Noch besser wäre es, wenn wir genau wüßten, wohin wir<br />
müssen«, meinte Farder Coram, aber nichts konnte John Faas<br />
Begeisterung für die bevorstehende Expedition dämpfen.<br />
Nach Einbruch der Dunkelheit, als Vorräte und Ausrüstung<br />
wohlbehalten ausgeladen waren und auf dem Kai bereitstanden,<br />
suchten Farder Coram und Lyra entlang der Uferpromenade<br />
nach Einarssons Bar. Sie war leicht zu finden: ein roher<br />
Betonschuppen mit einem roten Neonschild, das über der Tür<br />
flackerte. Durch die beschlagenen Fenster drang lautes Stimmengewirr.<br />
Neben dem Schuppen führte eine holprige Gasse zum<br />
Metalltor eines Hinterhofs, wo auf dem gefrorenen Schlammboden<br />
ein windschiefer Anbau des Schuppens stand. <strong>Der</strong> trübe<br />
Lichtschein aus dem hinteren Barfenster fiel auf eine gewaltige<br />
helle Gestalt, die aufrecht hockend an einer Keule nagte, die sie<br />
mit beiden Händen festhielt. Lyra meinte, ein blutverschmiertes<br />
Maul und Gesicht, kleine, schwarze, bösartig funkelnde<br />
Augen und eine Unmenge schmutzig verfilzten, gelblichen<br />
Pelzes zu erkennen. Das Wesen machte beim Fressen abscheuliche<br />
knurrende, knirschende und schmatzende Geräusche.<br />
Farder Coram blieb am Tor stehen und rief: »Iorek Byrnison!«<br />
202
<strong>Der</strong> Bär hörte auf zu essen. Soweit sie es beurteilen konnten,<br />
sah er sie direkt an, aber es war unmöglich, irgendeine Regung<br />
in seinem Gesicht zu erkennen.<br />
»Iorek Byrnison«, wiederholte Farder Coram, »kann ich mit<br />
dir sprechen?«<br />
Lyras Herz hämmerte wild, denn die Gegenwart des Bären<br />
ließ sie erzittern; er strahlte Kälte, Gefahr und eine brutale<br />
Gewalt aus, eine durch Intelligenz gesteuerte Gewalt, die keine<br />
menschliche Intelligenz war und auch nichts Menschliches<br />
hatte, weil Bären natürlich keine Dæmonen besaßen. Die<br />
fremdartige, grobe Gestalt, die da an dem Fleisch nagte, war<br />
anders als alles, was sie sich jemals vorgestellt hatte, und sie<br />
empfand tiefe Bewunderung und unsägliches Mitleid mit der<br />
einsamen Kreatur.<br />
<strong>Der</strong> Bär ließ die Rentierkeule in den Dreck fallen und kam<br />
auf allen vieren zum Tor. Dort richtete er sich zu seiner vollen<br />
Größe von über drei Metern auf, als wollte er ihnen zeigen, wie<br />
gewaltig er war und daß das Tor für ihn kein Hindernis darstellte,<br />
und aus dieser Höhe sprach er zu ihnen.<br />
»Also? Wer seid ihr?« <strong>Der</strong> Boden schien zu erzittern, so tief<br />
war seine Stimme. <strong>Der</strong> scharfe Geruch, der von seinem Körper<br />
ausströmte, nahm ihnen fast den Atem.<br />
»Ich bin Farder Coram vom Volk der Gypter aus East Anglia,<br />
und das Mädchen hier ist Lyra Belacqua.«<br />
»Was wollt ihr?«<br />
»Wir bieten dir Arbeit an, Iorek Byrnison.«<br />
»Ich habe bereits Arbeit.«<br />
<strong>Der</strong> Bär ließ sich wieder auf alle viere fallen. Seine Stimme<br />
war so tief und gleichförmig, daß man überhaupt keinen Ausdruck<br />
aus ihr heraushörte, weder Ironie noch Wut.<br />
»Was machst du im Schlittendepot?« fragte Farder Coram.<br />
»Ich repariere kaputte Maschinen und Eisenteile und transportiere<br />
schwere Sachen.«<br />
203
»Ist das eine Arbeit für einen Panserbjørn?«<br />
»Es ist bezahlte Arbeit.«<br />
Die Tür zur Bar hinter dem Bären ging einen Spalt auf, und<br />
ein Mann stellte einen großen irdenen Krug auf den Boden und<br />
starrte zu ihnen herüber.<br />
»Wer ist das?«<br />
»Fremde«, sagte der Bär.<br />
<strong>Der</strong> Barkeeper schien noch etwas fragen zu wollen, aber der<br />
Bär machte plötzlich einen Satz auf ihn zu, und der Mann<br />
machte die Tür erschrocken wieder zu. <strong>Der</strong> Bär steckte eine<br />
Tatze durch den Griff des Kruges und hob ihn zum Mund. Lyra<br />
konnte den unverdünnten Schnaps riechen, der dabei herausspritzte.<br />
Nachdem der Bär einige Schlucke getrunken hatte, setzte er<br />
den Krug ab und wandte sich, anscheinend ohne Farder Coram<br />
und Lyra weiter zu beachten, wieder seiner Keule zu. Doch<br />
dann sprach er erneut.<br />
»Was ist das für eine Arbeit, die ihr mir anbietet?«<br />
»Wahrscheinlich Kämpfen«, sagte Farder Coram. »Wir fahren<br />
nach Norden, um einige Kinder zu suchen, die dorthin entführt<br />
worden sind. Wenn wir sie finden, müssen wir wahrscheinlich<br />
kämpfen, um sie zu befreien; anschließend bringen<br />
wir sie zurück.«<br />
»Und was bezahlt ihr?«<br />
»Ich weiß nicht, was wir dir anbieten können, Iorek Byrnison.<br />
Wenn du Gold willst, wir haben Gold.«<br />
»Interessiert mich nicht.«<br />
»Was bekommst du im Schlittendepot?«<br />
»Was ich hier zum Leben brauche, Fleisch und Schnaps.«<br />
<strong>Der</strong> Bär verstummte, ließ den angenagten Knochen fallen,<br />
hob den Krug wieder an die Schnauze und trank den hochprozentigen<br />
Schnaps, als wäre er Wasser.<br />
»Verzeih meine Frage, Iorek Byrnison«, sagte Farder Coram,<br />
204
»aber du könntest doch in Freiheit leben, auf dem Eis Seehunde<br />
und Walrosse jagen oder in den Krieg ziehen und reiche Beute<br />
machen. Was hält dich eigentlich in Trollesund und Einarssons<br />
Bar?«<br />
Lyra spürte, wie sie überall eine Gänsehaut bekam. Eine solche<br />
Frage war doch fast schon eine Beleidigung und mußte den<br />
Bären in besinnungslose Wut versetzen. Wie konnte Farder<br />
Coram es wagen, sie zu stellen? Iorek Byrnison setzte den Krug<br />
ab, kam dicht ans Tor und starrte dem alten Mann ins Gesicht.<br />
Farder Coram zuckte nicht zurück.<br />
»Ich kenne die Leute, die du suchst, die Kinderabschneider«,<br />
sagte der Bär. »Sie haben vorgestern die Stadt verlassen und sind<br />
wieder mit Kindern in den Norden gefahren. Von den Bewohnern<br />
der Stadt werdet ihr darüber nichts erfahren. Alle tun so,<br />
als sehen sie nichts, denn die Kinderabschneider bringen Geld<br />
und Arbeit. Ich mag sie allerdings nicht, deshalb beantworte ich<br />
deine Frage. Ich bin hier und trinke Schnaps, weil man mir hier<br />
meine Rüstung weggenommen hat, und ohne Rüstung kann<br />
ich zwar Seehundejagen, aber nicht in den Krieg ziehen. Ich bin<br />
ein Panzerbär, und der Krieg ist das Meer, in dem ich<br />
schwimme, und die Luft, die ich atme. Doch die Männer dieser<br />
Stadt gaben mir so viel Schnaps zu trinken, bis ich eingeschlafen<br />
war, und dann nahmen sie mir die Rüstung weg. Wenn ich<br />
wüßte, wo sie sie aufbewahren, würde ich die Stadt in Schutt<br />
und Asche legen, um sie wiederzubekommen. Wenn ihr wollt,<br />
daß ich euch diene, so ist das mein Preis: Besorgt mir meine<br />
Rüstung wieder. Tut ihr das, kämpfe ich für euch, bis ich tot bin<br />
oder ihr gesiegt habt. <strong>Der</strong> Preis ist meine Rüstung. Ich will sie<br />
zurückhaben. Dann werde ich nie mehr Schnaps brauchen.«<br />
205
Elf<br />
Die Rüstung<br />
Nach ihrer Rückkehr auf das Schiff zogen sich Farder Coram,<br />
John Faa und die anderen Anführer zu einer langen Besprechung<br />
in den Salon zurück, und Lyra ging in ihre Kabine, um<br />
das Alethiometer zu befragen. Fünf Minuten später wußte sie,<br />
wo die Rüstung des Bären war und warum es sehr schwer sein<br />
würde, sie zurückzubekommen.<br />
Lyra überlegte, ob sie zum Salon gehen und es John Faa und<br />
den anderen sagen sollte; aber die würden sie schon fragen,<br />
wenn sie es wissen wollten. Vielleicht wußten sie es ja schon.<br />
Sie blieb also auf ihrer Koje liegen und dachte an den riesigen,<br />
wilden Bären. Wie achtlos er den Schnaps getrunken hatte,<br />
und wie einsam er in seiner schmutzigen Behausung sein<br />
mußte. Was für ein Glück, daß sie selbst ein Mensch war und<br />
einen Dæmon hatte, mit dem sie immer reden konnte. Das<br />
unaufhörliche Quietschen von Metall, und das Knarren des<br />
Holzes und das Rumpeln des Motors und das Klatschen der<br />
Wellen waren verstummt, und umgeben von der Ruhe des<br />
ankernden Schiffes schlief Lyra allmählich ein, den schlummernden<br />
Pantalaimon auf dem Kopfkissen neben sich.<br />
Sie träumte gerade von ihrem gefangenen Vater, als sie plötzlich<br />
ohne jeden Grund aufwachte. Sie hatte keine Ahnung, wie<br />
spät es war. Ein schwacher Lichtschein, den sie für Mondlicht<br />
206
hielt, fiel in die Kabine, genau auf ihre neuen Winterpelze, die<br />
steif in der Ecke lagen. Bei ihrem Anblick erlag sie der Versuchung,<br />
sie noch einmal anzuprobieren.<br />
Kaum hatte sie alles angezogen, hielt sie es drinnen nicht<br />
mehr aus, und einen Augenblick später öffnete sie die Außentür<br />
der Kajüttreppe und trat hinaus auf das Deck. Sofort entdeckte<br />
sie die seltsame Erscheinung am Himmel. Zuerst dachte sie, es<br />
seien Wolken, die von heftigen Böen aufgerissen und auseinandergeweht<br />
wurden, aber Pantalaimon flüsterte: »Die Aurora!«<br />
Sie mußte sich an der Reling festhalten, um nicht vor Staunen<br />
umzufallen.<br />
Das Schauspiel erstreckte sich über den gesamten nördlichen<br />
Himmel in seiner unermeßlichen Weite. Gewaltige Vorhänge<br />
aus zartem Licht fielen wie vom Himmel herab und flimmerten<br />
in der Luft. Blaßgrün und rosarot schimmernd, durchscheinend<br />
wie hauchfeines Gewebe und mit einem Saum von tiefem,<br />
wie Höllenfeuer leuchtendem Karmesinrot, schwebten sie<br />
gelöster und anmutiger als jeder Tänzer durch den Raum. Lyra<br />
meinte sogar, sie zu hören: ein Raunen und Sausen aus unendlicher<br />
Ferne. Beim Anblick dieser vergänglichen Zartheit überkam<br />
sie ein ähnlich unergründliches Gefühl, wie sie es in der<br />
Nähe des Bären empfunden hatte. Sie war zutiefst ergriffen von<br />
dieser fast heiligen Schönheit; Tränen brannten in ihren Augen<br />
und brachen das Licht zu regenbogenfarbigen Splittern. Bald<br />
merkte sie, daß sie in eine ähnliche Trance fiel wie beim Lesen<br />
des Alethiometers. Vielleicht ließ ja das, was die Nadel des Alethiometers<br />
in Schwingungen versetzte, auch die Aurora leuchten,<br />
dachte sie. Am Ende war es Staub. Aber ihr war nicht<br />
bewußt, was sie dachte, und kurz darauf hatte sie es vergessen<br />
und sollte sich erst viel später wieder daran erinnern.<br />
Und während sie noch staunte, entstand hinter den durchscheinenden<br />
farbigen Schleiern und Strömen das Bild einer<br />
Stadt mit Türmen und Kuppeln, <strong>goldene</strong>n Tempeln und Säu<br />
207
lengängen, breiten Boulevards und sonnenbeschienenen Parks.<br />
Lyra wurde von einem Schwindelgefühl gepackt, als blicke sie<br />
nicht nach oben, sondern nach unten, über einen unüberwindbaren<br />
Abgrund, so breit, als trenne ein ganzes Universum sie<br />
von der Stadt auf der anderen Seite.<br />
Aber bewegte sich da nicht etwas in der Luft? Lyra versuchte,<br />
ihre Augen darauf scharfzustellen, doch wurde ihr dabei ganz<br />
schwindlig, denn das kleine Ding, das sich bewegte, gehörte<br />
weder zur Aurora noch zu der anderen Welt dahinter. Es flog<br />
am Himmel über den Dächern der Stadt. Als sie es endlich<br />
deutlich sah, erwachte sie aus ihrer Trance. Die Himmelsstadt<br />
war verschwunden.<br />
Das fliegende Etwas kam näher und umkreiste das Schiff mit<br />
ausgebreiteten Flügeln. Dann glitt es herab, landete unter heftigem<br />
Flattern seiner mächtigen Schwingen und kam ein paar<br />
Meter von Lyra entfernt auf dem Holzdeck zum Stehen.<br />
Im Licht der Aurora erblickte sie einen großen Vogel, eine<br />
schöne graue Gans, deren Kopf von schneeweißen leuchtenden<br />
Federn gekrönt war. Und doch war es kein Vogel, sondern ein<br />
Dæmon, obwohl außer Lyra niemand zu sehen war. Vor lauter<br />
Angst wurde ihr fast schlecht.<br />
»Wo ist Farder Coram?« fragte der Vogel.<br />
Da erkannte Lyra, daß die Gans nur der Dæmon von Serafina<br />
Pekkala sein konnte, der Stammeskönigin und Hexenfreundin<br />
von Farder Coram.<br />
»Ich… er… ich rufe ihn…«, stammelte sie.<br />
Sie drehte sich um, sprang die Kajüttreppe zur Kabine von<br />
Farder Coram hinunter, öffnete die Tür und rief in die Dunkelheit<br />
hinein: »Farder Coram! <strong>Der</strong> Dæmon der Hexe ist da! Er<br />
wartet auf Deck! Er ist ganz allein hier — ich habe ihn am Himmel<br />
kommen sehen…«<br />
»Bitte ihn, auf dem Achterdeck zu warten, Kind«, sagte der<br />
alte Mann.<br />
208
Die Gans schritt zum Heck und sah sich dort um; sie war<br />
eine anmutige und zugleich wilde Erscheinung. Lyra war fasziniert<br />
und befremdet, es war, als hätte sie Besuch von einem<br />
Geist bekommen.<br />
Dann kam, eingemummt in Wintersachen, Farder Coram<br />
herauf, dicht gefolgt von John Faa. Ehrfürchtig verneigten sich<br />
die beiden alten Männer vor dem Besucher, und auch ihre<br />
Dæmonen begrüßten ihn.<br />
»Seien Sie gegrüßt, Kaisa«, sagte Farder Coram. »Ich bin<br />
glücklich und stolz, Sie wiederzusehen. Möchten Sie hereinkommen<br />
oder lieber draußen bleiben?«<br />
»Danke, Farder Coram, ich bleibe lieber draußen. Ist Ihnen<br />
auch nicht kalt?«<br />
Hexen und ihre Dæmonen frieren selbst nie, aber sie wissen,<br />
daß Menschen es tun.<br />
Farder Coram versicherte, sie seien warm genug angezogen.<br />
Dann fragte er: »Wie geht es Serafina Pekkala?«<br />
»Sie läßt Sie grüßen, Farder Coram. Es geht ihr gut, und sie ist<br />
gesund. Wer sind die beiden hier?«<br />
Farder Coram stellte ihm John Faa und Lyra vor. <strong>Der</strong> Gänsedæmon<br />
blickte Lyra aufmerksam an.<br />
»Von diesem Kind habe ich schon gehört«, sagte er. »Die<br />
Hexen sprechen oft von ihm. Sie sind also gekommen, um<br />
Krieg zu führen?«<br />
»Nicht Krieg, Kaisa. Wir wollen die Kinder befreien, die uns<br />
weggenommen wurden. Und ich hoffe, die Hexen helfen uns<br />
dabei.«<br />
»Sicher nicht alle. Einige Stämme arbeiten mit den Staubjägern<br />
zusammen.«<br />
»Nennen Sie so die Mitglieder der Oblations-Behörde?«<br />
»Diese Behörde kenne ich nicht. Die Staub-Jäger kamen vor<br />
zehn Jahren mit philosophischen Instrumenten in unsere<br />
Gegend. Sie gaben uns Geld, damit wir ihnen erlaubten, Statio<br />
209
nen auf unserem Gebiet einzurichten, und behandelten uns<br />
höflich.«<br />
»Was ist dieser Staub?«<br />
»Er kommt vom Himmel. Einige sagen, es habe ihn schon<br />
immer gegeben, andere behaupten, er falle erst neuerdings auf<br />
die Erde. Auf jeden Fall bekommen alle, die davon erfahren,<br />
große Angst und setzen alles daran herauszubekommen, was<br />
dieser Staub ist. Für Hexen hat das allerdings keinerlei Bedeutung.«<br />
»Und wo sind die Staub-Jäger jetzt?«<br />
»Vier Tagesreisen nordöstlich von hier, an einem Ort<br />
namens Bolvangar. Unser Stamm hat kein Abkommen mit<br />
ihnen geschlossen, und weil wir wegen damals noch in Ihrer<br />
Schuld stehen, Farder Coram, bin ich gekommen, um Ihnen zu<br />
erklären, wie Sie die Staub-Jäger finden.«<br />
Farder Coram lächelte, und John Faa klatschte voller Genugtuung<br />
in die Hände.<br />
»Besten Dank, Sir«, sagte er zu der Gans. »Aber sagen Sie<br />
doch, was wissen Sie sonst noch über die Staub-Jäger? Was treiben<br />
sie in diesem Bolvangar?«<br />
»Sie haben aus Stahl und Beton Gebäude errichtet und<br />
unterirdische Räume angelegt. Als Brennmaterial verwenden<br />
sie Kohlenspiritus, den sie mit großem Aufwand herbeischaffen.<br />
Wir wissen nicht, was sie tun, aber wir wissen, daß an diesem<br />
Ort und im Umkreis von Meilen eine Atmosphäre von<br />
Haß und Angst herrscht. Hexen können solche Dinge sehen, für<br />
die andere blind sind. Auch Tiere meiden die Gegend. Die<br />
Vögel sind weggeflogen, Lemminge und Füchse geflüchtet.<br />
Daher der Name Bolvangar: Land des Bösen. Die Staub-Jäger<br />
nennen den Ort nicht so, sie sprechen nur von der Station. Aber<br />
für alle anderen heißt er Bolvangar.«<br />
»Wie verteidigen sie sich?«<br />
»Sie haben eine Kompanie Nordtataren, die mit Gewehren<br />
210
ewaffnet sind. Gute Soldaten, allerdings fehlt ihnen die<br />
Übung, denn die Siedlung wurde seit ihrem Bestehen noch nie<br />
angegriffen. Außerdem ist das Lager von einem anbarisch geladenen<br />
Drahtzaun umgeben. Möglicherweise gibt es noch<br />
andere Verteidigungseinrichtungen, von denen wir nichts wissen,<br />
da uns das Ganze wie gesagt nicht interessiert.«<br />
<strong>Der</strong> Gänsedæmon merkte, daß Lyra vor Neugier fast platzte,<br />
und sah sie aufmunternd an.<br />
»Warum sprechen die Hexen über mich?« fragte sie.<br />
»Wegen deines Vaters und weil er soviel von den anderen<br />
Welten weiß«, antwortete der Dæmon.<br />
Verblüfft sahen die drei einander an. Farder Coram begegnete<br />
Lyras Blick mit sanfter Verwunderung, und John Faa<br />
machte ein besorgtes Gesicht.<br />
»Von den anderen Welten?« fragte er erstaunt. »Entschuldigen<br />
Sie, Sir, aber was für Welten sollen das sein? Meinen Sie die<br />
Sterne?«<br />
»Keineswegs.«<br />
»Vielleicht die Welt der Geister?« fragte Farder Coram.<br />
»Nein, die auch nicht.«<br />
»Bestimmt ist es die Stadt im Licht«, sagte Lyra. »So ist es<br />
doch, oder?«<br />
Die Gans drehte ihr würdevoll den Kopf zu, der Blick ihrer<br />
schwarzen Augen, umrahmt von einem dünnen Rand reinsten<br />
Himmelblaus, war durchdringend.<br />
»Ja«, sagte sie. »Hexen wissen seit Tausenden von Jahren, daß<br />
es andere Welten gibt. Man sieht sie manchmal im Nordlicht.<br />
Sie gehören nicht zu unserer Welt. Zwar dehnt sich unser Universum<br />
bis zu den fernsten Sternen aus, doch was wir im Nordlicht<br />
sehen, ist ein völlig anderes Universum. Es ist nicht weit<br />
weg, sondern durchdringt unsere Welt. Hier, auf diesem Deck,<br />
existieren Millionen von Welten, und keine weiß von der anderen…«<br />
211
Die Gans hob die Flügel, spreizte sie weit und legte sie wieder<br />
an.<br />
»Da«, sagte sie, »gerade habe ich zehn Millionen andere Welten<br />
berührt, ohne daß sie es auch nur gemerkt hätten. Zwar sind<br />
die anderen Welten nicht einmal einen Herzschlag von uns entfernt,<br />
aber wir können sie, außer im Nordlicht, nicht berühren<br />
oder sehen oder hören.«<br />
»Und wieso dann im Nordlicht?« fragte Farder Coram.<br />
»Weil die geladenen Teilchen der Aurora imstande sind, die<br />
Materie unserer Welt so aufzulösen, daß wir für kurze Zeit hindurchsehen<br />
können. Das wußten wir Hexen zwar immer<br />
schon, doch wir sprechen nur selten davon.«<br />
»Ich weiß jedenfalls, daß mein Vater daran glaubt«, sagte<br />
Lyra, »denn ich war dabei, als er von der Aurora erzählte und<br />
Bilder zeigte.«<br />
»Hat das etwas mit Staub zu tun?« fragte John Faa.<br />
»Wer weiß?« sagte der Gänsedæmon. »Alles, was ich Ihnen<br />
sagen kann, ist, daß die Staub-Jäger Staub fürchten, als wäre<br />
er ein tödliches Gift. Deshalb haben sie auch Lord Asriel eingesperrt.«<br />
»Warum denn?« fragte Lyra.<br />
»Sie glauben, daß er mit Hilfe von Staub eine Brücke zwischen<br />
unserer Welt und der Welt jenseits der Aurora bauen<br />
will.«<br />
Lyras Kopf wurde plötzlich ganz leicht.<br />
Sie hörte Farder Coram fragen: »Und will er das?«<br />
»Ja«, sagte der Gänsedæmon. »Allerdings glauben sie nicht,<br />
daß er es schafft, denn sie halten schon den Glauben an andere<br />
Welten für verrückt. Aber das ist tatsächlich seine Absicht. Und<br />
er ist eine so mächtige Person, daß sie befürchten, er könnte ihre<br />
Pläne durchkreuzen. Um das zu verhindern, haben sie einen<br />
Pakt mit den Panzerbären geschlossen, damit die ihn gefangennehmen<br />
und in der Festung von Svalbard einsperren. Manche<br />
212
ehaupten, als Gegenleistung hätten sie dem neuen Bärenkönig<br />
zu seinem Thron verhelfen.«<br />
»Wollen denn die Hexen, daß er die Brücke baut?« fragte<br />
Lyra. »Sind sie auf seiner Seite oder gegen ihn?«<br />
»Diese Frage läßt sich nicht so einfach beantworten. Erstens<br />
sind die Hexen untereinander nicht einig. Es gibt Meinungsverschiedenheiten<br />
zwischen uns. Zweitens würde Lord Asriels<br />
Brücke zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einem Krieg zwischen<br />
einem Teil der Hexen und mehreren anderen Mächten<br />
führen, einige davon aus der geistigen Welt. Denn die Kontrolle<br />
über die Brücke, falls es sie je geben sollte, würde ihrem Besitzer,<br />
wer immer das auch sei, einen gewaltigen Vorteil verschaffen.<br />
Drittens gehört Serafina Pekkalas Stamm — mein Stamm<br />
also — bisher keinem Bündnis an, obwohl man uns drängt, uns<br />
für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Wie du siehst,<br />
handelt es sich um brisante politische Fragen, die nicht leicht zu<br />
beantworten sind.«<br />
»Und die Bären? Zu wem halten die?«<br />
»Zu dem, der sie bezahlt. Sie interessieren sich nicht im<br />
geringsten für solche Fragen; sie haben keine Dæmonen, und<br />
menschliche Probleme sind ihnen völlig gleichgültig. Wenigstens<br />
haben sich die Bären bisher so verhalten. Allerdings haben<br />
wir gehört, daß sich unter ihrem neuen König einiges ändern<br />
soll…Jedenfalls haben die Staub-Jäger sie dafür bezahlt, daß sie<br />
Lord Asriel einsperren, und deshalb werden sie ihn auf Svalbard<br />
festhalten — und wenn sie bis zum letzten Blutstropfen kämpfen<br />
müssen.«<br />
»Aber so sind nicht alle Bären!« rief Lyra. »Einer ist überhaupt<br />
nicht auf Svalbard. Er wurde ausgestoßen und will mit<br />
uns kommen.«<br />
Wieder sah der Gänsedæmon Lyra durchdringend an, und<br />
diesmal konnte Lyra sein Befremden deutlich spüren.<br />
Farder Coram räusperte sich unbehaglich und sagte: »Das<br />
213
wird er kaum tun, Lyra. Wie wir gehört haben, muß er eine<br />
Zeitlang hier arbeiten. Er ist nicht frei, wie wir gedacht haben,<br />
sondern wurde verurteilt. Solange er nicht frei ist, kann er nicht<br />
einfach mit uns kommen, Rüstung hin oder her; außerdem<br />
bekommt er sie sowieso nie wieder zurück.«<br />
»Aber er hat doch gesagt, sie hätten ihn reingelegt! Zuerst<br />
haben sie ihn betrunken gemacht, und dann haben sie seine<br />
Rüstung gestohlen!«<br />
»Wir haben eine andere Geschichte gehört«, sagte John Faa.<br />
»Uns wurde gesagt, er sei ein gefährlicher Schurke.«<br />
»Wenn…«, Lyra war so entrüstet, daß sie kaum sprechen<br />
konnte, »…wenn das Alethiometer etwas sagt, weiß ich, daß es<br />
stimmt. Und als ich es vorhin fragte, hat es gesagt, der Bär hätte<br />
die Wahrheit gesagt; man hat ihn reingelegt; die anderen lügen,<br />
nicht er. Ich glaube ihm, Lord Faa! Farder Coram — Sie haben<br />
ihn doch auch gesehen und glauben ihm, nicht wahr?«<br />
»Eigentlich ja, mein Kind, aber ich bin mir nicht so sicher<br />
wie du.«<br />
»Aber wovor haben die denn Angst? Glauben sie vielleicht,<br />
daß er Leute umbringt, sobald er seine Rüstung trägt? Wenn er<br />
wollte, könnte er sie doch schon jetzt dutzendweise töten!«<br />
»Das hat er auch«, sagte John Faa. »Gut, vielleicht nicht Dutzende,<br />
aber einige. Als man ihm das erste Mal die Rüstung wegnahm,<br />
zog er auf der Suche nach ihr randalierend durch die<br />
Stadt. Er ist in die Polizeiwache und in die Bank eingebrochen,<br />
und wer weiß, wo noch überall, und mindestens zwei Männer<br />
sind dabei ums Leben gekommen. <strong>Der</strong> einzige Grund, weshalb<br />
man ihn nicht erschossen hat, ist sein erstaunliches Geschick im<br />
Umgang mit Metallen; er sollte für sie arbeiten.«<br />
»Wie ein Sklave!« rief Lyra empört. »Dazu haben sie kein<br />
Recht!«<br />
»Wie dem auch sei, man hätte ihn jedenfalls für seine Morde<br />
erschießen können, hat es aber nicht getan. Statt dessen hat man<br />
214
ihn dazu verurteilt, so lange für die Stadt zu arbeiten, bis er den<br />
Schaden abbezahlt und für die Morde gebüßt hat.«<br />
»John«, sagte Farder Coram, »ich weiß nicht, was du denkst,<br />
aber ich glaube fest, daß man ihm seine Rüstung nie zurückgeben<br />
wird, denn je länger man ihn hier festhält, desto wütender<br />
wäre er, wenn er sie wiederbekäme.«<br />
»Aber wenn wir sie ihm beschaffen, würde er bestimmt mit<br />
uns kommen und die Stadt für immer in Ruhe lassen«, sagte<br />
Lyra. »Ich verspreche es, Lord Faa.«<br />
»Aber woher sollen wir sie bekommen?«<br />
»Ich weiß, wo sie ist!«<br />
In dem Schweigen, das plötzlich herrschte, konnten die drei<br />
den stechenden Blick, mit dem der Dæmon der Hexe Lyra<br />
anstarrte, beinahe körperlich spüren. Sie sahen ihn gleichzeitig<br />
an, auch ihre Dæmonen, die bis dahin vor lauter Höflichkeit<br />
nicht gewagt hatten, den Blick zu diesem einzigartigen Wesen<br />
zu erheben, das ohne seinen Körper erschienen war.<br />
»Es wird dich nicht überraschen«, sagte die Gans an Lyra<br />
gewandt, »zu erfahren, daß das Alethiometer ein weiterer<br />
Grund dafür ist, weshalb sich die Hexen für dich interessieren.<br />
Unser Konsul hat uns von eurem Besuch heute morgen berichtet.<br />
Ich nehme an, es war Doktor Lanselius, der euch von dem<br />
Bären erzählt hat.«<br />
»Das stimmt«, sagte John Faa. »Lyra und Farder Coram<br />
haben ihn aufgesucht und mit ihm gesprochen. Es kann ja sein,<br />
daß Lyra recht hat, aber wenn wir gegen die Gesetze der Bevölkerung<br />
hier verstoßen, bekommen wir nur Streit mit ihnen,<br />
dabei sollten wir eigentlich zusehen, daß wir nach Bolvangar<br />
kommen, Bär hin oder her.«<br />
»Hm, aber du hast ihn nicht gesehen, John«, sagte Farder<br />
Coram. »Und ich glaube Lyra. Vielleicht könnten wir uns für<br />
ihn verbürgen. Und ihn dabeizuhaben könnte ein großer Vorteil<br />
für uns sein.«<br />
215
»Was meinen Sie, Sir«, fragte John Faa den Dæmon der Hexe.<br />
»Wir haben nur selten mit Bären zu tun und kennen ihre<br />
Wünsche genausowenig wie sie die unseren. Normalerweise<br />
gelten die Bären als zuverlässig, aber wenn dieser Bär ausgestoßen<br />
wurde, kann man ihm womöglich weniger trauen. Ihr<br />
müßt selbst entscheiden.«<br />
»Das werden wir auch«, sagte John Faa fest. »Würden Sie uns<br />
jetzt erklären, wie man von hier nach Bolvangar kommt, Sir?«<br />
<strong>Der</strong> Gänsedämon begann den Weg zu beschreiben. Er sprach<br />
von Tälern und Hügeln, von der Baumgrenze und der Tundra<br />
und von Sternbildern als Orientierung. Lyra hörte eine Weile<br />
zu, dann legte sie sich in ihrem Liegestuhl zurück, Pantalaimon<br />
um den Hals, und gab sich der Vision hin, von der der Gänsedæmon<br />
gesprochen hatte. Eine Brücke zwischen zwei Welten…<br />
das war ja noch viel grandioser als alles, was sie jemals erhofft<br />
hatte! Nur ihr großartiger Vater konnte sich so etwas ausgedacht<br />
haben. Sobald sie die Kinder gerettet hatten, würde sie<br />
mit dem Bären nach Svalbard gehen und Lord Asriel das Alethiometer<br />
bringen; gemeinsam würden sie dann die Brücke<br />
bauen und als erste hinübergehen…<br />
Irgendwann in der Nacht mußte John Faa sie zu ihrer Koje<br />
gebracht haben, denn dort wachte sie auf. Die fahle Sonne hatte<br />
ihren höchsten Stand, knapp eine Handbreit über dem Horizont,<br />
bereits erreicht, vermutete Lyra, es mußte also beinahe<br />
Mittag sein. Bald, wenn sie noch weiter in den Norden kamen,<br />
würde überhaupt keine Sonne mehr scheinen.<br />
Rasch zog sie sich an und hastete an Deck, wo allerdings<br />
nicht viel los war. Sämtliche Vorräte waren ausgeladen, und die<br />
gemieteten Schlitten und Hundegespanne standen zur Abfahrt<br />
bereit. Es hätte losgehen können, trotzdem rührte sich nichts.<br />
Die meisten Gypter saßen in einem verrauchten Cafe am Wasser<br />
an langen Holztischen und aßen Pfefferkuchen und tranken<br />
216
starken, süßen Kaffee. Über ihren Köpfen zischten und knisterten<br />
altersschwache anbarische Lampen.<br />
»Wo ist Lord Faa«, fragte sie, als sie sich zu Tony Costa und<br />
seinen Freunden setzte. »Und Farder Coram? Holen sie die<br />
Rüstung für den Bären?«<br />
»Sie sprechen gerade mit dem Sysselmann, wie sie hier statt<br />
Gouverneur sagen. Du hast den Bären gesehen, Lyra?«<br />
»Ja!« sagte sie stolz, und während sie ihn beschrieb, zog ein<br />
Fremder einen Stuhl heran und setzte sich zu der Gruppe an<br />
den Tisch.<br />
»Du hast also mit dem alten Iorek gesprochen?« fragte er.<br />
Verblüfft sah sie den Neuankömmling an. Er war ein großer,<br />
hagerer Mann mit einem dünnen schwarzen Schnurrbart und<br />
zusammengekniffenen blauen Augen, die Lyra beharrlich mit<br />
einem Ausdruck kühler und spöttischer Belustigung musterten.<br />
Lyra fühlte sich sofort in seinen Bann gezogen, obwohl sie<br />
nicht genau wußte, ob das, was sie empfand, Zuneigung oder<br />
Abneigung war. Sein Dæmon, ein zerzauster Hase, sah genauso<br />
mager und zäh aus wie der Mann.<br />
Mißtrauisch schüttelte sie die Hand, die der Mann ihr entgegenstreckte.<br />
»Lee Scoresby«, stellte er sich vor.<br />
»<strong>Der</strong> Aeronaut!« rief Lyra. »Wo ist Ihr Ballon? Kann ich mal<br />
mit aufsteigen?«<br />
»Im Moment ist er eingepackt, Fräulein. Du mußt die<br />
berühmte Lyra sein. Wie hast du dich denn mit Iorek Byrnison<br />
verstanden?«<br />
»Kennen Sie ihn denn?«<br />
»Wir haben Seite an Seite im Tunguska-Feldzug gekämpft.<br />
Teufel noch mal, Iorek kenne ich seit Jahren. Bären sind ja<br />
wirklich Dickschädel, in jeder Beziehung, aber daß wir uns<br />
richtig verstehen, er ist ein besonders harter Brocken. Wie wär’s,<br />
hätte vielleicht einer der Herren Lust, ein Spielchen zu wagen?«<br />
217
Aus dem Nichts hatte er ein Kartenspiel hervorgezaubert. Er<br />
mischte, indem er die Karten aus zwei Stapeln knatternd ineinanderschnappen<br />
ließ.<br />
»Ich habe schon viel von den Kartenkünsten Ihres Volkes<br />
gehört«, meinte Lee Scoresby, während er mit der einen Hand<br />
die Karten immer wieder trennte und ineinanderschob und<br />
mit der anderen eine Zigarre aus seiner Brusttasche fischte,<br />
»und da dachte ich mir, Sie schlagen es einem einfachen texanischen<br />
Reisenden bestimmt nicht ab, sich mit Ihnen zu messen<br />
und Sie zu einer Partie am Kartentisch herauszufordern. Was<br />
halten Sie davon, meine Herren?«<br />
Die Gypter rühmten sich ihres Geschicks beim Kartenspiel,<br />
und ein paar Männer zeigten Interesse und zogen ihre Stühle<br />
heran. Während sie sich mit Lee Scoresby über Spiel und Einsatz<br />
einigten, gab sein Dæmon Pantalaimon mit dem Ohr ein<br />
Zeichen; Pantalaimon verstand sofort und hüpfte leichtfüßig in<br />
Gestalt eines Eichhörnchens an seine Seite.<br />
Natürlich war das, was der Hase zu sagen hatte, auch für<br />
Lyras Ohren bestimmt, und sie hörte ihn leise sagen: »Geht auf<br />
dem schnellsten Weg zum Bären und erzählt ihm alles. Denn<br />
sobald die Leute hier wissen, was ihr vorhabt, verstecken sie<br />
seine Rüstung woanders.«<br />
Lyra nahm ihren angebissenen Pfefferkuchen und stand auf;<br />
keiner merkte es, denn Lee Scoresby teilte bereits die Karten<br />
aus, und alle Augen waren voller Mißtrauen auf seine Hände<br />
gerichtet.<br />
In der trüben Dämmerung eines endlosen Nachmittags<br />
machte sie sich auf den Weg zum Schlittendepot. Sie mußte es<br />
tun, das wußte sie, trotzdem war ihr dabei nicht wohl, und sie<br />
hatte Angst.<br />
<strong>Der</strong> Bär arbeitete vor dem größten der Betonschuppen, und<br />
Lyra blieb am geöffneten Tor stehen, um ihn zu beobachten,<br />
Iorek Byrnison zerlegte gerade einen gasbetriebenen Motor<br />
218
schlitten, der durch einen Unfall beschädigt worden war; die<br />
Metallverkleidung des Motors war verbogen und verbeult, und<br />
eine Kufe krümmte sich nach oben. <strong>Der</strong> Bär hob das Blech ab,<br />
als sei es aus Pappe, und drehte es in seinen großen Händen hin<br />
und her, als wollte er prüfen, wozu es noch taugte; dann setzte<br />
er eine Hinterpfote auf eine Kante und bog das Blech, bis die<br />
Dellen heraussprangen. Als die ursprüngliche Form wiederhergestellt<br />
war, lehnte er es an die Wand, hob den schweren Schlitten<br />
mit einer Pfote hoch, legte ihn auf die Seite und bückte sich,<br />
um die verbogene Kufe zu untersuchen.<br />
Dabei entdeckte er Lyra. Kalte Angst kroch in ihr hoch, so<br />
riesig und fremd kam er ihr vor. Vierzig Meter von ihm entfernt<br />
starrte sie durch den Maschendrahtzaun und überlegte,<br />
daß er die Entfernung leicht in ein, zwei Sätzen überwinden<br />
und den Draht wie ein Spinnennetz zerfetzen konnte. Fast hätte<br />
sie sich umgedreht und wäre weggerannt, aber da sagte Pantalaimon:<br />
»Halt! Laß mich zu ihm gehen und mit ihm reden.«<br />
Er hatte sich in eine Seeschwalbe verwandelt, und ehe sie<br />
noch etwas erwidern konnte, war er schon vom Zaun heruntergeflogen<br />
und saß auf der anderen Seite auf dem gefrorenen<br />
Boden. Wenige Meter weiter stand ein Tor offen, und Lyra<br />
hätte ihm ohne weiteres folgen können, aber sie konnte sich<br />
nicht dazu entschließen. Pantalaimon sah sie an, dann verwandelte<br />
er sich in einen Dachs.<br />
Lyra ahnte, was er vorhatte. Dæmonen können sich nur<br />
wenige Schritte von den Menschen entfernen, zu denen sie<br />
gehören, und wenn sie am Zaun stehenblieb, würde er es als<br />
Vogel niemals schaffen, in die Nähe des Bären zu kommen; also<br />
mußte er sie ziehen.<br />
Sie war wütend und unglücklich. Pantalaimon grub seine<br />
Dachsklauen in den Boden und stemmte sich Schritt für Schritt<br />
vorwärts. Lyra spürte, wie er an der Verbindung zwischen ihnen<br />
zog und zerrte, und sie empfand eine ihr bisher unbekannte<br />
219
Qual, eine Mischung aus körperlichen Schmerzen tief in der<br />
Brust und einer heftigen Traurigkeit und Liebe. Und sie wußte,<br />
daß er dasselbe empfand. Alle Heranwachsenden probierten<br />
hin und wieder aus, wie weit sie sich voneinander entfernen<br />
konnten, doch wie groß war jedesmal die Erleichterung, wenn<br />
sie zueinander zurückkehrten.<br />
Pantalaimon zerrte noch stärker.<br />
»Nicht, Pan!«<br />
Aber er hörte nicht auf. <strong>Der</strong> Bär sah regungslos zu. Die<br />
Schmerzen in Lyras Brust wurden immer unerträglicher, und<br />
ein sehnsüchtiges Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.<br />
»Pan…«<br />
Schon war Lyra durchs Tor gerannt und schlitterte über den<br />
gefrorenen Schlamm auf Pantalaimon zu. Er verwandelte sich<br />
in eine Wildkatze und sprang in ihre Arme. Sie klammerten<br />
sich ganz fest aneinander und schluchzten beide vor Kummer.<br />
»Ich dachte schon, du wolltest wirklich…«<br />
»Nein…«<br />
»Ich hätte nie geglaubt, wie weh das tut…«<br />
Wütend wischte sie die Tränen weg und schniefte laut. Pantalaimon<br />
kuschelte sich in ihre Arme, und sie wußte, daß sie lieber<br />
sterben wollte, als noch einmal von ihm getrennt zu sein<br />
und diese Traurigkeit zu spüren; beim nächsten Mal würde sie<br />
vor Kummer und Entsetzen verrückt werden. Auch wenn sie<br />
einmal starb, würden sie noch Zusammensein, genau wie die<br />
Wissenschaftler in der Krypta von Jordan.<br />
Dann blickten das Mädchen und sein Dæmon zu dem Bären<br />
auf. Er hatte keinen Dæmon. Er war allein, immer allein. Vor<br />
lauter Mitleid und Rührung hätte Lyra fast die Hand ausgestreckt<br />
und sein verfilztes Fell berührt, aber ihre Höflichkeit<br />
und der Blick seiner kalten, wilden Augen hielten sie zurück.<br />
»Iorek Byrnison«, sagte sie.<br />
»Ja?«<br />
220
»Lord Faa und Farder Coram versuchen gerade, dir deine<br />
Rüstung wiederzuholen.«<br />
<strong>Der</strong> Bär zuckte mit keiner Miene und sagte nichts. Es war<br />
klar, wie er ihre Chancen einschätzte.<br />
»Und ich weiß, wo sie ist«, sagte Lyra. »Wenn ich es dir sage,<br />
kannst du sie dir dann nicht selbst holen?«<br />
»Woher willst du denn wissen, wo sie ist?«<br />
»Ich habe ein Instrument, von dem ich das ablesen kann. Und<br />
ich finde, ich sollte dir sagen, wo die Rüstung ist, denn schließlich<br />
haben sie dich ja zuerst reingelegt. Das war bestimmt nicht<br />
in Ordnung, das hätten sie nicht tun dürfen. Lord Faa will dem<br />
Sysselmann das sagen, aber wahrscheinlich geben sie dir die<br />
Rüstung trotzdem nicht zurück. Wenn ich es dir verrate,<br />
kommst du dann mit uns und hilfst uns, die Kinder aus Bolvangar<br />
zu befreien?«<br />
»Ja.«<br />
»Ich…« Sie wollte ihre Nase nicht in seine Angelegenheiten<br />
stecken, aber ihre Neugier siegte. »Wieso machst du dir eigentlich<br />
nicht einfach aus dem ganzen Blech hier eine neue<br />
Rüstung, Iorek Byrnison?«<br />
»Weil die Bleche hier wertlos sind. Schau her.« Er hielt die<br />
Motorverkleidung mit einer Tatze hoch, fuhr an der anderen<br />
Tatze eine Kralle aus und schlitzte das Blech wie mit einem<br />
Dosenöffner auf. »Meine Rüstung besteht aus Himmelseisen<br />
und wurde extra für mich gemacht. Die Rüstung eines Bären ist<br />
seine Seele, so wie dein Dæmon deine Seele ist. Es wäre so, als<br />
würdest du ihn« — er zeigte auf Pantalaimon — »durch eine mit<br />
Sägespänen ausgestopfte Puppe ersetzen. Das ist der Unterschied!<br />
Also, wo ist meine Rüstung?«<br />
»Hör zu, erst mußt du versprechen, daß du keine Rache<br />
nimmst. Sie hätten dir die Rüstung nicht wegnehmen dürfen,<br />
aber damit mußt du dich jetzt abfinden.«<br />
»Einverstanden. Keine Rache hinterher, aber ich ich tue alles,<br />
221
um sie zu bekommen. Wenn sie mich daran hindern wollen,<br />
müssen sie sterben.«<br />
»<strong>Der</strong> Priester hat sie in seinen Keller eingeschlossen«, sagte<br />
Lyra. »Er glaubt, daß ein Geist in ihr steckt, und versucht, ihn<br />
auszutreiben. Also, dort ist sie jedenfalls.«<br />
Iorek Byrnison richtete sich auf und sah nach Westen. Die<br />
untergehende Sonne fiel auf sein Gesicht und ließ es in der<br />
düsteren Umgebung gelb aufleuchten. Lyra spürte die Kraft, die<br />
das große Tier wie Hitzewellen abstrahlte.<br />
»Ich muß bis Sonnenuntergang arbeiten«, sagte er. »Das habe<br />
ich dem Meister heute morgen versprochen. Ein paar Minuten<br />
Arbeit schulde ich ihm also noch.«<br />
»Wo ich bin, ist die Sonne schon untergegangen«, sagte Lyra.<br />
Aus ihrer Perspektive war die Sonne bereits hinter der felsigen<br />
Landspitze im Südwesten verschwunden.<br />
<strong>Der</strong> Bär ließ sich auf alle viere fallen.<br />
»Stimmt«, sagte er. Sein Gesicht war jetzt genauso im Schatten<br />
wie ihres. »Wie heißt du, Kind?«<br />
»Lyra Belacqua.«<br />
»Ich stehe jetzt in deiner Schuld, Lyra Belacqua«, sagte er.<br />
Dann drehte er sich um und trottete über den gefrorenen<br />
Boden fort, so schnell, daß Lyra nicht Schritt halten konnte,<br />
sosehr sie auch rannte. Und wie sie rannte! Pantalaimon stieg<br />
als Möwe auf, um den Bären nicht aus den Augen zu verlieren,<br />
und rief ihr von oben zu, welche Richtung sie einschlagen<br />
mußte.<br />
Iorek Byrnison eilte die enge Gasse entlang, an der das Depot<br />
lag, bog in die Hauptstraße ein, passierte den Hof der Residenz<br />
des Sysselmanns, in dem eine Fahne schlaff in der windstillen<br />
Luft am Mast hing und ein Wachtposten steif auf und ab marschierte,<br />
und trabte dann hangabwärts an der Straße vorbei, in<br />
der der Hexenkonsul wohnte. Als der Wachtposten schließlich<br />
gemerkt hatte, was los war, und sich von dem Schrecken<br />
222
erholte, bog Iorek Byrnison bereits um eine Ecke in der Nähe<br />
des Hafens.<br />
Die Menschen blieben gaffend stehen oder brachten sich<br />
schnell in Sicherheit, wenn der Bär an ihnen vorbeikam. <strong>Der</strong><br />
Wachtposten feuerte zweimal in die Luft und setzte dem Bären<br />
nach, verlor aber an Boden, weil er auf dem vereisten Hang ausrutschte<br />
und sich am nächsten Geländer festhalten mußte, um<br />
nicht zu stürzen. Lyra holte ihn fast ein. Als sie am Haus des Sysselmanns<br />
vorbeikam, sah sie mehrere Gestalten neugierig auf<br />
den Hof hinaustreten und meinte, auch Farder Coram unter<br />
ihnen zu erkennen, aber da war sie schon vorbei und sauste die<br />
Straße hinunter auf die Ecke zu, um die gerade der hinter dem<br />
Bären herjagende Wachmann verschwand.<br />
Das Haus des Priesters war älter als die meisten anderen<br />
Häuser und aus teuren Ziegelsteinen erbaut. Drei Stufen führten<br />
zur Haustür hinauf, die nun jedoch zu Kleinholz zersplittert<br />
in den Angeln hing. Aus dem Innern des Hauses ertönten<br />
Schreie und das Zerbersten von weiterem Holz. <strong>Der</strong> Wachmann<br />
stand unschlüssig vor dem Eingang, das Gewehr im<br />
Anschlag, als aber immer mehr Passanten stehenblieben und<br />
die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgingen,<br />
sah er sich zum Handeln gezwungen und stürmte, nachdem er<br />
zuvor einmal in die Luft geschossen hatte, ins Haus.<br />
Im nächsten Augenblick bebte das ganze Gebäude. Drei Fensterscheiben<br />
gingen zu Bruch, und ein Ziegel rutschte vom<br />
Dach. Ein Dienstmädchen kam in Panik herausgerannt; sein<br />
Dæmon, ein gackerndes Huhn, flatterte aufgeregt hinterher.<br />
Dann ertönte ein weiterer Schuß, gefolgt von so markerschütterndem<br />
Gebrüll, daß das Dienstmädchen vor Schreck<br />
aufkreischte. Wie eine Kanonenkugel schoß der Priester heraus,<br />
hinter ihm in einem wilden Geflatter aus Federn und verletztem<br />
Stolz sein Dæmon, ein Pelikan. Lyra hörte, wie Befehle<br />
gebrüllt wurden, und als sie sich umdrehte, sah sie ein Polizei<br />
223
kommando um die Ecke hasten; einige der Polizisten trugen<br />
Pistolen, andere Gewehre. In kurzem Abstand folgten John Faa<br />
und der korpulente, aufgeregt fuchtelnde Sysselmann.<br />
Ein Bersten und Splittern ertönte, und alle wandten sich<br />
wieder dem Haus zu. Klirrend zerbrach die Scheibe eines Fensters<br />
auf Bodenhöhe, das anscheinend zu einem Keller gehörte,<br />
dann zersplitterte krachend der hölzerne Rahmen. <strong>Der</strong> Posten,<br />
der Iorek Byrnison ins Haus gefolgt war, kam herausgerannt<br />
und stellte sich mit angelegtem Gewehr vor das Kellerfenster.<br />
Dann wurde das Fenster ganz herausgebrochen, und aus dem<br />
Loch kletterte Iorek Byrnison in voller Rüstung.<br />
Er war schon ohne Rüstung furchterregend, aber mit ihr war<br />
er ein Ungeheuer. Sie war rostrot und aus verschieden großen<br />
Platten aus verfärbtem und verbeultem Metall, die bei jeder<br />
Bewegung quietschend und kratzend aneinander scheuerten,<br />
grob zusammengenietet. <strong>Der</strong> Helm lief spitz zu wie Ioreks<br />
Schnauze, hatte Schlitze für die Augen und ließ den Unterkiefer<br />
zum Reißen und Beißen frei.<br />
<strong>Der</strong> Wachmann feuerte mehrere Schüsse ab, und auch die<br />
Polizisten zielten auf den Bären, doch Iorek Byrnison schüttelte<br />
die Kugeln ab, als wären es Regentropfen. Er stürzte sich mit<br />
seiner quietschenden, scheppernden Rüstung auf den Wachmann,<br />
bevor dieser fliehen konnte, und warf ihn zu Boden. Wie<br />
ein Blitz fuhr der Dæmon des Wachmanns, ein Husky, dem<br />
Bären an die Kehle, doch Iorek Byrnison beachtete ihn sowenig<br />
wie eine Fliege. Mit seiner gewaltigen Pranke zog er den Wachmann<br />
zu sich heran, beugte sich über ihn und nahm seinen<br />
Kopf zwischen die Kiefer. Lyra wußte genau, was als nächstes<br />
geschehen würde: <strong>Der</strong> Bär würde den Schädel des Mannes wie<br />
ein Ei zerquetschen, und dann käme es zu einem blutigen<br />
Kampf mit noch mehr Toten und zu weiteren Verzögerungen;<br />
und schließlich würden sie überhaupt nicht mehr loskommen<br />
— ob mit oder ohne den Bären.<br />
224
Ohne nachzudenken, rannte sie zu ihm hin und legte die<br />
Hand auf die einzige ungeschützte Stelle des Bären, die Lücke<br />
zwischen dem Helm und der großen Schulterplatte, die entstand,<br />
wenn er den Kopf senkte, und durch die sie zwischen den<br />
rostigen Metallrändern das gelbweiße Fell schimmern sah. Sie<br />
grub die Finger in das Fell, und sofort flog auch Pantalaimon an<br />
diese Stelle und verwandelte sich in eine sprungbereite Wildkatze,<br />
um Lyra notfalls verteidigen zu können. Doch Iorek<br />
Byrnison rührte sich nicht, und daraufhin stellten die Schützen<br />
das Feuer ein.<br />
»Iorek!« sagte Lyra heftig. »Hör mir zu! Du schuldest mir<br />
noch einen Gefallen, stimmt’s? Jetzt kannst du dich revanchieren.<br />
Tu, was ich dir sage. Kämpfe nicht mit diesen Männern.<br />
Wir gehen jetzt einfach von hier weg. Wir brauchen dich, Iorek,<br />
du darfst nicht hier bleiben. Komm mit mir zum Hafen, und<br />
sieh dich nicht mehr um. Farder Coram und John Faa sollen für<br />
dich verhandeln, die kriegen das schon hin. Also laß den Mann<br />
hier los und komm mit…«<br />
Langsam öffnete der Bär das Maul. <strong>Der</strong> Kopf des Wachmanns<br />
blutete, war naß und kreidebleich; er schlug hart<br />
auf den Boden, als der Mann in Ohnmacht fiel. Sein Dæmon<br />
begann ihn sofort zu liebkosen, während sich der Bär Lyra<br />
zuwandte.<br />
Niemand rührte sich. Alle beobachteten, wie der Bär auf den<br />
Befehl des kleinen Mädchens mit dem Katzendæmon von seinem<br />
Opfer abließ, und erst als Iorek Byrnison an der Seite Lyras<br />
schwerfällig durch ihre Mitte in Richtung Hafen trottete,<br />
machten sie eilig Platz.<br />
Lyra, die nur auf den Bären achtete, merkte nichts von der<br />
Verwirrung, die sie hinterließ, und von der Angst und der Wut,<br />
die sich entluden, sobald der Bär fort war. Sie ging einfach<br />
neben ihm her, und Pantalaimon sprang den beiden voraus, als<br />
wollte er ihnen den Weg bahnen.<br />
225
Am Hafen angekommen, senkte Iorek Byrnison den Kopf,<br />
öffnete mit einer Klaue den Helm und ließ ihn scheppernd auf<br />
den gefrorenen Boden fallen. Gypter, die mitbekommen hatten,<br />
daß sich draußen etwas tat, kamen aus dem Cafe und beobachteten<br />
im Schein der anbarischen Lampen, die auf dem<br />
Schiffsdeck brannten, wie Iorek Byrnison auch die restliche<br />
Rüstung abschüttelte und auf einem Haufen auf dem Kai<br />
zurückließ. Wortlos trottete er zum Wasser, glitt hinein, ohne<br />
daß sich eine Welle kräuselte, und verschwand.<br />
»Was ist passiert?« fragte Tony Costa, als er die empörten<br />
Stimmen von Einwohnern und Polizisten hörte, die aus den<br />
höher gelegenen Straßen zum Hafen hinunterstürzten.<br />
Lyra erzählte ihm alles so ausführlich sie konnte.<br />
»Aber wo steckt er denn jetzt?« fragte Tony. »Er kann doch<br />
nicht einfach seine Rüstung hier liegenlassen. Die holen sie sich<br />
doch zurück, sobald sie hier sind!«<br />
Lyra befürchtete das auch, denn an der Ecke tauchte bereits<br />
der erste Polizist auf, gefolgt von weiteren, und dahinter kamen<br />
der Sysselmann und der Priester und zwanzig oder dreißig<br />
Schaulustige und schließlich John Faa und Farder Coram, die<br />
mit den anderen Schritt zu halten versuchten.<br />
Doch als sie die Gruppe am Kai erblickten, blieben sie stehen,<br />
denn dort war mittlerweile noch jemand erschienen. Auf<br />
der Rüstung des Bären saß die langgliedrige Gestalt von Lee<br />
Scoresby. Er hatte einen Knöchel über das Knie geschlagen,<br />
hielt die längste Pistole, die Lyra jemals gesehen hatte, in der<br />
Hand und zielte damit ungerührt auf den stattlichen Bauch des<br />
Sysselmanns.<br />
»Mir scheint, ihr habt nicht besonders gut auf die Rüstung<br />
meines Freundes aufgepaßt«, sagte er im Plauderton. »Nein<br />
wirklich, schaut euch bloß mal den Rost hier an! Und es würde<br />
mich überhaupt nicht überraschen, auch noch Motten darin zu<br />
entdecken. So, und jetzt bleibt ihr entweder schön ruhig da ste<br />
226
hen, wo ihr seid, und rührt euch nicht, bis der Bär mit ein bißchen<br />
Schmiere zurückkommt. Oder ihr geht nach Hause und<br />
steckt die Nase in die Zeitung. Könnt’s euch aussuchen.«<br />
»Da kommt er«, sagte Tony und zeigte zu einer Rampe am<br />
anderen Ende des Kais, wo Iorek Byrnison gerade aus dem<br />
Wasser auftauchte; in den Zähnen hielt er einen dunklen<br />
Gegenstand. Oben auf dem Kai angelangt, schüttelte er sich so<br />
heftig, daß das Wasser nach allen Seiten sprühte, bis sein dickes<br />
Fell wieder buschig abstand. Dann senkte er den Kopf, nahm<br />
den schwarzen Gegenstand wieder zwischen die Zähne und<br />
brachte ihn zu der Stelle, an der seine Rüstung lag. Es war ein<br />
toter Seehund.<br />
»Tag, Iorek«, sagte der Aeronaut und erhob sich träge, hielt<br />
aber die Pistole unverändert auf den Sysselmann gerichtet.<br />
»Alles klar?«<br />
<strong>Der</strong> Bär sah kurz auf und brummte, dann schlitzte er mit<br />
einer Kralle den Seehund auf. Gebannt beobachtete Lyra, wie er<br />
säuberlich die Haut abzog und Streifen von dem wabbeligen<br />
Seehundspeck abriß, mit denen er seine Rüstung von oben bis<br />
unten einrieb und sorgfältig die Stellen schmierte, an denen<br />
sich die Platten übereinanderschoben.<br />
»Gehörst du auch zu diesen Leuten?« fragte der Bär Lee Scoresby,<br />
ohne seine Arbeit zu unterbrechen.<br />
»Klar. Schätze, wir sind beide angeheuert, Iorek.«<br />
»Wo ist Ihr Ballon?« fragte Lyra den Texaner.<br />
»Verpackt und auf zwei Schlitten verstaut«, sagte er. »Ah, da<br />
kommt ja der Chef.«<br />
Zusammen mit dem Sysselmann und vier bewaffneten Polizisten<br />
kamen John Faa und Farder Coram den Kai entlang.<br />
»Bär!« sagte der Sysselmann schrill. »Wir lassen dich in<br />
Begleitung dieser Leute gehen. Aber eins sage ich dir: Wenn du<br />
dich noch einmal innerhalb der Stadtgrenzen blicken läßt,<br />
kannst du keine Gnade mehr erwarten.«<br />
227
Ohne von seinen Worten auch nur die geringste Notiz zu<br />
nehmen, fuhr Iorek Byrnison fort, seine Rüstung mit dem Seehundspeck<br />
einzufetten; die Sorgfalt und Aufmerksamkeit, mit<br />
der er bei der Arbeit war, erinnerte Lyra an ihre enge Verbindung<br />
mit Pantalaimon. Es war wohl so, wie der Bär gesagt hatte:<br />
Die Rüstung war seine Seele. <strong>Der</strong> Sysselmann und die Polizisten<br />
zogen sich zurück, und nach und nach machten auch die anderen<br />
Leute kehrt und zerstreuten sich. Nur ein kleines Häuflein<br />
Neugieriger blieb.<br />
John Faa formte mit seinen Händen einen Trichter vor dem<br />
Mund und rief: »Gypter!«<br />
Alle waren abmarschbereit. Seit sie von Bord gegangen<br />
waren, hatten sie ungeduldig daraufgewartet, endlich loszuziehen;<br />
die Schlitten waren bepackt, die Hundegespanne angeschirrt.<br />
»Es wird Zeit, daß wir losfahren, Freunde«, sagte John Faa.<br />
»Wir sind vollzählig, und nichts hindert uns mehr. Mr. Scoresby,<br />
haben Sie alles aufgeladen?«<br />
»Bereit zum Abmarsch, Lord Faa.«<br />
»Und du, Iorek Byrnison?«<br />
»Sobald ich die Rüstung angezogen habe«, sagte der Bär.<br />
Er war mit dem Einfetten der Rüstung fertig. Weil er das<br />
Seehundfleisch nicht verschwenden wollte, hob er den Kadaver<br />
mit den Zähnen hoch und hievte ihn auf Lee Scoresbys Schlitten,<br />
der größer war als die anderen. Dann legte er die Rüstung<br />
an. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit er das tat:<br />
Obwohl die Metallplatten an einigen Stellen über zwei Zentimeter<br />
dick waren, legte er sie an, als seien es Kleider aus Seide.<br />
Er brauchte dazu keine Minute, und diesmal quietschte nichts.<br />
Eine knappe halbe Stunde später war die Expedition auf dem<br />
Weg nach Norden. Unter einem mit Sternen übersäten Himmel,<br />
an dem hell der Mond leuchtete, holperten und klapperten<br />
die Schlitten über Furchen und Steine, bis sie den glatten<br />
228
Schnee am Stadtrand erreichten, wo das Gepolter in das ruhige<br />
Knirschen des Schnees und das gelegentliche Knarren von Holz<br />
überging. Ausgeruht legten die Hunde sich ins Zeug, und die<br />
Schlitten glitten schnell und sanft dahin.<br />
Lyra saß dick eingemummt im hinteren Teil von Farder<br />
Corams Schlitten; nur ihre Augen waren unbedeckt. »Kannst<br />
du Iorek sehen?« flüsterte sie Pantalaimon zu.<br />
»Er trottet neben dem Schlitten von Lee Scoresby her«, antwortete<br />
der Dæmon, der in Gestalt eines Hermelins an Lyras<br />
Kapuze aus Marderpelz hing und zurückschaute.<br />
Vor ihnen, über den Bergen im Norden, begannen die blassen<br />
Bögen und Spiralen des Nordlichts zu glühen und zu flimmern.<br />
Lyra konnte sie durch ihre halbgeschlossenen Augen<br />
sehen, und bei der Vorstellung, unter der Aurora Richtung<br />
Norden dahinzugleiten, überlief sie noch im Halbschlaf ein<br />
Schauer vollkommenen Glücks. Pantalaimon wehrte sich gegen<br />
ihre Schläfrigkeit, doch sie war übermächtig, und so rollte er<br />
sich als Maus in Lyras Pelz zusammen. Was er ihr sagen wollte,<br />
hatte schließlich Zeit, bis sie aufwachte, und wahrscheinlich<br />
war es sowieso nur ein Marder oder ein Traum oder ein harmloser<br />
Geist aus der Gegend. Denn irgend jemand folgte dem<br />
Zug der Schlitten, sich behende von Ast zu Ast der dicht nebeneinander<br />
stehenden Kiefern schwingend, jemand, der Pantalaimon<br />
auf beklemmende Weise an einen Affen erinnerte.<br />
229
Zwölf<br />
<strong>Der</strong> verlorene Junge<br />
Sie fuhren mehrere Stunden und hielten dann an, um zu essen.<br />
Während die Männer Feuer machten und Schnee schmolzen<br />
und Iorek Byrnison zusah, wie Lee Scoresby das Seehundfleisch<br />
briet, sprach John Faa mit Lyra.<br />
»Lyra, glaubst du, du siehst genug, um das Instrument zu<br />
lesen?« fragte er.<br />
<strong>Der</strong> Mond war seit langem untergegangen. Das Licht der<br />
Aurora leuchtete zwar heller als der Mond, flackerte aber auch<br />
stärker. Doch Lyra hatte scharfe Augen, und so wühlte sie in<br />
ihren Pelzen und zerrte schließlich das schwarze Samtpäckchen<br />
hervor.<br />
»Ja, ich sehe genug«, sagte sie. »Aber ich weiß inzwischen<br />
sowieso, wo die meisten Symbole sind. Was soll ich denn fragen,<br />
Lord Faa?«<br />
»Ich möchte mehr darüber wissen, wie dieses Bolvangar verteidigt<br />
wird.«<br />
Automatisch stellten Lyras Finger die Zeiger auf Helm, Greif<br />
und Tiegel, und dann vertiefte sie sich in die jeweiligen Bedeutungen<br />
wie in ein kompliziertes dreidimensionales Diagramm.<br />
Sofort begann die Nadel auszuschlagen, vor, zurück, vor und so<br />
weiter, wie eine Biene, die vor dem Bienenkorb tanzt. Ruhig sah<br />
Lyra zu. Mochte am Anfang auch alles rätselhaft erscheinen,<br />
230
nach und nach würde sich eine Bedeutung herauskristallisieren,<br />
das wußte sie. Sie ließ die Nadel tanzen, bis sie sich eingependelt<br />
hatte.<br />
»Es ist genau so, wie der Dæmon der Hexe gesagt hat, Lord<br />
Faa. Die Station wird von einer Kompanie Tataren bewacht und<br />
ist von Stacheldraht umgeben. <strong>Der</strong> Symboldeuter sagt außerdem,<br />
daß sie nicht mit einem Angriff rechnen. Aber, Lord<br />
Faa…«<br />
»Was ist, mein Kind?«<br />
»Er sagt noch etwas anderes. Im nächsten Tal liegt ein Dorf<br />
an einem See, dessen Bewohner von einem Geist heimgesucht<br />
werden.«<br />
Ungeduldig schüttelte John Faa den Kopf. »Das ist doch jetzt<br />
nicht wichtig. Hier in den Wäldern soll es alle möglichen Geister<br />
geben. Erzähl mir lieber mehr von den Tataren. Zum Beispiel<br />
wie viele es sind und welche Waffen sie haben.«<br />
Gehorsam befragte Lyra das Alethiometer und verkündete<br />
John Faa die Antwort.<br />
»Es sind sechzig Mann mit Gewehren, aber sie haben auch<br />
noch größere Waffen, so eine Art Kanonen. Außerdem haben<br />
sie Flammenwerfer. Und… das Alethiometer sagt, daß alle ihre<br />
Dæmonen Wölfe sind.«<br />
Die älteren Gypter, die bereits gegen Tataren gekämpft hatten,<br />
waren sichtlich beunruhigt.<br />
»Die sibirischen Regimenter haben Wolfsdæmonen«, sagte<br />
einer.<br />
»Und zwar die wildesten, die mir je begegnet sind«, fügte<br />
John Faa hinzu. »Wir werden kämpfen müssen wie die Tiger.<br />
Und wir werden uns mit dem Bären beraten, er ist ein listiger<br />
Krieger.«<br />
»Aber Lord Faa«, sagte Lyra ungeduldig, »der Geist — ich<br />
glaube, es ist der Geist von einem der Kinder!«<br />
»Selbst wenn das stimmt, Lyra, wüßte ich nicht, was wir<br />
231
daran ändern könnten. Also sechzig sibirische Scharfschützen.<br />
Und Flammenwerfer… Mr. Scoresby, würden Sie einen<br />
Moment herkommen?«<br />
Während der Aeronaut zum Schlitten kam, schlich sich Lyra<br />
fort, um mit dem Bären zu sprechen.<br />
»Iorek, warst du schon mal hier?«<br />
»Einmal.« Er sprach mit tiefer ausdrucksloser Stimme.<br />
»Hier in der Nähe ist ein Dorf, stimmt das?«<br />
»Hinter diesem Berg«, sagte er und blickte durch die dürren<br />
Bäume nach oben.<br />
»Ist es weit?«<br />
»Für dich oder für mich?«<br />
»Für mich«, sagte Lyra.<br />
»Viel zu weit. Für mich ist es nur ein Katzensprung.«<br />
»Wie lange würdest du brauchen, um hinzukommen?«<br />
»Ich könnte dreimal hin- und zurücklaufen, bis der Mond<br />
wieder aufgeht.«<br />
»Also es ist so, Iorek. Ich habe einen Symboldeuter, der mir<br />
Dinge sagt, und er sagt, ich müßte unbedingt in dieses Dorf,<br />
aber Lord Faa will mich nicht hingehen lassen. Er will so schnell<br />
wie möglich weiter. Das seh ich ja auch ein, aber wenn ich nicht<br />
hingeh und rauskriege, was da los ist, erfahren wir vielleicht nie,<br />
was die Gobbler eigentlich machen.«<br />
<strong>Der</strong> Bär schwieg. Er saß aufrecht wie ein Mensch da, die großen<br />
Pranken im Schoß gefaltet, und seine dunklen Augen über<br />
der langen Schnauze blickten ruhig in Lyras. Er wußte, daß sie<br />
ihn um etwas bitten wollte.<br />
Pantalaimon sprach es aus: »Schaffst du es, uns hinzubringen<br />
und die Schlitten später wieder einzuholen?«<br />
»Wenn ich will, ja. Aber ich habe Lord Faa versprochen, daß<br />
ich nur ihm gehorche und niemandem sonst.«<br />
»Und wenn er es mir erlaubt?« fragte Lyra.<br />
»Dann ja.«<br />
232
Sie drehte sich um und rannte durch den Schnee zurück.<br />
»Lord Faa! Wenn Iorek Byrnison mich über diesen Berg zum<br />
Dorf bringen würde, könnten wir alles rauskriegen und später<br />
die Schlitten wieder einholen.« Und bittend fügte sie hinzu: »Er<br />
kennt den Weg doch. Ich würde bestimmt nicht fragen, aber es<br />
geht mir genau so wie neulich bei dem Chamäleon, wissen Sie<br />
noch, Farder Coram? Zuerst habe ich es nicht kapiert, aber hinterher<br />
haben wir entdeckt, daß es stimmte. Das gleiche Gefühl<br />
habe ich jetzt auch. Ich verstehe zwar nicht genau, was das<br />
Instrument sagt, aber ich weiß, daß es wichtig ist. Und Iorek<br />
Byrnison kennt den Weg und sagt, er könnte es bis zum nächsten<br />
Mondaufgang dreimal hin- und herschaffen. Und wenn er<br />
bei mir ist, kann mir doch nichts passieren, oder? Aber er geht<br />
nur, wenn Lord Faa es ihm erlaubt.«<br />
Es wurde still. Farder Coram seufzte. John Faa runzelte die<br />
Stirn und verzog unter seiner Kapuze grimmig den Mund.<br />
Doch noch ehe er antworten konnte, mischte sich der Aeronaut<br />
ein: »Lord Faa, wenn Iorek Byrnison sich um das Mädchen<br />
kümmert, ist es genauso sicher wie bei uns. Alle Bären sind ehrlich,<br />
und Iorek kenne ich seit Jahren. Er würde um nichts in der<br />
Welt sein Wort brechen. Vertrauen Sie ihm das Mädchen an,<br />
und er wird Sie bestimmt nicht enttäuschen. Und wenn Sie wissen<br />
wollen, wie schnell er ist — er kann stundenlang laufen,<br />
ohne müde zu werden.«<br />
»Wäre es dann nicht besser, ein paar Männer hinzuschikken?«<br />
»Aber die müßten dann doch zu Fuß gehen«, sagte Lyra,<br />
»denn mit dem Schlitten kommt man nicht über diesen Berg,<br />
Iorek Byrnison kommt hier viel schneller voran als ein Mensch,<br />
und ich bin so leicht, daß ihn mein Gewicht beim Laufen nicht<br />
stört. Und Lord Faa, ich verspreche, daß ich keine Sekunde länger<br />
als nötig dort bleibe und daß ich nichts von uns verrate und<br />
nichts Gefährliches mache.«<br />
233
»Bist du sicher, daß du unbedingt hin mußt? <strong>Der</strong> Symboldeuter<br />
hält dich nicht zum Narren?«<br />
»Das hat er noch nie getan, Lord Faa, und ich glaube, das<br />
könnte er auch gar nicht.«<br />
Nachdenklich rieb sich John Faa das Kinn.<br />
»Na gut. Zumindest wissen wir, wenn alles gut ausgeht, mehr<br />
als jetzt.« Er rief Iorek Byrnison her. »Bist du bereit zu tun, was<br />
dieses Kind von dir verlangt?«<br />
»Ich tue, was Sie mir befehlen, Lord Faa. Sagen Sie mir, daß<br />
ich das Kind dorthin bringen soll, und ich tue es.«<br />
»Also gut. Dann bringe sie hin, wohin sie möchte, und tu,<br />
was sie dir befiehlt. Und jetzt, Lyra, gebe ich Greinen Befehl,<br />
verstanden?«<br />
»Ja, Lord Faa.«<br />
»Sobald du gefunden hast, was du suchst, machst du sofort<br />
kehrt und kommst zurück. Iorek Byrnison, wir fahren inzwischen<br />
weiter, du mußt uns also wieder einholen.«<br />
<strong>Der</strong> Bär nickte mit seinem großen Kopf.<br />
»Sind in dem Dorf Soldaten?« fragte der Bär Lyra. »Brauche<br />
ich meine Rüstung? Ohne sie wären wir schneller.«<br />
»Nein«, sagte sie, »du brauchst sie ganz sicher nicht, Iorek.<br />
Danke, Lord Faa, ich verspreche, daß ich alles tue, was Sie<br />
befohlen haben.«<br />
Tony Costa gab ihr einen Streifen getrocknetes Seehundfleisch<br />
zum Kauen, und mit Pantalaimon als Maus in ihrer<br />
Kapuze kletterte Lyra auf den Rücken des Bären, griff mit ihren<br />
Fäustlingen in sein Fell und schloß die Knie um seinen schmalen,<br />
muskulösen Rücken. Sein Fell war dicht, und sie spürte<br />
seine ungeheuren Kräfte. Als würde sie nicht das geringste wiegen,<br />
drehte er sich um und trabte mit weit ausholenden Schritten<br />
davon, zwischen den niedrigen Bäumen hindurch hangaufwärts.<br />
Es dauerte eine Weile, bis Lyra sich an die schaukelnde<br />
234
Bewegung gewöhnt hatte, aber dann überkam sie eine wilde<br />
Begeisterung. Sie ritt auf einem Bären! Über ihnen flimmerte<br />
in <strong>goldene</strong>n Bögen und Spiralen die Aurora, und sie waren<br />
umgeben von der bitteren arktischen Kälte und der unermeßlich<br />
riefen Stille des Nordens.<br />
Iorek Byrnison flog fast lautlos auf seinen Tatzen über den<br />
Schnee. Hier, am Rand der Tundra, waren die Bäume dürr und<br />
verkrüppelt, doch der Weg wurde immer wieder durch Brombeergestrüpp<br />
und niedrige Büsche versperrt. <strong>Der</strong> Bär stürmte<br />
hindurch, als seien es Spinngewebe.<br />
Zwischen schwarzen Felsvorsprüngen erklommen sie den<br />
niedrigen Bergkamm, und schon bald konnten sie von den<br />
Zurückgebliebenen nicht mehr gesehen werden. Lyra hätte<br />
gern mit dem Bären gesprochen. Wenn er ein Mensch gewesen<br />
wäre, hätte sie bestimmt schon Freundschaft mit ihm geschlossen;<br />
aber er war so seltsam und wild und kalt, daß sie, vielleicht<br />
zum ersten Mal in ihrem Leben, zu schüchtern war, ihn anzusprechen.<br />
Deshalb paßte sie sich nur seinen Bewegungen an,<br />
den langen Sätzen, in denen er unermüdlich dahinjagte, und<br />
schwieg. Vielleicht war ihm das sowieso lieber, überlegte sie,<br />
denn in den Augen eines Panzerbären war sie bestimmt nur ein<br />
daherplapperndes Junges, das gerade dem Säuglingsalter entwachsen<br />
war. Lyra hatte bisher nur selten über sich nachgedacht,<br />
und sie fand diese Erfahrung zwar interessant, aber unerfreulich<br />
und eigentlich genauso unbequem, wie auf einem<br />
Bären zu reiten. Iorek Byrnison bewegte beim Laufen immer<br />
beide Beine einer Seite zugleich und schaukelte in einem stetigen,<br />
kraftvollen Rhythmus hin und her. Lyra merkte, daß sie<br />
nicht einfach ruhig auf ihm sitzen konnte, sondern mit seinen<br />
Bewegungen mitgehen mußte.<br />
Sie waren eine gute Stunde unterwegs; Lyra war steif und<br />
wundgeritten und deshalb sehr froh, als Iorek Byrnison langsamer<br />
wurde und stehenblieb.<br />
235
»Sieh nach oben«, sagte er.<br />
Lyra blickte auf, mußte sich aber erst die Augen mit der<br />
Innenseite des Handgelenks trocknen, denn ihr war so kalt, daß<br />
sie vor lauter Tränen alles nur verschwommen sah. Als sie wieder<br />
scharf sehen konnte, verschlug es ihr beim Anblick des<br />
Himmels beinahe den Atem. Die Aurora war zu einem flirrenden<br />
Glimmen verblaßt, aber die Sterne funkelten hell wie Diamanten,<br />
und über das dunkle, diamantenübersäte Firmament<br />
flogen Hunderte und Aberhunderte kleiner schwarzer Schatten<br />
aus Osten und Süden in Richtung Norden.<br />
»Sind das Vögel?« fragte sie.<br />
»Nein, Hexen«, antwortete der Bär.<br />
»Hexen! Was haben sie vor?«<br />
»Vielleicht fliegen sie in den Krieg. Ich habe noch nie so viele<br />
auf einmal gesehen.«<br />
»Kennst du eigentlich irgendwelche Hexen, Iorek?«<br />
»Ich habe einigen gedient und gegen einige auch gekämpft.<br />
Lord Faa müßte bei diesem Anblick jedenfalls einen ziemlichen<br />
Schreck bekommen. Wenn sie unterwegs sind, um unseren<br />
Feinden zu helfen, solltet ihr eigentlich alle Angst haben.«<br />
»Lord Faa hätte bestimmt keine Angst. Du doch auch nicht,<br />
oder?«<br />
»Noch nicht. Und wenn ich Angst bekomme, unterdrücke<br />
ich sie. Aber wir sollten Lord Faa auf jeden Fall von den Hexen<br />
erzählen, denn die Männer haben sie vielleicht nicht gesehen.«<br />
Er trottete langsam weiter, und Lyra beobachtete den Himmel,<br />
bis die Kälte ihr wieder Tränen in die Augen trieb und den<br />
nicht enden wollenden Zug der nordwärts fliegenden Hexen<br />
verschwimmen ließ.<br />
Schließlich blieb Iorek Byrnison stehen und sagte: »Da ist das<br />
Dorf.«<br />
Sie blickten einen zerklüfteten, unwegsamen Hang hinab auf<br />
eine Siedlung von Holzhäusern neben einer weiten, vollkom<br />
236
men ebenen Schneefläche, die, wie Lyra annahm, der zugefrorene<br />
See sein mußte. Ein Holzsteg für Boote bestätigte ihre Vermutung.<br />
Sie waren höchstens noch fünf Minuten von dem Dorf<br />
entfernt.<br />
»Was hast du jetzt vor?« fragte der Bär.<br />
Lyra rutschte von seinem Rücken hinunter und merkte, daß<br />
sie kaum stehen konnte. Ihr Gesicht war starr vor Kälte, und sie<br />
hatte wackelige Beine, aber sie hielt sich an Ioreks Fell fest und<br />
stampfte mit den Füßen, bis sie spürte, wie ihre Kräfte zurückkehrten.<br />
»Da unten lebt ein Kind oder ein Geist oder etwas Ähnliches«,<br />
sagte sie, »vielleicht auch in der Nähe des Dorfes, ich<br />
weiß es nicht. Ich muß das Kind finden und, wenn ich kann, zu<br />
John Faa und den anderen bringen. Eigentlich dachte ich, es sei<br />
ein Geist, aber vielleicht habe ich ja nicht richtig verstanden,<br />
was der Symboldeuter mir sagen wollte.«<br />
»Wenn er sich draußen aufhält, braucht er irgendeinen<br />
Unterschlupf.«<br />
»Und ich glaube nicht, daß er tot ist…«, sagte Lyra, obwohl<br />
sie alles andere als sicher war. Das Alethiometer hatte etwas<br />
Unheimliches und Unnatürliches gezeigt, das ihr angst machte.<br />
Aber auf der anderen Seite: Sie war Lord Asriels Tochter! Und<br />
wer stand unter ihrem Kommando? Ein mächtiger Bär!<br />
Warum sollte sie da überhaupt Angst haben?<br />
»Los, laß uns nachsehen«, sagte sie.<br />
Sie kletterte wieder auf seinen Rücken, und Iorek machte<br />
sich auf den Weg den zerklüfteten Hang hinunter, jetzt nicht<br />
mehr im Paßgang, sondern mit gleichmäßigen Schritten. Die<br />
Dorfhunde witterten oder hörten ihr Kommen schon von weitem<br />
und begannen, entsetzlich zu heulen; die Rentiere liefen<br />
aufgeregt in den Gehegen hin und her, und ihre Geweihe klapperten<br />
wie trockene Hölzer gegeneinander.<br />
Als sie das erste Haus erreichten, drehte sich Lyra nach rechts<br />
237
und links und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Die Aurora<br />
war bereits verblaßt, und der Mond würde erst viel später aufgehen.<br />
Hier und da flackerte Licht unter einem dick mit Schnee<br />
bedeckten Dach, und Lyra meinte, hinter manchen Fensterscheiben<br />
bleiche Gesichter zu sehen. Sie stellte sich vor, wie<br />
erstaunt die Dorfbewohner beim Anblick eines Kindes sein<br />
mußten, das auf einem großen, weißen Bären ritt.<br />
In der Mitte des kleinen Dorfes, auf einer freien Fläche<br />
neben der Anlegestelle, lagen an Land gezogene Boote wie<br />
kleine Hügel unter dem Schnee. Das Gebell der Hunde war<br />
ohrenbetäubend, und gerade, als Lyra überlegte, daß inzwischen<br />
das ganze Dorf wach sein mußte, ging eine Tür auf, und<br />
ein Mann mit einem Gewehr kam heraus. Sein Dæmon, ein<br />
Marder, sprang auf einen Holzstoß neben der Tür, so daß der<br />
Schnee nur so stäubte. Sofort rutschte Lyra vom Rücken des<br />
Bären hinunter und stellte sich zwischen den Mann und Iorek<br />
Byrnison, denn schließlich hatte sie ja dem Bären gesagt, er<br />
brauche keine Rüstung.<br />
<strong>Der</strong> Mann sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand,<br />
Iorek Byrnison antwortete in derselben Sprache, worauf der<br />
Mann einen kurzen, angstvollen Laut von sich gab.<br />
»Er glaubt, wir seien Teufel«, erklärte Iorek Lyra. »Was soll<br />
ich ihm sagen?«<br />
»Sag ihm, daß wir keine Teufel sind, aber Teufel als Freunde<br />
haben. Und wir suchen nach… nur nach einem Kind, aber<br />
einem seltsamen Kind. Sag ihm das.«<br />
Kaum hatte der Bär ausgesprochen, zeigte der Mann nach<br />
rechts auf eine etwas weiter entfernte Stelle und begann hastig<br />
zu reden.<br />
»Er fragt, ob wir gekommen sind, um das Kind mitzunehmen«,<br />
sagte Iorek Byrnison. »Sie fürchten sich nämlich vor ihm<br />
und haben versucht, es zu verjagen, aber es kommt immer wieder<br />
zurück.«<br />
238
»Sag ihm, daß wir es mitnehmen, aber daß sie sehr gemein zu<br />
ihm waren. Wo ist es?«<br />
<strong>Der</strong> Mann erklärte es und fuchtelte dabei so aufgeregt mit<br />
den Händen herum, daß Lyra schon fürchtete, er könnte aus<br />
Versehen sein Gewehr abfeuern. Doch sobald er zu Ende<br />
gesprochen hatte, hastete er ins Haus zurück und warf die Tür<br />
hinter sich zu. Lyra sah jetzt hinter jedem Fenster Gesichter.<br />
»Wo ist das Kind?« fragte sie.<br />
»Im Fischerhaus«, antwortete der Bär. Er drehte sich um und<br />
trottete zur Bootsanlegestelle hinunter.<br />
Lyra folgte ihm. Sie war schrecklich aufgeregt. <strong>Der</strong> Bär lief<br />
auf einen schmalen Holzschuppen zu, hob schnüffelnd den<br />
Kopf und wandte ihn hierhin und dorthin. An der Tür blieb er<br />
stehen und sagte: »Hier drin.«<br />
Lyras Herz hämmerte wie verrückt, und sie konnte kaum<br />
atmen. Sie hob die Hand und wollte an die Tür klopfen, doch<br />
dann merkte sie, wie lächerlich das war. Also holte sie tief Luft,<br />
um zu rufen. Aber was sollte sie denn rufen? Wie dunkel es<br />
jetzt war! Hätte sie doch bloß eine Laterne mitgenommen!<br />
Aber sie hatte keine Wahl, und außerdem wollte sie nicht,<br />
daß der Bär ihre Angst bemerkte. Hatte er nicht gesagt, er<br />
würde seine Angst meistern? Genau das mußte sie jetzt auch<br />
tun. Sie hob die Schlaufe aus Rentierleder, die den Riegel festhielt,<br />
und rüttelte an dem Eis, das die Tür blockierte. Mit einem<br />
Krachen sprang die Tür auf. Jetzt mußte sie nur noch mit den<br />
Füßen den Schnee an der Türschwelle aus dem Weg räumen,<br />
damit sie die Tür weiter aufziehen konnte; Pantalaimon, der als<br />
Hermelin wie ein weißer Schatten auf dem weißen Boden vorund<br />
zurücklief und vor lauter Angst piepsige Töne ausstieß, war<br />
dabei keine große Hilfe.<br />
»Pan, um Gottes willen!« sagte sie. »Sei eine Fledermaus. Geh<br />
rein und sieh für mich nach…«<br />
Aber er wollte nicht, und er wollte auch nicht sprechen. Nur<br />
239
ein einziges Mal hatte sie ihn bisher so erlebt, und zwar damals,<br />
als sie und Roger in der Krypta von Jordan College die Münzen<br />
der Dæmonen in die falschen Schädel gelegt hatten. Pantalaimon<br />
hatte sogar noch mehr Angst als sie. Und was Iorek Byrnison<br />
betraf, der lag in der Nähe im Schnee und sah ihnen schweigend<br />
zu.<br />
»Komm raus!« rief Lyra, so laut sie es wagte. »Komm raus!«<br />
Kein Ton war zu hören. Sie zog die Tür etwas weiter auf. Da<br />
sprang Pantalaimon als Katze in ihre Arme, trommelte wild mit<br />
seinen Pfoten gegen ihre Brust und rief: »Geh weg! Bleib nicht<br />
hier! Bitte, Lyra, geh doch endlich! Schnell!«<br />
Während sie versuchte, den zappelnden Pantalaimon festzuhalten,<br />
merkte sie, daß Iorek Byrnison sich erhob. Sie drehte<br />
sich um und sah eine Gestalt mit einer Laterne den Weg vom<br />
Dorf heruntereilen. Als die Gestalt sich ihnen auf Hörweite<br />
genähert hatte, hob sie die Laterne, damit sie ihr Gesicht erkennen<br />
konnten: Es war ein alter Mann mit einem breiten, runzligen<br />
Gesicht und Augen, die fast völlig in den unzähligen Falten<br />
verschwanden. Sein Dæmon war ein Polarfuchs.<br />
Er sagte etwas, und Iorek Byrnison übersetzte: »Er behauptet,<br />
dies sei nicht das einzige Kind dieser Art. Im Wald hat er noch<br />
mehr gesehen. Manchmal sterben sie nach kurzer Zeit, manchmal<br />
leben sie weiter. Dieses hier sei zäh, sagt er. Aber für das<br />
Kind selbst wäre es besser, wenn es sterben würde.«<br />
»Frage ihn, ob er mir seine Laterne leiht«, sagte Lyra.<br />
<strong>Der</strong> Bär sagte ein paar Worte, und sofort gab der Mann ihr<br />
unter eifrigem Nicken die Laterne. Lyra merkte, daß er vom<br />
Dorf heruntergekommen war, um ihr die Lampe zu bringen.<br />
Sie dankte ihm, und wieder nickte er und trat dann ein Stück<br />
zurück, weg von ihr, der Hütte und dem Bären.<br />
Plötzlich durchzuckte Lyra ein Gedanke: Wenn nun Roger<br />
das Kind war? Inständig betete sie, daß er es nicht sein möge.<br />
Pantalaimon, der wieder ein Hermelin war, klammerte sich an<br />
240
sie, die kleinen Krallen tief in ihren Anorak gebohrt. Sie hielt<br />
die Laterne hoch und machte einen Schritt in den Schuppen.<br />
Und dann sah sie, was die Oblations-Behörde tat und worin das<br />
Opfer bestand, das die Kinder bringen mußten.<br />
Ein kleiner Junge saß zusammengekauert an dem hölzernen<br />
Trockenregal, in dem in Reihen übereinander ausgenommene<br />
Fische hingen, steif gefroren wie Bretter. Er preßte ein Stück<br />
Fisch an seine Brust, so wie Lyra mit beiden Händen Pantalaimon<br />
umklammert hielt, ganz fest an ihr Herz gedrückt. Das<br />
Stück getrockneter Fisch war alles, was er besaß, denn er hatte<br />
keinen Dæmon mehr! Die Gobbler hatten ihn abgeschnitten!<br />
Das also bedeutete Interzision. <strong>Der</strong> Junge war ein abgeschnittenes<br />
Kind.<br />
241
Dreizehn<br />
<strong>Der</strong> Fechtkampf<br />
Fast hätte Lyra auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre weggerannt,<br />
oder sie hätte sich übergeben. Ein Mensch ohne Dæmon<br />
— das war wie jemand ohne Gesicht oder mit offenem Brustkorb<br />
und herausgerissenem Herzen: Etwas so Abartiges und<br />
Unheimliches gehörte in die nächtliche Welt der Spukgeschichten,<br />
aber nicht in die taghelle Welt der Vernunft.<br />
Lyra klammerte sich an Pantalaimon. Ihr wurde schwindlig<br />
und schlecht, und der kalte Schweiß, in den ihr Körper gebadet<br />
war, ließ sie in der Kälte der Nacht noch stärker frösteln.<br />
»Ratter«, sagte der Junge. »Habt ihr Ratter gefunden?«<br />
Lyra wußte genau, was er meinte.<br />
»Nein«, sagte sie mit einer Stimme, die genauso schwach und<br />
ängstlich klang, wie sie sich fühlte. »Wie heißt du?«<br />
»Tony Makarios«, antwortete er. »Wo ist Ratter?«<br />
»Ich weiß nicht…«, begann Lyra und schluckte heftig, um<br />
den Brechreiz zu unterdrücken. »Die Gobbler…« Aber sie<br />
konnte nicht weitersprechen. Sie mußte den Schuppen verlassen<br />
und sich draußen allein in den Schnee setzen. Nur daß sie<br />
natürlich nicht allein war, sie war nie allein, denn Pantalaimon<br />
war ja immer bei ihr. Von ihm abgeschnitten zu sein wie dieser<br />
kleine Junge, der für immer von seinem Ratter getrennt war,<br />
war das Grauenhafteste auf der Welt! Sie hörte sich schluchzen,<br />
242
und auch Pantalaimon wimmerte, und beide empfanden heftiges<br />
Mitleid und tiefe Trauer für den halben Jungen.<br />
Dann stand sie wieder auf.<br />
»Komm«, rief sie mit zitternder Stimme. »Komm raus, Tony.<br />
Wir bringen dich in Sicherheit.«<br />
Man hörte, wie sich im Fischerhaus etwas bewegte, dann<br />
erschien der Junge in der Tür, in der Hand noch immer den<br />
getrockneten Fisch. Er war zwar warm genug angezogen, aber<br />
sein dick wattierter Anorak aus Kohleseide und die Pelzstiefel<br />
sahen gebraucht aus und waren ihm zu groß. Im Freien, wo es<br />
aufgrund der letzten, blassen Schleier der Aurora und des<br />
schneebedeckten Bodens heller war, wirkte er noch verlorener<br />
und erbarmungswürdiger als zuvor im Laternenschein an den<br />
Fischregalen kauernd.<br />
<strong>Der</strong> Dörfler, der die Laterne gebracht hatte, war ein paar<br />
Schritte zurückgewichen und rief ihnen etwas zu.<br />
»Er sagt, du mußt den Fisch bezahlen«, übersetzte Iorek<br />
Byrnison.<br />
Am liebsten hätte Lyra dem Bären befohlen, den Mann zu<br />
töten, aber sie sagte nur: »Immerhin haben sie es uns zu verdanken,<br />
daß sie das Kind los sind. Dafür können sie ja wohl einen<br />
Fisch opfern.«<br />
<strong>Der</strong> Bär sprach mit dem Mann, woraufhin dieser zwar<br />
murrte, aber nicht widersprach. Lyra stellte die Laterne in den<br />
Schnee, nahm den abgeschnittenen Jungen an die Hand und<br />
führte ihn zum Bären. Tony folgte ihr unbeholfen, zeigte aber<br />
weder Erstaunen noch Angst beim Anblick des großen weißen<br />
Tieres, das so dicht vor ihnen stand, und als Lyra ihm auf Ioreks<br />
Rücken half, sagte er nur: »Ich weiß nicht, wo Ratter ist.«<br />
»Wir wissen es auch nicht, Tony«, sagte Lyra. »Aber wir werden…<br />
wir werden die Gobbler bestrafen. Das tun wir, ich verspreche<br />
es dir. Iorek, kann ich auch aufsteigen, oder sind wir dir<br />
dann zu schwer?«<br />
243
»Meine Rüstung wiegt viel mehr als zwei Kinder«, sagte<br />
Iorek.<br />
Daraufhin kletterte Lyra hinter Tony auf Ioreks Rücken und<br />
forderte Tony auf, sich an dem langen, steifen Fell festzuhalten.<br />
Pantalaimon kuschelte sich in ihrer warmen Kapuze an sie; er<br />
war voller Mitleid. Lyra wußte, er hätte am liebsten die Pfoten<br />
ausgestreckt und das kleine halbe Kind umarmt, es abgeleckt,<br />
liebkost und gewärmt, wie der Dæmon des Kindes es getan<br />
hätte, aber das war natürlich undenkbar und tabu, und er tat es<br />
nicht.<br />
Sie ritten durch das Dorf auf den Bergkamm zu, über den sie<br />
gekommen waren, und auf den Gesichtern der Dorfbewohner<br />
spiegelten sich Horror und ängstliche Erleichterung, als sie<br />
sahen, wie dieses grauenhaft verstümmelte Wesen von einem<br />
kleinen Mädchen und einem großen weißen Bären fortgebracht<br />
wurde.<br />
In Lyras Herzen kämpften Abscheu und Mitgefühl, doch das<br />
Mitgefühl siegte schließlich, und sie legte beschützend die<br />
Arme um Tonys schmächtige Gestalt. <strong>Der</strong> Rückweg zu den<br />
anderen war kälter, anstrengender und dunkler als der Hinweg,<br />
obwohl er Lyra wegen der vielen Dinge, die sie bewegten, kürzer<br />
vorkam. Iorek Byrnison zeigte keine Müdigkeit, und Lyra<br />
ging inzwischen so automatisch mit seinen Bewegungen mit,<br />
daß sie keine Gefahr lief herunterzufallen. Allerdings war es<br />
nicht ganz einfach, den kalten Körper in ihren Armen festzuhalten,<br />
denn er war zwar leicht, saß aber stocksteif vor ihr, ohne<br />
sich den Bewegungen des Bären anzupassen.<br />
Von Zeit zu Zeit murmelte er etwas.<br />
»Was hast du gesagt?« fragte Lyra.<br />
»Ich habe gefragt, ob er weiß, wo ich bin.«<br />
»Ja, ganz bestimmt. Er wird dich schon finden, und sonst finden<br />
wir ihn. Halt dich jetzt gut fest, Tony, es ist nicht mehr<br />
weit…«<br />
244
Mit großen Sprüngen jagte der Bär durch die Nacht. Erst als<br />
sie die Gypter eingeholt hatten, merkte Lyra, wie müde sie war.<br />
Die Schlitten hatten angehalten, damit die Hunde sich ausruhen<br />
konnten, und plötzlich waren die beiden Kinder umringt<br />
von Farder Coram, Lord Faa, Lee Scoresby und den anderen;<br />
alle kamen herbeigestürzt, um zu helfen, doch kaum hatten sie<br />
die Gestalt neben Lyra erblickt, wichen sie zurück und verstummten.<br />
Lyra war so steif, daß sie nicht einmal mehr die<br />
Arme vom Körper des Jungen lösen konnte; John Faa mußte sie<br />
sanft öffnen und Lyra herunterheben.<br />
»Du meine Güte, was ist das denn?« fragte er. »Lyra, Kind,<br />
was hast du da bloß gefunden?«<br />
»Er heißt Tony«, murmelte sie mit vor Kälte gefühllosen Lippen.<br />
»Sie haben seinen Dæmon abgeschnitten. Das waren die<br />
Gobbler.«<br />
Die Männer blieben ängstlich im Hintergrund stehen, aber<br />
da ergriff zum Staunen der erschöpften Lyra der Bär das Wort.<br />
»Schämt euch!« sagte er. »Seht, was dieses Mädchen getan<br />
hat! Ihr solltet euch schämen, wenn ihr nicht wenigstens so viel<br />
Mut habt wie sie.«<br />
»Du hast recht, Iorek Byrnison«, sagte John Faa. Dann befahl<br />
er: »Facht das Feuer wieder an, und wärmt etwas Suppe für das<br />
Kind auf. Für beide Kinder. Farder Coram, ist Euer Zelt aufgebaut?«<br />
»Ja, John. Bring das Mädchen rüber, bei mir kann sie sich aufwärmen…«<br />
»Und der kleine Junge«, sagte jemand, »er soll auch etwas<br />
essen und sich wärmen, obwohl…«<br />
Lyra wollte John Faa von den Hexen erzählen, aber alle<br />
waren so beschäftigt, und sie war todmüde. In dem ganzen<br />
Durcheinander aus leuchtenden Laternen, Rauchschwaden<br />
und hin und her eilenden Gestalten mußte sie wohl eingenickt<br />
sein, denn plötzlich spürte sie, wie Pantalaimons Hermelin<br />
245
zähne sanft an ihrem Ohr knabberten, und als sie die Augen<br />
öffnete, sah sie in das Gesicht des Bären wenige Zentimeter vor<br />
sich.<br />
»Die Hexen«, flüsterte Pantalaimon. »Ich habe Iorek gerufen.«<br />
»Ach ja«, murmelte sie schlaftrunken. »Vielen Dank, Iorek,<br />
daß du mich hingebracht hast und wieder zurück. Vielleicht<br />
vergesse ich, Lord Faa von den Hexen zu erzählen. Sag du es ihm<br />
lieber.«<br />
Sie hörte noch, wie der Bär zustimmte, dann schlief sie fest<br />
ein.<br />
Als sie aufwachte, war es bereits so hell, wie es in diesen Breiten<br />
überhaupt werden konnte. Im Südosten war der Himmel fahl,<br />
und die Luft war von grauem Nebel erfüllt, durch den die Gypter<br />
wie unförmige Geister huschten, während sie die Schlitten<br />
beluden und die Hunde anschirrten.<br />
Lyra lag unter einem Haufen Felle in Farder Corams Zelt,<br />
von wo aus sie alles beobachten konnte. Pantalaimon war schon<br />
hellwach und probierte gerade die Gestalt eines Polarfuchses<br />
aus, besann sich dann aber doch wieder auf sein Lieblingstier,<br />
das Hermelin.<br />
Iorek Byrnison schlief im Schnee neben dem Schlitten, den<br />
Kopf auf seine mächtigen Tatzen gelegt. Farder Coram war<br />
jedoch bereits auf den Beinen, und kaum sah er Pantalaimon<br />
auftauchen, kam er angehumpelt, um Lyra zu wecken.<br />
Als sie ihn kommen sah, setzte sie sich auf und sagte: »Farder<br />
Coram, jetzt weiß ich, was ich gestern nicht verstehen konnte!<br />
Das Alethiometer hat doch dauernd Vogel und nicht gesagt, und<br />
ich habe nicht kapiert, warum. Aber natürlich sollte das kein<br />
Dæmon heißen, ich konnte mir das nur nicht vorstellen… Was<br />
ist denn?«<br />
»Lyra, es tut mir leid, daß ich dir das nach allem, was du getan<br />
246
hast, sagen muß, aber der kleine Junge ist vor einer Stunde<br />
gestorben. Er blieb nirgendwo sitzen, sondern lief die ganze<br />
Zeit ruhelos umher und fragte nach seinem Dæmon, wo er<br />
wäre, ob er bald käme und so weiter. Und die ganze Zeit hielt er<br />
diesen gedörrten Fisch umklammert, als ob… Ach, Kind, ich<br />
kann es nicht aussprechen. Aber zuletzt machte er einfach die<br />
Augen zu und wurde ganz ruhig, und da sah er zum ersten Mal<br />
friedlich aus, wie jeder andere Tote, dessen Dæmon sich auf<br />
natürlichem Wege aufgelöst hat. Wir haben versucht, ein Grab<br />
für ihn zu schaufeln, aber der Boden ist steinhart. Deshalb hat<br />
John Faa befohlen, ein Feuer anzuzünden. Er soll wegen der<br />
Aasfresser verbrannt werden.<br />
Du warst tapfer, Kind, und hast ein gutes Werk getan, ich bin<br />
stolz auf dich. Jetzt wissen wir, zu welcher Niedertracht diese<br />
Menschen fähig sind, und sehen klarer denn je, was wir tun<br />
müssen. Du mußt dich ausruhen und etwas essen, denn gestern<br />
nacht bist du sofort eingeschlafen, und bei diesen Temperaturen<br />
mußt du essen, damit du nicht krank wirst…«<br />
Er machte sich in ihrer Nähe zu schaffen, zog die Felle<br />
zurecht, straffte die Schnüre, mit denen die Ladung auf dem<br />
Schlitten befestigt war, und ließ die Hundeleinen durch seine<br />
Hände laufen, um sie zu entwirren.<br />
»Farder Coram, wo ist der kleine Junge jetzt? Haben sie ihn<br />
schon verbrannt?«<br />
»Nein, Lyra, er liegt dort hinten.«<br />
»Ich möchte zu ihm gehen und ihn sehen.«<br />
Das konnte er ihr nicht verwehren, denn sie hatte schon<br />
schlimmere Dinge als einen Toten gesehen, und vielleicht<br />
beruhigte es sie ja auch. Lyra stapfte also mit Pantalaimon, der<br />
als Schneehase zaghaft neben ihr herhoppelte, an den Schlitten<br />
vorbei auf eine Stelle zu, an der ein paar Männer Reisig aufhäuften.<br />
Die Leiche des Jungen lag am Wegrand unter einer karierten<br />
247
Decke. Lyra kniete nieder und hob die Decke mit ihren Fäustlingen<br />
hoch. Einer der Männer wollte sie daran hindern, aber<br />
die anderen schüttelten die Köpfe. Pantalaimon drängte sich<br />
ganz dicht an Lyra, während sie auf das ausgemergelte Gesicht<br />
hinabsah. Lyra zog die Hand aus dem Handschuh und strich<br />
über die Augen des Jungen. Sie waren kalt wie Marmor. Farder<br />
Coram hatte recht gehabt; der arme kleine Tony Makarios<br />
unterschied sich jetzt nicht mehr von Menschen, die zusammen<br />
mit ihren Dæmonen gestorben waren. Wenn ihr jemals Pantalaimon<br />
weggenommen würde! Sie nahm ihn in die Arme und<br />
preßte ihn an sich, als wollte sie ihn in ihr Herz hineindrücken.<br />
Und alles, was der kleine Tony besaß, war dieses jämmerliche<br />
Stück Fisch…<br />
Wo war es?<br />
Sie zog die Decke fort. Es war verschwunden.<br />
Sie sprang auf die Beine und funkelte wütend die umstehenden<br />
Männer an.<br />
»Wo ist sein Fisch?«<br />
Die Männer hielten verwirrt mir ihrer Arbeit inne, unsicher,<br />
was Lyra meinte; einige ihrer Dæmonen verstanden jedoch und<br />
warfen sich vielsagende Blicke zu. Dann begann einer der Männer<br />
unsicher zu grinsen.<br />
»Lacht bloß nicht«, fauchte Lyra. »Ich reiße euch bei lebendigem<br />
Leib die Lungen heraus, wenn ihr lacht! Er hatte nur diesen<br />
alten, getrockneten Fisch zum Liebhaben und Trösten —<br />
statt seines Dæmons! Wer hat ihm den Fisch weggenommen?<br />
Wo ist er?«<br />
Sie merkte nicht, daß sich Pantalaimon in einen fauchenden<br />
Schneeleoparden verwandelt hatte und aussah wie der Dæmon<br />
von Lord Asriel; für sie gab es nur noch Recht und Unrecht.<br />
»Immer sachte, Lyra«, sagte einer der Männer.<br />
»Wer hat ihn weggenommen?« brauste sie wieder auf, so<br />
zornig, daß der Gypter vor Schreck einen Schritt zurückwich.<br />
248
»Ich wußte das nicht«, sagte ein anderer Mann bedauernd.<br />
»Ich dachte, er hätte ihn nur zum Essen dabeigehabt. Ich habe<br />
ihn aus seiner Hand genommen, weil ich dachte, es gehöre sich<br />
bei einem Toten so. Nur deshalb, Lyra.«<br />
»Und wo ist er?«<br />
Dem Mann war sichtlich unbehaglich zumute. »Ich hatte<br />
doch keine Ahnung, wozu er ihn brauchte. Ich habe ihn meinen<br />
Hunden gegeben. Ich bitte dich vielmals um Entschuldigung.«<br />
»Da mußt du schon ihn bitten, nicht mich«, sagte Lyra kurz<br />
und wandte sich ab. Sie kniete wieder nieder und legte ihre<br />
Hand auf die eisige Wange des toten Kindes.<br />
Dann kam ihr eine Idee, und sie durchwühlte ihre Pelze. Als<br />
sie den Anorak aufmachte, spürte sie die schneidende Kälte,<br />
aber sie hatte schnell gefunden, was sie suchte. Sie nahm eine<br />
Goldmünze aus ihrem Portemonnaie, dann mummte sie sich<br />
rasch wieder ein.<br />
»Ich hätte gern dein Messer«, sagte sie zu dem Mann, der den<br />
Fisch genommen hatte, und als er es ihr gab, fragte sie Pantalaimon:<br />
»Wie hieß er noch mal?«<br />
Pantalaimon verstand sofort und sagte: »Ratter.«<br />
Lyra hielt die Münze mit der linken, in einem dicken Fäustling<br />
steckenden Hand fest, packte das Messer wie einen Stift<br />
und ritzte den Namen des verlorenen Dæmons in das Gold.<br />
»So wird es bei den Wissenschaftlern von Jordan gemacht,<br />
hoffentlich ist es auch bei dir richtig«, flüsterte sie dem toten<br />
Jungen zu. Sie stemmte seine Zähne auseinander, um ihm die<br />
Münze in den Mund zu schieben. Es war schwer, aber sie<br />
schaffte es und drückte die Kiefer anschließend wieder zusammen.<br />
Dann gab sie dem Mann das Messer zurück, drehte sich um<br />
und ging im Morgenlicht zu Farder Coram zurück.<br />
Farder Coram nahm einen Becher mit Suppe vom Feuer und<br />
reichte ihn Lyra; gierig schlürfte sie die heiße Flüssigkeit.<br />
249
»Was ist mit den Hexen, Farder Coram?« fragte sie. »Ob Ihre<br />
Hexe wohl auch dabei war?«<br />
»Meine Hexe? Soweit würde ich nicht gehen, Lyra. Wer weiß,<br />
wohin sie fliegen. Im Leben von Hexen spielen die unterschiedlichsten<br />
Dinge eine Rolle, Dinge, die für uns unsichtbar sind,<br />
geheimnisvolle Krankheiten, denen sie zum Opfer fallen, über<br />
die wir aber nur mit den Achseln zucken, Kriege, deren Ursachen<br />
wir nicht annähernd verstehen, Freude und Trauer, die<br />
mit der Blüte Heiner Pflanzen in der Tundra zusammenhängen…<br />
Ach, ich wünschte, ich hätte die Hexen fliegen sehen,<br />
Lyra. Wie hätte ich diesen Anblick genossen. Jetzt trink deine<br />
Suppe leer. Willst du noch mehr? Es gibt auch noch Pfannkuchen.<br />
Iß, Kind, denn wir brechen bald auf.«<br />
Die Mahlzeit weckte Lyras Lebensgeister, und bald begann<br />
auch das Eis auf ihrer Seele zu tauen. Zusammen mit den anderen<br />
ging sie zum Scheiterhaufen, auf dem das abgeschnittene<br />
Kind lag. Bei John Faas Gebeten senkte sie den Kopf und schloß<br />
die Augen. Anschließend besprengten die Männer den Scheiterhaufen<br />
mit Kohlenspiritus und hielten brennende Streichhölzern<br />
daran. Sofort loderten die Flammen auf.<br />
Sobald sie sicher waren, daß der Junge völlig verbrannt war,<br />
machten sie sich wieder auf den Weg. Es war eine gespenstische<br />
Reise. Nach kurzer Zeit begann es zu schneien, und bald<br />
bestand die Welt nur noch aus den grauen Schatten der vorauslaufenden<br />
Hunde, dem Schlingern und Knarren der Schlitten,<br />
der beißenden Kälte und einem Meer durcheinanderwirbelnder<br />
Flocken, die kaum dunkler waren als der Himmel und<br />
kaum heller als der Boden.<br />
Mit erhobenen Schwänzen und dampfenden Atemwolken<br />
vor den Schnauzen rannten die Hunde unermüdlich weiter<br />
durch das Schneegestöber in Richtung Norden. Die fahle Mittagsstunde<br />
kam und ging, und dann versank die Welt wieder in<br />
der Dämmerung. In einer Mulde zwischen den Bergen mach<br />
250
ten sie Rast, um zu essen, zu trinken, auszuruhen und sich zu<br />
orientieren. Während John Faa mit Lee Scoresby besprach, wie<br />
man den Ballon am sinnvollsten einsetzen konnte, fiel Lyra der<br />
fliegende Spion ein, und sie erkundigte sich bei Farder Coram<br />
nach der Tabakdose, in der er die Kreatur eingesperrt hatte.<br />
»Ich habe sie gut verstaut«, sagte er. »Sie ist ganz unten in diesem<br />
Seesack, aber da gibt es überhaupt nichts zu sehen, denn<br />
noch an Bord des Schiffes habe ich den Deckel verlötet, wie ich<br />
es ja angekündigt hatte. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung,<br />
was wir mit dem Spion machen sollen; vielleicht können wir<br />
ihn in eine Feuermine werfen und ihn so loswerden. Aber du<br />
brauchst dir keine Sorgen zu machen, Lyra. Solange ich die<br />
Dose habe, kann dir nichts passieren.«<br />
Bei der ersten Gelegenheit steckte Lyra den Arm tief in den<br />
Seesack aus steifgefrorenem Leinen und holte die kleine Dose<br />
heraus. Sie spürte das Summen, noch ehe sie es hörte.<br />
Während Farder Coram sich mit den anderen Anführern<br />
besprach, brachte sie die Dose zu Iorek Byrnison und erklärte<br />
ihm ihren Plan. Die Idee war ihr gekommen, als ihr einfiel, wie<br />
mühelos der Bär das Blech der Motorverkleidung zerschnitten<br />
hatte.<br />
Iorek hörte sie an, nahm dann den Deckel einer Keksdose<br />
und verbog ihn geschickt zu einem kleinen, flachen Zylinder.<br />
Sie staunte über seine Fingerfertigkeit; anders als die meisten<br />
Bären hatten er und seine Artgenossen den anderen Klauen<br />
entgegengesetzte Daumenklauen, mit denen sie Gegenstände<br />
festhalten und bearbeiten konnten; außerdem besaß er ein<br />
angeborenes Gespür für die Härte und Biegsamkeit von Metall.<br />
Er brauchte das Blech nur ein- oder zweimal hochzunehmen<br />
und ein paarmal hin- und herzubiegen, dann kerbte er mit der<br />
Klaue einen Kreis ein, um es an dieser Stelle zu falzen. Er<br />
knickte die Enden so oft, bis sie zu einem Rand umgebogen<br />
waren, und fertigte anschließend noch einen Deckel an, der<br />
251
genau daraufpaßte. Auf Lyras Bitte hin machte er zwei Dosen:<br />
eine von der Größe der ursprünglichen Tabakdose und eine, die<br />
so groß war, daß die andere Dose hineinpaßte und außerdem<br />
noch Fell, Moos und Flechten, um den Lärm zu ersticken. Als<br />
die Dose verschlossen war, hatte sie die gleiche Größe und Form<br />
wie das Alethiometer.<br />
Als das erledigt war, setzte sich Lyra neben Iorek Byrnison,<br />
der an einer steinhart gefrorenen Rentierkeule zu nagen<br />
begann.<br />
»Iorek«, sagte sie, »ist es eigentlich schwer, keinen Dæmon zu<br />
haben? Bist du nicht manchmal einsam?«<br />
»Einsam?« fragte er. »Ich weiß nicht. Die Leute sagen auch,<br />
hier sei es kalt, aber ich weiß nicht, was Kälte ist, denn ich friere<br />
nie. Genausowenig weiß ich, was Einsamkeit bedeutet. Bären<br />
sind nun mal allein.«<br />
»Und die Bären von Svalbard?« fragte sie. »Es gibt doch Tausende<br />
von ihnen, oder? Jedenfalls habe ich das gehört.«<br />
Iorek antwortete nicht, sondern riß mit einem splitternden<br />
Geräusch, als breche ein Baum auseinander, das Gelenk auseinander.<br />
»Entschuldige, Iorek«, sagte Lyra. »Hoffentlich bist du jetzt<br />
nicht beleidigt. Weißt du, ich will einfach wegen meines Vaters<br />
soviel wie möglich über die Bären von Svalbard wissen.«<br />
»Wer ist dein Vater?«<br />
»Lord Asriel. Und er ist doch auf Svalbard gefangen. Ich<br />
glaub, die Gobbler haben ihn verraten und den Bären Geld<br />
gegeben, damit sie ihn bewachen.«<br />
»Das weiß ich nicht. Ich gehöre nicht zu den Bären von Svalbard.«<br />
»Ich dachte, du wärst einer…«<br />
»Nein. Ich habe zu ihnen gehört, aber jetzt nicht mehr. Ich<br />
wurde verbannt, weil ich einen anderen Bären getötet habe. Zur<br />
Strafe wurden mir mein Rang, mein Vermögen und meine<br />
252
Rüstung weggenommen, und ich wurde dazu verurteilt, am<br />
Rande der menschlichen Welt zu leben. Ich kämpfe, wenn mich<br />
jemand braucht, oder verrichte grobe Arbeiten und ertränke<br />
meine Erinnerungen in Schnaps.«<br />
»Warum hast du einen Bären umgebracht?«<br />
»Aus Zorn. Eigentlich legen wir Bären Auseinandersetzungen<br />
anders bei, aber ich habe die Beherrschung verloren. Deshalb<br />
habe ich ihn getötet und bin zu Recht bestraft worden.«<br />
»Du warst also reich und mächtig«, sagte Lyra staunend.<br />
»Genau wie mein Vater, Iorek! Ihm ist nämlich nach meiner<br />
Geburt dasselbe passiert. Er hat auch jemanden getötet, und<br />
deshalb hat man ihm sein ganzes Vermögen weggenommen.<br />
Das war allerdings lange bevor er Gefangener auf Svalbard<br />
wurde. Ich weiß überhaupt nichts über Svalbard, außer, daß es<br />
im äußersten Norden liegt… Ist es eigentlich ganz von Eis<br />
bedeckt? Wie kommt man dahin? Über das zugefrorene<br />
Meer?«<br />
»Nicht von dieser Küste aus, denn im Süden ist das Meer nur<br />
manchmal zugefroren. Man brauchte auf jeden Fall ein Boot.«<br />
»Oder vielleicht einen Ballon.«<br />
»Oder einen Ballon, ja, aber dazu braucht man den richtigen<br />
Wind.«<br />
Er nagte weiter an der Rentierkeule, und Lyra, die wieder an<br />
die Hexen am nächtlichen Himmel denken mußte, hatte eine<br />
kühne Idee, aber sie sagte lieber nichts davon. Statt dessen fragte<br />
sie Iorek Byrnison über Svalbard aus und lauschte gespannt, als<br />
er ihr von den sich langsam vorwärts schiebenden Gletschern<br />
erzählte, von Felsen und Eisschollen, auf denen Hunderte von<br />
Walrossen mit ihren großen Hauern lagen, vom Meer, das vor<br />
Seehunden wimmelte, von Narwalen, die mit langen weißen<br />
Stoßzähnen durch die eisige Wasseroberfläche stachen, von der<br />
langen, zerklüfteten Küste und den über tausend Fuß hohen<br />
Klippen, auf denen die abscheulichen Klippenalpe hausten, die<br />
253
ab und zu auf Beutesuche zum Wasser herunterstießen, und<br />
von Kohlegruben und Feuerminen, in denen Bärenschmiede<br />
gewaltige Eisenplatten aus den Felsen hämmerten und zu<br />
Rüstungen vernieteten…<br />
»Aber wenn sie dir deine Rüstung weggenommen haben,<br />
Iorek, woher hast du denn dann diese?«<br />
»Die habe ich mit eigenen Händen in Nowaja Semlja aus<br />
Himmelseisen gemacht. Davor war ich nur ein halber Bär.«<br />
»Also können sich Bären ihre Seele selbst machen…«, sagte<br />
Lyra. Es gab so vieles auf der Welt, wovon sie nichts wußte!<br />
»Wer ist der König von Svalbard?« fragte sie. »Oder haben<br />
Bären keinen König?«<br />
»Er heißt Iofur Raknison.«<br />
<strong>Der</strong> Name löste in Lyras Kopf ein schwaches Echo aus. Wo<br />
hatte sie ihn schon einmal gehört? Jedenfalls weder aus dem<br />
Munde eines Bären noch aus dem eines Gypters. Die Stimme,<br />
die ihn ausgesprochen hatte, war die eines Wissenschaftlers<br />
gewesen, präzise, pedantisch und überheblich; eigentlich<br />
konnte es nur eine Stimme aus Jordan College sein. Lyra versuchte,<br />
sich zu erinnern. Es lag ihr auf der Zunge!<br />
Und dann fiel es ihr ein: das Ruhezimmer! Die Wissenschaftler<br />
hatten Lord Asriel zugehört, und der Palmer-Professor<br />
hatte etwas von Iofur Raknison erzählt. Er hatte das Wort<br />
Panserbjørne gebraucht, das Lyra damals noch nicht kannte, und<br />
sie hatte auch nicht gewußt, daß Iofur Raknison ein Bär war.<br />
Aber was hatte er bloß gesagt? Daß der König von Svalbard eitel<br />
war und man ihm schmeicheln konnte. Aber da war noch etwas<br />
anderes gewesen, wenn sie sich bloß erinnern könnte, aber seitdem<br />
war ja so viel geschehen…<br />
»Wenn dein Vater ein Gefangener der Bären von Svalbard<br />
ist«, sagte Iorek Byrnison, »hat er keine Chance zu entkommen.<br />
Auf Svalbard gibt es kein Holz, um ein Boot zu bauen. Andererseits,<br />
wenn er ein Adliger ist, wird er auch gut behandelt. Dann<br />
254
ekommt er ein Haus und einen Diener und genügend Essen<br />
und Brennstoff.«<br />
»Kann man die Bären denn überhaupt besiegen, Iorek?«<br />
»Nein.«<br />
»Aber vielleicht überlisten?«<br />
Er hörte auf, am Knochen zu nagen, und sah sie an. Dann<br />
sagte er: »Man kann Panzerbären nicht besiegen. Meine<br />
Rüstung kennst du ja schon, aber nun schau dir mal meine<br />
Waffen an.«<br />
Er ließ das Fleisch fallen und streckte ihr seine Tatzen mit<br />
den Innenflächen nach oben entgegen. Die Ballen waren von<br />
einer mehrere Zentimeter dicken Hornhaut bedeckt, und jede<br />
der messerscharfen Klauen war so lang wie Lyras Hand oder<br />
länger. Iorek ließ Lyra staunend mit den Fingern darüberstreichen.<br />
»Ein Schlag reicht aus, um den Schädel eines Seehundes zu<br />
zertrümmern«, sagte er. »Oder einem Menschen das Rückgrat<br />
zu brechen oder ihm ein Glied auszureißen. Und beißen kann<br />
ich auch. Hättest du mich in Trollesund nicht zurückgehalten,<br />
hätte ich den Kopf des Mannes wie ein Ei zerquetscht. Soviel zu<br />
meiner Kraft, und jetzt zu den Tricks. Du kannst einen Bären<br />
nicht hereinlegen. Willst du den Beweis? Nimm einen Stock<br />
und fechte mit mir.«<br />
Begierig, es auszuprobieren, brach Lyra einen Zweig von<br />
einem dick verschneiten Busch ab, entfernte alle Triebe und<br />
ließ ihn probeweise wie einen Degen durch die Luft sausen.<br />
Iorek Byrnison setzte sich auf die Hinterbeine und wartete mit<br />
in den Schoß gelegten Vorderpfoten. Als Lyra fertig war, trat sie<br />
vor ihn, wollte aber nicht zustechen, weil er so friedlich dasaß.<br />
Sie fuchtelte also nur mit dem Zweig herum und täuschte<br />
Angriffe nach rechts und links vor, ohne Iorek wirklich treffen<br />
zu wollen. Er rührte sich nicht. Sie wiederholte ihre Manöver<br />
ein paarmal, aber er zuckte nicht einmal zusammen.<br />
255
Schließlich beschloß sie, ihm tatsächlich einen Stoß zu versetzen,<br />
aber nicht fest, sie wollte einfach nur mit dem Stock seinen<br />
Bauch anstupsen. Blitzschnell streckte er die Tatze aus und<br />
schlug den Stecken zur Seite.<br />
Überrascht versuchte sie es erneut — mit dem gleichen<br />
Ergebnis. Iorek bewegte sich viel schneller und sicherer als sie.<br />
Nun versuchte sie ihn ernsthaft zu treffen und schwang den<br />
Stock wie ein Florett, aber kein einziges Mal landete er auf seinem<br />
Körper. <strong>Der</strong> Bär schien im voraus zu wissen, was sie vorhatte:<br />
Wenn sie nach seinem Kopf stieß, fegte die große Tatze<br />
den Stock weg, und wenn sie nur einen Angriff vortäuschte,<br />
bewegte Iorek sich gar nicht erst.<br />
Erbittert stach, hieb, stieß und prügelte sie in einer wilden<br />
Attacke auf ihn ein, aber was sie auch anstellte, sie kam einfach<br />
nicht an seinen Tatzen vorbei. Sie schienen überall gleichzeitig<br />
zu sein, parierten jeden Stoß und schützten immer genau die<br />
richtige Stelle.<br />
Schließlich hielt sie eingeschüchtert inne. Sie schwitzte in<br />
ihren Pelzen, war außer Atem und erschöpft, und der Bär saß<br />
immer noch völlig ungerührt da. Selbst bei einem echten<br />
Schwert mit tödlicher Spitze hätte er keinen Kratzer abbekommen.<br />
»Ich wette, du könntest sogar Kugeln abfangen«, sagte sie<br />
und warf den Stock weg. »Wie schaffst du das bloß?«<br />
»Ich bin eben kein Mensch«, erwiderte Iorek. »Und deshalb<br />
könntest du auch nie einen Bären reinlegen. Tricks und Täuschungen<br />
sind für uns etwas so Sichtbares wie für andere Arme<br />
und Beine. Wir haben einen Blick, den die Menschen verlernt<br />
haben. Aber du kennst das ja, schließlich kannst du den Symboldeuter<br />
lesen.«<br />
»Das ist doch nicht dasselbe«, sagte Lyra. <strong>Der</strong> Bär flößte ihr<br />
jetzt mehr Angst ein als bei seinem Wutanfall.<br />
»Es ist dasselbe«, sagte er. »Soviel ich weiß, können Erwach<br />
256
sene ihn nicht lesen. Was ich für Menschen bin, die gegen mich<br />
kämpfen, bist du mit dem Alethiometer für Erwachsene.«<br />
»Vielleicht hast du recht«, gab sie verwirrt und widerstrebend<br />
zu. »Heißt das etwa, ich kann das Alethiometer nicht<br />
mehr lesen, wenn ich älter bin?«<br />
»Wer weiß. Ich habe nie zuvor ein solches Instrument gesehen,<br />
geschweige denn jemanden, der es hätte lesen können.<br />
Vielleicht bist du ja anders als die anderen.«<br />
Er ließ sich wieder auf alle viere fallen und setzte seine Mahlzeit<br />
fort. Lyra hatte ihre Pelze aufgemacht, doch jetzt spürte sie<br />
die schneidende Kälte und mußte sie wieder zumachen. Sie war<br />
zutiefst verunsichert und hätte am liebsten an Ort und Stelle<br />
das Alethiometer befragt, aber dazu war es zu kalt, außerdem<br />
riefen die anderen nach ihr, denn es war Zeit aufzubrechen. Sie<br />
nahm die beiden Dosen, die Iorek Byrnison gemacht hatte,<br />
stopfte die leere in Farder Corams Seesack und die mit dem<br />
fliegenden Spion zusammen mit dem Alethiometer in ihre<br />
Bauchtasche. Sie war froh, daß es weiterging.<br />
Die Anführer hatten mit Lee Scoresby ausgemacht, bei der<br />
nächsten Rast den Ballon aufzublasen, damit er die Gegend aus<br />
der Luft auskundschaften konnte. Natürlich brannte Lyra darauf,<br />
mit ihm zu fliegen, und natürlich durfte sie nicht, aber sie<br />
fuhr auf dem Weg zur nächsten Rast auf seinem Schlitten mit<br />
und löcherte ihn mit Fragen.<br />
»Mr. Scoresby, wie würden Sie nach Svalbard fliegen?«<br />
»Man brauchte ein Luftschiff mit Gasmotor, zum Beispiel<br />
einen Zeppelin, oder man brauchte einen kräftigen Südwind.<br />
Aber Teufel noch mal, ich würde es nicht wagen. Kennst du<br />
Svalbard? Es ist das trostloseste, ödeste, unwirtlichste und gottverlassenste<br />
Nirgendwo.«<br />
»Ich habe bloß überlegt, ob Iorek Byrnison vielleicht zurück<br />
will…«<br />
257
»Man würde ihn töten. Iorek ist verbannt. Sobald er einen<br />
Fuß auf die Insel setzt, würden die Bären ihn in Stücke reißen.«<br />
»Wie wird Ihr Ballon eigentlich aufgeblasen, Mr. Scoresby?«<br />
»Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich kann Wasserstoff herstellen,<br />
indem ich Schwefelsäure auf Eisenspäne gieße. Das dabei freigesetzte<br />
Gas fange ich auf und fülle damit nach und nach den<br />
Ballon. Für die andere Möglichkeit müßte man in der Nähe<br />
einer Feuermine eine Erdgasquelle finden. Unter dem Boden<br />
hier gibt es jede Menge Gas und außerdem Erdöl. Notfalls<br />
könnte ich Gas aus Erdöl oder Kohle gewinnen, das ist nicht<br />
schwer. Aber am schnellsten geht es mit Erdgas. Bei einem<br />
guten Loch könnte man den Ballon in einer Stunde füllen.«<br />
»Wie viele Leute können Sie mitnehmen?«<br />
»Sechs, wenn es sein muß.«<br />
»Könnten Sie Iorek Byrnison samt seiner Rüstung mitnehmen?«<br />
»Das habe ich schon getan. Ich hab ihn einmal vor den Tataren<br />
gerettet. Sie hatten ihm den Rückzug abgeschnitten und<br />
wollten ihn aushungern — das war während des Tunguska-<br />
Feldzuges; ich bin hingeflogen und hab ihn da rausgeholt. Das<br />
klingt jetzt einfach, aber Teufel noch mal, ich mußte das<br />
Gewicht des alten Burschen schätzen. Und dann mußte ich darauf<br />
hoffen, daß ich unter der Eisburg, die er sich gebaut hatte,<br />
Erdgas finden würde. Aber da ich aus der Luft die Art des<br />
Bodens erkennen konnte, war ich mir eigentlich ziemlich<br />
sicher. Immerhin, um zu landen, muß ich Gas aus dem Ballon<br />
ablassen, aufsteigen kann ich aber nur wieder, wenn ich neues<br />
nachfülle. Na ja, jedenfalls haben wir es geschafft, mit Rüstung<br />
und allem.«<br />
»Wissen Sie, daß die Tataren Löcher in die Köpfe von Menschen<br />
bohren, Mr. Scoresby?«<br />
»Ja, natürlich. Das machen sie seit Tausenden von Jahren. Im<br />
Tunguska-Feldzug haben wir fünf Tataren gefangengenom<br />
258
men, von denen drei ein Loch im Schädel hatten. Einer hatte<br />
sogar zwei.«<br />
»Sie bohren sich die Löcher gegenseitig in den Kopf?«<br />
»Allerdings. Zuerst schneiden sie einen Halbkreis in die<br />
Kopfhaut, damit sie einen Hautlappen hochklappen und den<br />
Knochen freilegen können. Dann schneiden sie ein kleines,<br />
kreisförmiges Stück Knochen aus dem Schädel, ganz vorsichtig,<br />
damit sie das Gehirn nicht beschädigen, und danach nähen sie<br />
die Kopfhaut wieder an.«<br />
»Ich dachte, sie tun das nur bei ihren Feinden!«<br />
»Teufel, nein! Das ist ein großes Privileg. Sie tun es, damit die<br />
Götter zu ihnen sprechen können.«<br />
»Haben Sie schon mal was von einem Forscher namens Stanislaus<br />
Grumman gehört?«<br />
»Grumman? Aber sicher. Ich traf einen aus seiner Mannschaft,<br />
als ich vor zwei Jahren über den Jenissei flog. Damals<br />
wollte er gerade zu den Tatarenstämmen da oben, um eine<br />
Weile bei ihnen zu leben. Ich glaube übrigens, er hatte auch ein<br />
solches Loch im Schädel, als Teil eines Initiationsritus. Aber der<br />
Mann, der mir davon erzählte, wußte nicht so genau Bescheid.«<br />
»Also… wenn er so was wie ein Ehrenbürger der Tataren war,<br />
hätten sie ihn doch bestimmt nicht getötet, oder?«<br />
»Wieso getötet? Ist er denn tot?«<br />
»Ja, ich habe seinen Kopf gesehen«, sagte Lyra stolz. »Mein<br />
Vater hat ihn gefunden. Ich habe ihn gesehen, als er ihn den<br />
Wissenschaftlern von Jordan College zeigte. Man hat ihn skalpiert<br />
und alles.«<br />
»Wer hat ihn skalpiert?«<br />
»Na ja, die Tataren. Das dachten jedenfalls die Wissenschaftler…<br />
Aber vielleicht stimmt es gar nicht.«<br />
»Vielleicht war es gar nicht der Kopf von Grumman«, sagte<br />
Lee Scoresby. »Vielleicht wollte dein Vater nur, daß die Wissenschaftler<br />
das glaubten.«<br />
259
»Könnte sein«, meinte Lyra nachdenklich. »Er wollte Geld<br />
von ihnen.«<br />
»Und gaben sie es ihm, als sie den Kopf sahen?«<br />
»Ja.«<br />
»Guter Trick. Die Leute erschrecken, wenn sie so was sehen,<br />
und sehen lieber nicht so genau hin.«<br />
»Vor allem Wissenschaftler«, sagte Lyra.<br />
»Hm, das weißt du besser als ich. Aber wenn es wirklich<br />
Grummans Kopf war, wette ich, daß es nicht die Tataren waren,<br />
die ihn skalpiert haben. Sie skalpieren ihre Feinde, nicht ihre<br />
Stammesangehörigen, und Grumman hatten sie ja in ihren<br />
Stamm aufgenommen.«<br />
Lyra dachte über all das nach, während sie weiterfuhren. Um<br />
sie herum gingen die unerklärlichsten Dinge vor: die grausamen<br />
Gobbler und ihre Angst vor dem Staub, die Stadt in der<br />
Aurora, ihr Vater in Svalbard, ihre Mutter… Welche Rolle<br />
spielte sie selbst dabei? Oder das Alethiometer oder die nordwärts<br />
fliegenden Hexen? Und der arme kleine Tony Makarios,<br />
der aufgezogene fliegende Spion und Iorek Byrnison mit seinem<br />
unheimlichen Geschick beim Fechten…<br />
Sie schlief ein. Und mit jeder Stunde kamen sie Bolvangar<br />
näher.<br />
260
Vierzehn<br />
Die Lichter von Bolvangar<br />
Die Tatsache, daß die Gypter noch nichts von Mrs. Coulter<br />
gehört oder gesehen hatten, beunruhigte Farder Coram und<br />
John Faa mehr, als sie Lyra merken ließen; sie wußten nicht, daß<br />
auch Lyra sich Sorgen machte. Lyra fürchtete sich vor Mrs.<br />
Coulter und mußte oft an sie denken. Im Unterschied zu Lord<br />
Asriel, der jetzt ihr Vater war, konnte sie Mrs. Coulter nicht als<br />
Mutter akzeptieren. Schuld daran war Mrs. Coulters Dæmon,<br />
der <strong>goldene</strong> Affe, den Pantalaimon so heftig verabscheute und<br />
der, wie Lyra vermutete, ihr nachspioniert und das Alethiometer<br />
entdeckt hatte.<br />
Außerdem waren sie hinter ihr her; es wäre dumm, etwas<br />
anderes zu glauben — der fliegende Spion war Beweis genug.<br />
Doch als der Feind dann zuschlug, war es nicht Mrs. Coulter.<br />
Die Gypter hatten beschlossen, anzuhalten und die Hunde<br />
ausruhen zu lassen, ein paar Schlitten zu reparieren und ihre<br />
Waffen für den Angriff auf Bolvangar vorzubereiten. John Faa<br />
hoffte, daß Lee Scoresby Erdgas zum Füllen des kleineren Ballons<br />
finden würde — offenbar hatte er zwei Ballons — und aufsteigen<br />
konnte, um die Gegend zu erkunden. <strong>Der</strong> Aeronaut, der<br />
das Wetter so sorgfältig wie ein Seemann beobachtete, prophezeite<br />
allerdings Nebel, und tatsächlich, kaum hatten sie angehalten,<br />
senkte sich dichter Nebel herab. Lee Scoresby wußte,<br />
261
daß er aus der Luft nichts sehen würde, er begnügte sich deshalb<br />
damit, seine Ausrüstung noch einmal durchzusehen, obwohl<br />
alles bereits in penibler Ordnung war. Dann, ohne jede Warnung,<br />
flog aus der Dunkelheit ein Hagel von Pfeilen.<br />
Drei Gypter wurden getroffen und starben so lautlos, daß<br />
niemand etwas hörte. Erst als sie über den Hundegeschirren<br />
zusammensackten und sich nicht mehr bewegten, merkten die<br />
Männer in ihrer Nähe, was geschah, doch da war es bereits zu<br />
spät, schon kamen weitere Pfeile angeflogen. Verwirrt sahen<br />
einige auf, als ringsum mit einem schnellen, unregelmäßigen<br />
Trommeln Pfeile auf Holz und gefrorenes Leinen prallten.<br />
Als erster kam John Faa wieder zu sich und brüllte den<br />
umstehenden Männern Befehle zu. Mit kalten Händen und<br />
starren Gliedern gehorchten sie, während die Pfeile wie ein<br />
tödlicher Platzregen auf sie niederprasselten.<br />
Lyra war im Freien, als die Pfeile über ihren Kopf schwirrten.<br />
Pantalaimon hörte sie zuerst, verwandelte sich in einen Leoparden<br />
und stieß Lyra um, damit sie kein so leichtes Ziel abgab. Sie<br />
wischte sich den Schnee aus den Augen, rollte auf den Bauch<br />
und versuchte zu erkennen, was geschah. Das Halbdunkel um<br />
sie drohte in Chaos und Lärm zu versinken. Sie hörte ein gewaltiges<br />
Brüllen und das Scheppern und Rasseln von Iorek Byrnisons<br />
Rüstung und sah gerade noch, wie er in seinem Panzer<br />
über die Schlitten sprang und im Nebel verschwand. Im nächsten<br />
Moment zerrissen Schreie die Luft, begleitet von Knurren<br />
und Fauchen, dumpfen Schlägen und knirschenden und reißenden<br />
Geräuschen. Angstschreie gellten auf, während der Bär<br />
im Nebel wütete.<br />
Aber wer waren ihre Gegner? Bis jetzt hatte Lyra noch keinen<br />
zu Gesicht bekommen. Die Gypter schwärmten umher, um die<br />
Schlitten zu verteidigen, gaben dadurch allerdings, wie sogar<br />
Lyra erkannte, noch bessere Zielscheiben ab. Handschuhe und<br />
Fäustlinge erschwerten es den Männern, die Gewehre abzufeu<br />
262
ern; während der Pfeilhagel unausgesetzt anhielt, hatte Lyra<br />
erst vier oder fünf Schüsse gehört. Und ein Mann nach dem<br />
anderen fiel.<br />
Ach, John Faa! dachte sie angstvoll. Das hast du nicht vorhergesehen,<br />
und ich habe dir nicht geholfen!<br />
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da stieß<br />
Pantalaimon ein lautes Knurren aus, und schon stürzte sich<br />
etwas — ein fremder Dæmon — auf ihn und schlug ihn nieder,<br />
so daß auch Lyra um Atem ringen mußte. Sie spürte, wie Hände<br />
an ihr zerrten und sie hochgerissen wurde; jemand preßte ihr<br />
einen stinkenden Handschuh auf den Mund und warf sie durch<br />
die Luft in die Arme eines anderen, die sie der Länge nach wieder<br />
in den Schnee stießen, so daß ihr zugleich schwindlig<br />
wurde, die Luft wegblieb und alles weh tat. Ihre Arme wurden<br />
nach hinten gezerrt, bis es in den Schultern knackte, dann<br />
wurde ihr eine Kapuze über den Kopf gestülpt, um ihre Schreie<br />
zu ersticken, denn jetzt schrie sie aus vollem Halse.<br />
»Iorek! Iorek Byrnison! Hilf mir!«<br />
Ob er sie überhaupt hörte? Sie wußte es nicht. Sie wurde hin<br />
und her geworfen und schließlich auf etwas Hartes gedrückt,<br />
das sofort schlingernd und holpernd wie ein Schlitten losfuhr.<br />
Wilder Lärm drang an ihr Ohr. Sie bildete sich ein, das Brüllen<br />
von Iorek Byrnison zu hören, aber es klang weit entfernt, und<br />
weiter ging die Fahrt über den holprigen Boden, mit auf dem<br />
Rücken gefesselten Armen und geknebeltem Mund. Lyra<br />
begann vor lauter Wut und Angst zu schluchzen. Sie hörte<br />
fremde Stimmen.<br />
»Pan!« japste sie.<br />
»Ich bin hier, pst! Ich helfe dir, damit du wieder Luft<br />
bekommst. Sei still…«<br />
Mit Mäusepfoten zerrte er an der Kapuze über ihrem Mund,<br />
bis sie wieder besser atmen konnte. Gierig schnappte sie nach<br />
der eisigen Luft.<br />
263
»Wer ist das?« flüsterte sie.<br />
»Sie sehen aus wie Tataren. Ich glaube, John Faa ist getroffen<br />
worden.«<br />
»Nein…«<br />
»Ich habe gesehen, wie er hinfiel. Er hätte doch mit so einem<br />
Angriff rechnen müssen. Das war doch klar.«<br />
»Aber wir hätten ihm helfen müssen! Wir hätten das Alethiometer<br />
befragen sollen!«<br />
»Pst! Tu so, als wärst du bewußtlos.«<br />
Eine Peitsche knallte, und die Schlittenhunde jaul ten. So wie<br />
Lyra hin und her geschleudert wurde, mußten sie in einem<br />
Höllentempo fahren. Anstrengt lauschte sie auf Kampflärm. Sie<br />
hörte eine vereinzelte Salve von Schüssen, die sich in der Ferne<br />
verlor, und dann nur noch das Knarren des Schlittens und das<br />
leise Tappen der Pfoten im Schnee.<br />
»Sie bringen uns bestimmt zu den Gobblern«, flüsterte sie.<br />
Das Wort abgeschnitten fiel ihr ein. Schreckliche Angst packte<br />
sie, und Pantalaimon kuschelte sich ganz dicht an sie.<br />
»Ich werde kämpfen«, sagte er.<br />
»Ich auch. Ich bringe sie um.«<br />
»Das tut Iorek auch, wenn er uns findet. Er wird ihnen den<br />
Schädel eindrücken.«<br />
»Wie weit ist es bis Bolvangar?«<br />
Pantalaimon wußte es auch nicht, aber sie vermuteten beide,<br />
daß es keinen Tag mehr entfernt war. Die Fahrt schien endlos,<br />
und Lyra wurde schon von Krämpfen gepeinigt, als das Tempo<br />
auf einmal langsamer wurde und ihr jemand die Kapuze vom<br />
Kopf riß.<br />
Über sich, im flackernden Schein einer Laterne, erblickte sie<br />
ein breites, asiatisches Gesicht unter einer Kapuze aus Marderpelz.<br />
Die schwarzen Augen glitzerten zufrieden, besonders als<br />
Pantalaimon aus Lyras Anorak schlüpfte und fauchend die weißen<br />
Hermelinzähne bleckte. <strong>Der</strong> Dæmon des Mannes, ein gro<br />
264
ßer, schwerer Marder, knurrte ebenfalls, aber Pantalaimon<br />
zuckte nicht zurück.<br />
<strong>Der</strong> Mann zerrte Lyra hoch und setzte sie an die seitliche<br />
Lehne des Schlittens. Doch sie kippte dauernd wieder um, weil<br />
ihre Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren, bis<br />
der Mann ihr schließlich die Füße zusammenband und die<br />
Handfesseln löste.<br />
Durch das Schneetreiben und den dichten Nebel sah sie, wie<br />
kräftig der Mann und auch der Fahrer des Schlittens waren, wie<br />
geschickt sie mit dem Schlitten umgingen und wie sehr sie in<br />
diesem Land zu Hause waren — im Unterschied zu den Gyptern.<br />
<strong>Der</strong> Mann begann zu sprechen, aber Lyra verstand natürlich<br />
kein Wort. Er probierte es in einer anderen Sprache — mit demselben<br />
Ergebnis. Dann versuchte er es mit Englisch.<br />
»Wie du heißen?«<br />
Pantalaimons Fell sträubte sich warnend, und Lyra begriff<br />
sofort, was er meinte. Die Männer wußten nicht, wer sie war!<br />
Sie hatten sie also nicht deshalb entführt, weil sie Mrs. Coulter<br />
kannte; vielleicht arbeiteten sie ja gar nicht für die Gobbler.<br />
»Lizzie Brooks«, antwortete sie.<br />
»Lissie Broogs«, wiederholte er. »Wir dich bringen an schönes<br />
Ort. Nette Leute.«<br />
»Wer seid ihr?«<br />
»Samojeden. Jäger.«<br />
»Wohin bringt ihr mich?«<br />
»Schönes Ort. Nette Leute. Du haben Panserbjørn?«<br />
»Als Schutz.«<br />
»Nix gut! Ha, ha, Bär nix gut! Wir dich gekriegt haben auch<br />
so!«<br />
Er lachte dröhnend. Lyra beherrschte sich und schwieg.<br />
»Wer sein andere Leute?« fragte der Mann und deutete in die<br />
Richtung, aus der sie gekommen waren.<br />
265
»Händler.«<br />
»Händler?… Was sie handeln mit?«<br />
»Felle, Schnaps. Tabak.«<br />
»Verkaufen Tabak, kaufen Felle?«<br />
»Ja.«<br />
<strong>Der</strong> Mann sprach mit seinem Begleiter, der kurz etwas erwiderte.<br />
Währenddessen raste der Schlitten unaufhaltsam weiter,<br />
und Lyra versuchte, sich bequemer hinzusetzen und zu erkennen,<br />
wohin sie fuhren. Doch der Schnee fiel in dichten Flocken,<br />
und der Himmel war dunkel, und bald wurde ihr zu kalt, um<br />
noch länger hinauszuspähen, und sie legte sich wieder hin. Sie<br />
und Pantalaimon konnten gegenseitig ihre Gedanken erfühlen<br />
und versuchten, ruhig zu bleiben, aber die Vorstellung, daß<br />
John Faa tot sein könnte… Und was war mit Farder Coram passiert?<br />
Ob Iorek es schaffen würde, die anderen Samojeden zu<br />
töten? Und ob sie Lyra je finden würden?<br />
Zum ersten Mal verspürte Lyra so etwas wie Selbstmitleid.<br />
Geraume Zeit später schüttelte der Mann sie an der Schulter<br />
und gab ihr einen Streifen getrocknetes Seehundfleisch zum<br />
Kauen. Es schmeckte ranzig und war zäh, aber sie hatte Hunger,<br />
und außerdem war es nahrhaft. Als sie es zerkaut hatte, ging es<br />
ihr ein wenig besser. Langsam schob sie die Hand unter ihre<br />
Pelze und vergewisserte sich, daß das Alethiometer noch da war.<br />
Dann zog sie vorsichtig die Dose mit dem fliegenden Spion<br />
heraus und steckte sie in ihren Pelzstiefel. Pantalaimon kroch<br />
als Maus hinterher und drückte die Dose so weit nach unten,<br />
wie er konnte, bis zum untersten Ende der Rentiergamasche.<br />
Dann machte Lyra die Augen zu. Die Angst hatte sie angestrengt,<br />
und bald fiel sie in unruhigen Schlaf.<br />
Sie erwachte, weil das Geholper plötzlich aufgehört hatte<br />
und der Schlitten weich dahinglitt. Als sie die Augen öffnete,<br />
sah sie über sich helle Lampen vorbeiziehen, die sie so sehr<br />
blendeten, daß sie zuerst die Kapuze ein Stück über den Kopf<br />
266
ziehen mußte, bevor sie erneut hinausspähen konnte. Ihre Glieder<br />
waren steif, und sie fror, aber es gelang ihr, sich so weit aufzurichten,<br />
daß sie sehen konnte, wie der Schlitten zwischen<br />
zwei Reihen hoher Masten mit grellen anbarischen Lampen<br />
entlangfuhr. Während sie noch um sich sah, fuhren sie durch<br />
ein geöffnetes Eisentor am Ende der Lichterallee auf eine große<br />
freie Fläche, die wie ein leerer Marktplatz oder ein Sportplatz<br />
aussah. Die Fläche war vollkommen eben, glatt und weiß und<br />
hatte einen Durchmesser von ungefähr hundert Metern. An<br />
ihrem Rand lief ein hoher Drahtzaun.<br />
Am anderen Ende des Platzes hielt der Schlitten vor einer<br />
Reihe niedriger Gebäude, auf denen dicker Schnee lag. Lyra<br />
hatte den Eindruck, daß die Gebäude durch Tunnel miteinander<br />
verbunden waren, die sie als Wülste unter dem Schnee zu<br />
erkennen meinte. Daneben stand ein dicker Eisenmast, der ihr<br />
bekannt vorkam, obwohl sie sich nicht erinnerte, woher.<br />
Bevor sie noch mehr erkennen konnte, schnitt der Mann im<br />
Schlitten die Schnur um ihre Knöchel durch und zerrte sie grob<br />
vom Schlitten herunter, während der Fahrer die Hunde<br />
anbrüllte, damit sie aufhörten zu bellen. In dem nur wenige<br />
Meter entfernten Gebäude öffnete sich eine Tür, eine anbarische<br />
Lampe ging an und richtete sich wie ein Suchscheinwerfer<br />
auf sie.<br />
Ohne Lyra loszulassen, stieß ihr Fänger sie wie eine Kriegsbeute<br />
vorwärts und sagte etwas. Eine Gestalt in einem wattierten<br />
Anorak aus Kohleseide antwortete in derselben Sprache.<br />
Lyra konnte das Gesicht des Mannes sehen: Er war kein Samojede<br />
oder Tatar; er hätte ein Wissenschaftler aus Jordan sein<br />
können. Er musterte Lyra, vor allem aber Pantalaimon.<br />
Wieder sagte der Samojede etwas, und der Mann aus Bolvangar<br />
fragte Lyra: »Sprichst du Englisch?«<br />
»Ja«, antwortete sie.<br />
»Hat dein Dæmon immer diese Gestalt?«<br />
267
Mit dieser Frage hatte Lyra am allerwenigsten gerechnet. Sie<br />
staunte und rührte sich nicht. Aber Pantalaimon antwortete auf<br />
seine Weise, indem er sich in einen Falken verwandelte und von<br />
Lyras Schulter auf den Dæmon des Mannes herunterstieß, ein<br />
großes Murmeltier, das sogleich mit einer flinken Bewegung<br />
nach Pantalaimon schlug und nach ihm spuckte, während er es<br />
mit schwungvollen Flügelschlägen umkreiste.<br />
»Ah, ich sehe schon«, sagte der Mann, als Pantalaimon auf<br />
Lyras Schulter zurückkehrte, und es klang zufrieden.<br />
Die Samojeden blickten erwartungsvoll, woraufhin der<br />
Mann nickte, einen Fäustling auszog und in eine Tasche griff. Er<br />
zog einen zugeschnürten Geldbeutel heraus und zählte den<br />
Jägern ein Dutzend schwere Münzen in die Hand.<br />
Die beiden Männer zählten das Geld nach, teilten es unter<br />
sich und verstauten es sorgfältig. Ohne einen Blick zurückzuwerfen,<br />
bestiegen sie ihren Schlitten. <strong>Der</strong> Fahrer knallte mit der<br />
Peitsche und trieb schreiend die Hunde an, und schon rasten sie<br />
über die weiße Arena und in die Lichterallee, immer schneller,<br />
bis sie schließlich in der Ferne in der Dunkelheit verschwanden.<br />
<strong>Der</strong> Mann machte die Tür hinter sich wieder auf.<br />
»Komm schnell rein«, sagte er. »Drinnen ist es warm und<br />
gemütlich. Bleib nicht draußen in der Kälte stehen. Wie heißt<br />
du?«<br />
Er sprach ein Englisch, aus dem Lyra keinen Akzent heraushören<br />
konnte, und er klang wie die Leute, die sie bei Mrs. Coulter<br />
kennengelernt hatte: klug, gebildet und wichtig.<br />
»Lizzie Brooks«, sagte sie.<br />
»Komm rein. Wir kümmern uns hier um dich, keine Sorge.«<br />
Obwohl sie viel länger draußen gewesen war, fror er mehr als<br />
sie und konnte es kaum erwarten, wieder ins Warme zu kommen.<br />
Sie beschloß, sich dumm und langsam zu stellen, und<br />
schlurfte zögernd über die hohe Schwelle ins Gebäude.<br />
Zwei Türen mit einem breiten Zwischenraum sorgten dafür,<br />
268
daß nicht zuviel Wärme entweichen konnte. Kaum hatte sich<br />
die innere Tür hinter ihnen geschlossen, meinte Lyra vor Hitze<br />
umzukommen. Sie mußte sofort ihre Pelze aufreißen und die<br />
Kapuze zurückschieben.<br />
Sie standen in einem etwa vier Quadratmeter großen Raum.<br />
Rechts und links zweigten Gänge ab, vor ihr befand sich eine<br />
Art Rezeption, wie man sie in Krankenhäusern sieht. Alles war<br />
hell erleuchtet, und überall blitzten glänzendweiße Oberflächen<br />
und rostfreier Stahl. Es roch nach Essen, ein vertrauter<br />
Geruch nach Speck und Kaffee, vermischt mit einem schwachen<br />
Geruch nach Krankenhaus, und von den Wänden ging ein<br />
leises, fast unhörbares Summen aus, eins von jenen Geräuschen,<br />
an die man sich entweder gewöhnt, oder man wird verrückt.<br />
Pantalaimon, der sich in einen Goldfink verwandelt hatte,<br />
flüsterte Lyra ins Ohr: »Stell dich ganz dumm. Tu so, als ob du<br />
überhaupt nichts kapierst.«<br />
Drei Erwachsene blickten zu ihr herunter: der Mann, der sie<br />
hereingebracht hatte, ein Mann in einem weißen Kittel und<br />
eine Frau in Schwesterntracht.<br />
»Engländer«, sagte der erste Mann. »Anscheinend Händler.«<br />
»Dieselben Jäger wie sonst? Dieselbe Geschichte?«<br />
»Vom selben Stamm, soweit ich das beurteilen kann. Schwester<br />
Clara, würden Sie die kleine… ähm, mitnehmen und sich<br />
um sie kümmern?«<br />
»Natürlich, Doktor. Komm mit, Schatz«, sagte die Schwester.<br />
Gehorsam folgte Lyra.<br />
Sie gingen einen kurzen Flur entlang, mit Türen auf der<br />
rechten Seite und einer Kantine auf der linken, aus der Besteckklappern,<br />
Stimmen und Essensgerüche drangen. Die Schwester<br />
mußte etwa genauso alt sein wie Mrs. Coulter, schätzte Lyra. Sie<br />
hatte ein munteres und verständiges, aber nichtssagendes<br />
Gesicht, konnte bestimmt eine Wunde nähen oder einen Verband<br />
wechseln, aber sicher keine Geschichten erzählen. Ihr<br />
269
Dæmon, ein weißes Hündchen, trottete brav hinter ihr her;<br />
Lyra fröstelte bei seinem Anblick kurz, doch schon einen<br />
Moment später wußte sie nicht mehr, weshalb eigentlich.<br />
»Wie heißt du denn, Schatz?« fragte die Schwester und öffnete<br />
eine schwere Tür.<br />
»Lizzie.«<br />
»Nur Lizzie?«<br />
»Lizzie Brooks.«<br />
»Und wie alt bist du?«<br />
»Elf.«<br />
Lyra hatte schon oft gehört, sie sei klein für ihr Alter, was<br />
auch immer das heißen mochte. Ihr Selbstbewußtsein hatte das<br />
nie erschüttert, und jetzt erkannte sie, daß diese Tatsache ihr<br />
helfen würde, sich in ein schüchternes, aufgeregtes und<br />
unscheinbares Mädchen zu verwandeln. Als sie das Zimmer<br />
betrat, machte sie sich deshalb noch etwas kleiner.<br />
Eigentlich hatte sie erwartet, daß Schwester Clara sie fragen<br />
würde, woher sie kam und wer sie gebracht hatte, und sich<br />
schon passende Antworten zurechtgelegt. Aber der Schwester<br />
fehlte es offenbar nicht nur an Phantasie, sondern auch an jeglicher<br />
Neugier. Sie war so desinteressiert, daß man hätte meinen<br />
können, Bolvangar läge am Stadtrand von London und nichts<br />
sei selbstverständlicher, als daß die ganze Zeit Kinder ankamen.<br />
Und genauso munter und teilnahmslos wie sie war auch ihr<br />
geschniegelter kleiner Dæmon, der ihr auf den Fersen folgte.<br />
In dem Zimmer, das sie betreten hatten, befanden sich eine<br />
Couch, ein Tisch, zwei Stühle, ein Aktenschrank, ein Glasschrank<br />
mit Medikamenten und Binden und ein Waschbecken.<br />
Die Schwester zog Lyra sofort den Anorak aus und ließ ihn auf<br />
den glänzenden Fußboden fallen.<br />
»Runter mit den restlichen Sachen, Schatz«, sagte sie. »Jetzt<br />
untersuchen wir dich kurz, damit wir auch sicher sind, daß du<br />
richtig gesund bist und weder Frostbeulen noch eine laufende<br />
270
Nase hast, und dann sehen wir mal, ob wir ein paar schöne, saubere<br />
Sachen zum Anziehen für dich finden. Und vorher stecken<br />
wir dich noch unter die Dusche«, fügte sie hinzu, denn Lyra<br />
hatte ihre Kleider seit Tagen nicht gewechselt und sich nicht<br />
gewaschen, was in der Wärme, die sie jetzt umgab, immer<br />
offensichtlicher wurde.<br />
Pantalaimon begehrte flatternd auf, aber Lyra unterdrückte<br />
seinen Protest mit einer Grimasse. Er ließ sich auf der Couch<br />
nieder, während Lyra ein Kleidungsstück nach dem anderen<br />
ausziehen mußte, sehr zu ihrem Ärger und ihrer Scham.<br />
Immerhin war sie so geistesgegenwärtig, das zu verbergen. Sie<br />
gehorchte willig und stellte sich weiter begriffsstutzig.<br />
»Jetzt noch den Gürtel mit dem Geld, Lizzie«, sagte die<br />
Schwester und öffnete ihn mit energischen Fingern. Sie wollte<br />
ihn schon auf den Haufen mit Lyras anderen Sachen werfen, als<br />
sie die Kante des Alethiometers spürte und innehielt.<br />
»Was ist denn das?« fragte sie und knöpfte den Beutel aus<br />
Ölzeug auf.<br />
»Nur ein Spielzeug«, antwortete Lyra. »Es gehört mir.«<br />
»Wir wollen es dir ja auch gar nicht wegnehmen, Schatz«,<br />
sagte Schwester Clara und faltete den schwarzen Samt auseinander.<br />
»Ach, ist das hübsch, wie ein Kompaß. Aber jetzt unter<br />
die Dusche mit dir.« Sie schlug einen Vorhang aus Kohleseide in<br />
der Ecke zurück.<br />
Widerwillig schlüpfte Lyra unter den warmen Wasserstrahl<br />
und seifte sich ein. Pantalaimon hockte währenddessen auf der<br />
Vorhangstange. Sie wußten beide, daß Pantalaimon nicht zu<br />
lebhaft wirken durfte, denn die Dæmonen von begriffsstutzigen<br />
Leuten sind ebenfalls etwas schwer von Begriff. Als Lyra<br />
sauber und trocken war, kontrollierte die Schwester ihre Temperatur<br />
und inspizierte Augen, Ohren und Hals. Anschließend<br />
maß sie noch Lyras Größe und stellte sie auf eine Waage und<br />
notierte dann etwas auf einem Klemmbrett. Dann gab sie Lyra<br />
271
einen Schlafanzug und einen Bademantel. Beides war sauber<br />
und von guter Qualität wie der Anorak von Tony Makarios,<br />
wirkte aber ebenfalls gebraucht. Lyra war sehr unbehaglich<br />
zumute.<br />
»Das sind nicht meine Sachen«, sagte sie.<br />
»Nein, Schatz. Deine Kleider müssen erst einmal gründlich<br />
gewaschen werden.«<br />
»Bekomme ich sie wieder?«<br />
»Ich denke doch. Ja, natürlich.«<br />
»Wo sind wir hier?«<br />
»In der sogenannten Versuchsstation.«<br />
Das war keine richtige Antwort, und Lyra wollte es schon<br />
sagen und weitere Fragen stellen, doch da fiel ihr ein, daß Lizzie<br />
Brooks das bestimmt nicht tun würde. Also nahm sie die Antwort<br />
schweigend hin und schlüpfte ergeben in die neuen Kleider.<br />
»Ich will mein Spielzeug wiederhaben«, sagte sie trotzig, als<br />
sie angezogen war.<br />
»Nimm es dir, Schatz«, sagte die Schwester. »Hättest du denn<br />
nicht lieber einen schönen Teddybären? Oder eine hübsche<br />
Puppe?«<br />
Sie zog eine Schublade auf, in der ein paar Spielsachen lagen<br />
— leblose Gegenstände. Lyra überwand sich und tat, als würde<br />
sie einen Moment überlegen, dann suchte sie sich eine Stoffpuppe<br />
mit großen, leeren Augen aus. Sie hatte nie gern mit<br />
Puppen gespielt, wußte aber, was von ihr erwartet wurde, und<br />
drückte sie geistesabwesend an die Brust.<br />
»Und mein Geldbeutel?« fragte sie. »Ich möchte mein Spielzeug<br />
hineintun.«<br />
»Nimm ihn dir, Schatz«, sagte Schwester Clara, die gerade ein<br />
rosafarbenes Formular ausfüllte.<br />
Lyra zog den ungewohnten Schlafanzug hoch und band sich<br />
den Beutel aus Ölzeug um die Taille.<br />
272
»Und mein Anorak und meine Stiefel?« fragte sie. »Und<br />
meine Handschuhe und die anderen Sachen?«<br />
»Wir waschen sie für dich«, sagte die Schwester zerstreut.<br />
Ein Telefon summte, und als die Schwester den Hörer<br />
abnahm, bückte sich Lyra schnell, griff nach der Dose, in der<br />
sich der fliegende Spion befand, und stopfte sie zum Alethiometer<br />
in den Beutel.<br />
»Komm mit, Lizzie«, sagte die Schwester und legte den<br />
Hörer auf. »Wir besorgen dir jetzt etwas zu essen. Du hast doch<br />
bestimmt Hunger.«<br />
Lyra folgte Schwester Clara zur Kantine, in der ein Dutzend<br />
runde weiße Tische standen, alle mit Krümeln übersät und voller<br />
klebriger Ringe von achtlos hingestellten Gläsern. Auf<br />
einem Teewagen stapelte sich schmutziges Geschirr. <strong>Der</strong> Raum<br />
hatte keine Fenster, statt dessen war, um Licht und Weite vorzutäuschen,<br />
eine Wand mit dem riesigen Photogramm eines<br />
tropischen Strandes mit strahlend blauem Himmel, weißem<br />
Sand und Kokospalmen bedeckt.<br />
<strong>Der</strong> Mann, der sie ins Haus geführt hatte, nahm ein volles<br />
Tablett aus der Durchreiche.<br />
»Iß«, forderte er Lyra auf.<br />
Es gab keinen Grund zu hungern, deshalb ließ sie sich den<br />
Eintopf mit Kartoffelbrei schmecken. Zum Nachtisch gab es<br />
Pfirsiche aus der Dose und Eis. Während sie aß, unterhielten<br />
sich der Mann und die Schwester leise an einem anderen Tisch,<br />
und als sie fertig war, brachte ihr die Schwester ein Glas warme<br />
Milch und nahm das Tablett fort.<br />
<strong>Der</strong> Mann setzte sich ihr gegenüber. Sein Dæmon, das Murmeltier,<br />
war nicht so desinteressiert und gleichgültig wie der<br />
Hund der Schwester, sondern saß höflich auf der Schulter des<br />
Mannes, beobachtete Lyra und hörte zu.<br />
»So, Lizzie«, sagte der Mann. »Bist du satt geworden?«<br />
»Ja, danke.«<br />
273
»Dann erzähle mir jetzt doch, woher du kommst. Kannst du<br />
das?«<br />
»Aus London«, sagte sie.<br />
»Und was suchst du so hoch im Norden?«<br />
»Ich bin mit meinem Vater hergekommen«, murmelte sie.<br />
Sie sah nach unten, um nicht dem forschenden Blick des Murmeltiers<br />
zu begegnen, und versuchte so zu wirken, als sei sie den<br />
Tränen nahe.<br />
»Mit deinem Vater? Verstehe. Und was macht er in diesem<br />
Teil der Welt?«<br />
»Er ist Händler. Wir sind mit einer Ladung Tabak aus Neudänemark<br />
gekommen und wollten Felle kaufen.«<br />
»War dein Vater allein?«<br />
»Nein, meine Onkel waren auch dabei, und noch andere<br />
Männer«, sagte sie unbestimmt, weil sie nicht wußte, was die<br />
samojedischen Jäger ihm erzählt hatten.<br />
»Wieso hat er dich auf eine solche Reise mitgenommen, Lizzie?«<br />
»Weil… Vor zwei Jahren hat er meinen Bruder mitgenommen<br />
und mir versprochen, daß er mich beim nächsten Mal mitnimmt.<br />
Dann hat er es doch nicht gemacht. Also habe ich<br />
immer wieder gefragt, bis er es endlich getan hat.«<br />
»Und wie alt bist du?«<br />
»Elf.«<br />
»Sehr gut. Also Lizzie, du hast wirklich Glück gehabt. An<br />
einen besseren Ort hätten die Jäger, die dich gefunden haben,<br />
dich gar nicht bringen können.«<br />
»Sie haben mich überhaupt nicht gefunden«, sagte sie argwöhnisch.<br />
»Wir mußten kämpfen. Sie waren in der Überzahl<br />
und schössen mit Pfeilen…«<br />
»Nein, das glaube ich nicht. Du hast dich sicher verirrt, weil<br />
du zu weit von den Leuten deines Vaters weggelaufen bist. Du<br />
warst mutterseelenallein, als die Jäger dich fanden, und sie<br />
274
haben dich auf dem schnellsten Weg hierher gebracht. So und<br />
nicht anders ist es gewesen, Lizzie.«<br />
»Ich habe aber gesehen, wie sie gekämpft haben«, sagte Lyra.<br />
»Sie haben mit Pfeilen geschossen und… Ich will zu meinem<br />
Papa.« Sie wurde lauter und merkte, daß sie zu weinen<br />
anfing.<br />
»Hier kann dir nichts passieren, bis er kommt«, sagte der<br />
Arzt.<br />
»Aber ich habe doch gesehen, daß sie mit Pfeilen geschossen<br />
haben!«<br />
»Das hast du dir bloß eingebildet. So etwas passiert in der<br />
eisigen Kälte oft, Lizzie. Man schläft ein und träumt schlecht,<br />
und hinterher weiß man nicht mehr, was wirklich passiert ist.<br />
Es gab keinen Kampf, sei ganz beruhigt. Dein Vater ist gesund<br />
und munter, und er sucht dich bestimmt schon und wird bald<br />
hier sein, denn das ist der einzige bewohnte Ort im Umkreis<br />
von Hunderten von Meilen. Und was glaubst du, wie überrascht<br />
er sein wird, wenn er dich hier wohlbehalten antrifft!<br />
Jetzt bringt Schwester Clara dich in den Schlafsaal, wo du noch<br />
andere kleine Mädchen und Jungen kennenlernen wirst, die<br />
sich genau wie du in der Wildnis verirrt haben. Also, ins Bett<br />
mit dir. Morgen früh unterhalten wir uns weiter.«<br />
Lyra stand auf, die Puppe fest in der Hand. Pantalaimon<br />
hüpfte ihr auf die Schulter, und die Schwester öffnete die Tür<br />
und führte sie hinaus.<br />
Wieder gingen sie durch Gänge. Lyra war todmüde, so<br />
müde, daß sie ununterbrochen gähnen mußte und kaum noch<br />
die Füße in den Wollpantoffeln, die man ihr gegeben hatte,<br />
heben konnte. Pantalaimon war so erschöpft, daß er sich in eine<br />
Maus verwandelte und in die Tasche ihres Bademantels kroch.<br />
Undeutlich nahm Lyra eine Reihe von Betten, Kindergesichter<br />
und ein Kopfkissen wahr, und dann war sie auch schon eingeschlafen.<br />
275
Jemand rüttelte sie. Als erstes faßte sie sich an die Taille — beide<br />
Dosen waren noch da, gut verpackt. Dann versuchte sie, die<br />
Augen zu öffnen, aber es fiel ihr unendlich schwer; noch nie<br />
war sie so schläfrig gewesen.<br />
»Wach auf! Wach auf!«<br />
Das Flüstern kam von verschiedenen Stimmen. Mit ungeheurer<br />
Anstrengung, als müßte sie einen Felsblock einen Berg<br />
hinaufschieben, zwang Lyra sich dazu, aufzuwachen.<br />
Im Dämmerschein einer anbarischen Funzel über der Tür<br />
sah sie drei Mädchen vor ihrem Bett stehen. Sie konnte nicht<br />
viel erkennen, denn sie sah alles unscharf, aber die Mädchen<br />
schienen ungefähr in ihrem Alter zu sein und sprachen Englisch.<br />
»Sie ist wach.«<br />
»Die haben ihr Schlaftabletten gegeben, ganz bestimmt…«<br />
»Wie heißt du?«<br />
»Lizzie«, murmelte Lyra schlaftrunken.<br />
»Ist wieder eine neue Ladung Kinder gekommen?« fragte<br />
eins der Mädchen.<br />
»Keine Ahnung. Nur ich.«<br />
»Woher haben sie dich denn dann?«<br />
Lyra versuchte, sich aufzusetzen. Sie konnte sich nicht erinnern,<br />
eine Schlaftablette genommen zu haben, aber vielleicht<br />
war in ihrem Getränk eine gewesen. Ihr Kopf fühlte sich wie<br />
Watte an, und hinter den Augen spürte sie einen schwachen,<br />
pochenden Schmerz.<br />
»Wo sind wir?«<br />
»Mitten im Nirgendwo. Sie sagen es uns nicht.«<br />
»Meistens werden mehrere Kinder auf einmal hergebracht…«<br />
Lyra brauchte eine Weile, bis sie ihre betäubten Sinne wieder<br />
halbwegs beisammen hatte. Neben ihr begann sich Pantalaimon<br />
zu regen. »Was passiert mit ihnen?« fragte sie schließlich.<br />
276
»Keine Ahnung«, sagte das Mädchen, das die meiste Zeit<br />
sprach. Es war groß, hatte rote Haare und einen ausgeprägten<br />
Londoner Akzent. Nervös gestikulierte es mit den Händen. »Sie<br />
machen irgendwelche Messungen mit uns und untersuchen<br />
uns und dann…«<br />
»Sie messen Staub«, sagte ein nett aussehendes, dickes Mädchen<br />
mit dunklen Haaren.<br />
»Das weißt du doch gar nicht«, sagte das erste Mädchen.<br />
»Doch«, sagte das dritte, ein verschüchtert wirkendes Kind,<br />
und drückte seinen Kaninchendæmon an sich. »Ich habe sie<br />
davon sprechen hören.«<br />
»Und dann bringen sie uns der Reihe nach weg«, sagte die<br />
Rothaarige. »Das ist alles, was wir wissen. Keiner kommt<br />
zurück.«<br />
»Aber der eine Junge glaubt…«, begann das dicke Mädchen.<br />
»Erzähl ihr das nicht!« sagte die Rothaarige. »Noch nicht.«<br />
»Gibt es denn hier auch Jungen?« fragte Lyra.<br />
»Ja. Wir sind ziemlich viele. Ungefähr dreißig, schätze ich.«<br />
»Mehr«, sagte das dicke Mädchen. »Eher vierzig.«<br />
»Aber sie bringen ständig welche weg«, sagte die Rothaarige.<br />
»Meistens bringen sie zuerst einen ganzen Haufen hierher,<br />
dann sind wir ziemlich viele, und dann verschwindet einer nach<br />
dem anderen wieder.«<br />
»Das sind Gobbler«, sagte das dicke Mädchen. »Du kennst<br />
doch bestimmt die Gobbler. Wir hatten alle Angst vor denen,<br />
und jetzt haben sie uns gefangen…«<br />
Lyra wurde immer wacher. Die Dæmonen der Mädchen<br />
saßen, von dem Kaninchen abgesehen, in der Nähe der Tür und<br />
horchten. Es wurde nur geflüstert. Lyra fragte sie nach ihren<br />
Namen. Das rothaarige Mädchen hieß Annie, das dunkelhaarige,<br />
dicke Bella und das unscheinbare Martha. Die Namen der<br />
meisten Jungen kannten sie nicht, denn sie hielten sich hauptsächlich<br />
woanders auf.<br />
277
Die Kinder wurden nicht schlecht behandelt.<br />
»Ist gar nicht so übel hier«, meinte Bella. »Es gibt nicht viel<br />
zu<br />
tun, außer wenn wir untersucht werden oder Gymnastik<br />
machen müssen oder wenn sie Staub und Fieber und so was<br />
messen. Eigentlich ist es nur langweilig.«<br />
»Außer wenn Mrs. Coulter kommt«, sagte Annie.<br />
Lyra unterdrückte einen Schrei, und Pantalaimon flatterte so<br />
heftig mit den Flügeln, daß die anderen Mädchen ihn mißtrauisch<br />
ansahen.<br />
»Er ist nervös«, sagte Lyra und beruhigte ihn. »Die haben<br />
uns anscheinend wirklich Schlaftabletten gegeben, wie ihr gesagt<br />
habt, wir sind jedenfalls ganz beduselt. Wer ist denn Mrs.<br />
Coulter?«<br />
»Sie hat uns in die Falle gelockt, jedenfalls die meisten von<br />
uns«, sagte Martha. »Alle Kinder sprechen von ihr. Wenn sie<br />
kommt, weiß jeder, daß wieder welche verschwinden.«<br />
»Es macht ihr Spaß, die Kinder zu beobachten, wenn einer<br />
von uns weggebracht wird; sie sieht sich gern an, was die hier<br />
mit uns anstellen. Dieser Simon glaubt, daß sie uns umbringen<br />
und daß Mrs. Coulter dabei zuschaut.«<br />
»Sie bringen uns um?« fragte Lyra und schauderte.<br />
»Bestimmt. Denn keiner kommt wieder.«<br />
»Mit den Dæmonen wird dasselbe gemacht«, sagte Bella. »Sie<br />
werden gewogen und gemessen und…«<br />
»Sie fassen eure Dæmonen an?«<br />
»Nein! Gott, nein! Sie holen eine Waage, und dein Dæmon<br />
muß sich draufstellen und die Gestalt wechseln, und davon<br />
machen sie dann Notizen und Fotos. Und dann stecken sie dich<br />
in so einen komischen Schrank und messen Staub. Immer und<br />
ewig messen sie Staub.«<br />
»Was für Staub?« fragte Lyra.<br />
»Keine Ahnung«, antwortete Annie. »Irgendwas aus dem<br />
Weltraum. Jedenfalls kein richtiger Staub. Wenn sie keinen<br />
278
Staub an einem messen, ist das gut. Aber zuletzt kriegt jeder<br />
Staub ab.«<br />
»Wißt ihr, was ich von Simon gehört habe?« sagte Bella. »Er<br />
hat gesagt, daß die Tataren Löcher in ihre Schädel bohren, um<br />
den Staub hineinzulassen.«<br />
»Ja, gerade der wird das wissen«, sagte Annie verächtlich.<br />
»Ich<br />
glaube, ich frage Mrs. Coulter, wenn sie kommt.«<br />
»Das traust du dich nicht!« sagte Martha bewundernd.<br />
»Doch.«<br />
»Wann kommt sie denn?« fragte Lyra.<br />
»Übermorgen«, sagte Annie.<br />
Lyra lief es vor Entsetzen kalt den Rücken hinunter, und<br />
Pantalaimon kroch ganz dicht an sie heran. Ihr blieb nur ein<br />
einziger Tag, um Roger zu finden und soviel wie möglich über<br />
diesen Ort herauszubekommen, ein Tag, um zu fliehen oder<br />
gerettet zu werden. Und wer würde den Kindern helfen, in der<br />
eisigen Wildnis zu überleben, wenn alle Gypter getötet worden<br />
waren?<br />
Die anderen Mädchen unterhielten sich weiter, während<br />
Lyra und Pantalaimon sich unter der Bettdecke aneinanderkuschelten<br />
und gegenseitig zu wärmen versuchten. Sie wußten,<br />
daß im Umkreis von Hunderten von Meilen die Angst regierte.<br />
279
Fünfzehn<br />
Die Dæmonenkäfige<br />
Lyra neigte nicht zum Grübeln. Sie war ein optimistisches und<br />
praktisch veranlagtes Kind und hatte außerdem nicht besonders<br />
viel Phantasie. Kein Kind mit Phantasie hätte es ernsthaft<br />
für möglich gehalten, daß es den weiten Weg hierher finden<br />
und seinen Freund Roger befreien könnte, oder es hätte sich<br />
zumindest die verschiedensten Einwände ausgemalt. Ein geübter<br />
Lügner zu sein bedeutet noch lange nicht, daß man auch viel<br />
Phantasie hat. Viele gute Lügner haben überhaupt keine Phantasie,<br />
und das macht ihre Lügen so überzeugend.<br />
Deshalb wurde Lyra nun, da sie in die Hände der Oblations-<br />
Behörde geraten war, auch nicht von panischer Angst über das<br />
Schicksal der Gypter gequält. Die Gypter waren alle gute<br />
Kämpfer, und auch wenn Pantalaimon gesehen haben wollte,<br />
daß John Faa niedergeschossen worden war, konnte er sich<br />
ebensogut geirrt haben, oder vielleicht war John Faa nicht<br />
ernsthaft verletzt worden. Daß sie den samojedischen Jägern in<br />
die Hände gefallen war, war Pech gewesen, aber die Gypter<br />
würden schon bald dasein, um sie zu befreien, und falls sie es<br />
wider Erwarten nicht schafften, würde Iorek Byrnison alles<br />
dransetzen, sie hier herauszuholen. Und dann würden sie im<br />
Ballon von Lee Scoresby nach Svalbard fliegen und Lord Asriel<br />
retten.<br />
280
So einfach stellte sie es sich wenigstens vor.<br />
Deshalb war sie, als sie am nächsten Morgen im Schlafsaal<br />
erwachte, neugierig und bereit, es mit allem aufzunehmen, was<br />
der Tag bringen würde. Sie konnte es kaum erwarten, Roger zu<br />
sehen — vor allem wollte sie ihn sehen, bevor er sie sah.<br />
Lyra mußte sich nicht lange gedulden. Um halb acht wurden<br />
die Kinder in den verschiedenen Schlafsälen von den für sie<br />
zuständigen Schwestern geweckt. Sie wuschen sich, zogen sich<br />
an und gingen dann mit den anderen zum Frühstück in die<br />
Kantine.<br />
Und dort war Roger.<br />
Er saß mit fünf anderen Jungen an einem Tisch gleich an der<br />
Tür. Die Schlange zur Durchreiche führte direkt an ihnen vorbei,<br />
und Lyra tat so, als sei ihr ein Taschentuch hinuntergefallen<br />
und als müsse sie sich danach bücken. Dabei kam sie Rogers<br />
Stuhl so nah, daß Pantalaimon mit Rogers Dæmon Salcilia<br />
sprechen konnte.<br />
Salcilia, ein Buchfink, flatterte so aufgeregt, als er Pantalaimon<br />
sah, daß Pantalaimon sich in Gestalt einer Katze auf ihn<br />
stürzen und ihn zu Boden drücken mußte, damit er ihm etwas<br />
zuflüstern konnte. Solche Rangeleien zwischen Dæmonen von<br />
Kindern waren glücklicherweise nichts Ungewöhnliches, deshalb<br />
achtete auch niemand besonders darauf, nur Roger wurde<br />
plötzlich bleich. Lyra hatte noch nie jemanden so weiß werden<br />
sehen. Er sah auf und begegnete ihrem hochmütig starren<br />
Blick, und dann strömte die Farbe in seine Wangen zurück, als<br />
sein Herz vor Hoffnung, Aufregung und Freude überfloß.<br />
Hätte Pantalaimon Salcilia nicht so energisch geschüttelt,<br />
Roger wäre mit einem Schrei aufgesprungen, um die Spielkameradin<br />
aus Jordan zu begrüßen.<br />
Mit größtmöglicher Verachtung sah Lyra weg und verdrehte<br />
vor ihren neuen Freundinnen abschätzig die Augen. Sie überließ<br />
es Pantalaimon, Salcilia alles zu erklären. Die vier Mädchen<br />
281
nahmen ihre Tabletts mit Cornflakes und Toast und setzten<br />
sich zusammen an einen Tisch, abseits von den anderen, um<br />
ungestört über diese tratschen zu können.<br />
Eine große Kinderschar an einem Ort muß pausenlos<br />
beschäftigt werden, deshalb ähnelte Bolvangar in mancher<br />
Hinsicht einer Schule mit Stundenplänen für Fächer wie Turnen<br />
und ›Kunst‹. Außer in den Pausen und bei den Mahlzeiten<br />
waren Jungen und Mädchen getrennt, so daß Lyra erst in der<br />
zweiten Hälfte des Vormittags, nach anderthalbstündigem<br />
Nähunterricht bei einer der Schwestern, Gelegenheit hatte, mit<br />
Roger zu sprechen. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin,<br />
daß es ganz natürlich aussehen mußte. Die Kinder waren alle<br />
mehr oder weniger in dem Alter, in dem Jungen nur mit Jungen<br />
und Mädchen nur mit Mädchen sprechen und jeder sich<br />
auffallende Mühe gibt, das andere Geschlecht zu übersehen.<br />
Die Gelegenheit bot sich wieder in der Kantine, als die Kinder<br />
sich dort zu einem kleinen Imbiß versammelten. Lyra<br />
schickte Pantalaimon als Fliege los, damit er an der Wand<br />
neben ihrem Tisch mit Salcilia sprach, während sie und Roger<br />
unauffällig bei ihren jeweiligen Freundinnen und Freunden<br />
saßen und ihre Milch schlürften. Weil es schwierig war, sich zu<br />
unterhalten, solange die Aufmerksamkeit des Dæmons auf<br />
etwas anderes gerichtet war, machte Lyra ein mürrisches und<br />
rebellisches Gesicht. Mit ihren Gedanken war sie halb bei dem<br />
leisen Gesumm der beiden Dæmonen, und sie hörte dem<br />
Gespräch der Mädchen kaum zu, als plötzlich eines mit auffallend<br />
hellblonden Haaren einen Namen erwähnte, der sie hochfahren<br />
ließ.<br />
Es war der Name von Tony Makarios. Als Lyras Aufmerksamkeit<br />
abgelenkt wurde, erstarb Pantalaimons Flüstern mit<br />
Rogers Dæmon, und die beiden Kinder lauschten dem blonden<br />
Mädchen.<br />
Aufgeregt steckten alle die Köpfe zusammen.<br />
282
»Nein, ich weiß, warum sie ihn weggebracht haben«, sagte<br />
das Mädchen. »Sein Dæmon hat sich nämlich nicht verwandelt.<br />
Sie hielten ihn für älter, als er aussah oder behauptete, und<br />
glaubten, er sei in Wirklichkeit gar kein kleines Kind mehr.<br />
Aber sein Dæmon hat sich deshalb nicht besonders oft verwandelt,<br />
weil sich Tony nie viel Gedanken über irgendwas gemacht<br />
hat. Ich habe mal gesehen, wie er sich verwandelt hat. Er hieß<br />
Ratter…«<br />
»Warum interessieren die Leute hier sich so für Dæmonen?«<br />
fragte Lyra.<br />
»Das weiß keiner«, antwortete das blonde Mädchen.<br />
»Doch, ich weiß es«, sagte ein Junge, der zugehört hatte. »Sie<br />
töten deinen Dæmon, um festzustellen, ob du dann auch<br />
stirbst.«<br />
»Aber warum machen sie das mit so vielen verschiedenen<br />
Kindern?« fragte jemand. »Dann würde doch eigentlich einmal<br />
reichen, oder?«<br />
»Ich weiß, was sie machen«, sagte das Mädchen.<br />
Alle sahen sie an. Aber weil sie nicht wollten, daß das Personal<br />
merkte, worüber sie sich unterhielten, wandten sie sich<br />
gleich wieder ab und taten gleichgültig und desinteressiert,<br />
während sie wie gebannt lauschten.<br />
»Woher?« fragte jemand.<br />
»Weil ich bei ihm war, als sie ihn abholten. Wir waren in der<br />
Wäschekammer.«<br />
Sie lief dunkelrot an. Aber die höhnischen Bemerkungen<br />
oder Hänseleien, die sie vielleicht erwartet hatte, blieben aus.<br />
Die Kinder waren still und grinsten nicht einmal.<br />
»Wir waren ganz leise«, fuhr das Mädchen fort, »und dann<br />
kam auf einmal die Schwester rein, die mit der sanften Stimme,<br />
und sagte: ›Komm mit, Tony, ich weiß, daß du hier bist. Komm<br />
mit, wir tun dir nicht weh…‹ Und er fragte: ›Was tun sie denn<br />
mit mir?‹ Und sie sagte: ›Du darfst ein bißchen schlafen, und<br />
283
wir machen eine kleine Operation, und dann wachst du gesund<br />
und munter wieder au£‹ Aber Tony glaubte ihr nicht. Er<br />
sagte…«<br />
»Die Löcher!« sagte jemand. »Ich wette, die machen einem ein<br />
Loch in den Kopf wie die Tataren!«<br />
»Sei still! Was hat die Schwester noch gesagt?« sagte jemand<br />
anders. Inzwischen drängten sich ein gutes Dutzend wißbegieriger<br />
Kinder mit ihren nicht weniger neugierigen Dæmonen<br />
um den Tisch des Mädchens und lauschten gespannt und mit<br />
aufgerissenen Augen.<br />
»Tony wollte wissen, was sie mit Ratter vorhatten«, sagte das<br />
Mädchen. »Die Schwester sagte: ›Er schläft auch, genau wie du.‹<br />
Und dann sagte Tony: ›Sie wollen ihn töten, stimmt’s? Ich weiß<br />
es. Das wissen wir doch alle.‹ Und die Schwester sagte: ›Nein,<br />
das ist nicht wahr. Es ist nur eine kleine Operation, ein kleiner<br />
Schnitt. Es tut nicht einmal weh. Daß wir dich dabei schlafen<br />
lassen, ist nur eine Vorsichtsmaßnahmen«<br />
Im ganzen Raum herrschte jetzt Totenstille. Die aufsichtführende<br />
Schwester war kurz hinausgegangen, und die Durchreiche<br />
zur Küche war geschlossen, so daß auch dort niemand<br />
etwas hören konnte.<br />
»Was denn für ein Schnitt?« fragte ein Junge mit leiser,<br />
ängstlicher Stimme. »Hat sie das gesagt?«<br />
»Sie hat nur gesagt, daß man davon schneller erwachsen<br />
würde. Und daß es bei jedem gemacht werden müßte und daß<br />
sich deswegen die Dæmonen von Erwachsenen nicht mehr verwandeln<br />
wie unsere. Also mit dem Schnitt kriegen sie hin, daß<br />
die Dæmonen für immer dieselbe Form behalten, und so wird<br />
man dann erwachsen.«<br />
»Aber…«<br />
»Heißt das…«<br />
»Wie? Haben alle Erwachsenen so einen Schnitt machen lassen?«<br />
284
»Was ist mit…«<br />
Plötzlich brachen die Stimmen ab, als wären auch sie abgeschnitten<br />
worden, und alle Augen richteten sich auf die Tür.<br />
Dort stand Schwester Clara, sanft und freundlich und sachlich,<br />
und neben ihr ein Mann in einem weißen Kittel, den Lyra noch<br />
nicht gesehen hatte.<br />
»Bridget McGinn«, rief er.<br />
Das blonde Mädchen stand zitternd auf. Sein Eichhörnchendæmon<br />
krallte sich an seine Brust.<br />
»Ja, Sir?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.<br />
»Trink aus und begleite Schwester Clara«, sagte er. »Ihr anderen<br />
geht in eure Klassen.«<br />
Gehorsam stapelten die Kinder ihre Becher auf dem Teewagen<br />
aus rostfreiem Stahl und gingen schweigend hinaus. Keiner<br />
außer Lyra sah Bridget an, und nur Lyra bemerkte die panische<br />
Angst im Gesicht des blonden Mädchens.<br />
Den restlichen Vormittag verbrachten sie beim Sport. Da<br />
Sport im Freien während der langen Polarnacht unmöglich<br />
war, gab es in der Station eine kleine Turnhalle, in der die verschiedenen<br />
Kindergruppen unter Aufsicht einer Schwester<br />
abwechselnd spielten. Sie mußten Mannschaften bilden und<br />
Ball spielen, und Lyra, die das noch nie in ihrem Leben getan<br />
hatte, wußte zunächst weder aus noch ein. Aber weil sie flink<br />
und sportlich und eine geborene Anführerin war, machte ihr<br />
das Spiel schon bald großen Spaß. Die kleine Turnhalle war von<br />
Kindergeschrei und dem Quietschen und Gejohle der Daemonen<br />
erfüllt, und bald waren alle ängstlichen Gedanken verscheucht<br />
— was natürlich der Zweck der Übung war.<br />
Als die Kinder zur Mittagszeit wieder in der Kantine anstanden,<br />
hörte Lyra, wie Pantalaimon jemand begrüßte, und als sie sich<br />
umdrehte, stand direkt hinter ihr Billy Costa.<br />
»Roger hat mir erzählt, du wärst hier«, murmelte er.<br />
285
»Dein Bruder kommt und John Faa und eine ganze Gruppe<br />
von Gyptern«, sagte Lyra. »Sie holen dich nach Hause.«<br />
Fast hätte Billy vor Freude aufgeschrieen, doch er konnte den<br />
Schrei gerade noch zu einem Husten unterdrücken.<br />
»Und du mußt mich Lizzie nennen«, sagte Lyra, »auf gar keinen<br />
Fall Lyra. Und du mußt mir alles erzählen, was du weißt,<br />
ja?«<br />
Sie setzten sich zusammen mit Roger an einen Tisch, was<br />
beim Mittagessen, wenn die Kinder häufig zwischen den<br />
Tischen und der Durchreiche hin- und hergingen und die<br />
Kantine überfüllt war, leichter war als sonst. Übertönt vom<br />
Geklapper des Bestecks und der Teller erzählten Billy und<br />
Roger alles, was sie wußten. Wie Billy von einer Schwester<br />
erfahren hatte, wurden die Kinder nach der Operation oft in<br />
weiter südlich gelegene Heime gebracht, was erklären konnte,<br />
wieso Tony Makarios in der Wildnis umhergeirrt war. Aber<br />
Roger hatte Lyra noch etwas Interessanteres zu berichten.<br />
»Ich habe ein Versteck entdeckt«, sagte er.<br />
»Was? Wo?«<br />
»Sieh dir mal das Bild an.« Er meinte das große Photogramm<br />
mit dem tropischen Strand. »Siehst du die Deckenplatte über<br />
der Ecke rechts oben?«<br />
Die Decke bestand aus großen rechteckigen Platten, befestigt<br />
in einem Gitter aus Metallstreben, und die Ecke der Platte über<br />
dem Bild war leicht angehoben.<br />
»Als ich das gesehen habe, dachte ich, daß es bei den anderen<br />
ähnlich sein könnte. Also habe ich sie angehoben, und sie sind<br />
tatsächlich alle locker. Sie lassen sich ganz einfach hochdrücken.<br />
Bevor dieser Junge weggebracht wurde, haben wir beide es einmal<br />
nachts in unserem Schlafsaal ausprobiert. Über den Platten<br />
ist ein Zwischenraum, in den man hineinkriechen kann…«<br />
»Wohin kommt man dann?«<br />
»Keine Ahnung. Wir sind nur ein kleines Stück hineingekro<br />
286
chen. Wir haben gedacht, notfalls könnten wir uns dort oben<br />
verstecken, aber man würde uns wahrscheinlich finden.«<br />
Man konnte sich da oben nicht nur verstecken, dachte Lyra,<br />
sondern auch irgendwohin gelangen. Das war das Beste, was sie<br />
seit ihrer Ankunft gehört hatte. Aber bevor sie sich weiter<br />
unterhalten konnten, klopfte ein Arzt energisch mit einem<br />
Löffel auf den Tisch und begann zu sprechen.<br />
»Kinder«, sagte er, »hört mir bitte genau zu. Wir müssen ab<br />
und zu einen Probealarm durchführen. Dabei ist sehr wichtig,<br />
daß wir uns alle ordentlich anziehen und dann ganz ruhig nach<br />
draußen gehen. Deshalb üben wir heute nachmittag Feueralarm.<br />
Wenn die Klingel läutet, müßt ihr sofort alles unterbrechen,<br />
was ihr gerade macht, und tun, was die Erwachsenen in<br />
eurer Nähe sagen. Merkt euch, wohin ihr gebracht werdet.<br />
Dorthin müßt ihr nämlich gehen, wenn es wirklich einmal<br />
brennt.«<br />
Hm, dachte Lyra, keine schlechte Idee!<br />
Am frühen Nachmittag wurden Lyra und vier andere Mädchen<br />
nach Staub untersucht. Die Ärzte sagten das zwar nicht,<br />
doch war es leicht zu erraten. Die Mädchen wurden nacheinander<br />
in ein Labor geführt, und natürlich zitterten sie vor Angst.<br />
Wie schrecklich wäre es, dachte Lyra, wenn sie umkäme, bevor<br />
sie zuschlagen konnte! Aber offenbar sollte die Operation jetzt<br />
noch nicht durchgeführt werden.<br />
»Wir wollen ein paar Messungen vornehmen«, erklärte der<br />
Arzt. Es war schwer, diese Leute voneinander zu unterscheiden:<br />
Die Männer sahen sich in ihren weißen Kitteln und mit ihren<br />
Blöcken und Stiften zum Verwechseln ähnlich, und die Frauen<br />
wirkten in ihren Trachten und mit ihrem seltsam sanften und<br />
ruhigen Benehmen, als wären sie alle miteinander verwandt.<br />
»Ich bin doch gestern schon gemessen worden«, sagte Lyra.<br />
»Aber heute messen wir etwas anderes. Stell dich auf die<br />
Metallplatte — ach, zieh bitte zuerst die Schuhe aus. Deinen<br />
287
Dæmon kannst du ruhig festhalten. Die Augen nach vorn — ja,<br />
so — sieh genau auf das kleine grüne Licht. So ist es brav…«<br />
Es blitzte. <strong>Der</strong> Arzt drehte sie herum, dann nach links und<br />
nach rechts, und jedesmal klickte und blitzte es.<br />
»Ausgezeichnet. Jetzt tritt bitte an diesen Apparat und lege<br />
deine Hand in die Röhre. Es tut nicht weh, ich verspreche es.<br />
Streck die Finger aus. Gut so.«<br />
»Was messen Sie eigentlich?« fragte Lyra. »Staub?«<br />
»Wer hat dir denn das gesagt?«<br />
»Eins von den anderen Mädchen, ich weiß nicht, wie sie<br />
heißt. Sie hat gesagt, wir wären alle voller Staub. Aber ich bin<br />
nicht staubig, jedenfalls glaub ich das nicht. Ich hab erst gestern<br />
geduscht.«<br />
»Aber das ist eine andere Art von Staub. Mit den Augen<br />
kannst du ihn nicht sehen. Es ist ein besonderer Staub. Jetzt<br />
mach eine Faust — genau so. Gut. Wenn du da drin herumtastest,<br />
findest du eine Art Griff – hast du ihn? Halte ihn fest, so<br />
ist es brav. Und jetzt lege deine andere Hand hier drauf— auf<br />
diese Messingkugel. Gut. Ausgezeichnet. Jetzt spürst du gleich<br />
ein leichtes Kribbeln, nichts Schlimmes, nur eine kleine anbarische<br />
Spannung…«<br />
Pantalaimon strich, aufs äußerste gespannt und wachsam, in<br />
Gestalt einer Wildkatze mit mißtrauisch gehetztem Blick um<br />
den Apparat. Zwischendurch kehrte er immer wieder zu Lyra<br />
zurück, um sich an ihr zu reiben.<br />
Sie war mittlerweile überzeugt, daß die Operation jetzt noch<br />
nicht an ihr vorgenommen würde und daß ihre Tarnung als<br />
Lizzie Brooks sicher war. Deshalb riskierte sie eine Frage.<br />
»Wieso schneiden Sie den Menschen die Dæmonen ab?«<br />
»Was? Wer hat dir denn das erzählt?«<br />
»Das Mädchen, dessen Namen ich nicht weiß. Sie hat gesagt,<br />
Sie würden den Menschen die Dæmonen abschneiden.«<br />
»Unsinn…«<br />
288
Er war jedoch ziemlich erregt.<br />
»Weil Sie ein Kind nach dem anderen wegbringen und nie<br />
eins zurückkommt«, fuhr Lyra fort. »Einige sagen, daß Sie sie<br />
einfach töten, und andere sagen etwas anderes, und dieses Mädchen<br />
sagte, Sie schneiden…«<br />
»Das stimmt überhaupt nicht. Wenn wir Kinder fortbringen,<br />
dann nur deshalb, weil es Zeit für sie ist, woanders hinzugehen.<br />
Sie werden erwachsen. Deine Freundin regt sich leider ganz<br />
unbegründet auf. Nichts davon ist wahr! Denk gar nicht darüber<br />
nach. Wer ist denn deine Freundin?«<br />
»Ich bin erst gestern angekommen und kenne noch niemand<br />
beim Namen.«<br />
»Wie sieht sie denn aus?«<br />
»Hab ich vergessen. Ich glaube, sie hatte braune Haare… hellbraune<br />
vielleicht… keine Ahnung.«<br />
<strong>Der</strong> Arzt besprach leise etwas mit der Schwester. Während<br />
die beiden berieten, beobachtete Lyra ihre Dæmonen. Die<br />
Schwester hatte einen hübschen Vogel, der genauso gepflegt<br />
und teilnahmslos wirkte wie Schwester Claras Hund, und der<br />
Dæmon des Arztes war eine große, dicke Motte. Keiner von<br />
beiden rührte sich. Sie waren zwar wach, denn die Augen des<br />
Vogels glänzten und die Fühler der Motte bewegten sich träge,<br />
aber sie waren nicht so lebendig, wie Lyra eigentlich erwartet<br />
hätte. Sie schienen beide weder Sorge noch Neugier zu kennen.<br />
Kurz darauf kam der Arzt zurück, und sie setzten die Untersuchung<br />
fort: Lyra und Pantalaimon wurden einzeln gewogen,<br />
dann wurde Lyra hinter einem speziellen Wandschirm untersucht,<br />
ihr Puls wurde gemessen, und schließlich wurde sie unter<br />
eine Meine Düse gestellt, aus der es zischte und ein Geruch nach<br />
frischer Luft kam.<br />
Mitten in einer dieser Untersuchungen begann plötzlich<br />
eine Klingel zu schrillen. Das Klingeln hörte nicht mehr auf.<br />
289
»<strong>Der</strong> Feueralarm«, sagte der Arzt seufzend. »Also schön, Lizzie,<br />
dann geh mit Schwester Betty.«<br />
»Aber ihre warmen Sachen sind alle unten im Schlafsaal. So<br />
kann sie nicht raus. Finden Sie nicht, wir sollten zuerst hinuntergehen?«<br />
<strong>Der</strong> Arzt war verärgert, weil er seine Experimente hatte<br />
unterbrechen müssen, und schnippte wütend mit den Fingern.<br />
»Vermutlich sollen genau solche Dinge bei der Übung aufgedeckt<br />
werden«, sagte er. »Wie ärgerlich!«<br />
»Als ich gestern ankam«, sagte Lyra hilfsbereit, »hat Schwester<br />
Clara meine anderen Sachen in einen Schrank in dem Zimmer<br />
gelegt, in dem sie mich untersucht hat. Das Zimmer<br />
nebenan. Die könnte ich doch anziehen.«<br />
»Eine gute Idee!« sagte die Schwester. »Also dann, schnell.«<br />
Innerlich jubelnd eilte Lyra der Schwester nach, holte ihre<br />
eigenen Pelze, Gamaschen und Stiefel aus dem Schrank und zog<br />
sie rasch an, während die Schwester in einen Anorak aus Kohleseide<br />
schlüpfte.<br />
Dann hasteten sie hinaus. Auf dem weiten Platz vor den<br />
Hauptgebäuden befanden sich schon etwa hundert Erwachsene<br />
und Kinder; einige waren aufgeregt, andere ärgerlich und viele<br />
einfach nur verwirrt.<br />
»Sehen Sie?« sagte gerade ein Erwachsener. »Eine solche<br />
Übung lohnt sich schon allein deshalb, weil sie uns zeigt, was<br />
für ein Chaos bei einem wirklichen Feuer ausbrechen würde.«<br />
Jemand blies in eine Trillerpfeife und fuchtelte mit den<br />
Armen, aber niemand beachtete ihn. Lyra sah Roger und<br />
winkte ihn zu sich. Roger hakte Billy Costa unter, und bald liefen<br />
sie zu dritt durch das Gewühl der anderen Kinder.<br />
»Keiner merkt, wenn wir uns ein wenig umsehen«, sagte<br />
Lyra. »Sie brauchen eine Ewigkeit, um alle zu zählen, und wir<br />
sagen einfach, wir wären hinter jemand anders hergelaufen und<br />
hätten uns verirrt.«<br />
290
Sie warteten, bis die Erwachsenen in die andere Richtung<br />
sahen, dann kratzte Lyra mit den Händen etwas Schnee zusammen,<br />
klopfte ihn zu einem pulverigen Schneeball fest und<br />
schleuderte ihn aufs Geratewohl in die Menge. Im nächsten<br />
Augenblick taten alle Kinder dasselbe, und schon flogen lauter<br />
Schneebälle durch die Luft. Die Rufe, mit denen die Erwachsenen<br />
versuchten, die Ordnung wiederherzustellen, gingen in<br />
dem Gejohle völlig unter, und dann waren die drei Kinder auch<br />
schon um die Ecke verschwunden.<br />
Wegen des hohen Schnees kamen sie zwar nur langsam<br />
voran, doch da ihnen niemand folgte, war das nicht weiter<br />
schlimm. Sie kletterten über das gewölbte Dach eines Tunnels<br />
und standen plötzlich in einer seltsamen Mondlandschaft aus<br />
regelmäßig geformten Buckeln und Mulden, die weiß verhüllt<br />
unter dem schwarzen Himmel lagen, nur beleuchtet vom Licht<br />
der Lampen um den großen Platz.<br />
»Was suchen wir eigentlich?« fragte Billy.<br />
»Keine Ahnung. Wir sehen uns einfach mal um«, sagte Lyra<br />
und ging voraus zu einem etwas abseits stehenden, niedrigen,<br />
quadratischen Gebäude, an dessen Ecke eine schwache anbarische<br />
Lampe brannte.<br />
<strong>Der</strong> Tumult hinter ihnen war immer noch laut zu hören,<br />
kaum gedämpft durch die Entfernung. Die Kinder nutzten ihre<br />
Freiheit aus, und Lyra hoffte, sie würden es möglichst lange tun.<br />
Auf der Suche nach einem Fenster lief sie um das quadratische<br />
Gebäude herum. Das Haus war nur ungefähr zwei Meter hoch<br />
und im Unterschied zu den anderen Gebäuden nicht durch<br />
einen Tunnel mit der übrigen Station verbunden.<br />
Es gab zwar kein Fenster, aber sie entdeckte eine Tür. Darüber<br />
stand in roten Buchstaben: EINTRITT STRENG VERBO<br />
TEN. Lyra wollte gerade ausprobieren, ob sich die Tür öffnen<br />
ließ, doch bevor sie noch die Klinke drücken konnte, rief Roger:<br />
»Seht mal! Ein Vogel! Oder…«<br />
291
Seinem Oder waren deutliche Zweifel anzuhören, denn was<br />
da vom Himmel herabstieß, war gar kein Vogel. Lyra hatte dieses<br />
Wesen schon einmal gesehen.<br />
»<strong>Der</strong> Dæmon der Hexe!«<br />
Die Gans landete mit ausgebreiteten Schwingen inmitten<br />
einer Schneewolke.<br />
»Sei gegrüßt, Lyra«, sagte sie. »Ich bin dir hierher gefolgt,<br />
auch wenn du mich nicht gesehen hast. Ich habe die ganze Zeit<br />
daraufgewartet, daß du ins Freie kommst. Was ist passiert?«<br />
Rasch berichtete Lyra ihr alles. »Wo sind die Gypter?« fragte<br />
sie dann. »Ist John Faa verletzt? Konnten sie die Samojeden<br />
abwehren?«<br />
»Den meisten geht es gut. John Faa wurde verwundet, allerdings<br />
nicht schwer. Die Männer, die dich entführt haben, waren<br />
Jäger, die oft Reisende überfallen und ausrauben, und sie sind<br />
allein natürlich schneller als eine große Gruppe. Die Gypter<br />
brauchen noch einen Tag, bis sie hier sind.«<br />
Die beiden Jungen starrten den Gänsedæmon ängstlich an.<br />
Sie staunten, daß Lyra ihn so gut kannte, denn natürlich hatten<br />
sie nie zuvor einen Dæmon ohne seinen Menschen gesehen<br />
und wußten fast nichts über Hexen.<br />
»Hört mal«, sagte Lyra zu ihnen, »haltet lieber Wache, ja?<br />
Billy, du gehst da rüber, und du, Roger, bewachst den Weg, den<br />
wir gekommen sind. Wir haben nicht viel Zeit.«<br />
Die beiden rannten sofort los, und Lyra wandte sich wieder<br />
der Tür zu.<br />
»Warum willst du da hinein?« fragte der Gänsedæmon.<br />
»Weil an diesem Ort schreckliche Dinge geschehen. Sie<br />
schneiden nämlich« — Lyra senkte die Stimme — »sie<br />
schneiden<br />
Menschen die Dæmonen ab. Den Kindern. Und vielleicht tun<br />
sie es hier drin. Jedenfalls ist hier etwas faul, und ich wollte<br />
nachsehen. Aber die Tür ist abgeschlossen…«<br />
»Ich kann sie aufmachen«, sagte die Gans und schlug ein<br />
292
paarmal mit den Flügeln. Schnee wirbelte gegen die Tür, und<br />
Lyra hörte, wie sich im Schloß etwas drehte.<br />
»Jetzt geh vorsichtig hinein«, sagte der Dæmon.<br />
Lyra zog die Tür gegen den Widerstand des Schnees auf und<br />
schlüpfte hinein. <strong>Der</strong> Gänsedæmon folgte ihr. Pantalaimon zitterte<br />
vor Angst, weil er aber dem Dæmon der Hexe seine Angst<br />
nicht zeigen wollte, suchte er Zuflucht an Lyras Brust und versteckte<br />
sich in ihren Pelzen.<br />
Sobald sich Lyras Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten,<br />
sah sie, weshalb: Auf Regalen an den Wänden standen Glasbehälter<br />
aufgereiht, in denen sich geisterhafte Wesen in Gestalt<br />
von Katzen, Vögeln, Ratten und anderen Tieren bewegten, alle<br />
zutiefst verstört, verängstigt und aschfahl: die Dæmonen der<br />
abgeschnittenen Kinder.<br />
<strong>Der</strong> Dæmon der Hexe stieß einen zornigen Laut aus, und<br />
Lyra drückte Pantalaimon an sich und sagte: »Sieh nicht hin!<br />
Sieh bloß nicht hin!«<br />
»Wo sind die Kinder dieser Dæmonen?« fragte der Gänsedämon.<br />
Er bebte vor Wut.<br />
Den Tränen nahe, erzählte Lyra von ihrer Begegnung mit<br />
dem kleinen Tony Makarios und sah dabei über die Schulter zu<br />
den armen, eingesperrten Dæmonen hin, die in ihren Behältern<br />
nach vorn gekommen waren und die bleichen Gesichter an die<br />
Scheiben preßten. Lyra hörte leise, qualvolle Schmerzensschreie.<br />
Im dämmrigen Licht einer schwachen anbarischen<br />
Birne sah sie, daß an der Vorderseite der Behälter Namensschilder<br />
angebracht waren, und wahrhaftig, da stand auch ein leerer<br />
Behälter mit dem Namen Tony Makarios. Es gab insgesamt fünf<br />
oder sechs leere Kästen mit Namensschildern.<br />
»Ich lasse diese armen Dinger frei!« sagte sie wild entschlossen.<br />
»Ich schlage die Scheiben ein und lasse sie hinaus…«<br />
Suchend sah sie sich nach einem geeigneten Werkzeug um,<br />
aber der Raum war völlig leer.<br />
293
»Warte«, sagte der Gänsedæmon.<br />
Er war nicht nur der Dæmon einer Hexe, sondern auch<br />
wesentlich älter und stärker als Lyra. Sie mußte tun, was er sagte.<br />
»Die Leute müssen glauben, jemand hätte vergessen, die Tür<br />
zu verriegeln und die Käfige zu schließen«, erklärte er. »Wenn<br />
sie Scherben und Fußstapfen im Schnee entdecken, erwischen<br />
sie dich schnell. Aber sie dürfen dir nicht auf die Spur kommen,<br />
bis die Gypter hier sind. Tu jetzt genau, was ich dir sage: Hole<br />
eine Handvoll Schnee, und wenn ich es sage, bläst du der Reihe<br />
nach ein wenig davon an jeden Käfig.«<br />
Lyra rannte hinaus. Roger und Billy standen noch Wache,<br />
und von dem großen Platz drang immer noch Geschrei und<br />
Gelächter herüber, denn in der Zwischenzeit war höchstens<br />
eine Minute vergangen.<br />
Lyra schaufelte sich die Hände voll Pulverschnee und kehrte<br />
in das Gebäude zurück, um zu tun, was die Gans gesagt hatte.<br />
Jedesmal, wenn sie etwas Schnee an einen Käfig blies, ließ die<br />
Gans ein schnalzendes Geräusch ertönen, und der Riegel an der<br />
Vorderseite der Behälter sprang auf.<br />
Als Lyra alle Käfige entriegelt hatte, hob sie die Klappe des<br />
ersten an, und die bleiche Gestalt eines Spatzen flatterte hinaus.<br />
Bevor der Spatz sich allerdings fangen und fliegen konnte, fiel<br />
er auf den Boden. Zärtlich beugte die Gans sich hinunter und<br />
stupste ihn mit dem Schnabel an, um ihn aufzurichten. Daraufhin<br />
verwandelte sich der Spatz in eine Maus, die verstört hin<br />
und her rannte. Pantalaimon sprang hinab, um die Maus zu<br />
beruhigen.<br />
Lyra beeilte sich, sosehr sie konnte, und innerhalb weniger<br />
Minuten waren alle Dæmonen befreit. Einige versuchten zu<br />
sprechen, sie scharten sich um ihre Füße oder versuchten sogar,<br />
an ihren Gamaschen zu zupfen, obwohl ein Tabu sie zurückhielt.<br />
Lyra verstand die armen Dinger; sie vermißten die<br />
Wärme und Geborgenheit ihrer Menschen und sehnten sich<br />
294
danach, sich an ein schlagendes Herz zu pressen. Pantalaimon<br />
wäre es nicht anders ergangen.<br />
»Nun aber schnell«, sagte die Gans. »Lauf wieder zu den<br />
anderen Kindern zurück, Lyra. Sei tapfer, Kind, die Gypter<br />
kommen, so schnell sie können. Ich muß jetzt diesen armen<br />
Dæmonen helfen, ihre Menschen wiederzufinden…« Sie kam<br />
näher und sagte leise: »Sie werden nie wieder mit ihnen eins<br />
werden. Sie sind für immer getrennt. Das ist wirklich die größte<br />
Schandtat, die ich je gesehen habe… Laß nur die Fußabdrücke,<br />
ich verwische sie schon. Beeil dich lieber…«<br />
»Bitte, noch eins, bevor du gehst! Die Hexen… Sie können<br />
doch fliegen, oder? Ich habe doch nicht geträumt, als ich sie<br />
neulich nachts fliegen sah?«<br />
»Ja, Kind. Warum?«<br />
»Könnten sie einen Ballon ziehen?«<br />
»Sicher, aber…«<br />
»Kommt Serafina Pekkala?«<br />
»Ich habe jetzt keine Zeit, um dir die Politik der Hexenvölker<br />
zu erklären. Dabei sind gewaltige Kräfte am Werk, und Serafina<br />
Pekkala muß die Interessen ihres Stammes wahren. Aber vielleicht<br />
ist das, was hier geschieht, ein Teil von dem, was<br />
anderswo geschieht. Jetzt lauf aber, Lyra, du wirst sicher schon<br />
vermißt. Lauf!«<br />
Lyra rannte los. Roger, der mit aufgerissenen Augen die bleichen<br />
Dæmonen aus dem Gebäude herausströmen sah, stapfte<br />
ihr mühsam durch den hohen Schnee entgegen.<br />
»Das sind — das sind ja Dæmonen! Wie in der Krypta in Jordan.«<br />
»Ja, aber pst! Sag Billy nichts davon. Sag es noch keinem!<br />
Komm, wir müssen zurück.«<br />
Hinter ihnen schlug die Gans mächtig mit den Flügeln und<br />
wehte Schnee über die Fußspuren der Kinder. Um sie herum<br />
sammelten sich die verlorenen Dæmonen, die vor Einsamkeit<br />
295
und Sehnsucht traurig piepsten. Als die Fußabdrücke verwischt<br />
waren, drehte die Gans sich um und trieb die bleichen Daemonen<br />
zusammen. Sie sprach zu ihnen, und nacheinander verwandelten<br />
sich alle in Vögel, wenn auch mit sichtlicher Anstrengung.<br />
Als wären sie gerade erst flügge geworden, flatterten und<br />
fielen und rannten sie durch den Schnee hinter dem Dæmon<br />
der Hexe her und hoben schließlich unter großen Mühen ab.<br />
Nacheinander stiegen sie auf, geisterhaft bleiche Wesen vor<br />
einem tiefschwarzen Himmel, und gewannen langsam an<br />
Höhe, auch wenn einige vor lauter Schwäche taumelten und<br />
andere aufgaben und wieder hinunterflatterten. Aber die große<br />
graue Gans umkreiste sie, stupste sie zurück und trieb sie sanft<br />
vorwärts, bis sie in der tiefen Dunkelheit verschwunden waren.<br />
Roger zerrte Lyra am Arm.<br />
»Schnell«, sagte er, »sie sind fast fertig.«<br />
Sie rannten stolpernd zu Billy, der ihnen von der Ecke des<br />
Hauptgebäudes aus zuwinkte. Entweder die Kinder waren<br />
mittlerweile müde geworden, oder die Erwachsenen hatten<br />
sich wieder durchgesetzt, jedenfalls bildeten sich unter großem<br />
Gedrängel und Geschubse am Haupteingang gerade unordentliche<br />
Reihen. Lyra und die beiden Jungen huschten aus dem<br />
Schatten der Ecke, um sich unter die Kinder zu mischen.<br />
»Sagt allen Kindern«, wies Lyra sie zuletzt noch an, »sie<br />
sollen<br />
sich bereit machen zur Flucht. Sie müssen wissen, wo ihre Wintersachen<br />
sind und sie sofort holen und ins Freie rennen, sobald<br />
wir ihnen das Zeichen geben. Sie dürfen aber niemandem etwas<br />
davon sagen, verstanden?«<br />
Billy nickte und Roger fragte: »Was für ein Zeichen?«<br />
»<strong>Der</strong> Feueralarm«, sagte Lyra. »Wenn es soweit ist, löse ich<br />
ihn aus.«<br />
Sie warteten darauf, abgezählt zu werden. Wenn ein Mitglied<br />
der Oblations-Behörde Erfahrung mit Schulkindern gehabt<br />
hätte, wäre wahrscheinlich alles besser organisiert worden. So<br />
296
aber mußte, da die Kinder nicht zu bestimmten Gruppen<br />
gehörten, jedes Kind einzeln von der gesamten, natürlich nicht<br />
alphabetisch geordneten Liste abgehakt werden, und da außerdem<br />
offensichtlich keiner der Erwachsenen gewohnt war, für<br />
Ordnung zu sorgen, herrschte, obwohl mittlerweile niemand<br />
mehr herumrannte, ein großes Durcheinander.<br />
Lyra beobachtete alles aufmerksam. Von Ordnung verstand<br />
man hier jedenfalls kaum etwas. So vieles war schlampig geregelt:<br />
Die Angestellten murrten über Probealarm, hatten keine<br />
Ahnung, wo die warmen Kleider aufbewahrt wurden, und<br />
brachten es nicht einmal fertig, daß Kinder sich in ordentlichen<br />
Reihen aufstellten. Vielleicht konnte sie sich diese Nachlässigkeit<br />
ja zunutze machen.<br />
Kurz bevor man mit dem Abzählen fertig war, kam eine<br />
neue Ablenkung, allerdings war, was jetzt geschah, aus Lyras<br />
Sicht das Schlimmste, was überhaupt passieren konnte.<br />
Sie hörte das Geräusch gleichzeitig mit den anderen Kindern.<br />
Köpfe drehten sich nach oben und suchten den Himmel<br />
nach dem Zeppelin ab, dessen pochender Gasmotor die Stille<br />
zerriß.<br />
Glücklicherweise kam der Zeppelin nicht aus der Richtung,<br />
in die der Gänsedæmon geflogen war, sondern aus der entgegengesetzten.<br />
Aber das war auch der einzige Trost. Wenig später<br />
war das Luftschiff in Sichtweite, und ein aufgeregtes Murmeln<br />
ging durch die Menge. <strong>Der</strong> elegant gewölbte, silberne Rumpf<br />
schwebte über die Lichterallee, und die Lichter am Bug und in<br />
der unterhalb des Rumpfes hängenden Gondel strahlten hell<br />
nach unten.<br />
<strong>Der</strong> Pilot drosselte die Geschwindigkeit und begann mit<br />
dem komplizierten Manöver der Landung. Nun erkannte Lyra<br />
auch den Zweck des dicken Mastes: Es war natürlich ein Ankermast.<br />
Während die Erwachsenen die Kinder, die immer wieder<br />
auf das Luftschiff zeigten und ihren Blick nicht davon losreißen<br />
297
konnten, ins Gebäude zurückführten, kletterte die Bodenmannschaft<br />
die Leitern im Mast hoch, um die Ankerseile entgegenzunehmen<br />
und zu befestigen. Die Motoren heulten,<br />
Schnee wirbelte auf, und an den Fenstern der Gondel erschienen<br />
die Gesichter der Passagiere.<br />
Lyra sah hinüber — nein, ein Irrtum war ausgeschlossen.<br />
Pantalaimon klammerte sich an sie, verwandelte sich in eine<br />
Wildkatze und fauchte haßerfüllt, denn aus einem der Fenster<br />
blickte neugierig der schöne, von dunklem Haar umrahmte<br />
Kopf von Mrs. Coulter, und auf ihrem Schoß saß der <strong>goldene</strong><br />
Affe.<br />
298
Sechzehn<br />
Die silberne Guillotine<br />
Sofort zog Lyra den Kopf unter die schützende Kapuze aus<br />
Marderpelz und schob sich mit den anderen Kindern durch die<br />
Doppeltüren. Was sie sagen wollte, wenn sie Mrs. Coulter<br />
gegenüberstand, konnte sie sich später noch überlegen, zuerst<br />
mußte sie ein anderes Problem lösen: Wo konnte sie ihre Kleider<br />
aus Fell verstecken, damit sie nicht um Erlaubnis fragen<br />
mußte, wenn sie sie brauchte?<br />
Zum Glück herrschte im Haus, wo die Erwachsenen die<br />
Kinder zur Eile antrieben, um den Weg für die Passagiere aus<br />
dem Zeppelin frei zu machen, ein solches Durcheinander, daß<br />
niemand Lyra weiter beachtete. Sie schlüpfte aus Anorak,<br />
Gamaschen und Stiefeln, wickelte alles zu einem möglichst<br />
kleinen Bündel zusammen und drängelte dann durch die überfüllten<br />
Gänge zu ihrem Schlafsaal.<br />
Dort schob sie rasch einen Spind in die Ecke, stieg hinauf und<br />
drückte gegen die Zimmerdecke. Die Platte ließ sich anheben,<br />
genau wie Roger gesagt hatte, und Lyra schob Stiefel und<br />
Gamaschen in den Zwischenraum darüber. Sie überlegte kurz,<br />
dann nahm sie auch das Alethiometer aus dem Beutel, versteckte<br />
es in der innersten Tasche des Anoraks und stopfte beides<br />
in dieselbe Lücke.<br />
Sie sprang vom Spind herunter, rückte ihn wieder an seinen<br />
299
Platz zurück und sagte flüsternd zu Pantalaimon: »Wir stellen<br />
uns einfach dumm, bis sie uns sieht, und dann sagen wir, wir<br />
wären entführt worden. Und kein Wort über die Gypter und<br />
schon gar nicht über Iorek Byrnison.«<br />
Denn jetzt merkte Lyra, wenn sie es nicht schon die ganze<br />
Zeit gewußt hatte, daß ihre ganze Angst sich auf Mrs. Coulter<br />
richtete wie eine Kompaßnadel auf den Pol. Mit all den anderen<br />
Dingen, die sie gesehen hatte, war sie fertig geworden, sogar mit<br />
der unmenschlich grausamen Interzision, denn sie war stark.<br />
Doch jedesmal, wenn sie an das freundliche Gesicht und die<br />
sanfte Stimme dachte und sich den verspielten, <strong>goldene</strong>n Affen<br />
vorstellte, krampfte sich ihr Magen zusammen, und sie wurde<br />
blaß und hätte sich am liebsten übergeben.<br />
Aber die Gypter waren ja auf dem Weg hierher. Daran<br />
mußte sie denken. Und an Iorek Byrnison. Und sie durfte sich<br />
nicht verraten. Langsam ging sie zur Kantine zurück, aus der ihr<br />
schon von weitem Lärm entgegenkam.<br />
Die Kinder standen Schlange nach heißen Getränken, einige<br />
von ihnen noch in den Anoraks aus Kohleseide. Alle Gespräche<br />
kreisten um den Zeppelin und seinen Passagier.<br />
»Sie war es, ich habe sie erkannt… mit dem Affendæmon…«<br />
»Hat sie dich auch hergelockt?«<br />
»Sie hat gesagt, sie schreibt meiner Mum und meinem Dad,<br />
aber ich wette, sie hat es nie getan…«<br />
»Daß Kinder umgebracht werden, hat sie nicht gesagt. Kein<br />
Wort davon.«<br />
»<strong>Der</strong> Affe, der ist wirklich am schlimmsten… er hat meine<br />
Karossa gefangen und hätte sie fast getötet… mir wurde ganz<br />
schlecht…«<br />
Die Kinder hatten genauso viel Angst wie Lyra. Sie entdeckte<br />
Annie und ihre Freundinnen und setzte sich zu ihnen an den<br />
Tisch.<br />
»Hört zu«, sagte sie, »könnt ihr ein Geheimnis bewahren?«<br />
300
»Klar!«<br />
Die drei blickten sie erwartungsvoll an.<br />
»Es gibt nämlich einen Fluchtplan«, sagte Lyra leise. »Und<br />
zwar kommen ein paar Leute her, um uns zu befreien. Sie müßten<br />
ungefähr in einem Tag hier sein, vielleicht auch schon früher.<br />
Jedenfalls müßt ihr euch bereit halten. Sobald das Zeichen<br />
gegeben wird, müssen alle sofort ihre Wintersachen holen und<br />
rausrennen. Ihr dürft dann nicht mehr warten und rumstehen,<br />
sondern müßt gleich losrennen. Aber ihr braucht unbedingt<br />
eure Anoraks und Stiefel, sonst kommt ihr in der Kälte um.«<br />
»Was für ein Zeichen?« fragte Annie.<br />
»<strong>Der</strong> Feueralarm, wie heute nachmittag. Es ist alles organisiert.<br />
Wir müssen allen Kindern Bescheid sagen, aber so, daß es<br />
die Erwachsenen nicht erfahren. Vor allem darf sie es nicht wissen.«<br />
Die Augen der Mädchen leuchteten vor Hoffnung und Aufregung.<br />
Nach und nach verbreitete sich die Nachricht in der<br />
ganzen Kantine, und Lyra spürte deutlich, wie die Stimmung<br />
umschlug. Draußen hatten die Kinder noch ausgelassen<br />
gespielt, und dann waren sie, kaum daß sie Mrs. Coulter gesehen<br />
hatten, vor unterdrückter Angst und Hysterie ganz außer<br />
sich gewesen; jetzt dagegen machten sie einen gefaßten und<br />
entschlossenen Eindruck. Lyra staunte, was Hoffnung alles<br />
bewirkte.<br />
Aufmerksam spähte sie durch die offene Tür, bereit, sich<br />
sofort zu ducken, denn auf dem Flur näherten sich Stimmen<br />
von Erwachsenen, und dann war Mrs. Coulter selbst kurz zu<br />
sehen, sie sah herein und lächelte den Kindern zu. Wie gut die<br />
Kleinen es hier doch hatten, im Warmen und mit heißen<br />
Getränken und Kuchen! Ein Schauer lief durch die Kantine,<br />
und die Kinder verstummten und starrten Mrs. Coulter an.<br />
Mrs. Coulter lächelte und ging weiter, ohne etwas zu sagen.<br />
Nach und nach wurden die Gespräche wiederaufgenommen.<br />
301
»Wohin gehen sie, wenn sie sich unterhalten wollen?« fragte<br />
Lyra.<br />
»Meistens ins Konferenzzimmer«, sagte Annie. »Einmal<br />
wurden wir da auch hingebracht«, fügte sie hinzu. Damit<br />
meinte sie sich und ihren Dæmon. »Es waren ungefähr zwanzig<br />
Erwachsene anwesend, und einer von ihnen hat einen Vortrag<br />
gehalten, und ich mußte mich hinstellen und tun, was er sagte,<br />
zum Beispiel ausprobieren, wie weit sich mein Kyrillion von<br />
mir entfernen konnte. Und dann hat er mich hypnotisiert und<br />
noch andere Sachen gemacht… Es ist ein großer Raum mit vielen<br />
Stühlen und Tischen und einem kleinen Podium; er liegt<br />
direkt hinter dem Empfangsbüro. He, ich wette, sie tun jetzt so,<br />
als ob der Probealarm wunderbar geklappt hätte. Ich könnte<br />
wetten, daß sie genauso Angst vor ihr haben wie wir…«<br />
Den Rest des Tages, beim Turnen, Nähen, Abendessen und<br />
beim anschließenden Spielen, hielt sich Lyra in der Nähe der<br />
anderen Mädchen auf, sprach wenig, sah aufmerksam um sich<br />
und verhielt sich möglichst unauffällig. Gespielt wurde im<br />
Gemeinschaftsraum, einem großen, heruntergekommenen<br />
Zimmer, in dem es Brettspiele, ein paar zerfledderte Bücher<br />
und eine Tischtennisplatte gab. Irgendwann bemerkten Lyra<br />
und die anderen Kinder, daß offenbar etwas nicht stimmte,<br />
denn die Erwachsenen hasteten aufgeregt ins Zimmer und wieder<br />
hinaus oder standen in besorgten Gruppen zusammen und<br />
redeten aufeinander ein. Sie hatten die Flucht der Dæmonen<br />
entdeckt, vermutete Lyra, und wunderten sich jetzt, wie das<br />
möglich war.<br />
Zu ihrer Erleichterung sah sie jedoch nirgends Mrs. Coulter.<br />
Als es Zeit zum Schlafengehen war, beschloß sie, die anderen<br />
Mädchen in ihren Plan einzuweihen.<br />
»Sagt mal«, fragte sie, »gehen die Schwestern eigentlich<br />
immer noch einmal durch die Zimmer und kontrollieren, ob<br />
wir schlafen?«<br />
302
»Sie sehen einmal rein«, sagte Bella, »und leuchten kurz mit<br />
der Laterne herum, schauen aber eigentlich nicht richtig nach.«<br />
»Gut. Ich will mich nämlich ein bißchen umsehen. Ein Junge<br />
hat mir gezeigt, daß es einen Gang über der Decke gibt…«<br />
Sie erklärte den Mädchen, was sie wußte, und noch ehe sie<br />
fertig war, sagte Annie: »Ich komme mit!«<br />
»Nein, besser nicht. Es fällt nicht so auf, wenn nur eine fehlt.<br />
Und ihr könnt dann alle sagen, ihr hättet geschlafen und wüßtet<br />
nicht, wo ich sei.«<br />
»Aber wenn ich mitkäme…«<br />
»Erwischen sie uns nur leichter«, sagte Lyra.<br />
Die beiden Dæmonen der Mädchen starrten sich an, Pantalaimon<br />
in Gestalt einer Wildkatze, Annies Kyrillion als Fuchs.<br />
Beide zitterten. Pantalaimon stieß sein leisestes Fauchen aus<br />
und bleckte die Zähne, worauf Kyrillion sich umdrehte und<br />
sich wie unbeteiligt zu putzen begann.<br />
»Na gut«, meinte Annie resigniert.<br />
Streitfälle zwischen Kindern wurden häufig dadurch<br />
geschlichtet, daß ein Dæmon nach kurzem Kräftemessen die<br />
Überlegenheit des anderen anerkannte. Da die Menschen eine<br />
solche Entscheidung meist ohne Groll akzeptierten, wußte<br />
Lyra, daß Annie tun würde, was sie von ihr verlangte.<br />
Alle steuerten Kleidungsstücke bei, um Lyras Bett so auszustopfen,<br />
als liege sie unter der Decke, und versprachen, so zu<br />
tun, als ob sie von nichts wußten. Lyra horchte an der Tür, um<br />
sicherzugehen, daß niemand kam, schwang sich auf den Spind,<br />
drückte die Deckenplatte nach oben und zog sich hinauf.<br />
»Verratet bloß nichts«, flüsterte sie den drei Gesichtern zu,<br />
die zu ihr heraufsahen.<br />
Sie ließ die Platte sacht an ihren Platz zurückgleiten und<br />
blickte sich um.<br />
Sie kauerte in einer schmalen Metallrinne, die von einem<br />
Gerüst von Trägern und Verstrebungen getragen wurde. Die<br />
303
Deckenplatten ließen etwas Licht von unten durch, und in ihm<br />
sah Lyra, daß sich der niedrige, nur gut einen halben Meter<br />
hohe Zwischenraum nach allen Richtungen ausdehnte. In dem<br />
Gewirr aus Leitungen und Rohren konnte man sich zwar leicht<br />
verirren, aber solange sie auf den Metall trägern blieb, die Platten<br />
nicht belastete und keinen Lärm machte, müßte sie eigentlich<br />
von einem Ende der Station zum anderen gelangen können.<br />
»Genau wie damals in Jordan, Pan«, flüsterte sie, »als wir uns<br />
ins Ruhezimmer geschlichen haben.«<br />
»Hättest du das nicht getan, wäre das alles nicht passiert«, flüsterte<br />
er zurück.<br />
»Dann muß ich das auch wiedergutmachen, findest du nicht,<br />
Pan?«<br />
Sie sah sich um, überlegte, wo das Konferenzzimmer liegen<br />
mußte, und machte sich auf den Weg. Es war alles andere als<br />
leicht. <strong>Der</strong> Zwischenraum war so niedrig, daß sie nur auf allen<br />
vieren kriechen konnte, und ab und zu mußte sie sich auch<br />
noch unter einem breiten Lüftungsschacht hindurchzwängen<br />
oder über Heizungsrohre rutschen. Soweit sie beurteilen<br />
konnte, verliefen die Metallrinnen, durch die sie kroch, auf den<br />
Mauern der Zimmerwände und machten einen vertrauenerweckend<br />
stabilen Eindruck Dafür waren sie sehr schmal und<br />
hatten so scharfe Kanten, daß sie sich Knöchel und Knie daran<br />
aufschnitt und nach kurzer Zeit überall wund, voller Staub und<br />
vom Bücken ganz verkrampft war.<br />
Aber sie wußte ungefähr, wo sie sich befand, und sah auch<br />
den dunklen Kleiderhaufen, den sie in die Decke über dem<br />
Schlafsaal gestopft hatte und der ihr als Orientierung für den<br />
Rückweg dienen konnte. Leere Zimmer erkannte sie an den<br />
dunklen Deckenplatten. Gelegentlich hörte sie Stimmen von<br />
unten und hielt inne, um zu lauschen, aber es waren nur die<br />
Angestellten in der Küche oder die Schwestern in ihrem Auf<br />
304
enthaltsraum, wie Lyra mit ihren in Jordan gemachten Erfahrungen<br />
vermutete. Da sie über nichts Interessantes sprachen,<br />
kroch Lyra weiter.<br />
Schließlich kam sie an die Stelle, wo ihren Berechnungen<br />
nach das Konferenzzimmer sein mußte, und tatsächlich lag<br />
eine Fläche ohne Rohrleitungen vor ihr, ein großes Rechteck<br />
gleichmäßig erleuchteter Platten, an dessen Ende verschiedene<br />
Rohre für Klimaanlage und Heizung hinunterführten. Sie legte<br />
das Ohr auf eine Platte, und als sie leise Männerstimmen hörte,<br />
wußte sie, daß sie am Ziel war.<br />
Sie horchte eine Weile, dann schob sie sich zentimeterweise<br />
so nah es ging an die Sprechenden heran. Schließlich lag sie der<br />
Länge nach in der Metallrinne, den Kopf über den Rand<br />
gestreckt, um möglichst viel zu verstehen.<br />
Anscheinend aßen sie, während sie sich unterhielten, denn<br />
ab und zu klapperte Besteck, oder es klirrte ein Glas, wenn eingeschenkt<br />
wurde. Sie hörte vier Stimmen, einschließlich der<br />
von Mrs. Coulter. Die anderen drei waren Männerstimmen.<br />
Offenbar sprachen sie über die entflohenen Dæmonen.<br />
»Wer ist eigentlich für die Überwachung dieses Bereichs<br />
zuständig?« fragte die sanfte, melodische Stimme von Mrs.<br />
Coulter.<br />
»Einer unserer Forscher namens McKay«, antwortete einer<br />
der Männer. »Aber wir haben automatische Vorrichtungen eingebaut,<br />
um solche Vorfälle zu verhindern…«<br />
»Sie haben nicht funktioniert.«<br />
»Mit Verlaub, doch, Mrs. Coulter. Wie McKay uns versichert,<br />
hat er alle Käfige verriegelt, als er heute um elf das<br />
Gebäude verließ. Die Außentür war sowieso zu, da er wie<br />
immer durch die Tür im Inneren hinein- und hinausging. Um<br />
die Schlösser zu kontrollieren, muß ein Code in den Ordinator<br />
eingegeben werden, und daß er das getan hat, wurde aufgezeichnet.<br />
Wenn das nicht geschieht, wird ein Alarm ausgelöst.«<br />
305
»Aber der Alarm wurde nicht ausgelöst«, sagte sie.<br />
»Doch, nur leider waren in diesem Moment alle draußen<br />
und nahmen am Probealarm teil.«<br />
»Aber als Sie wieder hereinkamen…«<br />
»Dummerweise gehören beide Alarmsysteme zu ein und<br />
demselben Stromkreis, ein Konstruktionsfehler, der behoben<br />
werden muß. Folglich wurde nach der Übung nicht nur der<br />
Feueralarm, sondern zugleich auch der Alarm im Labor abgeschaltet.<br />
Doch selbst dann hätten wir es eigentlich noch entdekken<br />
müssen, da wir normalerweise nach jeder außerplanmäßigen<br />
Unterbrechung Kontrollen durchführen. Aber genau zu<br />
diesem Zeitpunkt sind Sie, Mrs. Coulter, unerwartet eingetroffen<br />
und wollten, wenn Sie sich erinnern, ausgerechnet das<br />
Laborpersonal sofort in Ihrem Zimmer sprechen. Deshalb kam<br />
erst einige Zeit später wieder jemand ins Labor.«<br />
»Ich verstehe«, sagte Mrs. Coulter kalt. »Also müssen die<br />
Dæmonen während des Probealarms befreit worden sein. Das<br />
heißt, daß alle Erwachsenen der Station zum Kreis der Verdächtigen<br />
gehören. Haben Sie das bedacht?«<br />
»Haben Sie daran gedacht, daß es auch ein Kind gewesen sein<br />
kann?« fragte eine andere Männerstimme.<br />
Mrs. Coulter schwieg, und der andere Mann fuhr fort: »Jeder<br />
Erwachsene hatte eine bestimmte Aufgabe, die seine ganze<br />
Konzentration erforderte, und alle Aufgaben wurden erfüllt.<br />
Deshalb kann unmöglich jemand vom Personal die Labortür<br />
geöffnet haben. Also ist entweder jemand von außerhalb ins<br />
Labor eingedrungen, oder eins der Kinder hat das Labor ausfindig<br />
gemacht und Tür und Käfige geöffnet, um anschließend<br />
unbemerkt auf den Platz vors Hauptgebäude zurückzukehren.«<br />
»Und wie wollen Sie das feststellen?« sagte Mrs. Coulter.<br />
»Nein, ich will es gar nicht wissen. Bitte, Doktor Cooper, verstehen<br />
Sie, daß ich Sie nicht aus Bösartigkeit kritisiere, aber wir<br />
müssen einfach extrem vorsichtig sein. Beide Alarmsysteme in<br />
306
denselben Stromkreis zu legen war ein ungeheuerlicher Fehler,<br />
der sofort behoben werden muß. Vielleicht kann der für die<br />
Wache zuständige tatarische Offizier Ihnen bei der Untersuchung<br />
helfen. Ich erwähne das lediglich als Möglichkeit. Wo<br />
waren überhaupt die Tataren während des Probealarms? Ich<br />
nehme an, Sie haben das bereits geklärt.«<br />
»Ja, das haben wir«, antwortete der Mann mißmutig. »Die<br />
Wachsoldaten waren vollzählig auf ihrer Runde durch das<br />
Gelände. Sie führen penibel Buch darüber.«<br />
»Ich bin überzeugt, daß Sie Ihr Bestes tun«, sagte Mrs. Coulter.<br />
»Tja, jetzt können wir es nicht mehr ändern. Ein Jammer!<br />
Aber gut, erzählen Sie mir lieber vom neuen Separator.«<br />
Lyra überlief ein Angstschauder. Das konnte nur eines<br />
bedeuten.<br />
»Jawohl«, sagte der als Doktor Cooper angesprochene Mann,<br />
offenbar erleichtert, daß die Unterhaltung zu einem anderen<br />
Thema wechselte. »Damit haben wir wirklich Fortschritte<br />
gemacht. Beim ersten Modell konnten wir das Risiko, daß der<br />
Patient an Schock starb, ja nicht völlig ausschalten, doch diese<br />
Schwachstelle haben wir nun entscheidend verbessert.«<br />
»Die Skrälinge waren mit der Hand besser«, meinte ein<br />
Mann, der bisher noch nichts gesagt hatte.<br />
»Jahrhundertelange Übung«, sagte der andere Mann.<br />
»Einfaches Auseinanderreißen war eben eine Zeitlang die einzige<br />
Möglichkeit«, sagte daraufhin der Wortführer, »so qualvoll<br />
das auch für die die Operation durchführenden Erwachsenen<br />
war. Wie Sie sich vielleicht erinnern, mußten wir eine beträchtliche<br />
Zahl von ihnen wegen streßbedingter Angstzustände entlassen.<br />
<strong>Der</strong> erste große Durchbruch gelang schließlich mit dem<br />
Einsatz des anbarischen Maystadt-Skalpells unter Narkose.<br />
Dadurch konnten wir die Sterblichkeitsrate durch operationsbedingten<br />
Schock auf unter fünf Prozent drücken.«<br />
»Und das neue Gerät?« fragte Mrs. Coulter.<br />
307
Lyra zitterte, und das Blut pochte in ihren Ohren. Pantalaimon<br />
preßte sich in Gestalt eines Hermelins an sie und flüsterte:<br />
»Pst, Lyra, das werden sie nicht tun — wir werden es nicht zulassen…«<br />
»Na ja, im Grunde verdanken wir die neue Methode einer<br />
merkwürdigen Entdeckung von Lord Asriel. Er fand heraus,<br />
daß Dæmonen sich mit einer Legierung aus Mangan und Titan<br />
vom menschlichen Körper isolieren lassen. Was ist eigentlich<br />
mit Lord Asriel passiert?«<br />
»Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört«, sagte Mrs. Coulter,<br />
»aber Lord Asriel wurde zum Tode verurteilt, die Strafe<br />
wurde allerdings noch ausgesetzt. Zu den Bedingungen seiner<br />
Verbannung nach Svalbard gehörte auch, daß er seine philosophische<br />
Arbeit völlig aufgab. Bedauerlicherweise gelang es ihm<br />
trotzdem, sich Bücher und Material zu beschaffen und seine<br />
ketzerischen Untersuchungen so weit voranzutreiben, daß es<br />
ausgesprochen gefährlich wäre, ihn am Leben zu lassen. Jedenfalls<br />
denkt das Geistliche Disziplinargericht inzwischen offenbar<br />
über die Vollstreckung des Urteils nach, und vermutlich<br />
wird es dazu kommen. Aber nun zu Ihrem neuen Gerät, Doktor.<br />
Erklären Sie mir, wie es funktioniert.«<br />
»Ach — zum Tode verurteilt, sagen Sie? Großer Gott… das<br />
tut mir aber leid. Tja, also das neue Gerät… Wir untersuchen<br />
gerade die Auswirkungen der Interzision bei nichtbetäubten<br />
Patienten, was natürlich mit dem Maystadt-Verfahren unmöglich<br />
war. Dazu haben wir eine Art… Guillotine entwickelt, wie<br />
man es nennen könnte, mit einer Klinge aus einer Mangan-<br />
Titan-Legierung. Kind und Dæmon kommen in zwei einzelne,<br />
aber miteinander verbundene Kabinen — kleine Zellen, sozusagen<br />
— aus einem Maschendraht aus derselben Legierung.<br />
Solange die beiden Kabinen miteinander verbunden sind,<br />
besteht natürlich auch die Verbindung zwischen Kind und<br />
Dæmon weiter, aber sobald die Klinge herunterfällt, wird die<br />
308
Verbindung abgeschnitten, und von da an sind sie getrennte<br />
Wesen.«<br />
»Das möchte ich mir ansehen«, sagte Mrs. Coulter, »und<br />
zwar möglichst bald. Doch jetzt bin ich müde und werde wohl<br />
schlafen gehen. Morgen will ich alle Kinder sehen. Wir finden<br />
schon heraus, wer diese Tür geöffnet hat.«<br />
Stühle wurden zurückgeschoben, dann wurden höfliche<br />
Abschiedsworte gewechselt und eine Tür geschlossen. Lyra<br />
hörte, wie die Männer sich wieder setzten und sich weiterunterhielten,<br />
allerdings leiser als zuvor.<br />
»Was hat Lord Asriel vor?«<br />
»Er hat meiner Meinung nach eine grundsätzlich andere<br />
Auffassung vom Wesen des Staubes. Weil aber das Geistliche<br />
Disziplinargericht natürlich nur die offizielle Deutung zuläßt,<br />
macht er sich damit im höchsten Maße der Ketzerei schuldig.<br />
Außerdem plant er Experimente…«<br />
»Experimente? Mit Staub?«<br />
»Pst! Nicht so laut…«<br />
»Glauben Sie, daß Mrs. Coulter einen negativen Bericht<br />
schreibt?«<br />
»Nein, nein. Ich finde, Sie sind sehr geschickt mit ihr umgegangen.«<br />
»Ihre Einstellung macht mir Sorgen…«<br />
»Sie halten sie für unphilosophisch?«<br />
»Genau. Sie verfolgt persönliche Interessen. Ich sage es nur<br />
ungern, aber ich finde das fast schon makaber.«<br />
»Das ist doch übertrieben.«<br />
»Aber erinnern Sie sich denn nicht mehr an die ersten Versuche,<br />
als sie es kaum erwarten konnte, zu sehen, wie sie auseinandergerissen<br />
wurden…«<br />
Unwillkürlich entfuhr Lyra ein Aufschrei. Sie zuckte am<br />
ganzen Körper zusammen und stieß mit dem Fuß gegen einen<br />
Eisenträger.<br />
309
»Was war das?«<br />
»In der Decke…«<br />
»Schnell!«<br />
Man hörte Stühlerücken und hastige Schritte, und ein Tisch<br />
wurde über den Boden geschoben. Lyra versuchte rückwärts<br />
wegzukriechen, aber es war zu eng, und sie hatte erst ein kleines<br />
Stück zurückgelegt, als die Deckenplatte vor ihr hochgestoßen<br />
wurde und sie direkt in das entsetzte Gesicht eines Mannes<br />
blickte. Es war so nah, daß sie jedes einzelne Haar seines<br />
Schnurrbartes erkennen konnte. <strong>Der</strong> Mann erschrak genauso<br />
wie sie. Aber er konnte sich freier bewegen als sie. Er streckte<br />
seinen Arm aus und bekam Lyras Handgelenk zu fassen.<br />
»Ein Kind!«<br />
»Halten Sie es fest…«<br />
Lyra grub die Zähne in die große sommersprossige Hand.<br />
<strong>Der</strong> Mann schrie auf, ließ aber nicht los, auch dann nicht, als sie<br />
Blut schmeckte. Pantalaimon knurrte und spuckte, aber es<br />
nützte nichts, der Mann war viel stärker als Lyra und zerrte<br />
unerbittlich an ihr, bis sie den Eisenträger, den sie verzweifelt<br />
mit der anderen Hand umklammerte, loslassen mußte und<br />
kopfüber ins Zimmer hinunterrutschte.<br />
Immer noch blieb sie stumm. Die Beine in den scharfen<br />
Rand der Metallrinne über ihr eingehakt, wehrte sie sich, mit<br />
dem Kopf nach unten hängend, in verzweifelter Wut. Sie<br />
kratzte, biß, boxte und spuckte, und die Männer keuchten vor<br />
Anstrengung und stöhnten vor Schmerzen auf, aber sie zogen<br />
immer weiter. Und auf einmal verließen Lyra all ihre Kräfte.<br />
Als hätte eine fremde Hand tief in sie hineingegriffen, dorthin,<br />
wo keine Hand etwas zu suchen hatte, und etwas gepackt, was<br />
ihr unendlich viel bedeutete.<br />
Vor Schock war sie wie gelähmt, und ihr wurde schwindlig<br />
und übel.<br />
Einer der Männer hielt Pantalaimon fest<br />
310
Mit seinen menschlichen Händen hatte er Lyras Dæmon<br />
gepackt, und der arme Pan, vor Entsetzen und Ekel ganz außer<br />
sich, zitterte jämmerlich. Sein Wildkatzenfell verlor im einen<br />
Augenblick vor Schwäche allen Glanz, dann wieder sprühte es<br />
anbarische Funken… Er streckte sich zu Lyra hinüber, und Lyra<br />
streckte beide Hände nach ihm aus…<br />
Dann gaben sie auf. Sie waren gefangen.<br />
Diese Hände… Lyra spürte sie wie an ihrem eigenen Körper<br />
… Dabei war es doch verboten… Man durfte Dæmonen nicht<br />
berühren… ein Frevel.<br />
»War sie allein?«<br />
Ein Mann spähte in den Zwischenraum über der Decke.<br />
»Scheint so…«<br />
»Wer ist sie?«<br />
»Das neue Kind.«<br />
»Das die samojedischen Jäger…«<br />
»Ja.«<br />
»Meinen Sie nicht, daß sie vielleicht… die Dæmonen…«<br />
»Durchaus möglich. Aber doch wohl kaum allein.«<br />
»Sollten wir Mrs. Coulter davon…«<br />
»Das würde das Faß zum Überlaufen bringen, meinen Sie<br />
nicht auch?«<br />
»Doch. Besser, sie erfährt überhaupt nichts davon.«<br />
»Aber was machen wir mit dem Mädchen?«<br />
»Sie kann unmöglich wieder zu den anderen Kindern<br />
zurück.«<br />
»Ausgeschlossen!«<br />
»Mir scheint, wir haben nur eine Möglichkeit.«<br />
»Jetzt gleich?«<br />
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir können es nicht auf<br />
morgen verschieben. Sie will doch dabei zusehen.«<br />
»Wir könnten es einfach tun, ohne daß jemand etwas davon<br />
erfährt.«<br />
311
<strong>Der</strong> dritte Mann, anscheinend der Vorgesetzte der anderen<br />
beiden, die Lyra und Pantalaimon festhielten, schlug sich<br />
unschlüssig mit dem Daumennagel an die Zähne. Unruhig<br />
schössen seine Augen hin und her. Schließlich nickte er.<br />
»Also gut, jetzt, tun Sie es jetzt«, sagte er. »Sonst redet sie<br />
noch. <strong>Der</strong> Schock wird das wenigstens verhindern. Sie wird sich<br />
nicht erinnern können, wer sie ist und was sie gesehen und<br />
gehört hat… Los!«<br />
Lyra brachte keinen Ton heraus und bekam kaum Luft. Hilflos<br />
mußte sie zulassen, daß sie durch die Station getragen<br />
wurde, durch weiße, menschenleere Gänge, vorbei an Räumen,<br />
in denen anbarischer Strom summte, vorbei an den Schlafsälen,<br />
in denen die Kinder schlummerten, neben sich auf den Kopfkissen<br />
ihre Dæmonen, von denen sie nicht einmal beim Träumen<br />
getrennt waren; und keine Sekunde ließ sie Pantalaimon<br />
aus den Augen, und auch er blickte sie ununterbrochen an und<br />
streckte die Pfote nach ihr aus.<br />
Schließlich blieben sie vor einer Tür stehen, die mit Hilfe<br />
eines großen Rades geöffnet wurde; Luft zischte, und dann<br />
standen sie in einem hell erleuchteten Raum mit blendend weißen<br />
Kacheln und glänzendem Stahl. Die Angst verursachte Lyra<br />
beinahe körperliche Schmerzen, und dann tat es wirklich weh,<br />
als sie und Pantalaimon zu einem großen Käfig aus silbrigem<br />
Maschendraht gezerrt wurden, über dem eine große, glänzende<br />
Klinge schwebte, die sie für immer und ewig trennen würde.<br />
Endlich fand sie ihre Stimme wieder und schrie. Ohrenbetäubend<br />
hallte ihr Geschrei von den glänzenden Wänden und<br />
Oberflächen wider, doch da hatte sich die schwere Tür schon<br />
zischend geschlossen. Lyra konnte schreien, solange sie wollte —<br />
kein Laut würde nach außen dringen.<br />
Aber als Antwort auf ihr Schreien wand Pantalaimon sich aus<br />
den verhaßten Händen und stürzte sich fauchend, kratzend und<br />
beißend auf die Männer, die gar nicht so schnell reagieren<br />
312
konnten, wie er sich verwandelte: Als Löwe mit nadelspitzen<br />
Krallen, als Adler mit wild schlagenden Schwingen, dann als<br />
Wolf, als Bär oder als Iltis sprang und flog er so rasch von einem<br />
Ort zum anderen, daß sie mit ihren Händen ins Leere griffen.<br />
Doch natürlich hatten auch sie Dæmonen, und so kämpften<br />
nicht zwei gegen drei, sondern zwei gegen sechs. Die Dæmonen<br />
der Männer, ein Dachs, eine Eule und ein Pavian, versuchten<br />
alle gleichzeitig, Pantalaimon zu Boden zu drücken. »Warum?<br />
Warum tut ihr das?« schrie Lyra verzweifelt. »So helft uns doch!<br />
Wie könnt ihr denen helfen?«<br />
Und sie trat und biß noch heftiger als zuvor, bis der Mann,<br />
der sie festhielt, aufschrie und einen Moment lang losließ.<br />
Schon war sie frei, und Pantalaimon sprang wie ein Blitz zu ihr,<br />
und sie preßte ihn heftig atmend an die Brust. Tief grub er seine<br />
Wildkatzenkrallen in ihr Fleisch, doch der stechende Schmerz<br />
war wie Balsam für ihre Seele.<br />
»Nein! Nein! Nein!« schrie sie, und mit dem Rücken zur<br />
Wand war sie bereit, Pantalaimon bis zum letzten Blutstropfen<br />
zu verteidigen.<br />
Aber dann fielen sie wieder über sie her, die drei großen,<br />
brutalen Männer, und sie war doch nur ein verschrecktes und<br />
verängstigtes Kind. Sie entrissen ihr Pantalaimon, stießen sie in<br />
den einen Teil des Drahtkäfigs und sperrten ihn, der sich noch<br />
immer drehte und wand, in den anderen. Auch wenn sie jetzt<br />
durch Maschendraht voneinander getrennt waren — noch war<br />
er ein Teil von ihr, noch waren sie miteinander verbunden. Für<br />
eine Sekunde, vielleicht auch für zwei, war er noch ihre Seele.<br />
Über dem Keuchen der Männer, ihrem eigenen Schluchzen<br />
und dem gellenden Heulen ihres Dæmons hörte Lyra ein summendes<br />
Geräusch. Sie sah, wie ein aus der Nase blutender Mann<br />
eine Reihe von Schaltern betätigte. Die beiden anderen Männer<br />
blickten nach oben. Lyra folgte ihrem Blick. Langsam fuhr die<br />
große, helle Silberklinge zur Decke; sie blitzte und funkelte in<br />
313
dem grellen Licht. <strong>Der</strong> letzte Augenblick ihres Lebens würde<br />
bei weitem der schlimmste sein.<br />
»Was geht hier vor?« fragte eine helle, melodische Stimme —<br />
ihre Stimme. Alle erstarrten.<br />
»Was machen Sie denn da? Und was ist das für ein Kind…«<br />
Sie sprach das Wort Kind nicht zu Ende, denn in diesem<br />
Moment erkannte sie Lyra. Durch einen Tränenschleier sah<br />
Lyra, wie sie zu einer Bank wankte und sich daran festklammerte.<br />
Das so schöne und beherrschte Gesicht wirkte auf einmal<br />
grau und eingefallen und von namenlosem Grauen<br />
gezeichnet.<br />
»Lyra«, flüsterte sie.<br />
Wie der Blitz schoß der <strong>goldene</strong> Affe von ihrer Schulter und<br />
zerrte Pantalaimon aus dem Drahtkäfig, während Lyra sich aus<br />
eigener Kraft befreite. Pantalaimon strampelte sich sofort aus<br />
den fürsorglichen Affenpfoten und taumelte in Lyras Arme.<br />
»Nie, nie«, hauchte sie in sein Fell, und er preßte sein klopfendes<br />
Herz an ihre Brust.<br />
Wie Schiffbrüchige, die an einer einsamen Küste gestrandet<br />
waren, klammerten sie sich zitternd aneinander. Lyra hörte<br />
Mrs. Coulter mit den Männern sprechen, aber so undeutlich,<br />
daß sie nicht wußte, ob sie ärgerlich war oder nicht. Dann verließen<br />
sie den schrecklichen Raum. Auf dem Flur mußte Mrs.<br />
Coulter Lyra halb tragen, und schließlich kamen sie zu einer<br />
Tür und betraten ein Schlafzimmer. Das Licht war gedämpft,<br />
Parfüm hing in der Luft.<br />
Sanft legte Mrs. Coulter Lyra auf das Bett. Lyra hielt Pantalaimon<br />
so fest umklammert, daß ihr Arm zitterte. Zärtlich<br />
strich eine Hand ihr über den Kopf.<br />
»Mein liebes Kind«, sagte die melodische Stimme. »Wie<br />
kommst du denn hierher?«<br />
314
Siebzehn<br />
Die Hexen<br />
Lyra stöhnte und zitterte so unbeherrscht, als sei sie gerade halb<br />
erfroren aus eisigem Wasser gezogen worden. Pantalaimon war<br />
in ihre Kleider gekrochen, lag ganz ruhig an ihre Haut<br />
geschmiegt und brachte Lyra mit seiner Liebe langsam wieder<br />
zu sich, ohne dabei jedoch Mrs. Coulter aus den Augen zu lassen,<br />
die damit beschäftigt war, ein Getränk zuzubereiten, und<br />
erst recht beobachtete er den <strong>goldene</strong>n Affen, dessen ledrige<br />
kleine Finger in einem Moment, in dem nur Pantalaimon sie<br />
sah, über Lyras Körper gehuscht waren und an ihrer Taille nach<br />
dem Beutel aus Ölzeug und seinem Inhalt getastet hatten.<br />
»Setz dich, Liebes, und trink das hier.« Sanft schlang Mrs.<br />
Coulter ihren Arm um Lyras Rücken, um sie aufzurichten.<br />
Lyra zuckte zusammen, entspannte sich jedoch sofort wieder,<br />
als Pantalaimon ihr in Gedanken zu verstehen gab: Denk<br />
dran, wir müssen uns verstellen, sonst kriegen die alles raus. Sie<br />
schlug die Augen auf, stellte fest, daß sie voller Tränen waren,<br />
und begann zu ihrer eigenen Überraschung und Beschämung,<br />
heftig zu schluchzen.<br />
Sogleich redete Mrs. Coulter ihr tröstend zu. Sie drückte<br />
dem Affen das Getränk in die Hände und tupfte Lyras Augen<br />
mit einem parfürmierten Taschentuch trocken.<br />
»Weine nur, soviel du willst, Schatz«, sagte die sanfte Stimme,<br />
315
und Lyra beschloß, so schnell wie möglich damit aufzuhören.<br />
Sie versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten, preßte<br />
die Lippen zusammen und würgte die Schluchzer hinunter,<br />
von denen sie noch immer geschüttelt wurde.<br />
Pantalaimon verwandelte sich in eine Maus, kroch aus Lyras<br />
Ärmel und schnupperte ängstlich an dem Getränk, das der Affe<br />
in den Pfoten hielt. Aber es war nur harmloser Kamillentee,<br />
nichts weiter. Er krabbelte auf Lyras Schulter und flüsterte: »Du<br />
kannst es trinken.«<br />
Lyra setzte sich auf, nahm die heiße Tasse in beide Hände<br />
und blies und schlürfte abwechselnd. Dabei hielt sie den Blick<br />
gesenkt. Sie mußte sich jetzt verstellen, wie sie es noch nie in<br />
ihrem Leben getan hatte.<br />
»Lyra, Liebes«, murmelte Mrs. Coulter und strich ihr übers<br />
Haar. »Ich dachte schon, wir hätten dich für immer verloren!<br />
Was ist bloß passiert? Hast du dich verlaufen? Hat dich jemand<br />
aus der Wohnung entführt?«<br />
»Ja«, flüsterte Lyra.<br />
»Wer war das, Liebes?«<br />
»Ein Mann und eine Frau.«<br />
»Waren es Gäste auf der Party?«<br />
»Ich glaube, ja. <strong>Der</strong> Mann sagte, Sie brauchten etwas von<br />
unten, und als ich es holen wollte, packten sie mich und brachten<br />
mich mit einem Auto weg. Aber als sie anhielten, bin ich<br />
schnell rausgesprungen und weggerannt, und sie haben mich<br />
nicht mehr erwischt. Aber ich wußte überhaupt nicht, wo ich<br />
war…«<br />
Wieder wurde Lyra von einem kurzen Weinkrampf<br />
geschüttelt, wenn auch nicht mehr so heftig wie am Anfang,<br />
und sie tat so, als habe ihre Geschichte ihn ausgelöst.<br />
»Und als ich dann überlegte, wie ich wieder zu Ihnen<br />
zurückfinden konnte, haben mich die Gobbler gefangen… und<br />
316
mich zusammen mit anderen Kindern in einen Lieferwagen<br />
gesperrt und irgendwohin gebracht, in ein großes Gebäude,<br />
aber wo es war, weiß ich nicht.«<br />
Mit jeder Sekunde, die verging, und mit jedem Satz, den sie<br />
sprach, spürte sie deutlicher, wie ihre Kräfte zurückkehrten.<br />
Was sie jetzt tat, war schwierig und vertraut zugleich und<br />
zudem unberechenbar — nämlich lügen. Es gab ihr eine gewisse<br />
Überlegenheit, dasselbe Gefühl der Kompetenz, das sie beim<br />
Lesen des Alethiometers empfand. Sie mußte aufpassen, daß sie<br />
nichts offensichtlich Unmögliches sagte; in manchen Dingen<br />
durfte sie sich nur vage ausdrücken, in anderen dagegen mußte<br />
sie glaubhafte Einzelheiten erfinden; kurzum, sie mußte ein<br />
Könner sein.<br />
»Wie lange haben sie dich denn in dem Gebäude festgehalten?«<br />
fragte Mrs. Coulter.<br />
Lyras Reise auf den Kanälen und ihr Aufenthalt bei den<br />
Gyptern hatten Wochen gedauert; für diese Zeit mußte sie sich<br />
etwas einfallen lassen. Sie erfand eine Reise mit den Gobblern<br />
nach Trollesund und dann eine Flucht, die sie mit allen Einzelheiten<br />
spickte, die sie von der Stadt noch in Erinnerung hatte;<br />
sie erzählte, daß sie in Einarssons Bar eine Zeitlang Mädchen<br />
für alles gewesen sei und danach eine Weile bei einer Bauernfamilie<br />
im Landesinnern gearbeitet habe, wo sie schließlich von<br />
den Samojeden gefangen und nach Bolvangar gebracht worden<br />
sei.<br />
»Und vorhin wollten sie uns gerade — auseinander…«<br />
»Pst, Liebes, pst! Ich werde schon herausfinden, was da passiert<br />
ist.«<br />
»Aber warum wollten die das machen? Ich habe doch gar<br />
nichts Schlimmes getan! Alle Kinder haben Angst vor dem, was<br />
hier passiert, aber niemand weiß, was das ist. Aber es ist schrecklich.<br />
Schlimmer als alles… Warum tun die das, Mrs. Coulter?<br />
Wie können die so grausam sein?«<br />
317
»Ist ja gut…Jetzt kann dir nichts mehr passieren, Liebes. Sie<br />
werden es nie wieder tun. Du bist doch jetzt bei mir und in<br />
Sicherheit, und du wirst nie wieder in Gefahr sein. Niemand<br />
wird dir etwas tun, Lyra, Liebling. Niemand wird dir jemals<br />
weh tun…«<br />
»Aber sie machen es bei den anderen Kindern! Warum?«<br />
»Ach, Liebes…«<br />
»Wegen Staub, stimmt’s?«<br />
»Haben sie dir das erzählt? Haben die Ärzte das gesagt?«<br />
»Die Kinder wissen es. Alle Kinder reden darüber, aber niemand<br />
weiß es genau! Und fast hätten sie es bei mir gemacht —<br />
Sie müssen mir sagen, warum! Sie haben kein Recht, es geheimzuhalten,<br />
jetzt nicht mehr!«<br />
»Ach, Lyra… Lyra, Lyra. Liebling, Staub und all diese Dinge<br />
sind viel zu kompliziert, als daß sich Kinder darum kümmern<br />
sollten. Aber glaube mir, was die Ärzte tun, dient nur dem<br />
Wohl der Kinder. Staub ist etwas sehr Schlechtes, ein heimtükkisches<br />
Übel. Erwachsene und ihre Dæmonen sind bereits so<br />
stark damit infiziert, daß für sie jede Hilfe zu spät kommt…<br />
Kinder können durch eine kleine Operation davor bewahrt<br />
werden. Dann haftet der Staub nicht mehr an ihnen, sie sind<br />
immun und glücklich und…«<br />
Lyra dachte an den kleinen Tony Makarios, und plötzlich<br />
beugte sie sich vor und übergab sich. Mrs. Coulter ließ sie los<br />
und wich zurück.<br />
»Ist dir übel, Liebes? Geh ins Badezimmer…«<br />
Lyra schluckte heftig und wischte sich die Tränen weg.<br />
»Sie brauchen das nicht zu tun«, sagte sie. »Lassen Sie uns<br />
doch einfach in Ruhe. Ich wette, Lord Asriel würde das niemals<br />
zulassen. Wenn er mit Staub infiziert ist und Sie und der Rektor<br />
von Jordan und alle anderen Erwachsenen, kann Staub doch gar<br />
nicht schlimm sein. Wenn ich hier rauskomme, sage ich das<br />
allen Kindern auf der Welt. Und außerdem, wenn es so gut ist,<br />
318
wieso haben Sie diese Männer dann daran gehindert, es bei mir<br />
zu machen? Wenn es gut ist, hätten Sie es zulassen sollen. Sie<br />
hätten sich darüber freuen müssen.«<br />
Mrs. Coulter schüttelte den Kopf und lächelte traurig und<br />
wissend.<br />
»Liebling«, sagte sie, »es ist nun einmal so, daß manches von<br />
dem, was gut für uns ist, uns gleichzeitig ein bißchen weh tut,<br />
und natürlich macht es andere unglücklich, wenn du unglücklich<br />
bist… Aber das heißt doch nicht, daß dir dein Dæmon weggenommen<br />
wird. Er bleibt bei dir! Meine Güte, bei vielen<br />
Erwachsenen hier wurde die Operation durchgeführt. Und die<br />
Schwestern wirken doch eigentlich ganz glücklich, oder?«<br />
Lyra starrte sie an, und plötzlich begriff sie, warum die<br />
Schwestern so seltsam leere und gleichgültige Gesichter hatten<br />
und ihre Dæmonen zu schlafwandeln schienen.<br />
Bloß nichts sagen, dachte sie und preßte die Lippen zusammen.<br />
»Liebling, kein Mensch würde auch nur im Traum daran<br />
denken, an einem Kind eine Operation vorzunehmen, die nicht<br />
vorher getestet wurde. Und in tausend Jahren würde niemand<br />
einem Kind den Dæmon ganz wegnehmen! Es wird lediglich<br />
ein kleiner Schnitt gemacht, und alles hat seine Ruhe, und zwar<br />
für immer! Weißt du, solange du jung bist, ist ein Dæmon ein<br />
wunderbarer Freund und Kamerad. Aber in dem Alter, das man<br />
Pubertät nennt, und in das du auch bald kommst, bringen einen<br />
die Dæmonen auf alle möglichen dummen Gedanken und<br />
Gefühle, und dadurch kann Staub in den Körper eindringen.<br />
Eine schnelle kleine Operation, und schon ist man alle Probleme<br />
für immer los. Und dein Dæmon bleibt ja bei dir, nur…<br />
nicht mehr mit dir verbunden. Er ist dann wie ein… wie ein<br />
kleines Schäfchen, wenn du willst. Das liebste Schäfchen der<br />
Welt! Wäre das nicht toll?«<br />
Diese gemeine Lügnerin! Wie schamlos sie log! Selbst wenn<br />
319
Lyra nicht gewußt hätte, daß es Lügen waren, und wenn sie<br />
weder Tony Makarios noch die eingesperrten Dæmonen gesehen<br />
hätte, hätte sie sie aus tiefstem Herzen verabscheut. Ihre<br />
Seele, ihr allerliebster Freund sollte abgeschnitten und zu<br />
einem flauschigen Kuscheltier degradiert werden? Lyra glühte<br />
geradezu vor Haß, und Pantalaimon verwandelte sich in ihren<br />
Armen in einen fauchenden Iltis, seine häßlichste und bösartigste<br />
Gestalt überhaupt.<br />
Aber sie sagten beide nichts. Lyra hielt Pantalaimon fest und<br />
duldete, daß Mrs. Coulter ihr übers Haar strich.<br />
»Trink deinen Kamillentee aus«, sagte Mrs. Coulter sanft.<br />
»Wir lassen hier noch ein Bett für dich aufstellen. Meine kleine<br />
Assistentin braucht doch nicht in einem Schlafsaal mit vielen<br />
anderen Mädchen zu schlafen, jetzt, wo ich sie endlich wiederhabe.<br />
Meine liebste Assistentin! Die beste Assistentin der Welt.<br />
Weißt du, daß wir ganz London nach dir abgesucht haben, Liebes?<br />
Und wir haben die Polizei alle Städte nach dir durchsuchen<br />
lassen. Wie sehr ich dich vermißt habe! Ich kann dir gar<br />
nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß ich dich wiedergefunden<br />
habe…«<br />
<strong>Der</strong> <strong>goldene</strong> Affe strich die ganze Zeit unruhig umher; hatte<br />
er gerade noch mit nervös zuckendem Schwanz auf dem Tisch<br />
gehockt, klammerte er sich schon im nächsten Moment an Mrs.<br />
Coulter und zwitscherte ihr leise etwas ins Ohr, um kurz darauf<br />
mit erhobenem Schwanz über den Fußboden zu marschieren.<br />
Deutlicher hätte er Mrs. Coulters Ungeduld kaum verraten<br />
können, und schließlich konnte sie sich nicht länger beherrschen.<br />
»Lyra, Liebes«, sagte sie, »der Rektor von Jordan hat dir vor<br />
deiner Abreise doch etwas gegeben, oder? Ein Alethiometer.<br />
Das Problem ist nur, daß er das gar nicht hätte tun dürfen, denn<br />
es gehörte ihm nicht, sondern war ihm nur zur Aufbewahrung<br />
anvertraut worden. Weißt du, es ist wirklich viel zu wertvoll,<br />
320
um durch die Gegend getragen zu werden, denn es gibt nur<br />
zwei oder drei davon auf der Welt! Ich nehme an, der Rektor<br />
hat es dir in der Hoffnung gegeben, es würde Lord Asriel in die<br />
Hände fallen. Hat er dir nicht auch gesagt, du solltest mir nichts<br />
davon erzählen?«<br />
Lyra verzog den Mund.<br />
»Aha, es stimmt also. Aber mach dir nichts draus, Liebes, du<br />
hast es mir ja nicht gesagt, oder? Also hast du dein Wort auch<br />
nicht gebrochen. Aber hör zu, Liebes, auf so etwas muß man<br />
wirklich gut aufpassen. Es ist leider so selten und empfindlich,<br />
daß wir ab jetzt unbedingt besser darauf achtgeben müssen.«<br />
»Warum soll Lord Asriel es nicht bekommen?« fragte Lyra,<br />
ohne sich zu bewegen.<br />
»Wegen seiner Pläne. Du weißt doch, daß er verbannt wurde,<br />
weil er etwas Gefährliches und Böses vorhat. Um sein Vorhaben<br />
zu vollenden, braucht er das Alethiometer, aber glaub mir, Liebes,<br />
er darf es unter gar keinen Umständen bekommen. <strong>Der</strong><br />
Rektor von Jordan hat sich leider geirrt. Aber jetzt, wo du alles<br />
weißt, wäre es nicht besser, wenn du es mir geben würdest? Es<br />
würde dir die Sorge ersparen, es immer mit dir herumtragen<br />
und darauf aufpassen zu müssen — es ist dir sicher sowieso ein<br />
Rätsel, wozu so ein dummes altes Ding gut sein soll…«<br />
Lyra fragte sich, wie sie diese Frau jemals faszinierend und<br />
klug hatte finden können.<br />
»Wenn du es also hast, Liebes, gib es besser zur Aufbewahrung<br />
mir. Es steckt doch in dem Gürtel um deinen Bauch, ja?<br />
Wie schlau von dir, es dort zu verstecken…«<br />
Lyra spürte ihre Hände an ihrem Rock, und dann öffnete sie<br />
das steife Ölzeug. Lyra spannte alle Muskeln an. <strong>Der</strong> <strong>goldene</strong><br />
Affe kauerte am Fuß des Bettes, hatte die kleinen, schwarzen<br />
Hände vor den Mund geschlagen und zitterte vor Erwartung.<br />
Mrs. Coulter zog den Gürtel von Lyras Taille und knöpfte den<br />
Beutel auf. Ihr Atem ging schneller. Sie nahm das schwarze<br />
321
Samtpäckchen und wickelte die Blechdose aus, die Iorek Byrnison<br />
angefertigt hatte.<br />
Pantalaimon war inzwischen wieder eine Katze und duckte<br />
sich sprungbereit. Lyra zog die Beine an und schwang sie an<br />
Mrs. Coulter vorbei auf den Boden, so daß auch sie rechtzeitig<br />
losrennen konnte.<br />
»Was ist denn das?« fragte Mrs. Coulter belustigt. »Was für<br />
eine komische alte Dose! War das als Schutz gedacht, Liebes?<br />
Und all das Moos… Du warst wirklich vorsichtig. Da ist ja noch<br />
eine Dose drin! Sogar verlötet! Wer hat das gemacht, Liebes?«<br />
Aber sie wartete die Antwort gar nicht ab, so begierig war sie,<br />
die Dose zu öffnen. Sie holte ein Messer aus ihrer Handtasche,<br />
an dem sich noch andere Werkzeuge befanden, klappte eine<br />
Klinge auf und bohrte sie unter den Deckel.<br />
Sofort ertönte ein wütendes Summen.<br />
Lyra und Pantalaimon bewegten sich nicht. Verblüfft und<br />
neugierig bog Mrs. Coulter den Deckel hoch, und der <strong>goldene</strong><br />
Affe beugte sich interessiert über die Dose.<br />
Bevor sie begriffen, wie ihnen geschah, kam ein schwarzes<br />
Etwas, der fliegende Spion, aus der Dose geschossen und knallte<br />
mit voller Wucht in das Gesicht des Affen.<br />
Schreiend warf sich der Affe nach hinten, und Mrs. Coulter,<br />
die natürlich dasselbe spürte wie er, stimmte vor Schmerzen<br />
und Angst in das Geschrei ein. Und dann schwirrte der kleine<br />
mechanische Teufel an ihrer Brust und ihrer Kehle vorbei zu<br />
ihrem Gesicht hinauf.<br />
Lyra zögerte keine Sekunde. Pantalaimon sprang zur Tür,<br />
und sie war mit einem Satz bei ihm, riß die Tür auf und rannte<br />
so schnell wie noch nie in ihrem Leben.<br />
Pantalaimon flog vor ihr her und kreischte: »Feueralarm!«<br />
An der nächsten Ecke sah sie einen Feuermelder, und mit<br />
einem verzweifelten Faustschlag zertrümmerte sie das Glas und<br />
drückte den Knopf. Dann rannte sie weiter in die Richtung der<br />
322
Schlafsäle und zerschmetterte das Glas von zwei weiteren Feuermeldern.<br />
Immer mehr Menschen traten auf die Gänge und<br />
hielten nach dem Feuer Ausschau.<br />
Kurz vor der Küche brachte Pantalaimon Lyra auf eine Idee,<br />
und sie stürzte hinein. Im nächsten Augenblick hatte sie alle<br />
Gashähne aufgedreht und warf ein Streichholz auf die nächste<br />
Brennstelle. Anschließend zog sie ein Päckchen Mehl aus einem<br />
Regal und schleuderte es gegen eine Tischkante, so daß es aufplatzte<br />
und sich eine weiße Wolke ausbreitete; sie hatte nämlich<br />
gehört, Mehlstaub würde in der Nähe von Feuer explodieren.<br />
Dann rannte sie hinaus und so schnell sie konnte zu ihrem<br />
Schlafsaal. Die Gänge hatten sich inzwischen gefüllt. Kinder<br />
rannten aufgeregt hin und her, denn das Wort Flucht hatte sich<br />
mittlerweile herumgesprochen. Die Älteren trieben die Jüngeren<br />
eilig vor sich her zu den Kammern, in denen die Kleider<br />
aufbewahrt wurden. Erwachsene versuchten, die Übersicht zu<br />
behalten, aber keiner wußte, was eigentlich los war. Überall<br />
brüllten, schubsten, schrien und drängelten Menschen.<br />
Wie Fische schössen Lyra und Pantalaimon durch dieses<br />
Durcheinander in Richtung Schlafsaal, und in dem Moment, in<br />
dem sie ihn erreichten, ließ eine dumpfe Explosion hinter<br />
ihnen das Gebäude erzittern.<br />
Die anderen Mädchen mußten schon geflohen sein, denn<br />
der Raum war leer. Lyra schob den Spind in die Ecke, schwang<br />
sich hinauf, zerrte ihre Pelze aus dem Spalt über der Decke und<br />
tastete nach dem Alethiometer. Es war noch da. Hastig warf sie<br />
sich die Pelze über und zog die Kapuze über den Kopf, und als<br />
Pantalaimon, der als Spatz an der Tür saß, »Jetzt!« rief, rannte sie<br />
hinaus. Zum Glück rannten gerade ein paar Kinder, die bereits<br />
warme Kleider gefunden hatten, den Flur entlang in Richtung<br />
Haupteingang, und Lyra schloß sich ihnen an. Sie schwitzte, ihr<br />
Herz hämmerte wild, und sie wußte, daß es jetzt fliehen hieß<br />
oder sterben.<br />
323
Doch der Weg war blockiert. Das Feuer in der Küche hatte<br />
sich in Windeseile ausgebreitet, und das explodierende Mehl<br />
oder Gas hatte Teile des Daches zum Einstürzen gebracht. Kinder<br />
und Erwachsene kletterten über umgeknickte Pfeiler und<br />
Balken nach oben, um in die bitterkalte Luft hinauszukommen.<br />
<strong>Der</strong> Gasgeruch war durchdringend. Dann kam es erneut zu<br />
einer Explosion, lauter und näher als die erste. Ihre Wucht warf<br />
mehrere Leute um, und Angst- und Schmerzensschreie gellten<br />
durch die Luft.<br />
Lyra rappelte sich auf und stieg über die Trümmer, immer<br />
hinter Pantalaimon her, der ihr über das Geschrei und Geflatter<br />
der anderen Dæmonen hinweg zurief, wohin sie gehen sollte.<br />
Die Luft, die sie einatmete, war eisig, und sie hoffte, daß die<br />
anderen Kinder warme Kleider aufgetrieben hatten, denn was<br />
hatte es für einen Sinn, zu fliehen, wenn man dann draußen<br />
erfror.<br />
Die Flammen des Feuers loderten mächtig auf. Als Lyra auf<br />
dem Dach stand, über sich den nächtlichen Himmel, sah sie,<br />
wie die Flammen an den Rändern eines großen Loches in der<br />
Wand des Gebäudes leckten. Wie bereits am Nachmittag hatte<br />
sich am Haupteingang eine Schar von Kindern und Erwachsenen<br />
versammelt, nur waren diesmal die Erwachsenen aufgeregter<br />
und die Kinder ängstlicher, viel ängstlicher.<br />
»Roger!« rief Lyra. »Roger!« Pantalaimon, der mit scharfen<br />
Eulenaugen um sich spähte, krächzte, er hätte ihn entdeckt.<br />
Einen Moment später standen sie voreinander.<br />
»Sag den Kindern, sie sollen mir folgen!« brüllte Lyra ihm ins<br />
Ohr.<br />
»Sie wollen nicht — sie haben viel zuviel Angst…«<br />
»Dann sag ihnen, was mit den Kindern passiert, die verschwinden!<br />
Daß man ihnen mit einem großen Messer die<br />
Dæmonen abschneidet! Erzähl ihnen, was du heute nachmittag<br />
gesehen hast — die vielen Dæmonen, die wir freigelassen<br />
324
haben! Sag ihnen, daß ihnen dasselbe passiert, wenn sie hierbleiben!«<br />
Roger starrte sie mit offenem Mund entsetzt an, doch dann<br />
riß er sich zusammen und rannte zu einer Gruppe von Kindern,<br />
die unschlüssig in der Nähe standen. Dasselbe tat Lyra, und als<br />
die Nachricht die Runde machte, schrien einige Kinder auf und<br />
drückten angstvoll ihre Dæmonen an sich.<br />
»Kommt mit!« brüllte Lyra. »Bald werden wir gerettet! Wir<br />
müssen aus dem Lager raus! Los, vorwärts!«<br />
Als die Kinder das hörten, folgten sie ihr und rannten über<br />
den Platz auf die Lichterallee zu. Ihre Stiefel knirschten bei<br />
jedem Schritt im festgetretenen Schnee.<br />
Hinter ihnen brüllten Erwachsene Befehle, und dann stürzte<br />
polternd und krachend ein weiterer Teil des Gebäudes ein.<br />
Funken stoben in die Luft, und das Prasseln der aus dem Haus<br />
schlagenden Flammen klang, als würde Stoff zerrissen. Dann<br />
schnitt plötzlich ein anderes Geräusch durch diesen Lärm,<br />
schrecklich nah und bedrohlich. Auch wenn Lyra es nie zuvor<br />
gehört hatte, erkannte sie es sofort: Es war das Geheul der<br />
Wolfsdæmonen der tatarischen Wachen. Sie war wie gelähmt.<br />
Viele Kinder wollten vor Angst gleich wieder kehrtmachen,<br />
blieben jedoch stolpernd stehen, denn da kam bereits mit<br />
geschmeidigen Schritten der erste tatarische Wachsoldat angelaufen,<br />
ein Gewehr in den Händen und neben sich den grauen<br />
Schatten seines Dæmons.<br />
Hinter ihm folgten weitere Soldaten, alle in gefütterten Panzern<br />
und scheinbar ohne Augen — zumindest konnte man sie<br />
hinter den Schneeschlitzen ihrer Helme nicht sehen. Die einzigen<br />
Augen, die man sehen konnte, waren die schwarzen Mündungen<br />
ihrer Gewehre und die gelb glühenden Augen der<br />
Wolfsdæmonen über ihren geifernden Fängen.<br />
Lyra stockte. Nicht einmal im Traum hätte sie sich die Wölfe<br />
so schrecklich vorgestellt. Und jetzt, da sie wußte, wie unge<br />
325
ührt die Menschen in Bolvangar das große Tabu brachen,<br />
schauderte sie beim Gedanken an diese geifernden Zähne<br />
zurück.<br />
Die Tataren stellten sich am Tor zum Eingang der Lichterallee<br />
in einer Reihe auf, Seite an Seite mit ihren disziplinierten<br />
und militärisch ausgebildeten Dæmonen. Immer mehr Soldaten<br />
strömten herbei, und im nächsten Moment hatte sich<br />
bereits eine zweite Reihe gebildet. Kinder können nicht gegen<br />
Soldaten kämpfen, dachte Lyra voller Verzweiflung. Das war<br />
etwas anderes als die Kämpfe in den Lehmgruben von Oxford,<br />
wo die Kinder aus der Stadt die Kinder der Ziegelbrenner mit<br />
Lehmklumpen beworfen hatten.<br />
Oder war es vielleicht doch dasselbe? Sie erinnerte sich<br />
daran, wie sie einem Ziegelbrennerjungen, der sie zu Boden<br />
geworfen hatte, eine Handvoll Lehm in das breite Gesicht<br />
geschleudert hatte. Sofort hatte er sie losgelassen, um sich den<br />
Lehm aus den Augen zu reiben, und die Stadtkinder hatten sich<br />
auf ihn gestürzt. Damals hatte sie im Matsch gestanden, jetzt<br />
stand sie im Schnee.<br />
Wie am Nachmittag, diesmal jedoch in tödlichem Ernst,<br />
kratzte sie eine Handvoll Schnee zusammen und schleuderte<br />
dem nächstbesten Soldaten einen Schneeball ins Gesicht.<br />
»Werft sie in ihre Augen!« brüllte sie und warf schon den<br />
nächsten Schneeball.<br />
Andere Kinder folgten ihrem Beispiel, und plötzlich kam ein<br />
Dæmon auf die Idee, als Mauersegler neben den Schneebällen<br />
herzufliegen und ein wenig nachzuhelfen, damit sie genau in<br />
die Augenschlitze der Opfer drangen. Jetzt machten alle mit,<br />
und kurz darauf stolperten die Tataren spuckend und fluchend<br />
umher und versuchten den festgedrückten Schnee aus den<br />
Schlitzen vor ihren Augen zu kratzen.<br />
»Vorwärts!« brüllte Lyra und stürzte durch das Tor in die<br />
Lichterallee.<br />
326
Alle Kinder strömten ihr nach, wichen den schnappenden<br />
Mäulern der Wölfe aus und rannten, so schnell sie konnten,<br />
durch die Allee auf die schützende Dunkelheit zu.<br />
Hinter ihnen brüllte ein Offizier einen barschen Befehl, und<br />
auf der Stelle wurden Dutzende von Gewehren durchgeladen.<br />
Ein weiteres Kommando ertönte, dann war es totenstill. Nur<br />
noch das Trampeln der Füße und das Keuchen der fliehenden<br />
Kinder waren zu hören.<br />
Die Männer legten an. Sie würden ihr Ziel nicht verfehlen.<br />
Doch noch ehe die Tataren schießen konnten, stieß einer ein<br />
würgendes Röcheln aus, und ein anderer schrie überrascht<br />
auf.<br />
Lyra blieb stehen und drehte sich um. Im Schnee lag ein<br />
Mann mit einem graugefiederten Pfeil im Rücken. Zuckend<br />
wand er sich auf dem Boden und hustete Blut. Die anderen Soldaten<br />
sahen sich suchend nach allen Seiten um, aber von dem<br />
Schützen war keine Spur zu sehen.<br />
Und dann kam ein Pfeil senkrecht vom Himmel herunter<br />
und traf einen Tataren im Genick. Er ging sofort zu Boden. <strong>Der</strong><br />
Offizier brüllte etwas, und alle sahen zum dunklen Himmel<br />
hinauf.<br />
»Hexen!« rief Pantalaimon.<br />
Und da waren sie: bizarre, stromlinienförmige Schatten auf<br />
Wolkenkiefernzweigen, die pfeifend durch den Wind schnitten.<br />
Lyra sah, wie eine Hexe herabstieß und einen Pfeil abschoß.<br />
Ein weiterer Mann fiel.<br />
Die Tataren zielten mit ihren Gewehre nach oben und feuerten<br />
in die Dunkelheit, aber sie schössen auf nichts, auf Schatten<br />
und Wolken, und immer mehr Pfeile regneten auf sie herab.<br />
Doch da merkte ihr Befehlshaber, daß die Kinder schon fast<br />
entkommen waren, und befahl einigen Soldaten, hinter ihnen<br />
herzurennen. Und plötzlich begannen einige Kinder zu<br />
schreien, und dann schrien immer mehr und weigerten sich<br />
327
weiterzugehen und wandten sich völlig verstört um, denn zu<br />
ihrem Entsetzen raste eine unheimliche Gestalt aus dem Dunkel<br />
hinter der Lichterallee auf sie zu.<br />
»Iorek Byrnison!« schrie Lyra außer sich vor Freude.<br />
<strong>Der</strong> angreifende Panzerbär schien das Gewicht seiner<br />
Rüstung überhaupt nicht zu spüren. Wie der Blitz schoß er an<br />
Lyra vorbei und krachte in die tatarischen Reihen. Soldaten,<br />
Dæmonen und Gewehre flogen nach allen Seiten. Dann wirbelte<br />
er herum und streckte mit zwei gewaltigen Hieben nach<br />
rechts und links die ihm am nächsten stehenden Soldaten nieder.<br />
Ein Wolfsdæmon stürzte sich auf ihn, wurde aber mitten im<br />
Sprung von einem Schlag des Bären getroffen. Helle Flammen<br />
loderten aus seinem Körper, als er in den Schnee fiel und sich<br />
zischend und heulend auflöste. Im selben Moment starb der<br />
Mensch des Dæmons.<br />
Angesichts dieses doppelten Angriffs verlor der Tatarenoffizier<br />
keine Zeit. Er brüllte mit sich überschlagender Stimme<br />
zahlreiche Befehle, und seine Armee teilte sich auf: Eine Abteilung<br />
sollte die Hexen in Schach halten, die andere, größere, den<br />
Bären überwältigen. Die Soldaten waren überaus mutig. In<br />
Vierergruppen knieten sie sich hin, feuerten die Gewehre ab, als<br />
seien sie auf dem Schießplatz, und wichen keinen Zentimeter<br />
zurück, als der riesige Bär auf sie zuraste. Im nächsten Augenblick<br />
waren sie tot.<br />
Wütend knurrend kämpfte der Bär mit seinen Pranken weiter,<br />
während ihm die Kugeln wie Wespen oder Fliegen um die<br />
Ohren flogen, ohne ihm etwas anhaben zu können. Lyra trieb<br />
die Kinder vorwärts, hinaus in die Dunkelheit jenseits der Lichter.<br />
Sie mußten hier weg, denn so gefährlich die Tataren waren,<br />
noch viel gefährlicher waren die Erwachsenen von Bolvangar.<br />
Deshalb rief, winkte und schubste sie, um die Kinder anzutreiben.<br />
Sie liefen die langen Schatten entlang, die die Lichter<br />
328
hinter ihnen auf den Schnee warfen, und Lyras Herz klopfte vor<br />
Freude angesichts der tiefen Dunkelheit der arktischen Nacht<br />
und der klaren Kälte. Mit neuer Kraft stürmte sie voran, und<br />
Pantalaimon sprang fröhlich als Hase um sie herum.<br />
»Wohin gehen wir?« fragte jemand.<br />
»Hier kommt doch nur noch Schnee!«<br />
»Eine Rettungsmannschaft ist auf dem Weg«, erklärte Lyra,<br />
»mindestens fünfzig Gypter. Ich wette, daß auch Verwandte von<br />
euch dabei sind; alle gyptischen Familien, die ein Kind vermissen,<br />
haben nämlich jemanden losgeschickt.«<br />
»Ich bin aber kein Gypter«, sagte ein Junge.<br />
»Das macht nichts. Sie nehmen dich trotzdem mit.«<br />
»Wohin?« fragte jemand verdrossen.<br />
»Nach Hause«, antwortete Lyra. »Ich bin doch hergekommen,<br />
um euch zu retten, und ich hab die Gypter mitgebracht,<br />
damit sie euch wieder nach Hause bringen. Wir müssen nur<br />
noch ein kleines Stückchen weitergehen, dann treffen wir sie.<br />
<strong>Der</strong> Bär war bei ihnen, also können sie nicht weit weg sein.«<br />
»Habt ihr diesen Bären gesehen!« sagte ein Junge. »Als er den<br />
Dæmon aufschlitzte, starb der Mann, als ob ihm jemand das<br />
Herz herausgerissen hätte, einfach so!«<br />
»Ich wußte gar nicht, daß man Dæmonen töten kann«,<br />
meinte jemand anders.<br />
Alle redeten jetzt durcheinander; Aufregung und Erleichterung<br />
hatten ihnen die Zunge gelöst. Und warum sollten sie sich<br />
nicht unterhalten, solange sie dabei nicht stehenblieben.<br />
»Stimmt es eigentlich, tun sie das wirklich in der Station?«<br />
fragte ein Mädchen.<br />
»Ja«, sagte Lyra. »Ich hätte nie gedacht, daß ich je einen Menschen<br />
ohne Dæmon sehen würde. Aber auf dem Weg nach Bolvangar<br />
haben wir einen Jungen entdeckt, der ganz allein war,<br />
ohne Dæmon. Er hat dauernd gefragt, wo sein Dæmon sei und<br />
ob er ihn wiederfinden würde. Er hieß Tony Makarios.«<br />
329
»Den kenne ich!« rief jemand, und andere stimmten ein: »Ja,<br />
sie haben ihn vor ungefähr einer Woche weggebracht…«<br />
»Sie haben seinen Dæmon abgeschnitten«, erzählte Lyra. Sie<br />
wußte, wie schrecklich die Kinder diese Vorstellung finden<br />
würden. »Kurz nachdem wir ihn gefunden haben, ist er gestorben.<br />
Die abgeschnittenen Dæmonen haben sie in Käfigen in<br />
einem viereckigen Gebäude dahinten eingesperrt.«<br />
»Das stimmt«, sagte Roger. »Und Lyra hat sie während des<br />
Feueralarms freigelassen.«<br />
»Ja, ich war auch dabei!« sagte Billy Costa. »Zuerst wußte ich<br />
gar nicht, was das ist, aber dann habe ich gesehen, wie sie mit<br />
dieser Gans weggeflogen sind.«<br />
»Aber wieso tun sie das?« fragte ein Junge. »Wieso schneiden<br />
sie den Menschen die Dæmonen ab? Das ist doch Folter!<br />
Warum tun sie so was?«<br />
»Staub«, meinte jemand unsicher.<br />
<strong>Der</strong> Junge lachte verächtlich. »Staub!« sagte er. »Daß ich nicht<br />
lache! Den haben die doch bloß erfunden! Ich glaub jedenfalls<br />
nicht dran.«<br />
»Da, seht mal, was mit dem Zeppelin passiert!« rief jemand.<br />
Alle sahen zurück. Das große Luftschiffjenseits der blendenden<br />
Lichter, unter denen der Kampf noch immer tobte,<br />
schwebte nicht mehr oben an seinem Ankermast; sein freies<br />
Ende hing schlaff herab, und dahinter stieg ein riesiger Ball<br />
auf…<br />
»<strong>Der</strong> Ballon von Lee Scoresby!« rief Lyra und klatschte vor<br />
Freude in die Hände, die in dicken Fausthandschuhen steckten.<br />
Die anderen Kinder starrten sie verblüfft an, aber Lyra trieb<br />
sie weiter. Sie war erstaunt, daß der Aeronaut mit seinem Ballon<br />
so weit gekommen war. Was er jetzt machte, war klar — eine<br />
großartige Idee: Er füllte den Ballon mit dem Gas des Zeppelins<br />
und schüttelte so ihre Verfolger ab!<br />
»Los, lauft weiter, sonst erfriert ihr«, rief Lyra, denn einige<br />
330
Kinder zitterten und jammerten schon vor Kälte, und ihre<br />
Dæmonen gaben ein hohes, schwaches Wimmern von sich.<br />
Das ärgerte Pantalaimon, und in der Gestalt eines Marders<br />
fuhr er barsch einen Eichhörnchendæmon an, der leise weinend<br />
auf der Schulter eines Mädchens lag: »Kriech gefälligst in<br />
ihren Mantel! Pluster dich dort auf und wärme sie!«<br />
<strong>Der</strong> Dæmon des Mädchens erschrak und kroch sofort in den<br />
Anorak aus Kohleseide.<br />
Das Problem war, daß diese Anoraks, auch wenn sie noch so<br />
dick mit hohlen Fasern aus Kohleseide gefüttert waren, lange<br />
nicht so warm hielten wie richtige Felle. Einige der Kinder<br />
sahen aus wie wandelnde Riesenboviste, so unförmig waren sie,<br />
aber trotzdem bot ihre Kleidung kaum Schutz vor der Kälte,<br />
denn sie stammte aus Fabriken und Labors einer Gegend, in der<br />
keine derartigen Temperaturen herrschten. Lyras Pelze sahen<br />
zwar zerlumpt aus und stanken, aber sie hielten wenigstens<br />
warm.<br />
»Wenn wir die Gypter nicht bald finden, halten die anderen<br />
Kinder nicht durch«, flüsterte sie Pantalaimon zu.<br />
»Sorge dafür, daß sie weiterlaufen«, flüsterte er zurück.<br />
»Sobald sie sich hinlegen, ist es aus mit ihnen. Du weißt, was<br />
Farder Coram gesagt hat…«<br />
Farder Coram hatte Lyra oft von seinen Reisen in den Norden<br />
erzählt — genau wie Mrs. Coulter, wenn sie nicht gelogen<br />
hatte —, und eines hatten beide immer wieder betont: Man<br />
durfte auf keinen Fall stehenbleiben.<br />
»Wie weit ist es denn noch?« fragte ein kleiner Junge.<br />
»Die bringt uns doch nur von der Station weg, um uns zu<br />
töten«, sagte ein Mädchen.<br />
»Ich bin trotzdem lieber hier draußen als dort«, sagte jemand.<br />
»Ich nicht! In der Station ist es warm, und es gibt zu essen<br />
und heiße Getränke und überhaupt alles.«<br />
»Aber die brennt doch lichterloh!«<br />
331
»Und was sollen wir hier draußen? Hier verhungern wir<br />
doch…«<br />
Viele Fragen schössen Lyra durch den Kopf, dunkel und<br />
unfaßbar wie Hexen, aber rief im Innersten, an einer Stelle, an<br />
die sie mit ihren Gedanken nicht kam, empfand sie einen Stolz<br />
und eine Begeisterung, die sie sich nicht erklären konnte.<br />
Aber dieses Gefühl beflügelte ihre Kräfte, und sie zog ein<br />
Mädchen aus einer Schneewehe und schubste einen trödelnden<br />
Jungen vorwärts. »Geht weiter!« rief sie den Kindern zu. »Folgt<br />
den Spuren des Bären! Er ist zusammen mit den Gyptern<br />
gekommen, also führen seine Spuren uns direkt zu ihnen! Geht<br />
ihnen einfach nach!«<br />
Es begann in dicken Flocken zu schneien, und bald würde<br />
der Schnee Iorek Byrnisons Spuren zudecken. Die Lichter von<br />
Bolvangar waren verschwunden und das Flammenmeer nur<br />
noch ein schwaches Glühen in der Ferne. Das einzig Helle war<br />
der matt schimmernde Schnee auf dem Boden. Dicke Wolken<br />
bedeckten den Himmel, so daß weder Mond noch Nordlicht<br />
leuchteten, aber wenn die Kinder sich anstrengten, konnten sie<br />
noch die tiefe Spur erkennen, wo Iorek Byrnison den Schnee<br />
durchpflügt hatte. Und wo immer es nötig war, war Lyra zur<br />
Stelle, ermutigte, kommandierte und beschwor die Kinder,<br />
stieß und schob oder zog sie vorwärts, stützte sie und half ihnen<br />
vorsichtig wieder auf die Beine, wenn sie hingefallen waren.<br />
Pantalaimon, der wußte, wie den Dæmonen zumute war, sagte<br />
Lyra, was jeweils zu tun war.<br />
Ich bringe sie zu den Gyptern, redete sie sich immer wieder<br />
ein. Ich bin gekommen, um sie zu holen, und ich hole sie, verflucht<br />
noch mal!<br />
Roger folgte ihrem Beispiel, während Billy, der schärfere<br />
Augen als die meisten hatte, ihnen den Weg wies. Bald fiel der<br />
Schnee so dicht, daß sie sich aneinander festhalten mußten,<br />
damit niemand verlorenging. Vielleicht wenn alle sich dicht<br />
332
nebeneinander legten und sich gegenseitig wärmten, dachte<br />
Lyra… und Löcher in den Schnee gruben…<br />
Sie glaubte verschiedene Geräusche zu hören. Irgendwo<br />
brummte ein Motor, aber es klang nicht wie das tiefe Dröhnen<br />
des Zeppelins, sondern höher, eher wie das Summen einer Hornisse.<br />
Im einen Augenblick war das Geräusch da, dann war es<br />
wieder weg.<br />
Und Geheul… Hunde? Schlittenhunde? Aber auch dieses<br />
Geräusch, gedämpft durch Millionen von Schneeflocken und<br />
von Windböen hin und her geweht, war zu weit entfernt, um es<br />
eindeutig zu bestimmen. Vielleicht waren es tatsächlich die<br />
Schlittenhunde der Gypter, aber es konnten auch die wilden<br />
Geister der Tundra sein oder die befreiten Dæmonen, die um<br />
die verlorenen Kinder weinten.<br />
Auch glaubte sie, Lichter zu sehen… Leuchtete da nicht<br />
etwas im Schnee? Auch das mußten Geister sein… wenn sie<br />
nicht sowieso im Kreis gelaufen und nach Bolvangar zurückgekehrt<br />
waren.<br />
Aber das war schwaches gelbes Licht von Laternen, nicht das<br />
grelle Weiß anbarischer Lampen. Außerdem bewegten die<br />
Lichter sich, und das Heulen kam näher, und ehe Lyra noch mit<br />
Sicherheit wußte, ob sie nicht eingeschlafen war, war sie bereits<br />
von vertrauten Gestalten umgeben und wurde von in Pelze vermummten<br />
Männern umarmt. John Faa hob sie mit seinen starken<br />
Armen hoch in die Luft, und Farder Coram lachte vor<br />
Freude; und soweit Lyra durch den Schneesturm sehen konnte,<br />
hoben überall Gypter Kinder in die Schlitten, deckten sie mit<br />
Fellen zu und gaben ihnen Seehundfleisch zum Kauen. Und da<br />
war ja auch Tony Costa. Er umarmte Billy und versetzte ihm<br />
einen sanften Rippenstoß, nur um ihn gleich wieder in die<br />
Arme zu nehmen und vor lauter Freude zu schütteln. Und<br />
Roger…<br />
»Roger kommt mit uns«, sagte Lyra zu Farder Coram.<br />
333
»Schließlich bin ich vor allem seinetwegen gekommen. Wenn<br />
alles vorbei ist, gehen wir wieder nach Jordan zurück. Was ist<br />
das für ein Lärm…«<br />
Wieder ertönte das seltsame Motorgebrumm, ähnlich dem<br />
manischen Summen des fliegenden Spions, nur tausendmal<br />
lauter.<br />
Jemand versetzte ihr einen Schlag, der sie der Länge nach<br />
umwarf. Pantalaimon konnte sie nicht verteidigen, denn der<br />
<strong>goldene</strong> Affe…<br />
Mrs. Coulter…<br />
Erbittert rangen die beiden Dæmonen miteinander. <strong>Der</strong> <strong>goldene</strong><br />
Affe biß und kratzte Pantalaimon, und Lyras Dæmon, der<br />
kaum zu sehen war, so schnell wechselte er die Gestalt, wehrte<br />
sich nach Kräften und fiel stechend, schlagend und zerrend<br />
über den Affen her. Unterdessen versuchte Mrs. Coulter, deren<br />
von Pelzen eingerahmtes Gesicht zu einer haßerfüllten Maske<br />
verzerrt war, Lyra auf den Rücksitz ihres Motorschlittens zu<br />
zerren, aber Lyra kämpfte mit der gleichen Verbissenheit wie<br />
ihr Dæmon. <strong>Der</strong> Schnee fiel so dicht, daß sie isoliert von den<br />
anderen in einem eigenen kleinen Schneesturm gefangen<br />
schien. Nur die direkt vor ihrer Nase tanzenden Flocken waren<br />
im anbarischen Scheinwerferlicht des Schlittens zu sehen.<br />
»Hilfe!« schrie Lyra. Die Gypter mußten ganz in der Nähe<br />
sein, konnten sie aber nicht sehen. »Hilfe! Farder Coram! Lord<br />
Faa! O Gott, Hilfe!«<br />
Mit scharfer Stimme erteilte Mrs. Coulter in der Sprache der<br />
Nordtataren einen Befehl. <strong>Der</strong> Wirbel aus Schnee lichtete sich<br />
kurz, und da standen sie: ein ganzer Trupp Tataren, mit Gewehren<br />
bewaffnet und knurrende Wolfsdæmonen an der Seite. Als<br />
der Anführer sah, wie Mrs. Coulter sich abmühte, hob er Lyra<br />
mit einer Hand hoch, als wäre sie eine Puppe, und warf sie in<br />
den Schlitten, wo sie vor Schrecken wie benommen liegenblieb.<br />
Als die Gypter merkten, was geschah, knallte ein Schuß und<br />
334
kurz darauf noch einer. Aber auf ein unsichtbares Ziel zu schießen<br />
ist gefährlich, wenn man auch die eigenen Leute nicht sieht.<br />
Die Tataren, die einen dichten Ring um den Schlitten gebildet<br />
hatten, konnten nach Belieben in den Schnee feuern, aber die<br />
Gypter wagten nicht zurückzuschießen, aus Angst, sie könnten<br />
Lyra treffen.<br />
Lyra war verbittert und müde.<br />
Benommen und mit dröhnendem Kopf richtete sie sich auf<br />
und sah, daß Pantalaimon immer noch verzweifelt mit dem<br />
Affen kämpfte. Mit seinen Marderzähnen hielt er einen <strong>goldene</strong>n<br />
Arm fest. Er verwandelte sich jetzt nicht mehr, sondern<br />
blieb einfach an dem Arm hängen.<br />
Dann kam Roger, der Mrs. Coulter mit Fäusten und Füßen<br />
traktierte und seinen Kopf gegen ihren Kopf stieß. Aber schon<br />
im nächsten Moment wurde er von einem Tataren beiseite<br />
gewischt, als wäre er eine Fliege. Was folgte, war wie ein Traum,<br />
ein Wirbel aus Schwarz und Weiß, ein grünes Etwas, das vor<br />
Lyras Augen vorbeischoß, bizarre Schatten, ein Lichtblitz…<br />
Ein gewaltiger Luftstoß riß den Schneevorhang auf, und mitten<br />
hinein in die Lücke sprang Iorek Byrnison. Die Eisenplatten<br />
seiner Rüstung quietschten und schepperten, und seine gewaltigen<br />
Kiefer schnappten nach rechts und links, eine Tatze<br />
schlitzte eine gepanzerte Brust auf, weiße Zähne, schwarzes<br />
Eisen, ein rotes, nasses Fell…<br />
Lyra wurde mit einem kräftigen Ruck hochgezogen, und sie<br />
konnte gerade noch Roger packen und ihn den Händen Mrs.<br />
Coulters entreißen. Die Dæmonen der beiden Kinder, zwei<br />
Vögel, kreischten erstaunt auf und flatterten aufgeregt um sie<br />
herum, während über ihnen etwas anderes, Größeres flatterte.<br />
Und dann sah Lyra neben sich in der Luft zum Anfassen nah<br />
eine Hexe, einen jener stromlinienförmigen, bizarren Schatten,<br />
die sie am Himmel gesehen hatte. Die Hexe hielt einen Bogen<br />
in ihren bloßen Händen, spannte kraftvoll die Sehne — ihre<br />
335
Arme waren nackt, trotz der beißenden Kälte — und schoß<br />
einen Pfeil genau in den nur ein oder zwei Schritt entfernten<br />
Augenschlitz eines furchteinflößenden Tatarenhelms…<br />
<strong>Der</strong> Pfeil durchbohrte den Schädel und kam hinten zur<br />
Hälfte wieder heraus, und der Wolfsdæmon des Mannes löste<br />
sich mitten im Sprung auf, noch ehe er wieder auf dem Boden<br />
aufsetzte.<br />
Lyra und Roger wurden hinaufgerissen und klammerten<br />
sich mit zitternden Fingern an den Wolkenkiefernzweig, auf<br />
dem aufrecht und anmutig die junge Hexe saß. Wenig später<br />
senkte sie den Zweig bereits wieder, machte eine Kurve nach<br />
links, etwas Großes kam bedrohlich näher — und schon waren<br />
sie wieder auf dem Boden.<br />
Sie purzelten in den Schnee neben den Korb von Lee Scoresbys<br />
Ballon.<br />
»Rein mit dir«, rief der Texaner, »und bring deinen Freund<br />
mit. Hast du den Bären gesehen?«<br />
Lyra sah, daß drei Hexen ein um einen Felsblock geschlungenes<br />
Seil hielten, damit der mächtige Auftrieb den gasgefüllten<br />
Ballon nicht in die Höhe riß.<br />
»Steig ein!« brüllte sie Roger zu, kletterte über den mit Leder<br />
verkleideten Rand des Korbes und fiel drinnen auf einen<br />
Schneehaufen. Einen Augenblick später landete Roger auf ihr,<br />
und dann ließ ein gewaltiger Lärm, ein schnarrendes Gebrüll<br />
den Erdboden erzittern.<br />
»Auf, Iorek, Kamerad! An Bord mit dir!« schrie Lee Scoresby,<br />
und der Bär stieg über den Rand, so daß Weidenruten und Holz<br />
sich bogen und häßlich knarrten.<br />
Wieder wirbelte ein Luftstoß für einen Moment Nebel und<br />
Schnee auseinander, und in der plötzlich klaren Luft sah Lyra,<br />
was um sie herum geschah. Eine Gruppe Gypter, angeführt von<br />
John Faa, verfolgte die tatarische Nachhut und trieb sie zu den<br />
glühenden Überresten von Bolvangar zurück, andere Gypter<br />
336
halfen einem Kind nach dem anderen, in die Schlitten zu steigen,<br />
und deckten sie mit warmen Fellen zu, Farder Coram<br />
blickte sich, auf seinen Stock gestützt, besorgt um, während sein<br />
braun<strong>goldene</strong>r Dæmon suchend durch den Schnee sprang.<br />
»Farder Coram!« schrie Lyra. »Ich bin hier!«<br />
<strong>Der</strong> alte Mann hörte sie, drehte sich um und sah erstaunt zu<br />
dem am Seil zerrenden Ballon und den Hexen, die ihn am<br />
Boden hielten. Lyra winkte ihm wie wild aus dem Korb zu.<br />
»Lyra!« schrie er. »Alles in Ordnung, Kind? Bist du in dem<br />
Ballon gut aufgehoben?«<br />
»So gut wie noch nie!« brüllte sie zurück. »Auf Wiedersehen,<br />
Farder Coram! Auf Wiedersehen! Bringen Sie die Kinder heil<br />
nach Hause!«<br />
»Das werden wir, so wahr ich lebe! Leb wohl, Kind — leb<br />
wohl — leb wohl, Liebes…«<br />
In diesem Moment senkte der Aeronaut den Arm als Zeichen<br />
für die Hexen, die daraufhin das Seil losließen.<br />
Sofort hob der Ballon ab und strebte mit einer Geschwindigkeit,<br />
die Lyra nie für möglich gehalten hätte, inmitten des<br />
Schneegestöbers nach oben. Kurz darauf war der Erdboden im<br />
Nebel verschwunden, und sie stiegen immer schneller. Schneller<br />
als jede Rakete, dachte Lyra. Die Beschleunigung drückte sie<br />
auf den Korbboden, wo sie sich an Roger festhielt.<br />
Lee Scoresby schrie und lachte und stieß wilde texanische<br />
Freudenschreie aus. Iorek Byrnison zog in aller Ruhe seine<br />
Rüstung aus; geschickt hakte er eine Klaue in die Verschlüsse<br />
und zog sie auf, dann stapelte er die einzelnen Teile zu einem<br />
Haufen. Von irgendwo draußen war das Pfeifen und Rauschen<br />
der Wolkenkiefernzweige und Hexenkleider im Wind zu<br />
hören, offenbar begleiteten die Hexen sie bis in die höheren<br />
Luftschichten.<br />
Allmählich kam Lyra wieder zu Atem. Ihr Puls verlangsamte<br />
sich, sie wurde ruhiger. Sie setzte sich auf und blickte um sich.<br />
337
<strong>Der</strong> Korb war viel größer, als sie gedacht hatte. An den Rändern<br />
waren philosophische Instrumente festgebunden, außerdem<br />
gab es stapelweise Felle, Sauerstoffflaschen und eine Reihe<br />
anderer Dinge, die zu klein waren oder zu unübersichtlich aufeinanderlagen,<br />
um sie in dem dichten Nebel, durch den sie aufstiegen,<br />
erkennen zu können.<br />
»Ist das eine Wolke?« fragte Lyra.<br />
»Was sonst? Wickel deinen Freund in ein paar Felle, bevor er<br />
sich in einen Eiszapfen verwandelt. Es ist kalt hier, und es wird<br />
noch kälter.«<br />
»Wie haben Sie uns gefunden?«<br />
»Die Hexen. Hier ist übrigens eine Hexendame, die sich mit<br />
dir unterhalten möchte. Sobald wir aus der Wolke raus sind und<br />
die Lage gepeilt haben, können wir ein wenig miteinander<br />
plaudern.«<br />
»Iorek«, sagte Lyra, »danke, daß du gekommen bist.«<br />
<strong>Der</strong> Bär grunzte und ließ sich nieder, um das Blut aus seinem<br />
Fell zu lecken. Weil er so schwer war, neigte sich der Korb nach<br />
seiner Seite, aber das machte nichts. Roger hielt Abstand von<br />
ihm, aber Iorek Byrnison schenkte ihm nicht mehr Beachtung<br />
als einer Schneeflocke. Zufrieden hielt Lyra sich am Rand des<br />
Korbes fest, der ihr bis ans Kinn reichte, wenn sie stand, und sah<br />
mit großen Augen in die Wolke, die sie einschloß.<br />
Schon wenige Augenblicke später kam der Ballon aus der<br />
Wolke heraus und stieg, immer noch sehr schnell, zum Himmel<br />
empor.<br />
Was für eine Aussicht!<br />
Direkt über ihnen blähte sich das gewaltige Rund des Ballons.<br />
Über und vor ihnen schimmerte die Aurora mit einem<br />
Glanz und einer Pracht, wie Lyra es noch nie gesehen hatte. Sie<br />
waren fast vollständig von der Aurora umgeben, geradezu ein<br />
Teil von ihr. Riesige, gleißende Schwaden standen zitternd vor<br />
ihnen und teilten sich, als würden Engel mit den Flügeln schla<br />
338
gen; Kaskaden kalt leuchtender Pracht stürzten über unsichtbare<br />
Klippen in schäumende Bassins oder hingen wie gewaltige<br />
Wasserfalle vom Himmel herab.<br />
<strong>Der</strong> Anblick verschlug Lyra den Atem. Doch dann sah sie<br />
unter ihnen etwas, das beinahe noch wunderbarer war.<br />
In alle Richtungen dehnte sich, so weit das Auge reichte, ein<br />
weißes Wolkenmeer bis ans Ende des Horizonts aus. Hier und<br />
da erhoben sich sanfte Gipfel oder gähnten dampfende Spalten,<br />
doch der größte Teil sah aus wie eine kompakte Eismasse.<br />
Und von ihm stiegen einzeln, zu zweit oder in größeren<br />
Gruppen kleine schwarze Schatten auf, bizarre, stromlinienförmige<br />
Gestalten — die Hexen auf ihren Wolkenkiefernzweigen.<br />
Rasch und mühelos flogen sie zum Ballon empor; ihre<br />
Zweige steuerten sie, indem sie sich mal nach dieser, mal nach<br />
jener Seite lehnten. Eine von ihnen, die Schützin, die Lyra vor<br />
Mrs. Coulter gerettet hatte, kam direkt neben den Ballon, und<br />
nun konnte Lyra sie zum erstenmal deutlich sehen.<br />
Sie war noch jung — jünger als Mrs. Coulter — und sehr<br />
schön, und sie hatte leuchtend grüne Augen. Wie die anderen<br />
Hexen war auch sie mit schwarzen Seidentüchern bekleidet<br />
und trug weder Pelze noch Kapuze oder Handschuhe. Doch sie<br />
schien überhaupt nicht zu frieren. Um ihre Stirn wand sich eine<br />
einfache Kette aus kleinen roten Blumen. Sie ritt ihren Wolkenkiefernzweig,<br />
als wäre er ein feuriges Pferd, das sie knapp<br />
einen Meter vor Lyras staunenden Augen zugehe.<br />
»Lyra?«<br />
»Ja! Bist du Serafina Pekkala?«<br />
»Die bin ich.«<br />
Lyra begriff, warum Farder Coram diese Hexe liebte und<br />
warum diese Liebe ihm das Herz gebrochen hatte, obwohl sie<br />
von diesen Dingen eigentlich noch gar nichts wußte. Farder<br />
Coram war alt geworden, ein alter gebrochener Mann, und die<br />
Hexe würde noch viele Menschenalter jung bleiben.<br />
339
»Hast du den Symboldeuter?« fragte die Hexe. Ihre Stimme<br />
klang wie der hohe, wilde Gesang der Aurora, so melodisch, daß<br />
Lyra den Sinn der Frage fast überhört hätte.<br />
»Ja, in meiner Tasche. Dort ist er sicher.«<br />
Sie hörte das Sausen mächtiger Schwingen, und schon glitt<br />
der graue Gänsedæmon neben sie. Er sprach kurz mit der Hexe,<br />
drehte dann wieder ab und kreiste in großem Abstand um den<br />
noch immer aufsteigenden Ballon.<br />
»Die Gypter haben Bolvangar verwüstet«, sagte Serafina Pekkala.<br />
»Sie haben zweiundzwanzig Wächter und neun Angestellte<br />
getötet und alles angezündet, was von den Gebäuden<br />
noch stand. Sie wollen die Anlage vollständig zerstören.«<br />
»Was ist mit Mrs. Coulter passiert?«<br />
»Sie ist spurlos verschwunden.«<br />
Die Hexe stieß einen wilden Schrei aus, und einige andere<br />
Hexen kamen angeflogen und umkreisten den Ballon.<br />
»Mr. Scoresby«, sagte sie, »das Seil, wenn ich bitten darf.«<br />
»Meine Dame, ich bin Ihnen sehr dankbar. Noch steigen wir,<br />
und ich schätze, das werden wir auch noch eine Weile tun. Wie<br />
viele von Ihnen sind denn nötig, um uns nach Norden zu ziehen?«<br />
»Wir sind stark«, sagte Serafina Pekkala nur.<br />
Lee Scoresby befestigte eine Rolle mit einem dicken Seil an<br />
dem lederüberzogenen Eisenring, in dem die den Ballon<br />
umspannenden Seile zusammenliefen und an dem der Korb<br />
aufgehängt war. Dann warf er das lose Ende des Seiles über<br />
Bord, und sofort schössen sechs Hexen darauf zu, packten es,<br />
trieben ihre Wolkenkiefernzweige an und zogen den Ballon in<br />
Richtung Polarstern.<br />
Als sie den Ballon auf Kurs gebracht hatten, hockte sich Pantalaimon<br />
in Gestalt einer Seeschwalbe auf den Korbrand. Auch<br />
Rogers Dæmon warf einen kurzen Blick hinaus, kroch aber<br />
bald wieder zurück, denn Roger schlief genau wie Iorek Byrni<br />
340
son rief und fest. Nur Lee Scoresby war wach, kaute gelassen auf<br />
einem Zigarillo und wachte über die Instrumente.<br />
»Lyra«, sagte Serafina Pekkala, »warum willst du eigentlich<br />
zu Lord Asriel?«<br />
Lyra war überrascht. »Ich will ihm natürlich das Alethiometer<br />
bringen.«<br />
Sie hatte nie über diese Frage nachgedacht, so klar war die<br />
Antwort. Dann fiel ihr auf einmal ihr ursprüngliches Anliegen<br />
ein. Fast hätte sie es vergessen, so viel Zeit war inzwischen vergangen.<br />
»Oder eigentlich… wollten wir ihm bei der Flucht helfen. Ja,<br />
genau, wir wollen ihm helfen zu fliehen.«<br />
Aber als sie das sagte, merkte sie, wie absurd es klang. Aus<br />
Svalbard fliehen? Unmöglich!<br />
»Oder es jedenfalls versuchen«, setzte sie trotzig hinzu.<br />
»Warum?«<br />
»Ich glaube, ich muß dir vorher noch ein paar Dinge sagen«,<br />
sagte Serafina Pekkala.<br />
»Über Staub?«<br />
»Ja, unter anderem. Aber du bist jetzt müde, und es wird ein<br />
langer Flug. Wir unterhalten uns, wenn du geschlafen hast.«<br />
Lyra gähnte. Es war ein tiefes, herzhaftes Gähnen, das ihre<br />
Kiefern knacken ließ und gar nicht mehr aufhören wollte, und<br />
sosehr Lyra auch gegen ihre Müdigkeit kämpfte, sie konnte ihr<br />
zuletzt nicht widerstehen. Serafina Pekkala streckte eine Hand<br />
über den Korbrand und strich ihr über die Augen. Als Lyra auf<br />
den Boden sank, flatterte auch Pantalaimon hinunter, verwandelte<br />
sich in ein Hermelin und kroch zu seinem Schlafplatz an<br />
ihrem Hals.<br />
Die Hexe richtete sich wieder auf und flog dann ruhig auf<br />
ihrem Zweig neben dem Korb her in Richtung Norden — nach<br />
Svalbard.<br />
341
342
III<br />
Svalbard<br />
343
344
Achtzehn<br />
Nebel und Eis<br />
Lee Scoresby deckte Lyra mit einigen Fellen zu. Das Mädchen<br />
kuschelte sich an Roger, und so schliefen sie Seite an Seite, während<br />
der Ballon weiter in Richtung Pol flog. <strong>Der</strong> Aeronaut<br />
überprüfte von Zeit zu Zeit seine Instrumente, kaute auf der<br />
Zigarre, die er angesichts des feuergefährlichen Wasserstoffes<br />
nicht angezündet hatte, und zog seine eigenen Felle noch fester<br />
um sich.<br />
»Das kleine Mädel ist ziemlich wichtig, wie?« fragte er nach<br />
einer Weile.<br />
»Wichtiger, als sie weiß«, erwiderte Serafina Pekkala.<br />
»Heißt das, wir müssen uns auf einen Waffengang gefaßt<br />
machen? Verstehen Sie mich richtig, ich spreche als praktisch<br />
denkender Mensch, der sein Brot verdienen muß. Ich kann mir<br />
nicht leisten, mir die Knochen brechen oder mich in Stücke<br />
schießen zu lassen, ohne daß vorher irgendeine Kompensation<br />
vereinbart wurde. Ich will nicht kleinlich erscheinen, wirklich<br />
nicht, aber das Honorar, das John Faa und die Gypter mir zahlen,<br />
deckt nur Zeitaufwand, Leistung und die normale Abnutzung<br />
des Ballons, nicht mehr. Es schließt keine Versicherung<br />
gegen kriegerische Handlungen ein. Und ich sage Ihnen eins,<br />
Madame: Wenn wir mit Iorek Byrnison auf Svalbard landen,<br />
dann ist das eine kriegerische Handlung.«<br />
345
Er spuckte geschickt einige Krümel Tabak über Bord.<br />
»Und deshalb wüßte ich gern, was wir in puncto Krawall<br />
und Schlägerei zu erwarten haben«, schloß er.<br />
»Es kann zu Kämpfen kommen«, sagte Serafina Pekkala.<br />
»Aber Sie haben doch auch in der Vergangenheit gekämpft.«<br />
»Sicher, wenn ich bezahlt wurde. Tatsache ist, daß ich in diesem<br />
Fall von einer einfachen Personenbeförderung ausging und<br />
eine entsprechende Rechnung stellte. Und nach dem kleinen<br />
Zusammenstoß da unten, ja, da frage ich mich, wozu ich verpflichtet<br />
bin. Ob man zum Beispiel von mir erwarten kann, daß<br />
ich in einem Krieg der Bären Leben und Ausrüstung riskiere.<br />
Oder ob das Kind auf Svalbard ähnlich heißblütige Feinde hat<br />
wie in Bolvangar. Ich erwähne das lediglich, weil wir gerade<br />
darüber sprechen.«<br />
»Ich wünschte, ich könnte Ihre Frage beantworten, Mr. Scoresby«,<br />
sagte die Hexe. »Ich kann nur sagen, daß wir alle, Menschen,<br />
Hexen und Bären, uns bereits mitten in einem Krieg<br />
befinden, auch wenn das nicht alle wissen. Ob Sie nun auf Svalbard<br />
am Krieg teilnehmen oder vorher wegfliegen, Sie sind<br />
Rekrut, Soldat.«<br />
»Hm, das scheint mir doch etwas voreilig. Ich finde, man<br />
sollte selbst entscheiden können, ob man kämpft oder nicht.«<br />
»Das kann man genausowenig, wie man entscheiden kann,<br />
ob man geboren wird oder nicht.«<br />
»Aber ich treffe gern Entscheidungen«, sagte er. »Ich entscheide<br />
gern selbst, welchen Auftrag ich annehme, wohin ich<br />
gehe, was ich esse und mit welchen Freunden ich zusammen<br />
bin. Geht Ihnen das manchmal nicht auch so?«<br />
Serafina Pekkala dachte einen Augenblick nach und sagte<br />
dann: »Vielleicht meinen wir nicht dasselbe, Mr. Scoresby.<br />
Hexen haben keinen Besitz, es interessiert uns deshalb auch<br />
nicht, einen Wert zu erhalten oder Gewinn zu machen. Und<br />
was die Wahl zwischen zwei Dingen angeht: Wer viele hundert<br />
346
Jahre lebt, weiß, daß jede Gelegenheit wiederkehrt. Wir haben<br />
andere Bedürfnisse. Ich sehe ein, daß Sie Ihren Ballon reparieren<br />
und instand halten müssen und daß das Zeit und Arbeit<br />
kostet, aber wir brauchen zum Fliegen nur den Zweig einer<br />
Wolkenkiefer abzureißen, einen beliebigen Zweig, und davon<br />
gibt es genügend. Wir frieren nicht, also brauchen wir keine<br />
warmen Kleider. Wir können nichts austauschen außer gegenseitiger<br />
Hilfe. Wenn eine Hexe etwas braucht, dann wird eine<br />
andere es ihr geben. Wenn ein Krieg ansteht, spielen bei unserer<br />
Entscheidung, ob wir kämpfen sollen oder nicht, die Kosten<br />
keine Rolle. Wir kennen auch keinen Ehrenkodex wie zum<br />
Beispiel Bären. Für einen Bären ist eine Kränkung eine tödliche<br />
Sache. Für uns ist das… unvorstellbar. Wie kann man eine Hexe<br />
kränken? Was würde es ausmachen?«<br />
»Gut, soweit versteh ich Sie. Über Worte läßt sich trefflich<br />
streiten, aber sie sind den Streit nicht wert. Aber, Madame, ich<br />
hoffe, Sie verstehen mein Dilemma. Ich bin ein einfacher Aeronaut<br />
und würde meine Tage gern in Frieden beschließen. Mir<br />
vielleicht eine kleine Farm kaufen, mit ein paar Kühen, einigen<br />
Pferden… Wohlgemerkt, kein Luxus. Kein Palast, keine Sklaven<br />
oder Berge von Gold. Nur der Abendwind über dem Gras, eine<br />
Zigarre und ein Glas Bourbon. Das Problem ist nur, das alles<br />
kostet Geld. Also fliege ich für Geld, und nach jedem Auftrag<br />
schicke ich einen Teil an die Wells Fargo Bank, und wenn ich<br />
genug habe, verkaufe ich diesen Ballon und buche einen Platz<br />
auf einem Dampfer nach Port Galveston, und dann bleibe ich<br />
für immer am Boden.«<br />
»Auch darin unterscheiden wir uns, Mr. Scoresby. Eine Hexe<br />
könnte das Fliegen genausowenig aufgeben wie das Atmen. Erst<br />
beim Fliegen sind wir ganz wir selbst.«<br />
»Ich verstehe und beneide Sie, Madame, aber diese Art der<br />
Selbstverwirklichung ist mir nicht zugänglich. Fliegen ist für<br />
mich ein Job, ich bin nur ein Handwerker. Ich könnte genauso<br />
347
gut irgendwelche Ventile einstellen oder anbarische Leitungen<br />
verlegen. Aber ich habe mich für meinen Beruf entschieden.<br />
Aus freien Stücken. Und deshalb sagt mir die Vorstellung eines<br />
Krieges, von dem ich nichts weiß, wenig zu.«<br />
»Auch Iorek Byrnisons Streit mit seinem König gehört zu<br />
diesem Krieg«, sagte die Hexe. »Dem Mädchen ist es bestimmt,<br />
dabei eine Rolle zu spielen.«<br />
»Sie sprechen von Bestimmung«, sagte Lee Scoresby, »als ob<br />
alles schon entschieden sei. Das gefällt mir im Grunde genausowenig<br />
wie ein Krieg, an dem ich teilnehme, ohne es zu wissen.<br />
Wo bleibt bitte schön mein freier Wille? Ich habe übrigens den<br />
Eindruck, Lyra hat mehr freien Willen als alle, die ich kenne.<br />
Wollen Sie denn sagen, das Mädchen sei nur eine Art mechanisches<br />
Spielzeug, das man aufzieht und dann in eine Richtung<br />
marschieren läßt, an der es nichts ändern kann?«<br />
»Wir sind alle dem Schicksal unterworfen«, sagte die Hexe,<br />
»aber wir müssen so tun, als seien wir es nicht, sonst würden wir<br />
vor Verzweiflung sterben. Diesem Mädchen geht eine merkwürdige<br />
Prophezeiung voraus: Es ist ihr Schicksal, das Ende des<br />
Schicksals herbeizuführen. Sie muß das jedoch tun, ohne zu<br />
wissen, was sie tut, als sei es in ihrer Natur angelegt und nicht<br />
vom Schicksal bestimmt. Sagte man ihr, was sie tun muß, wäre<br />
alles vergebens; es wäre der Sieg des Todes in allen Welten und<br />
der Triumph der Verzweiflung für alle Zeiten. Die Welten<br />
wären nur noch ein Räderwerk, blind und ohne Geist, Gefühl,<br />
Leben…«<br />
Sie sahen auf Lyra nieder, deren Stirn — soweit unter der<br />
Kapuze sichtbar — noch im Schlaf leicht gerunzelt war.<br />
»Ich glaube, ein Teil von ihr weiß das«, sagte der Aeronaut.<br />
»Jedenfalls wirkt sie irgendwie vorbereitet. Aber der kleine<br />
Junge? Wissen Sie, daß das Mädchen nur deshalb herkam, um<br />
ihn vor diesen Teufeln zu retten? Die beiden waren Spielkameraden,<br />
in Oxford oder sonstwo. Wußten Sie das?«<br />
348
»Ja. Lyra hat etwas von ungeheurem Wert bei sich, und<br />
offenbar hat das Schicksal sie dazu ausersehen, dieses Etwas<br />
ihrem Vater zu überbringen. Sie kam auf der Suche nach ihrem<br />
Freund hierher, ohne zu wissen, daß ihr Freund vom Schicksal<br />
in den Norden geführt wurde, damit sie ihm folgen und ihrem<br />
Vater etwas bringen kann.«<br />
»Das ist Ihre Deutung, oder?«<br />
Die Hexe wirkte zum erstenmal verunsichert. »Es scheint<br />
jedenfalls so zu sein… Aber wir können das Dunkel nicht lesen,<br />
Mr. Scoresby. Es ist durchaus möglich, daß ich mich irre.«<br />
»Was haben Sie eigentlich mit dieser Sache zu tun, wenn ich<br />
fragen darf?«<br />
»Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß das, was die Menschen<br />
in Bolvangar tun, falsch ist. Lyra ist ihr Feind, also sind<br />
wir ihre Freunde. Mehr wissen wir nicht. Aber dazu kommt<br />
noch, daß mein Clan mit den Gyptern befreundet ist; diese<br />
Freundschaft geht auf jene Zeit zurück, als Farder Coram mir<br />
das Leben rettete. Wir handeln auf die Bitte der Gypter hin,<br />
und sie wiederum sind Lord Asriel verpflichtet.«<br />
»Verstehe. Sie schleppen den Ballon also den Gyptern zuliebe<br />
nach Svalbard. Geht diese Freundschaft so weit, daß Sie uns<br />
auch auf dem Rückweg helfen? Oder müssen wir dann warten,<br />
bis der Wind günstig steht, und bis dahin hoffen, daß die Bären<br />
ein Einsehen haben? Noch einmal, Madame, ich frage in aller<br />
Freundschaft und lediglich aus Neugier.«<br />
»Wenn wir Ihnen nach Trollesund zurückhelfen können,<br />
Mr. Scoresby, werden wir das tun. Wir wissen allerdings nicht,<br />
was uns auf Svalbard erwartet. <strong>Der</strong> neue König der Bären hat<br />
vieles geändert, und alte Bräuche sind in Verruf geraten. Es<br />
könnte eine schwierige Landung werden. Außerdem weiß ich<br />
nicht, wie Lyra zu ihrem Vater gelangen soll und was Iorek<br />
Byrnison vorhat. Ich weiß nur, daß sein Schicksal mit ihrem<br />
verknüpft ist.«<br />
349
»Auch ich weiß nicht mehr, Madame. Ich glaube, Iorek hat<br />
sich dem Mädchen als eine Art Beschützer angeschlossen. Sie<br />
hat ihm geholfen, seine Rüstung zurückzubekommen. Wer<br />
weiß schon, was Bären fühlen? Aber wenn je ein Bär einen<br />
Menschen geliebt hat, dann er sie. — Auf Svalbard zu landen<br />
war noch nie leicht. Immerhin, wenn ich mich darauf verlassen<br />
kann, daß Sie mich in die richtige Richtung ziehen, beruhigt<br />
mich das einigermaßen. Wenn ich mich dafür irgendwie revanchieren<br />
kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Nur zu meiner<br />
Information: Könnten Sie mir sagen, auf wessen Seite ich in<br />
diesem unsichtbaren Krieg stehe?«<br />
»Wir stehen beide auf Lyras Seite.«<br />
»Oh, das bestimmt.«<br />
Sie flogen weiter. Wie schnell sie flogen, war aufgrund der<br />
Wolken unter ihnen nicht zu sehen. Während man in einem<br />
Ballon den Wind normalerweise nicht spürt, weil er mit der<br />
Geschwindigkeit des Windes dahintreibt, bewegte er sich jetzt,<br />
gezogen von den Hexen, durch die Luft statt mit ihr. <strong>Der</strong> Luftwiderstand<br />
war dabei beträchtlich, da der gasgefüllte Ball nicht<br />
so stromlinienförmig und glatt war wie ein Zeppelin. Als Folge<br />
schwang der Korb hin und her und wurde viel stärker durchgeschüttelt<br />
als bei einem normalen Flug.<br />
Lee Scoresby sorgte sich freilich weniger um seine Bequemlichkeit<br />
als vielmehr um seine Instrumente, deshalb überzeugte<br />
er sich, daß sie fest an den Verstrebungen des Korbes vertäut<br />
waren. Dem Höhenmesser zufolge befanden sie sich in zehntausend<br />
Fuß Höhe. Die Temperatur betrug minus zwanzig Grad.<br />
Lee Scoresby hatte schon kältere Temperaturen überstanden,<br />
allerdings nicht viel kältere, und er wollte nicht, daß sie noch<br />
weiter abfiel. Deshalb entrollte er die Zeltplane, die er für ein<br />
Notbiwak dabeihatte, und breitete sie vor den schlafenden Kindern<br />
als Windschutz aus. Dann legte er sich Rücken an Rücken<br />
mit seinem alten Waffenbruder Iorek Byrnison und schlief ein.<br />
350
Als Lyra aufwachte, stand der Mond hoch am Himmel, und um<br />
sie herum war alles wie mit Silber übergössen, von der unter ihr<br />
dahingleitenden Wolkendecke bis zu den Eiszapfen an den Leinen<br />
des Ballons.<br />
Roger schlief noch, ebenso wie Lee Scoresby und der Bär.<br />
Doch neben dem Korb flog unermüdlich die Hexenkönigin.<br />
»Wie weit ist es noch bis Svalbard?« sagte Lyra.<br />
»Wenn wir keinen stärkeren Gegenwind bekommen, sind<br />
wir in zwölf Stunden dort.«<br />
»Wo landen wir?«<br />
»Das hängt vom Wetter ab. Natürlich werden wir die Felsenküste<br />
möglichst meiden. Dort leben Kreaturen, die alles fressen,<br />
was sich bewegt. Wenn es geht, setzen wir euch im Inneren ab,<br />
weit weg von Iofur Raknisons Palast.«<br />
»Was geschieht, wenn ich Lord Asriel finde? Kommt er mit<br />
mir nach Oxford zurück? Ich weiß gar nicht, ob ich ihm sagen<br />
soll, daß ich weiß, daß er mein Vater ist. Vielleicht will er weiter<br />
so tun, als sei er mein Onkel. Ich kenne ihn ja kaum.«<br />
»Er kommt sicher nicht mit nach Oxford, Lyra. Offenbar<br />
gibt es in einer anderen Welt etwas zu tun, und Lord Asriel ist<br />
der einzige, der die Kluft zwischen dieser anderen und unserer<br />
Welt überwinden kann. Allerdings braucht er dabei Hilfe.«<br />
»Das Alethiometer!« rief Lyra. »<strong>Der</strong> Rektor von Jordan hat es<br />
mir gegeben, und ich hatte das Gefühl, er wollte etwas über<br />
Lord Asriel sagen, nur kam er dann nicht dazu. Ich wußte, daß<br />
er ihn nicht wirklich vergiften wollte. Vielleicht braucht Lord<br />
Asriel das Instrument, um zu erfahren, wie er die Verbindung<br />
zur anderen Welt herstellen kann. Ich wette, ich kann ihm<br />
dabei helfen. Ich lese das Instrument inzwischen wahrscheinlich<br />
so gut wie sonst kaum jemand.«<br />
»Hm«, sagte Serafina Pekkala. »Wie er die Verbindung herstellen<br />
will und was seine genaue Aufgabe sein wird, wissen wir<br />
nicht. Es gibt Mächte, die zu uns sprechen, und Mächte über<br />
351
diesen, und es gibt Dinge, die selbst den höchsten Mächten verborgen<br />
sind.«<br />
»Das Alethiometer würde es mir sagen! Ich kann es ja gleich<br />
probieren…«<br />
Aber es war zu kalt, Lyra hätte das Instrument nicht in der<br />
Hand halten können. Sie wickelte ihren Pelz fester um sich und<br />
zog die Kapuze wegen des eisigen Windes so weit zu, bis nur<br />
noch ein Schlitz zum Durchsehen offen war. Vom Korbring des<br />
Ballons erstreckte sich ein langes Seil weit nach vorn; an ihm<br />
zogen sechs oder sieben Hexen, die auf Ästen aus Wolkenkiefer<br />
saßen. Die Sternen funkelten hell, kalt und hart wie Diamanten.<br />
»Warum friert ihr Hexen nicht, Serafina Pekkala?«<br />
»Wir spüren die Kälte, aber sie macht uns nichts aus, denn sie<br />
schadet uns nicht. Wenn wir uns gegen die Kälte warm anziehen<br />
würden, könnten wir andere Dinge nicht mehr spüren, das<br />
Kribbeln der Sterne oder die Musik der Aurora oder am besten<br />
von allem die seidige Glätte des Mondlichtes auf der Haut.<br />
Dafür lohnt es sich, die Kälte zu ertragen.«<br />
»Kann ich das auch spüren?«<br />
»Nein, du würdest ohne deine warmen Kleider sterben.<br />
Behalte sie also an.«<br />
»Wie alt werden Hexen, Serafina Pekkala? Farder Coram<br />
sagt, viele hundert Jahre. Aber du siehst überhaupt nicht alt<br />
aus.«<br />
»Ich bin dreihundert Jahre alt oder älter. Unsere älteste<br />
Hexenmutter ist fast tausend. Eines Tages wird Yambe-Akka sie<br />
holen, und eines Tages auch mich. Sie ist die Göttin der Toten.<br />
Wenn sie freundlich lächelnd zu dir kommt, weißt du, daß es<br />
Zeit ist, zu sterben.«<br />
»Sind auch Männer Hexen? Oder nur Frauen?«<br />
»Es gibt Männer, die uns dienen, wie der Konsul in Trollesund.<br />
Und andere Männer sind unsere Liebhaber und Gefährten.<br />
Du bist noch jung, Lyra, zu jung, um das zu verstehen, aber<br />
352
ich sage es dir trotzdem, dann verstehst du es später: Männer<br />
kommen und gehen vor unseren Augen wie Schmetterlinge,<br />
Geschöpfe einer kurzen Jahreszeit. Wir lieben sie; sie sind tapfer,<br />
stolz, schön und klug und sterben gleich wieder. Sie sterben<br />
so schnell, daß der Kummer uns ständig das Herz zerreißt. Wir<br />
gebären ihre Kinder; aus den Mädchen werden Hexen, aus den<br />
Jungen Menschen wie du; und dann, im nächsten Augenblick,<br />
haben sie uns schon wieder verlassen, niedergestreckt, tot, verloren.<br />
Auch unsere Söhne. Wenn ein kleiner Junge heranwächst,<br />
hält er sich für unsterblich. Seine Mutter weiß, daß er es<br />
nicht ist. Das ist von Mal zu Mal schmerzhafter, bis uns schließlich<br />
das Herz bricht. Vielleicht ist das der Augenblick, in dem<br />
uns Yambe-Akka holt. Sie ist älter als die Tundra. Vielleicht ist<br />
für sie ein Hexenleben so kurz wie für uns ein Menschenleben.«<br />
»Hast du Farder Coram geliebt?«<br />
»Ja. Weiß er es?«<br />
»Keine Ahnung, aber ich weiß, daß er dich liebt.«<br />
»Als er mich rettete, war er jung und stark und stolz und<br />
schön. Ich verliebte mich auf Anhieb in ihn. Ich hätte mein<br />
Wesen geändert, ich hätte auf das Kribbeln der Sterne und die<br />
Musik der Aurora verzichtet, auf das Fliegen — all das hätte ich<br />
aufgegeben, sofort und ohne nachzudenken, um eine gyptische<br />
Bootsfrau zu werden, für ihn zu kochen, das Bett mit ihm zu<br />
teilen und seine Kinder zu gebären. Aber man kann nicht<br />
ändern, was man ist, nur was man tut. Ich bin eine Hexe, er ist<br />
ein Mensch. Ich blieb lange genug bei ihm, um ihm ein Kind zu<br />
gebären…«<br />
»Das hat er nie erzählt! War es ein Mädchen? Eine Hexe?«<br />
»Nein, ein Junge. Er starb an der großen Seuche, die vor vierzig<br />
Jahren aus dem Osten kam, der Arme. Er trat ins Leben und<br />
mußte gleich wieder gehen, wie eine Eintagsfliege. Es zerriß<br />
mir schier das Herz, wie jedesmal. Coram war verzweifelt. Und<br />
dann wurde ich aufgefordert, zu meinem Volk zurückzukeh<br />
353
en, weil Yambe-Akka meine Mutter geholt hatte und ich<br />
Clan-Königin geworden war. Ich mußte also gehen.«<br />
»Und du hast Farder Coram nie wieder gesehen?«<br />
»Nie wieder. Ich hörte von seinen Taten. Ich hörte, daß ein<br />
vergifteter Pfeil der Skrälinge ihn verwundet hatte, und<br />
schickte Kräuter und Zaubermittel zu seiner Genesung, aber<br />
ich war nicht stark genug, ihn zu besuchen. Ich hörte, daß er<br />
danach ein gebrochener Mann war und daß seine Weisheit<br />
wuchs, weil er viel studierte und las, und ich war stolz auf ihn<br />
und die guten Dinge, die er tat. Aber ich hielt mich fern von<br />
ihm, denn es waren gefährliche Zeiten für meinen Clan.<br />
Hexenkriege drohten, und außerdem glaubte ich, er würde<br />
mich vergessen und eine Frau unter den Menschen finden…«<br />
»Das würde er nie«, sagte Lyra entschieden. »Du mußt ihn<br />
besuchen. Er liebt dich immer noch, ganz bestimmt.«<br />
»Aber er würde sich für sein Alter schämen, und das will ich<br />
nicht.«<br />
»Vielleicht. Aber ich finde, dann solltest du ihm wenigstens<br />
eine Nachricht schicken.«<br />
Serafina Pekkala schwieg lange Zeit. Pantalaimon verwandelte<br />
sich in eine Seeschwalbe und flog auf ihren Ast, um ihr zu<br />
verstehen zu geben, daß Lyra sie nicht hatte kränken wollen.<br />
Schließlich sagte Lyra: »Warum haben eigentlich alle Menschen<br />
Dæmonen, Serafina Pekkala?«<br />
»Das fragen alle, und keiner weiß eine Antwort. Solange es<br />
Menschen gibt, gibt es auch Dæmonen. Das unterscheidet uns<br />
von den Tieren.«<br />
»Stimmt! Von denen unterscheiden wir uns wirklich… Zum<br />
Beispiel von den Bären. Seltsame Tiere, die Bären, oder? Man<br />
denkt, sie sind ja wie Menschen, und dann tun sie plötzlich<br />
etwas so Seltsames oder Grausames, daß man das Gefühl hat,<br />
man wird sie nie verstehen… Aber Iorek, weißt du, also Iorek<br />
sagte zu mir, daß seine Rüstung für ihn dasselbe bedeutet wie<br />
354
für die Menschen ihr Dæmon. Sie ist seine Seele, sagt er. Aber<br />
das ist auch wieder anders als bei uns, weil er seine Rüstung<br />
selbst gemacht hat. Seine erste Rüstung wurde ihm weggenommen,<br />
als man ihn in die Verbannung schickte, er hat sich also<br />
einige Stücke Himmelseisen zusammengesucht und daraus<br />
eine neue Rüstung gemacht, also eine neue Seele. Wir können<br />
unsere Dæmonen ja nicht selber machen. Und die Leute in<br />
Trollesund, also die haben ihn mit Alkohol betrunken gemacht<br />
und ihm dann die Rüstung gestohlen, und ich habe herausgefunden,<br />
wo sie ist, und er hat sie wiederbekommen… Aber was<br />
ich nicht verstehe: Warum kommt er mit nach Svalbard? Sie<br />
werden gegen ihn kämpfen. Vielleicht töten sie ihn sogar… Ich<br />
habe Iorek lieb. Ich habe ihn so lieb, daß ich wünschte, er käme<br />
nicht mit.«<br />
»Hat er dir gesagt, wer er ist?«<br />
»Nur seinen Namen. Und den hat uns der Konsul in Trollesund<br />
gesagt.«<br />
»Er ist von vornehmer Abstammung, ein Prinz. Wenn er<br />
nicht ein schweres Verbrechen begangen hätte, wäre er jetzt<br />
sogar König der Bären.«<br />
»Aber er sagte mir, der König der Bären sei Iofur Raknison.«<br />
»Iofur Raknison wurde König, als Iorek Byrnison verbannt<br />
wurde. Natürlich ist Iofur auch ein Prinz, sonst hätte er nicht<br />
König werden dürfen; aber er ist schlau nach Art der Menschen.<br />
Er schließt Bündnisse und Verträge, er lebt nicht wie andere<br />
Bären in Eisburgen, sondern in einem neuen Palast, und er<br />
redet davon, mit den Nationen der Menschen Botschafter auszutauschen<br />
und mit Hilfe menschlicher Ingenieure die Feuerminen<br />
auf Svalbard zu erschließen… Er ist sehr geschickt und<br />
listig. Einige sagen, er hätte Iorek zu der Tat provoziert, für die<br />
er verbannt wurde, andere sagen, auch wenn er das nicht getan<br />
hat, hat er zumindest das Gerücht gefordert, weil man ihn dann<br />
für noch raffinierter und listiger hält.«<br />
355
»Aber was genau hat Iorek denn getan? Ich mag Iorek nämlich<br />
auch deshalb, weil mein Vater dasselbe getan hat wie er und<br />
auch dafür bestraft wurde. Ich finde, daß die beiden sich darin<br />
gleichen. Iorek hat mir erzählt, er habe einen anderen Bären<br />
umgebracht, aber er hat nicht gesagt, warum.«<br />
»<strong>Der</strong> Kampf ging um eine Bärin. <strong>Der</strong> Bär, den Iorek tötete,<br />
wollte sich nicht mit seiner Niederlage abfinden, als klar war,<br />
daß Iorek stärker war. Bären erkennen bei allem Stolz immer<br />
an, wenn ein anderer Bär ihnen überlegen ist, und unterwerfen<br />
sich, aber dieser Bär tat das aus irgendeinem Grund nicht.<br />
Einige meinen, Iofur Raknison hätte ihn dazu angestiftet oder<br />
ihm Kräuter zu essen gegeben, die seinen Verstand verwirrten.<br />
Jedenfalls wollte der junge Bär nicht einlenken, und Iorek<br />
Byrnison verlor die Beherrschung. <strong>Der</strong> Fall war klar: Er hätte<br />
den Bären nur verwunden dürfen, nicht töten.«<br />
»Dann wäre er jetzt König«, sagte Lyra. »Ich habe schon vom<br />
Palmer-Professor in Jordan von Iofur Raknison gehört; der<br />
Professor ist im Norden gewesen und hat ihn kennengelernt. Er<br />
sagte… wenn ich mich bloß erinnern könnte, was er sagte… Ich<br />
glaube, Iofur sei durch irgendwelche Intrigen auf den Thron<br />
gekommen… Dabei hat Iorek mir einmal gesagt, Bären könne<br />
man nicht überlisten, und er zeigte mir, daß ich ihn nicht reinlegen<br />
konnte. Anscheinend sind beide reingelegt worden, er<br />
und der andere Bär. Vielleicht können nur Bären andere Bären<br />
überlisten, nicht Menschen. Außer… Die Leute in Trollesund,<br />
die haben ihn doch überlistet, nicht wahr? Indem sie ihn<br />
betrunken gemacht und seine Rüstung gestohlen haben.«<br />
»Wenn Bären sich wie Menschen verhalten, kann man sie<br />
vielleicht überlisten«, sagte Serafina Pekkala, »und wenn sie sich<br />
wie Bären verhalten, vielleicht nicht. Normalerweise trinkt<br />
kein Bär Alkohol. Iorek Byrnison trank, um die Schande seiner<br />
Verbannung zu vergessen, und nur deshalb konnten die Menschen<br />
in Trollesund ihn überlisten.«<br />
356
»Genau«, sagte Lyra und nickte. Diese Erklärung leuchtete<br />
ihr vollkommen ein. Sie bewunderte Iorek fast grenzenlos und<br />
war froh, seine edle Gesinnung bestätigt zu finden. »Du bist<br />
wirklich klug«, sagte sie. »Darauf wäre ich nie gekommen,<br />
wenn du es mir nicht gesagt hättest. Wahrscheinlich bist du<br />
noch klüger als Mrs. Coulter.«<br />
Sie flogen weiter. Lyra kaute auf einem Stück Seehundfleisch,<br />
das sie in ihrer Tasche gefunden hatte.<br />
»Serafina Pekkala«, sagte sie nach einer Weile, »was ist dieser<br />
Staub? Denn mir scheint, daß es bei dem ganzen Streit immer<br />
um Staub geht, nur will mir keiner sagen, was das ist.«<br />
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Serafina Pekkala. »Die Hexen<br />
hat das nie interessiert. Ich weiß nur, daß man überall dort, wo<br />
es Priester gibt, Angst vor Staub hat. Mrs. Coulter ist natürlich<br />
keine Priesterin, aber dafür eine mächtige Agentin des Magisteriums.<br />
Sie hat die Oblations-Behörde gegründet und die Kirche<br />
dazu überredet, Bolvangar zu finanzieren, weil sie sich für<br />
Staub interessiert. Wir verstehen zwar nicht, warum, aber es<br />
gibt viele Dinge, die wir nicht verstehen. Wenn wir sehen, daß<br />
die Tataren sich Löcher in die Schädel bohren, können wir uns<br />
nur wundern. Staub mag also eine merkwürdige Sache sein, die<br />
wir nicht verstehen, aber wir geraten deshalb nicht in Panik und<br />
reißen Dinge auseinander, um dem Phänomen auf die Spur zu<br />
kommen. Das überlassen wir der Kirche.«<br />
»<strong>Der</strong> Kirche?« rief Lyra. Ihr war eingefallen, wie sie mit Pantalaimon<br />
in den Fens darüber gerätselt hatte, was wohl die<br />
Nadel des Alethiometers bewegte. Sie hatten sich an die Photomühle<br />
auf dem Hochaltar von Gabriel College erinnert, deren<br />
kleine Flügel von Elementarteilchen bewegt wurden. <strong>Der</strong> dortige<br />
Fürsprecher hatte ganz eindeutig von einem Zusammenhang<br />
zwischen Elementarteilchen und Religion gesprochen.<br />
»Könnte sein«, sagte sie und nickte. »Die Kirche hält ja so viele<br />
Sachen geheim. Aber dabei handelt es sich meist um ganz alte<br />
357
Dinge, und dazu gehört Staub nicht, soviel ich weiß. Ich frage<br />
mich, ob Lord Asriel mir mehr darüber sagen kann…«<br />
Sie gähnte.<br />
»Ich lege mich lieber wieder hin«, sagte sie zu Serafina Pekkala,<br />
»sonst erfriere ich wahrscheinlich noch. Ich hab schon<br />
drunten auf der Erde gefroren, aber so kalt wie jetzt war mir<br />
noch nie. Ich glaube, ich sterbe, wenn mir noch kälter wird.«<br />
»Dann leg dich hin und wickle dich gut in die Pelze ein.«<br />
»Das mach ich. Aber wenn ich sterben müßte, dann viel lieber<br />
hier oben als unten. Als wir uns unter dieses Messer stellen<br />
mußten, glaubte ich schon, das sei das Ende… Wir glaubten es<br />
beide. Es war schrecklich. Aber jetzt legen wir uns hin. Weck<br />
uns, wenn wir ankommen.« Unbeholfen und mit vor Kälte<br />
starren und schmerzenden Gliedern legte Lyra sich auf die am<br />
Boden ausgebreiteten Felle und kuschelte sich so dicht wie<br />
möglich an den schlafenden Roger.<br />
Und schlafend schwebten die vier Reisenden in ihrem eisverkrusteten<br />
Ballon weiter auf die Felsen und Gletscher, die<br />
Feuerminen und Eisburgen von Svalbard zu.<br />
Serafina Pekkala rief Lee Scoresby etwas zu, und dieser fuhr aus<br />
dem Schlaf hoch, noch ganz benommen vor Kälte. Er merkte<br />
sofort an der Bewegung des Ballons, daß etwas nicht stimmte.<br />
Geschüttelt von starken Böen, schwang der Ballon heftig hin<br />
und her, und die Hexen konnten das Seil, an dem sie ihn zogen,<br />
kaum noch halten. Wenn sie losließen, würde der Ballon sofort<br />
abgetrieben werden, und ein kurzer Blick auf den Kompaß<br />
sagte dem Aeronauten, daß sie dann mit einer Geschwindigkeit<br />
von fast hundert Meilen pro Stunde auf Nowaja Semlja zurasen<br />
würden.<br />
»Wo sind wir?« hörte Lyra ihn rufen. Die heftigen Bewegungen<br />
hatten sie aus dem Schlaf gerissen, und ihre Glieder waren<br />
taub vor Kälte.<br />
358
Sie hörte nicht, was die Hexe antwortete, aber durch ihre<br />
halbgeschlossene Kapuze sah sie im Schein einer anbarischen<br />
Laterne, wie Lee Scoresby sich an eine Verstrebung klammerte<br />
und an einem Seil zog, das vom Ballon herunterhing. Er zog<br />
einmal kräftig daran, als ob es sich verklemmt hätte, sah in das<br />
von Windstößen durchtobte Dunkel hinauf und schlang das<br />
Seil dann um einen Pflock am Korbring.<br />
»Ich lasse etwas Gas ab«, rief er Serafina Pekkala zu. »Wir<br />
müssen runter, wir fliegen viel zu hoch.«<br />
Die Hexe rief etwas als Antwort, aber wieder konnte Lyra<br />
nichts verstehen. Neben ihr wachte Roger auf. Das Knarren des<br />
Korbes hätte den tiefsten Schläfer geweckt, von dem heftigen<br />
Schaukeln und Rütteln ganz zu schweigen. Rogers Dæmon und<br />
Pantalaimon klammerten sich wie Krallenaffen aneinander,<br />
und Lyra versuchte, ganz ruhig liegenzubleiben und nicht in<br />
Panik zu geraten.<br />
»Alles bestens«, sagte Roger fröhlich, während Lyra gar nicht<br />
wohl in ihrer Haut war. »Sobald wir unten sind, machen wir<br />
Feuer und wärmen uns auf. Ich habe ein paar Streichhölzer in<br />
der Tasche, die ich in Bolvangar aus der Küche geklaut habe.«<br />
<strong>Der</strong> Ballon sank tatsächlich, denn im nächsten Augenblick<br />
umhüllte sie eine dicke, eisige Wolke. Nebelfetzen flogen<br />
durch den Korb, und plötzlich wurde alles dunkel. Es war der<br />
dickste Nebel, den Lyra je erlebt hatte. Dann hörten sie wieder<br />
Serafina Pekkala etwas rufen, und der Aeronaut wickelte das<br />
Seil vom Pflock und ließ es los. Es sprang durch seine Hände<br />
nach oben, und Lyra hörte oder spürte über dem Knarren des<br />
Korbes und dem Rütteln und Heulen des Windes in den Leinen<br />
irgendwo weit oben einen gewaltigen, dumpfen Schlag.<br />
Lee Scoresby sah Lyras aufgerissene Augen.<br />
»Das ist das Gasventil«, rief er. »Es arbeitet mit einer Feder<br />
und hält das Gas im Ballon. Wenn ich daran ziehe, entweicht<br />
oben Gas, und wir verlieren an Auftrieb und sinken.«<br />
359
»Sind wir denn schon…«<br />
Lyra konnte den Satz nicht beenden, denn etwas Schreckliches<br />
geschah. Eine Kreatur, halb so groß wie ein Mensch, mit<br />
ledrigen Flügeln und gebogenen Klauen kroch über den Rand<br />
des Korbes und auf Lee Scoresby zu. Sie hatte einen flachen<br />
Kopf, hervorquellende Augen und ein breites, froschähnliches<br />
Maul und sonderte Schwaden eines entsetzlichen Gestanks ab.<br />
Bevor Lyra schreien konnte, hatte Iorek Byrnison die Tatze ausgestreckt<br />
und die Kreatur weggeschubst. Sie fiel aus dem Korb<br />
und verschwand mit einem gellenden Schrei.<br />
»Ein Klippenalp«, sagte Iorek kurz.<br />
Im nächsten Moment erschien Serafina Pekkala und hielt<br />
sich am Rand des Korbes fest.<br />
»Die Klippenalpe greifen an«, sagte sie eindringlich. »Wir<br />
bringen den Ballon jetzt nach unten, und dann müssen wir uns<br />
verteidigen. Sie sind…«<br />
<strong>Der</strong> Rest ihrer Worte ging in einem markerschütternden<br />
Reißgeräusch unter, dann kippte alles zur Seite. Ein furchtbarer<br />
Schlag wirbelte die drei Menschen an die Wand des Korbes, an<br />
der Iorek Byrnisons Rüstung lag. Iorek streckte seine mächtige<br />
Tatze aus, um zu verhindern, daß sie hinausfielen, denn der<br />
Korb schwankte immer heftiger. Serafina Pekkala war verschwunden.<br />
<strong>Der</strong> Lärm war ohrenbetäubend, und über allem<br />
war das Kreischen der Klippenalpe zu hören. Lyra sah, wie sie<br />
um den Korb schössen, und roch ihren faulen Gestank.<br />
Dann folgte ein zweiter Schlag, so plötzlich, daß er sie wieder<br />
auf den Boden warf, und der Korb begann, sich um die eigene<br />
Achse drehend, mit furchterregender Geschwindigkeit zu sinken.<br />
Es war, als hätte er sich vom Ballon losgerissen und fiel<br />
nun, durch nichts mehr gehalten, ins Bodenlose. Eine weitere<br />
Serie von Schlägen und Stößen folgte, und der Korb wurde so<br />
schnell von einer Seite zur anderen geworfen, als springe er<br />
zwischen zwei Felswänden hin und her.<br />
360
Als letztes sah Lyra, wie Lee Scoresby mit einer langen Pistole<br />
mitten in das Gesicht eines Klippenalps feuerte. Dann machte<br />
sie die Augen fest zu und hielt sich in panischer Angst an Iorek<br />
Byrnisons Fell fest. Gellende Schreie, das Peitschen und Pfeifen<br />
des Windes und das Knarren des Korbes wie eine gequälte<br />
Kreatur erfüllten die turbulente Luft mit einem entsetzlichen<br />
Lärm.<br />
Ein gewaltiger Ruck erschütterte den Korb, und Lyra verlor<br />
jeden Halt und wurde hinausgeschleudert. <strong>Der</strong> Aufprall verschlug<br />
ihr den Atem, und sie wußte nicht mehr, wo oben und<br />
unten war. Ihr Gesicht in der fest zugezogenen Kapuze war<br />
über und über mit einem Pulver bedeckt, das aus trockenen,<br />
kalten Kristallen bestand…<br />
Es war Schnee; sie war in einer Schneewehe gelandet. Sie war<br />
so zerschlagen, daß sie kaum denken konnte. Einige Sekunden<br />
lang blieb sie wie tot liegen, dann begann sie kraftlos, den<br />
Schnee in ihrem Mund auszuspucken, und genauso kraftlos<br />
schneuzte sie sich, um wenigstens etwas Luft durch die Nase zu<br />
bekommen. Sie schien nicht verletzt zu sein, sie fühlte sich<br />
lediglich völlig ausgepumpt. Vorsichtig bewegte sie Hände,<br />
Füße, Arme und Beine und hob den Kopf.<br />
Sie konnte nichts sehen, weil ihre Kapuze immer noch mit<br />
Schnee gefüllt war. Mit großer Anstrengung, als ob jede ihrer<br />
Hände eine Tonne schwer sei, wischte sie sich den Schnee aus<br />
den Augen und spähte nach draußen. Sie sah eine Welt ganz in<br />
Grau, in hellen und dunklen Grautönen und in Schwarz, durch<br />
die geisterhafte Nebelschwaden waberten.<br />
Die einzigen Geräusche, die sie hörte, waren die entfernten<br />
Schreie der Klippenalpe hoch über ihr und in einiger Entfernung<br />
das Donnern einer Brandung.<br />
»Iorek!« rief sie. Ihre Stimme war schwach und zittrig. Sie<br />
versuchte es noch einmal, aber niemand antwortete. Dann rief<br />
sie nach Roger, doch ebenfalls vergeblich.<br />
361
Sie hätte allein auf der Welt sein können, was sie natürlich<br />
nicht war, denn in diesem Augenblick kroch Pantalaimon in<br />
Gestalt einer Maus aus ihrem Anorak, um ihr Gesellschaft zu<br />
leisten.<br />
»Ich habe das Alethiometer überprüft«, sagte er, »es funktioniert<br />
noch. Es ist nichts zerbrochen.«<br />
»Wir sind verloren, Pan!« sagte Lyra. »Hast du die Klippenalpe<br />
gesehen? Und wie Mr. Scoresby auf sie schoß? Wenn die<br />
uns hier entdecken, dann gnade uns Gott…«<br />
»Vielleicht sollten wir den Korb suchen«, sagte Pantalaimon.<br />
»Wir dürfen nicht rufen«, sagte sie. »Ich habe es gerade getan,<br />
aber die Klippenalpe könnten uns hören. Wenn ich nur wüßte,<br />
wo wir sind.«<br />
»Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir es nicht wissen«, sagte<br />
Pantalaimon. »Vielleicht sitzen wir am Fuß eines Felsens, zu<br />
dem kein Weg hinaufführt, und sind den Klippenalpen ausgeliefert,<br />
sobald sich der Nebel lichtet.«<br />
Lyra ruhte noch einige Minuten aus, dann tastete sie durch<br />
den Nebel und stellte fest, daß sie in einem Spalt zwischen zwei<br />
eisbedeckten Felsen gelandet war. Eisiger Nebel hüllte alles ein.<br />
Die Brandung auf der einen Seite schien, dem Lärm nach zu<br />
schließen, etwa fünfzig Meter entfernt, die Schreie der Klippenalpe<br />
über ihr schienen etwas leiser geworden zu sein. Lyra<br />
konnte nicht weiter als zwei bis drei Schritte sehen, und sogar<br />
Pantalaimon war trotz seiner Eulenaugen hilflos.<br />
Mühsam und immer wieder ausrutschend und stolpernd,<br />
kletterte Lyra über die unebenen Felsen von der Brandung weg<br />
den Strand hinauf. Wohin sie auch sah, sie erblickte nur Felsen<br />
und Schnee, von dem Ballon und seinen Passagieren keine Spur.<br />
»Sie können doch nicht spurlos verschwunden sein«, flüsterte<br />
sie.<br />
Pantalaimon sprang in Gestalt einer Katze über die Felsen<br />
neben ihr und stieß dabei auf vier schwere Sandsäcke, die aufge<br />
362
platzt waren. <strong>Der</strong> ausgelaufene Sand war bereits steinhart<br />
gefroren.<br />
»Ballast«, sagte Lyra. »Lee Scoresby muß die Säcke abgeworfen<br />
haben, um wieder aufzusteigen.«<br />
Sie schluckte hart, um den Klumpen in ihrer Kehle oder die<br />
Angst in ihrer Brust oder beides nicht aufsteigen zu lassen.<br />
»Mein Gott, ich hab Angst«, sagte sie. »Hoffentlich ist ihnen<br />
nichts Schlimmes passiert.«<br />
Pantalaimon sprang auf ihren Arm und verschwand in<br />
Gestalt einer Maus in ihrer Kapuze. Lyra hörte ein Geräusch,<br />
wie ein Kratzen auf Stein, und drehte sich um.<br />
»Iorek!«<br />
Aber sie brach mitten im Wort ab, denn das war nicht Iorek<br />
Byrnison, sondern ein fremder Bär in einer glänzenden<br />
Rüstung. Die Wassertropfen auf der Rüstung waren gefroren,<br />
und auf dem Helm wippte ein Federbusch.<br />
<strong>Der</strong> Bär blieb etwa zwei Meter vor ihr stehen, und Lyra hielt<br />
ihr Ende für gekommen.<br />
Dann riß der Bär das Maul auf und brüllte. Die Klippen warfen<br />
das Echo zurück, und das Kreischen über ihr verstärkte sich.<br />
Aus dem Nebel tauchte ein zweiter Bär auf, und dann noch<br />
einer. Lyra erstarrte und ballte ihre kleinen Fäuste.<br />
Die Bären bewegten sich nicht. Dann sagte der erste:<br />
»Name?«<br />
»Lyra.«<br />
»Woher kommst du?«<br />
»Vom Himmel.«<br />
»In einem Ballon?«<br />
»Ja.«<br />
»Komm mit. Du bist unsere Gefangene. Los jetzt! Schnell!«<br />
Müde und verängstigt stolperte Lyra hinter dem Bären über<br />
die harten, rutschigen Felsen. Sie wußte nicht, wie sie sich aus<br />
dieser Situation je wieder herausreden sollte.<br />
363
Neunzehn<br />
Gefangen<br />
Die Bären führten Lyra eine Felsrinne hinauf, in der der Nebel<br />
noch dicker lag als an der Küste. Die Schreie der Klippenalpe<br />
und das Donnern der Wellen wurden leiser, je höher sie stiegen,<br />
und bald war nur noch das ewige Schreien der Seevögel zu<br />
hören. Schweigend stiegen sie über Felsen und Schneewehen,<br />
und obwohl Lyra angestrengt in das sie umgebende Grau starrte<br />
und auf ein Geräusch ihrer Freunde lauschte, hatte sie das<br />
Gefühl, der einzige Mensch auf Svalbard zu sein. Und Iorek war<br />
vielleicht tot.<br />
<strong>Der</strong> Bärenfeldwebel sagte nichts, bis sie ebenes Gelände<br />
erreicht hatten. Dort hielten sie an. Dem Geräusch der Brandung<br />
nach zu schließen, standen sie oben auf den Klippen, aber<br />
Lyra wagte es nicht, wegzurennen, aus Furcht, dabei über den<br />
Rand zu fallen.<br />
»Schau nach oben«, sagte der Bär, als ein leichter Wind aufkam<br />
und den dichten Nebel vor ihnen teilte.<br />
Zwar wurde es dadurch nicht viel heller, aber Lyra blickte<br />
gehorsam nach oben und sah, daß sie am Fuß eines gewaltigen<br />
steinernen Gebäudes stand. Es war mindestens so hoch wie der<br />
höchste Turm von Jordan College, hatte aber viel dickere Mauern<br />
und war über und über mit kriegerischen Darstellungen<br />
bedeckt, mit Bären in Siegerpose und unterworfenen Skrälin<br />
364
gen, mit Tataren in Ketten, die als Sklaven in den Feuerminen<br />
arbeiteten, und mit aus aller Welt eintreffenden Zeppelinen,<br />
die Geschenke und Tributzahlungen zum König der Bären<br />
brachten, zu Iofur Raknison. — Zumindest erklärte der Bärenfeldwebel<br />
die Aussage der Reliefs so. Lyra mußte ihm glauben,<br />
denn auf jedem Vorsprung und Sims der behauenen Fassade<br />
hockten krächzend und kreischend Raubmöwen und Tölpel,<br />
und weitere Vögel kreisten ständig über ihnen, und ihre Exkremente<br />
bedeckten das Gebäude über und über mit einer dicken,<br />
schmutzigweißen Schicht.<br />
Die Bären schienen den Dreck freilich gar nicht zu sehen<br />
und gingen Lyra voraus über den vereisten, ebenfalls mit Vogelkot<br />
verdreckten Boden durch einen riesigen Torbogen. Dahinter<br />
folgten ein Hof, steile Treppen und weitere Tore, und überall<br />
waren Bären in Rüstungen postiert, die die Ankömmlinge<br />
anhielten und nach der Parole fragten. Ihre Panzer waren<br />
poliert und glänzten, und alle hatten Federbüsche auf ihren<br />
Helmen. Unwillkürlich verglich Lyra jeden Bär, den sie sah, mit<br />
Iorek Byrnison, und der Vergleich fiel immer zu seinen Gunsten<br />
aus. Er war stärker und geschmeidiger, und seine Rüstung<br />
war eine wirkliche Rüstung, befleckt mit Rost und Blut und<br />
vom Kampf eingedellt, nicht gepflegt und dekorativ bemalt<br />
wie die meisten, die sie hier sah.<br />
Je weiter sie gingen, desto wärmer wurde es, und noch etwas<br />
anderes nahm zu. In Iofurs Palast stank es erbärmlich nach ranzigem<br />
Seehundfett, Blut und allen möglichen Abfällen. Lyra<br />
schob die Kapuze zurück, um sich Kühlung zu verschaffen, und<br />
rümpfte unwillkürlich die Nase. Sie hoffte nur, daß Bären die<br />
menschliche Mimik nicht lesen konnten. Alle paar Meter<br />
steckte in einem eisernen Halter eine Tranlampe, in deren flakkerndem<br />
Licht man nicht immer sah, wohin man trat.<br />
Schließlich blieben sie vor einer schweren Eisentür stehen.<br />
Eine Wache schob einen massiven Riegel zurück, und der Feld<br />
365
webel versetzte Lyra mit dem Kopf einen so plötzlichen Stoß,<br />
daß sie vornüber durch die Tür stolperte. Bevor sie sich aufrappeln<br />
konnte, hörte sie, wie die Tür hinter ihr verriegelt wurde.<br />
Es war stockdunkel, aber Pantalaimon verwandelte sich in<br />
ein Glühwürmchen und verbreitete einen schwachen Schein.<br />
Sie befanden sich in einer engen Zelle mit Wänden, von denen<br />
das Wasser tropfte. Das einzige Möbelstück war eine Steinbank,<br />
und in der Ecke gegenüber lag ein Haufen Lumpen, die offensichtlich<br />
das Bett darstellten. Mehr konnte Lyra nicht sehen.<br />
Mit Pantalaimon auf der Schulter setzte sie sich und tastete in<br />
ihren Kleidern nach dem Alethiometer.<br />
»Es hat ganz schön viele Stöße abbekommen, Pan«, flüsterte<br />
sie. »Hoffentlich funktioniert es noch.«<br />
Pantalaimon flog auf ihr Handgelenk, um dort zu leuchten,<br />
während Lyra versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. In einer<br />
entfernten Ecke ihres Bewußtseins wunderte sie sich, wie sie<br />
hier inmitten der schrecklichsten Gefahr so ruhig dasitzen und<br />
sich auf das Alethiometer konzentrieren konnte; und doch war<br />
das Lesen des Alethiometers inzwischen so sehr ein Teil von ihr<br />
geworden, daß die kompliziertesten Fragen sich wie von selbst<br />
in die ihnen zugeordneten Symbole auflösten; ein Vorgang, der<br />
beinahe so natürlich war, wie Lyras Muskeln ihre Glieder<br />
bewegten. Sie brauchte kaum darüber nachzudenken.<br />
Sie drehte die Zeiger und formulierte in Gedanken die Frage:<br />
»Wo ist Iorek?«<br />
Die Antwort ließ nicht auf sich warten: »Eine Tagesreise entfernt.<br />
<strong>Der</strong> Ballon brachte ihn nach eurem Zusammenstoß dorthin,<br />
aber er ist bereits auf dem Weg hierher.«<br />
»Und Roger?«<br />
»Ist bei ihm.«<br />
»Was hat Iorek vor?«<br />
»Er will in den Palast eindringen und dich trotz aller Schwierigkeiten<br />
befreien.«<br />
366
Lyra verstaute das Alethiometer wieder. Sie hatte jetzt noch<br />
mehr Angst als zuvor.<br />
»Sie werden ihn nicht hereinlassen«, sagte sie. »Sie sind in der<br />
Überzahl. Ich wünschte, ich wäre eine Hexe, Pan, dann könntest<br />
du wegfliegen, ihn suchen und ihm eine Botschaft überbringen<br />
und so weiter, und wir könnten uns einen Plan ausdenken…«<br />
Dann erschrak sie, wie sie noch nie erschrocken war.<br />
Aus dem Dunkel ertönte, nur wenige Meter von ihr entfernt,<br />
die Stimme eines Mannes. »Wer ist da?«<br />
Mit einem entsetzten Schrei sprang Lyra auf. Pantalaimon<br />
verwandelte sich augenblicklich in eine Fledermaus und flog<br />
kreischend um ihren Kopf, während sie zur Wand zurückwich.<br />
»Hm? Hm?« sagte der Mann wieder. »Wer ist da? Sag doch!<br />
Raus mit der Sprache!«<br />
»Sei wieder ein Glühwürmchen, Pan«, flüsterte Lyra mit zittriger<br />
Stimme. »Aber fliege nicht zu dicht ran.«<br />
Ein kleiner, flimmernder Lichtpunkt tanzte durch das Dunkel<br />
und umkreiste den Kopf des Sprechers. Was Lyra gesehen<br />
hatte, war kein Lumpenhaufen, sondern ein graubärtiger, an<br />
die Wand geketteter Mann mit wirren, schulterlangen Haaren,<br />
dessen Augen in Pantalaimons Schein glänzten. Sein Dæmon,<br />
eine trübe dreinblickende Schlange, lag in seinem Schoß; nur<br />
ihre Zunge schoß ab und zu heraus, wenn Pantalaimon in ihre<br />
Nähe kam.<br />
»Wie heißen Sie?« fragte Lyra.<br />
»Jotham Santelia«, erwiderte er. » Ich bin Regius-Professor<br />
für Kosmologie an der Universität Gloucester. Und du?«<br />
»Lyra Belacqua. Weshalb hat man Sie hier eingesperrt?«<br />
»Aus Bosheit und Eifersucht… Wo kommst du denn her?<br />
Hm?«<br />
»Aus Jordan College«, sagte Lyra.<br />
»Was? Aus Oxford?«<br />
»Ja.«<br />
367
»Ist dieser Schurke Trelawney immer noch dort, hm?«<br />
»<strong>Der</strong> Palmer-Professor? Ja.«<br />
»Tatsächlich, bei Gott! Hm? Man hätte ihn schon längst zum<br />
Rücktritt zwingen sollen. Den miesen Plagiator! Den dreisten<br />
Narr!«<br />
Lyra murmelte etwas Unbestimmtes.<br />
»Hat er seinen Artikel über die Gammastrahlen-Photonen<br />
schon veröffentlicht?« Das Gesicht des Professors befand sich<br />
auf einmal dicht unter dem Lyras, und sie wich zurück.<br />
»Keine Ahnung«, sagte sie, und dann fuhr sie aus reiner<br />
Gewohnheit fort: »Nein, jetzt erinnere ich mich. Er sagte, er<br />
müsse noch einige Zahlen überprüfen. Und… er sagte, er würde<br />
auch über Staub schreiben, genau.«<br />
»Schurke! Dieb! Erpresser! Gauner!« rief der alte Mann und<br />
zitterte so heftig, daß Lyra schon fürchtete, er könnte einen<br />
Anfall haben. Sein Dæmon glitt träge von seinem Schoß, als der<br />
Professor begann, sich mit den Fäusten auf die Schenkel zu<br />
schlagen. Speicheltropfen flogen ihm aus dem Mund.<br />
»Ja«, sagte Lyra, »ich habe ihn auch immer für einen Dieb<br />
gehalten. Und einen Gauner und alles andere.«<br />
Wie unwahrscheinlich es war, daß ein schmutzstarrendes<br />
kleines Mädchen in seiner Zelle auftauchen und seinen Intimfeind<br />
kennen sollte, fiel dem Regius-Professor gar nicht auf. Er<br />
war verrückt, der Arme, kein Wunder, aber vielleicht, so hoffte<br />
Lyra, konnte er ihr trotzdem mit einigen nützlichen Informationen<br />
weiterhelfen. Sie setzte sich vorsichtig in seine Nähe,<br />
nicht so nah, daß er sie berühren konnte, aber nah genug, daß<br />
sie ihn deutlich sah, wenn Pantalaimon leuchtete.<br />
»Professor Trelawney«, sagte sie, »hat immer besonders gern<br />
damit angegeben, wie gut er den König der Bären kennt…«<br />
»Angegeben! Hm? Hm? Das will ich meinen! <strong>Der</strong> eitle<br />
Geck! Und Pirat! Von wegen eigene Forschung! Alles von größeren<br />
Geistern geklaut!«<br />
368
»Tja, stimmt«, gab Lyra ernsthaft zu. »Und wenn er mal selbst<br />
was tut, macht er alles verkehrt!«<br />
»Ja! Ja! Absolut! Kein Talent, keine Phantasie, ein Schwindler<br />
von Kopf bis Fuß!«<br />
»Ich wette zum Beispiel«, sagte Lyra, »daß Sie viel mehr über<br />
Bären wissen als er.«<br />
»Bären«, sagte der Alte, »ha! Darüber könnte ich Bücher<br />
schreiben! Deshalb haben sie mich doch hier eingesperrt!«<br />
»Ach ja?«<br />
»Ich weiß zuviel über sie, und sie trauen sich nicht, mich<br />
umzubringen. Trauen sich nicht, auch wenn sie gerne wollten.<br />
Das weiß ich genau. Ich habe Freunde, ja! Mächtige Freunde.«<br />
»Ach so«, sagte Lyra. »Und ich wette, Sie sind ein ausgezeichneter<br />
Lehrer, bei so viel Wissen und Erfahrung.«<br />
Sogar in den Abgründen seiner Verrücktheit schlummerte<br />
noch ein kleiner Rest gesunder Menschenverstand, und er sah<br />
sie scharf an, fast als argwöhne er Ironie. Aber Lyra hatte ihr<br />
ganzes Leben mit mißtrauischen und verschrobenen Wissenschaftlern<br />
zugebracht, und sie starrte ihn mit einer solch<br />
unschuldigen Bewunderung an, daß er besänftigt war.<br />
»Lehrer«, sagte er, »Lehrer…Ja, ich könnte unterrichten. Verschaffe<br />
mir den richtigen Schüler, und ich setze seine Gedanken<br />
in Brand!«<br />
»Ihr Wissen darf schließlich nicht einfach verlorengehen«,<br />
sagte Lyra ermutigend. »Es muß weitergegeben werden, damit<br />
die Menschen sich an Sie erinnern.«<br />
»Ja«, sagte er und nickte ernst. »Ein kluger Gedanke, Kind.<br />
Wie heißt du?«<br />
»Lyra«, sagte sie noch einmal. »Könnten Sie mich nicht über<br />
die Bären unterrichten?«<br />
»Die Bären…«, sagte er zweifelnd.<br />
»Ich wüßte wirklich gern mehr über Kosmologie und Staub<br />
und all das, aber dazu bin ich nicht schlau genug. Dafür brau<br />
369
chen Sie wirklich gescheite Schüler. Aber das mit den Bären<br />
könnte ich lernen. Darin könnten Sie mich unterrichten. Und<br />
vielleicht können wir dabei üben und uns bis zum Staub hocharbeiten.«<br />
Er nickte wieder. »Ja«, sagte er, »ja, ich glaube, du hast recht.<br />
Es besteht ein Zusammenhang zwischen Mikrokosmos und<br />
Makrokosmos! Die Sterne leben, Kind. Wußtest du das? Da<br />
draußen ist alles lebendig, und im All hat alles Sinn und Zweck!<br />
Das Universum steckt voller Absichten, mußt du wissen. Alles<br />
geschieht zu einem Zweck. Dein Zweck ist es, mich daran zu<br />
erinnern. Gut, gut — ich hatte es in meiner Verzweiflung schon<br />
vergessen. Gut! Ausgezeichnet, Kind!«<br />
»Haben Sie den König denn schon einmal gesehen? Iofur<br />
Raknison?«<br />
»Ja, o ja. Ich kam doch auf seine Einladung hierher. Er wollte<br />
eine Universität gründen und mich zu ihrem Vizekanzler<br />
machen. Das hätte das Royal Arctic Institute ins Mark getroffen,<br />
hm! Hm? Und diesen Schurken Trelawney! Ha!«<br />
»Was ist passiert?«<br />
»Ich wurde von Geringeren verraten, unter ihnen natürlich<br />
Trelawney. Er war hier, mußt du wissen, hier in Svalbard. Verbreitete<br />
Lügen und Verleumdungen über mich. Verleumdungen!<br />
Diffamierungen! Wer hat denn den letzten Beweis für die<br />
Barnard-Stokes-Hypothese erbracht, hm? Hm? Richtig, das<br />
war Santelia. Trelawney hat das nicht verkraftet. Log, daß sich<br />
die Balken bogen. Und Iofur Raknison ließ mich hier einsperren.<br />
Aber eines Tages bin ich wieder draußen und Vizekanzler,<br />
o ja. Dann soll Trelawney vor mir um Gnade winseln! Und der<br />
Publikationsausschuß des Royal Arctic Institute soll es ruhig<br />
wagen, meine Beiträge abzulehnen! Ha! Demütigen werde ich<br />
sie alle!«<br />
»Ich denke, Iorek Byrnison wird Ihnen glauben, wenn er<br />
wiederkommt«, sagte Lyra.<br />
370
»Iorek Byrnison? Darauf warte ich lieber nicht. <strong>Der</strong> kommt<br />
nie wieder.«<br />
»Er ist auf dem Weg hierher.«<br />
»Dann werden sie ihn töten. Er ist kein Bär, mußt du wissen,<br />
sondern ein Ausgestoßener, wie ich. Degradiert, ohne Recht auf<br />
die Privilegien, die die anderen Bären haben.«<br />
»Mal angenommen, Iorek Byrnison käme doch wieder«,<br />
sagte Lyra. »Und angenommen, er forderte Iofur Raknison zum<br />
Kampf heraus…«<br />
»Das würden die Bären nie zulassen«, sagte der Professor verächtlich.<br />
»Und Iofur Raknison würde nie zugeben, daß Iorek<br />
Byrnison überhaupt das Recht hat, gegen ihn zu kämpfen. Er ist<br />
völlig rechtlos. Genauso gut könnte er statt eines Bären ein Seehund<br />
sein oder ein Walroß. Oder noch schlimmer ein Tatar<br />
oder ein Skräling. Sie würden nicht ehrenhaft gegen ihn kämpfen;<br />
sie würden ihn mit Flammenwerfern töten, bevor er ihnen<br />
zu nahe kommen könnte. Aussichtslos, gnadenlos.«<br />
»Oh«, sagte Lyra, und tiefe Verzweiflung überkam sie. »Und<br />
was ist mit den anderen Gefangenen der Bären? Wissen Sie, wo<br />
man sie gefangen hält?«<br />
»Andere Gefangene?«<br />
»Ja, wie… Lord Asriel.«<br />
Schlagartig veränderte sich das Verhalten des Professors. Er<br />
zuckte zurück und schüttelte warnend den Kopf.<br />
»Pst! Still! Sie könnten dich hören!« flüsterte er.<br />
»Warum dürfen wir nicht von Lord Asriel sprechen?«<br />
»Verboten! Sehr gefährlich! Iofur Raknison duldet nicht, daß<br />
man von ihm spricht!«<br />
»Aber warum?« sagte Lyra und kam näher. Sie flüsterte jetzt<br />
selbst, um den Professor nicht zu erschrecken.<br />
»Lord Asriel gefangenzuhalten ist ein besonderer Auftrag,<br />
den Iofur von der Oblations-Behörde bekommen hat«, flüsterte<br />
der alte Mann zurück. »Mrs. Coulter kam persönlich zu<br />
371
Besuch und bot Iofur alle möglichen Belohnungen an, wenn er<br />
Lord Asriel in Verwahrung nähme. Ich weiß das deshalb, weil<br />
ich zu dieser Zeit selbst noch bei Iofur in Gnade stand. Ich lernte<br />
Mrs. Coulter kennen, jawohl! Ich hatte ein langes Gespräch mit<br />
ihr. Iofur war ganz vernarrt in sie. Er redete unaufhörlich von<br />
ihr, daß er alles für sie tun würde. Wenn sie wollte, daß Lord<br />
Asriel in völliger Abgeschiedenheit gefangengehalten wurde,<br />
bitte sehr. Für Mrs. Coulter alles, wirklich alles. Wußtest du, daß<br />
er seine Hauptstadt nach ihr benennen will?«<br />
»Er läßt also niemanden zu Lord Asriel?«<br />
»Nein! Niemanden! Aber zugleich fürchtet er ihn. Iofur<br />
spielt ein schwieriges Spiel, aber er ist schlau. Er will es mit beiden<br />
nicht verderben. Er läßt niemanden zu Lord Asriel, um<br />
Mrs. Coulter zu gefallen, und er stellt Lord Asriel alle Instrumente<br />
zur Verfügung, die er haben will, um ihm zu gefallen.<br />
Eine prekäres Gleichgewicht. Instabil. Es beiden Seiten recht<br />
machen wollen, hm? Die Situation wird sich hochschaukeln,<br />
und das wird schon bald zum Zusammenbruch führen, das<br />
weiß ich aus verläßlicher Quelle.«<br />
»Wirklich?« Lyra war mit ihren Gedanken anderswo gewesen<br />
und versuchte sich zu erinnern, was er gesagt hatte.<br />
»Ja. Mein Dæmon kann mit seiner Zunge schmecken, was<br />
wahrscheinlich ist.«<br />
»Meiner auch. Wann bekommen wir zu essen, Professor?«<br />
»Zu essen?«<br />
»Sie müssen uns doch ab und zu etwas bringen, sonst würden<br />
wir verhungern. Und auf dem Boden liegen Knochen, wahrscheinlich<br />
von Seehunden, oder?«<br />
»Seehunde… ich weiß nicht. Vielleicht.«<br />
Lyra stand auf und tastete sich zur Tür. Natürlich hatte die<br />
Tür keinen Griff und auch kein Schlüsselloch, und sie schloß<br />
unten und oben so dicht, daß kein Licht durchschien. Lyra<br />
preßte ihr Ohr dagegen, aber sie hörte nichts. Hinter ihr mur<br />
372
melte der alte Mann etwas zu sich selbst. Sie hörte seine Kette<br />
rasseln, als er sich erschöpft auf die andere Seite legte, und bald<br />
begann er zu schnarchen.<br />
Sie tastete sich zur Bank zurück. Pantalaimon, der es müde<br />
war, zu leuchten, war wieder eine Fledermaus geworden, was<br />
ihn zu amüsieren schien. Leise quietschend flatterte er herum,<br />
während Lyra auf der Bank saß und an einem Fingernagel<br />
kaute. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, fiel ihr ein, was sie den<br />
Palmer-Professor damals im Ruhezimmer hatte sagen hören.<br />
Irgend etwas hatte in ihr rumort, seit sie von Iorek Byrnison<br />
zum erstenmal Iofurs Namen gehört hatte, und jetzt wußte sie,<br />
was es war: Am meisten, hatte der Professor gesagt, wünsche<br />
Iofur Raknison sich einen Dæmon.<br />
Natürlich hatte sie nicht verstanden, was er meinte; er hatte<br />
von Panserbjørne gesprochen, statt das englische Wort zu benutzen,<br />
deshalb hatte sie nicht gewußt, daß er von Bären sprach,<br />
und keine Ahnung gehabt, daß Iofur Raknison kein Mensch<br />
war. Ein Mensch hätte ja auch einen Dæmon gehabt, die Worte<br />
des Professors hatten für Lyra also keinen Sinn ergeben.<br />
Aber jetzt war es klar, und alles, was sie über den Bärenkönig<br />
gehört hatte, fügte sich zusammen: <strong>Der</strong> größte Wunsch des<br />
mächtigen Iofur Raknison war es, ein Mensch zu sein, ein<br />
Mensch mit einem eigenen Dæmon.<br />
Und als Lyra das verstand, wuchs in ihr ein Plan, wie sie Iofur<br />
Raknison dazu bringen konnte, etwas zu tun, das er sonst nie<br />
tun würde, wie sie Iorek Byrnison zu dem ihm zustehenden<br />
Thron verhelfen konnte und wie sie schließlich an den Ort<br />
gelangen konnte, an den man Lord Asriel verschleppt hatte, um<br />
ihm das Alethiometer zu überbringen.<br />
Noch schillerte die Idee unwirklich wie eine Seifenblase, und<br />
Lyra wagte nicht, sie zu genau zu betrachten, damit sie nicht<br />
zerplatzte. Aber sie war mit solchen Ideen vertraut, und so ließ<br />
sie sie schillern und sah weg und dachte an etwas anderes.<br />
373
Sie war fast eingeschlafen, als die Riegel klapperten und die Tür<br />
aufging. Licht fiel herein, und Lyra sprang auf. Pantalaimon<br />
hatte sie schnell noch in ihrer Tasche versteckt.<br />
Als der Bär, der ihnen das Essen brachte, den Kopf senkte,<br />
um die Seehundlende aufzuheben und in die Zelle zu werfen,<br />
stand Lyra neben ihm.<br />
»Bring mich zu Iofur Raknison«, sagte sie. »Wenn du es nicht<br />
tust, bekommst du Schwierigkeiten. Es ist dringend.«<br />
<strong>Der</strong> Bär ließ das Fleisch fallen und sah auf. Es war nicht<br />
leicht, die Miene eines Bären zu lesen, aber er wirkte verärgert.<br />
»Es geht um Iorek Byrnison«, sagte Lyra schnell. »Ich weiß<br />
etwas von ihm, das der König wissen muß.«<br />
»Sag mir, was es ist, und ich richte es ihm aus«, sagte der Bär.<br />
»Das wäre nicht richtig, denn niemand darf es wissen, bevor<br />
der König es weiß«, sagte Lyra. »Tut mir leid, ich will nicht<br />
unhöflich sein, aber es ist nun mal so, daß der König alles zuerst<br />
wissen muß.«<br />
<strong>Der</strong> Bär schien etwas begriffsstutzig. Jedenfalls hielt er eine<br />
Weile inne, dann warf er das Fleisch in die Zelle. »Also gut«,<br />
sagte er schließlich. »Komm mit.«<br />
Er ging mit ihr ins Freie, wofür sie dankbar war. <strong>Der</strong> Nebel<br />
hatte sich gelichtet, und am Himmel über dem von hohen<br />
Mauern umschlossenen Hof glitzerten Sterne. Die Wache<br />
sprach mit einem anderen Bären, der daraufhin auf Lyra<br />
zukam. »Du kannst nicht mit Iofur Raknison sprechen, wann es<br />
dir beliebt«, sagte er. »Du mußt warten, bis er mit dir sprechen<br />
will.«<br />
»Aber was ich ihm zu sagen habe, ist dringend«, erwiderte sie.<br />
»Es geht um Iorek Byrnison. Ich bin sicher, daß Seine Majestät<br />
es wissen will, aber ich kann es leider niemand anders sagen,<br />
verstehst du? Es wäre nicht höflich. Und er würde sich mächtig<br />
ärgern, wenn er erfahren würde, daß wir nicht höflich waren.«<br />
374
Das schien den Bären immerhin zu beeindrucken oder<br />
zumindest zu verwirren. Lyra war überzeugt, daß sie zum richtigen<br />
Mittel gegriffen hatte: Iofur Raknison hatte so viele neue<br />
Verhaltensregeln eingeführt, daß kein Bär wußte, wie er sich<br />
benehmen sollte, und diese Verunsicherung konnte sie sich<br />
zunutze machen, um zu Iofur vorgelassen zu werden.<br />
<strong>Der</strong> zweite Bär zog sich zurück, um mit dem nächsthöheren<br />
Bären zu sprechen, und bald wurde Lyra wieder in den Palast<br />
geholt, diesmal allerdings in die Staatsgemächer. Dort war es<br />
nicht sauberer als in der Zelle, und die Luft war sogar noch stikkiger,<br />
denn zu dem natürlichen Gestank kam noch ein aufdringliches,<br />
klebrig süßes Parfüm. Lyra mußte im Gang warten,<br />
dann in einem Vorzimmer und zuletzt vor einer großen Tür,<br />
und während die Bären ihren Fall erörterten und geschäftig hin<br />
und her eilten, hatte sie Zeit, sich ihre protzig aufgedonnerte<br />
Umgebung anzusehen: Die Wände waren überreich mit vergoldetem<br />
Stuck verziert, der aber zum Teil bereits abblätterte<br />
oder in der Feuchtigkeit zerbröselte, und die mit Mustern überladenen<br />
Teppiche starrten vor Schmutz.<br />
Endlich ging die große Tür von innen auf. Dahinter erstrahlten<br />
ein halbes Dutzend Kronleuchter, auf dem Boden lag ein<br />
karmesinroter Teppich, und die Luft war geschwängert von<br />
dem klebrigen Parfüm. Die Gesichter etwa eines Dutzend<br />
Bären waren auf Lyra gerichtet; die Bären trugen keine<br />
Rüstung, aber jeder war auf irgendeine Weise geschmückt —<br />
mit einer <strong>goldene</strong>n Halskette, einem Kopfputz aus purpurroten<br />
Federn oder einer karmesinroten Schärpe. Seltsamerweise war<br />
der Raum auch mit Vögeln bevölkert; Tölpel und Raubmöwen<br />
hockten auf den Stucksimsen und schössen immer wieder hinunter,<br />
um Fischstückchen aufzuschnappen, die aus den Nestern<br />
in den Kronleuchtern fielen.<br />
Auf einer Plattform am anderen Ende des Raumes erhob sich<br />
ein gewaltiger Thron. Er bestand aus einem massiven Granit<br />
375
lock, war aber wie so viele andere Dinge in Iofurs Palast überreich<br />
mit Girlanden und Gehängen verziert, die an dem granitenen<br />
Gebirge wie läppischer Flitterkram wirkten.<br />
Auf dem Thron saß der größte Bär, den Lyra je gesehen hatte,<br />
Iofur Raknison war sogar noch größer und massiger als Iorek,<br />
und sein Gesicht war viel beweglicher und ausdrucksvoller; es<br />
hatte beinahe menschliche Züge, wie Lyra sie bei Iorek nie<br />
bemerkt hatte. Wenn Iofur sie ansah, wirkte er wie einer der<br />
Männer, die sie bei Mrs. Coulter kennengelernt hatte, wie ein<br />
geschickter, machtgewohnter Politiker. Um den Hals trug er<br />
eine schwere Goldkette, an der ein bunter Edelstein hing, und<br />
seine gut fünfzehn Zentimeter langen Klauen waren mit Blattgold<br />
überzogen. Er strahlte eine ungeheure Stärke, Tatkraft und<br />
Verschlagenheit aus, und zu ihm paßte der groteske Pomp; an<br />
ihm wirkte er nicht aufgesetzt, sondern verstärkte noch den<br />
Eindruck einer barbarischen Urgewalt.<br />
Lyras Mut sank. Ihr Plan schien ihr plötzlich albern.<br />
Doch als sie ein paar Schritte nach vorn machte, sah sie, daß<br />
Iofur etwas auf den Knien hielt, dort, wo bei Menschen manchmal<br />
eine Katze sitzt — oder ein Dæmon.<br />
Es war eine große, ausgestopfte Puppe, ein Männchen mit<br />
einem leeren menschlichen Gesicht. Die Puppe war wie Mrs.<br />
Coulter angezogen und hatte auch sonst eine gewisse Ähnlichkeit<br />
mit ihr. Iofur tat so, als habe er einen Dæmon! In diesem<br />
Augenblick wußte Lyra, daß ihr nichts passieren konnte.<br />
Sie ging bis vor den Thron und verbeugte sich rief, während<br />
Pantalaimon in ihrer Tasche saß und keinen Mucks machte.<br />
»Ich entbiete Euch unsere Grüße, großer König«, sagte sie<br />
feierlich. »Oder besser gesagt, meine Grüße, nicht seine.«<br />
»Nicht wessen Grüße?« fragte Iofur. Seine Stimme war heller,<br />
als Lyra erwartet hatte, aber geschmeidig und ausdrucksvoll.<br />
Beim Sprechen wedelte er mit der Pfote vor dem Mund, um die<br />
Fliegen zu verscheuchen, die sich dort versammelt hatten.<br />
376
»Iorek Byrnisons Grüße, Eure Majestät«, sagte sie. »Ich muß<br />
Euch ein sehr wichtiges Geheimnis mitteilen, aber ich glaube,<br />
ich sollte es Euch unter vier Augen sagen.«<br />
»Etwas über Iorek Byrnison?«<br />
Sie trat dicht vor ihn hin, wobei sie vorsichtig über den auf<br />
dem Boden verteilten Vogelkot stieg, und verscheuchte die<br />
Fliegen, die um ihr Gesicht summten.<br />
»Über Dæmonen«, sagte sie so, daß nur er es hören konnte.<br />
Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Lyra konnte ihn nicht<br />
lesen, aber der Bärenkönig schien zweifellos mächtig interessiert.<br />
Plötzlich machte er einen Schritt nach vorn, so daß sie zur<br />
Seite springen mußte, und brüllte einen Befehl an die anderen<br />
Bären. Sie verbeugten sich und verschwanden rückwärts durch<br />
die Tür. Die Vögel, die erschrocken aufgeflogen waren, flatterten<br />
noch eine Weile kreischend unter der Decke hin und her,<br />
bevor sie sich wieder auf ihre Nester setzten.<br />
Als der Thronsaal bis auf Iofur Raknison und Lyra leer war,<br />
wandte sich der König aufmerksam Lyra zu.<br />
»Also?« sagte er. »Sag mir, wer du bist. Was willst du mir<br />
über<br />
Dæmonen sagen?«<br />
»Ich bin ein Dæmon, Eure Majestät«, sagte sie.<br />
Er erstarrte. »Wessen Dæmon?« fragte er.<br />
»<strong>Der</strong> von Iorek Byrnison.«<br />
Es war das Gefährlichste, das sie je gesagt hatte. Sie merkte<br />
genau, daß er sie nur deshalb nicht auf der Stelle tötete, weil er<br />
so verblüfft war. Sie sprach sofort weiter.<br />
»Bitte, Eure Majestät, hört mich an, bevor Ihr mir etwas<br />
antut. Ich bin auf eigene Gefahr hierhergekommen, wie Ihr<br />
seht, und ich kann Euch nicht gefährlich werden. Im Gegenteil,<br />
ich bin gekommen, weil ich Euch helfen will. Iorek Byrnison<br />
hat als erster Bär einen Dæmon bekommen, aber eigentlich<br />
hättet Ihr der erste sein sollen. Ich will viel lieber Euer Dæmon<br />
sein als seiner, deshalb bin ich hier.«<br />
377
»Wie?« sagte der Bärenkönig atemlos. »Wie kommt ein Bär<br />
zu einem Dæmon? Und warum ausgerechnet er? Und wie<br />
kommt es, daß du dich so weit von ihm entfernen kannst?«<br />
Die Fliegen flogen von seinem Mund auf wie winzige<br />
Wörter.<br />
»Ganz einfach: Ich kann mich von ihm entfernen, weil ich<br />
wie der Dæmon einer Hexe bin. Wißt Ihr, daß Hexendæmonen<br />
sich viele hundert Meilen von ihren menschlichen Partnern<br />
entfernen können? So ist es. Und bekommen hat Iorek mich in<br />
Bolvangar. Ihr habt sicher von Bolvangar gehört. Mrs. Coulter<br />
muß Euch davon erzählt haben, aber sie hat Euch wahrscheinlich<br />
nicht alles gesagt, was dort vorgeht.«<br />
»Das Schneiden…«, sagte er.<br />
»Ja, unter anderem das, das Schneiden. Aber man macht dort<br />
außerdem noch alle möglichen Dinge, zum Beispiel künstliche<br />
Dæmonen. Oder Experimente mit Tieren. Als Iorek Byrnison<br />
davon hörte, bot er sich selbst als Versuchskaninchen an, um<br />
einen Dæmon zu bekommen, und es gelang. <strong>Der</strong> Dæmon war<br />
ich. Ich heiße Lyra. So wie Menschen Tiere als Dæmonen<br />
haben, haben Bären Dæmonen in Menschengestalt. Und ich<br />
bin sein Dæmon. Ich kann seine Gedanken lesen und weiß<br />
genau, was er tut, wo er ist und…«<br />
»Wo ist er jetzt?«<br />
»Auf Svalbard. Er befindet sich auf dem schnellstmöglichen<br />
Weg hierher.«<br />
»Warum? Was will er? Er ist doch verrückt! Wir reißen ihn<br />
in Stücke!«<br />
»Er will mich. Er kommt, um mich zu holen. Aber ich will<br />
nicht sein Dæmon sein, Iofur Raknison, sondern Eurer. Denn<br />
als die Leute in Bolvangar sahen, wie mächtig ein Bär mit<br />
Dæmon ist, beschlossen sie, dieses Experiment nie mehr durchzuführen,<br />
Iorek Byrnison sollte der einzige Bär bleiben, der<br />
einen Dæmon hat. Und mit meiner Hilfe könnte er an der<br />
378
Spitze der anderen Bären gegen Euch kämpfen. Deshalb ist er<br />
nach Svalbard gekommen.«<br />
<strong>Der</strong> Bärenkönig brüllte vor Wut. Er brüllte so laut, daß die<br />
Kristalle in den Kronleuchtern klirrten, die Vögel im Saal<br />
kreischten und Lyra die Ohren sausten.<br />
Aber sie war ihm ebenbürtig.<br />
»Deshalb mag ich Euch von allen am meisten«, sagte sie zu<br />
Iofur Raknison, »weil Ihr so leidenschaftlich und stark seid und<br />
außerdem so klug. Ich mußte einfach herkommen und Euch<br />
alles sagen, weil ich nicht will, daß er König der Bären wird. Das<br />
steht allein Euch zu. Es gäbe da natürlich eine Möglichkeit, wie<br />
Ihr mich von ihm losbekommen und zu Eurem Dæmon<br />
machen könntet, aber ich müßte Euch schon sagen, wie, sonst<br />
kämpft Ihr gegen ihn wie gegen andere verbannte Bären, also<br />
ich meine, Ihr kämpft dann nicht richtig, sondern tötet ihn mit<br />
Flammenwerfern oder so was. Und wenn Ihr das tut, würde ich<br />
wie eine Kerze ausgehen und mit ihm sterben.«<br />
»Aber du — wie kann…«<br />
»Doch, ich kann Euer Dæmon werden«, sagte sie, »aber nur,<br />
wenn Ihr Iorek Byrnison im Zweikampf besiegt. Dann geht<br />
seine Kraft auf Euch über und meine Gedanken verbinden sich<br />
mit Euren, und wir werden wie eine Person sein und denken,<br />
was der andere denkt. Ihr könnt mich dann als Eure Spionin<br />
weit weg schicken oder mich in der Nähe behalten, wie es Euch<br />
beliebt. Und wenn Ihr wollt, helfe ich Euch, an der Spitze der<br />
Bären Bolvangar zu erobern und die Wissenschaftler zu zwingen,<br />
Dæmonen für Eure Freunde zu machen. Oder wenn Ihr<br />
lieber der einzige Bär seid, der einen Dæmon hat, könnten wir<br />
Bolvangar für immer zerstören. Zusammen, Iofur Raknison,<br />
wären wir unschlagbar!«<br />
Die ganze Zeit über hatte Lyra ihre zitternde Hand um Pantalaimon<br />
in ihrer Tasche gelegt, und Pantalaimon, der sich in<br />
die kleinste Maus verwandelt hatte, in deren Gestalt er je<br />
379
geschlüpft war, verhielt sich so still, wie er nur konnte. Iofur<br />
Raknison, der vor Erregung zu bersten schien, marschierte auf<br />
und ab.<br />
»Zweikampf?« sagte er. »Ich? Ich soll gegen Iorek Byrnison<br />
kämpfen? Unmöglich! Er ist geächtet! Wie soll das also möglich<br />
sein? Wie kann ich gegen ihn kämpfen? Geht es denn nur<br />
so?«<br />
»Nur so«, sagte Lyra, obwohl sie wünschte, es gäbe eine<br />
andere Möglichkeit, weil Iofur Raknison ihr mit jeder Minute<br />
größer und wilder erschien. Sosehr sie Iorek liebhatte und<br />
sosehr sie an ihn glaubte, sie konnte sich nicht vorstellen, daß er<br />
diesen riesigsten aller Bären je bezwingen würde. Aber es war<br />
ihre einzige Chance. Wenn Iorek aus der Ferne von Feuerwerfern<br />
niedergestreckt wurde, war alles aus.<br />
Iofur Raknison fuhr plötzlich herum.<br />
»Beweise es!« sagte er. »Beweise, daß du ein Dæmon bist!«<br />
»Also gut«, sagte sie, »das ist nicht schwer. Ich kann alles in<br />
Erfahrung bringen, was nur Ihr wißt und sonst niemand, Dinge,<br />
die nur ein Dæmon herausfinden kann.«<br />
»Dann sage mir, wer das erste Wesen war, das ich umgebracht<br />
habe.«<br />
»Ich muß dazu allein sein«, sagte Lyra. »Wenn ich erst Euer<br />
Dæmon bin, könnt Ihr dabeisein, wenn ich es mache, aber bis<br />
dahin muß ich allein sein.«<br />
»Hinter diesem Zimmer befindet sich ein Vorzimmer. Geh<br />
da rein und komm wieder, sobald du die Antwort hast.«<br />
Lyra öffnete die Tür und betrat einen nur von einer Fackel<br />
erleuchteten Raum, der bis auf einen kleinen Mahagonischrank<br />
mit angelaufenen Silberbeschlägen leer war. Sie holte das Alethiometer<br />
heraus und fragte: »Wie lange braucht Iorek noch?«<br />
»Noch vier Stunden. Er beeilt sich inzwischen noch mehr als<br />
vorhin.«<br />
380
»Wie stelle ich es an, daß er von meinem Plan erfährt?«<br />
»Vertraue ihm.«<br />
Besorgt überlegte sie, wie müde Iorek sein würde. Aber dann<br />
fiel ihr ein, daß sie ja nicht tat, was das Alethiometer ihr soeben<br />
geraten hatte: Iorek vertrauen.<br />
Sie verdrängte den Gedanken an Iorek und fragte das Instrument,<br />
was Iofur Raknison wissen wollte. Wer war sein erstes<br />
Opfer?<br />
Die Antwort ließ nicht auf sich warten: sein eigener Vater.<br />
Lyra fragte weiter und erfuhr, daß Iofur bei seinem ersten<br />
Jagdausflug auf dem Eis als junger Bär einem anderen Bären<br />
begegnet war, der wie er allein war. Die beiden hatten gestritten<br />
und gekämpft, und Iofur hatte den anderen getötet. Als er<br />
danach erfuhr, daß er seinen Vater getötet hatte — da Bären bei<br />
ihren Müttern aufwuchsen, sahen sie ihre Väter selten —, verheimlichte<br />
er, was er getan hatte. Außer ihm wußte es niemand.<br />
Lyra steckte das Alethiometer weg und überlegte, wie sie<br />
Iofur die Antwort mitteilen sollte.<br />
»Schmeichle ihm!« flüsterte Pantalaimon. »Dann ist er<br />
zufrieden.«<br />
Lyra machte die Tür auf und sah, daß Iofur Raknison bereits<br />
ungeduldig auf sie wartete. In seiner Miene mischten sich Triumph,<br />
Verschlagenheit, Mißtrauen und Gier.<br />
»Also?«<br />
Lyra kniete vor ihm nieder und verbeugte sich, bis ihr Kopf<br />
seine linke, stärkere Vordertatze berührte — denn die Bären<br />
waren Linkshänder.<br />
»Ich bitte Euch um Verzeihung, Iofur Raknison!« sagte sie.<br />
»Ich wußte nicht, daß Ihr so stark und mächtig seid!«<br />
»Was soll das heißen? Beantworte meine Frage!«<br />
»Euer erstes Opfer war Euer Vater. Ihr müßt ein neuer Gott<br />
sein, Iofur Raknison, ganz bestimmt. Nur ein Gott hätte die<br />
Kraft, das zu tun.«<br />
381
»Du weißt es! Du bist eine Hellseherin!«<br />
»Ja, eben weil ich ein Dæmon bin, wie ich gesagt habe.«<br />
»Dann sage mir noch etwas. Was hat Lady Coulter mir versprochen,<br />
als sie hier war?«<br />
Wieder ging Lyra in das leere Zimmer und befragte das Alethiometer.<br />
Dann kehrte sie mit der Antwort zurück.<br />
»Sie hat Euch versprochen, daß sie vom Magisterium in Genf<br />
die Erlaubnis einholt, daß Ihr als Christ getauft werdet, obwohl<br />
Ihr damals noch keinen Dæmon hattet. Hm, ich fürchte, sie hat<br />
das nicht getan, Iofur Raknison, und ich glaube ehrlich gesagt<br />
auch nicht, daß das Magisterium dem zustimmen würde,<br />
solange Ihr keinen Dæmon habt. Ich glaube, Mrs. Coulter<br />
wußte das auch und hat Euch nicht die Wahrheit gesagt. Aber<br />
wenn Ihr mich erst als Euren Dæmon habt, könnt Ihr Euch taufen<br />
lassen, wenn Ihr wollt, denn dann kann keiner mehr etwas<br />
dagegen haben. Ihr könntet es einfach verlangen, und niemand<br />
könnte es Euch abschlagen.«<br />
»Ja… stimmt genau, das hat sie gesagt. Wort für Wort. Und<br />
sie hat mich getäuscht? Ich habe ihr vertraut, und sie hat mich<br />
getäuscht?«<br />
»Ja, das hat sie, aber das ist jetzt nicht wichtig. Entschuldigt<br />
bitte, Iofur Raknison, ich will nicht unhöflich erscheinen, aber<br />
Iorek Byrnison ist nur noch vier Stunden von hier entfernt, und<br />
vielleicht sagt Ihr besser Euren Wachen, daß sie ihn nicht<br />
angreifen sollen, wie sie es normalerweise tun würden. Wenn<br />
Ihr mit Iorek Byrnison um mich kämpfen wollt, müßt Ihr ihn<br />
in den Palast kommen lassen.«<br />
»Ja, natürlich…«<br />
»Und wenn er kommt, tue ich am besten so, als sei ich immer<br />
noch sein Dæmon. Ich könnte ja sagen, ich hätte mich verirrt<br />
oder so. Er wird mir glauben. Ich täusche ihn einfach. Werdet<br />
Ihr den anderen Bären sagen, daß ich Ioreks Dæmon bin und<br />
Euch gehöre, sobald Ihr ihn besiegt habt?«<br />
382
»Ich weiß nicht… Soll ich das tun?«<br />
»Ich finde, Ihr solltet noch warten. Wenn wir erst zusammen<br />
sind, Ihr und ich, können wir uns überlegen, was wir am besten<br />
tun, und uns entsprechend entscheiden. Jetzt müßt Ihr den<br />
anderen Bären erst einmal erklären, warum Ihr Euch Iorek im<br />
Zweikampf stellt, obwohl er doch geächtet ist, sonst verstehen<br />
sie das nicht. Ich meine, sie werden natürlich in jedem Fall tun,<br />
was Ihr sagt, aber wenn sie auch noch begreifen, warum sie es<br />
tun, werden sie Euch noch mehr bewundern.«<br />
»Ja. Was sollen wir ihnen sagen?«<br />
»Sagt ihnen… Sagt ihnen, Ihr hättet Iorek Byrnison zum<br />
Zweikampf herbestellt, um Eure Stellung als König für immer<br />
zu sichern; denn der Sieger solle für alle Zeiten über die Bären<br />
herrschen. Wenn sie glauben, er komme auf Euer Geheiß und<br />
nicht aus eigenem Willen, werden sie wirklich beeindruckt<br />
sein. Sie werden denken, Ihr seid imstande, ihn von weit weg<br />
hierher zu rufen. Sie werden glauben, daß Ihr alles könnt.«<br />
»Ja…«<br />
Hilflos stand der große Bär vor ihr. Lyra war wie berauscht<br />
von ihrer Macht über ihn, und wenn Pantalaimon sie nicht<br />
kräftig in die Hand gezwickt hätte, um sie an die Gefahr zu<br />
erinnern, in der sie beide nach wie vor schwebten, hätte Lyra<br />
sich womöglich noch um Kopf und Kragen geredet.<br />
Aber sie kam zu sich und hielt sich bescheiden im Hintergrund,<br />
während die Bären nach Iofurs aufgeregten Anweisungen<br />
den Ort für den Zweikampf mit Iorek Byrnison absteckten.<br />
Zur gleichen Zeit kam Iorek immer näher, ohne zu wissen, daß<br />
er bald um sein Leben würde kämpfen müssen. Lyra wünschte,<br />
sie hätte ihn irgendwie warnen können.<br />
383
Zwanzig<br />
Auf Messers Schneide<br />
Kämpfe zwischen Bären waren nichts Ungewöhnliches und<br />
Gegenstand zahlreicher Rituale. Daß ein Bär den anderen dabei<br />
tötete, war allerdings selten; wenn das passierte, war es im allgemeinen<br />
ein Unfall oder ein Mißverständnis, wie im Fall Iorek<br />
Byrnisons. Noch seltener war der unverblümte Mord, wie<br />
Iofurs Mord an seinem Vater.<br />
Gelegentlich kam es freilich auch vor, daß ein Streit nur<br />
durch einen Kampf um Leben und Tod gelöst werden konnte.<br />
In diesem Fall war ein umfangreiches Zeremoniell vorgeschrieben.<br />
Sobald Iofur angekündigt hatte, daß Iorek Byrnison auf dem<br />
Weg nach Svalbard sei und ein Zweikampf stattfinden würde,<br />
wurde der Kampfplatz gekehrt und geglättet, und aus den Feuerminen<br />
kamen Waffenmeister herauf, um Iofurs Rüstung zu<br />
überprüfen. Jede Niete wurde untersucht, jedes Gelenk getestet<br />
und die Platten mit feinem Sand poliert. Dieselbe Sorgfalt<br />
wurde seinen Klauen gewidmet. Das Blattgold wurde abgerieben,<br />
dann wurde jede fünfzehn Zentimeter lange Klaue so spitz<br />
zugefeilt, bis sie eine tödliche Waffe war. Lyras Magen begann<br />
zu revoltieren, als sie diese Vorbereitungen sah. Um Iorek<br />
Byrnison kümmerte sich niemand; er war seit fast vierundzwanzig<br />
Stunden ohne Pause und ohne etwas zu essen auf dem<br />
384
Eis unterwegs, und vielleicht hatte er sich bei dem Zusammenstoß<br />
verletzt. Und sie hatte ihm diesen Zweikampf eingebrockt,<br />
ohne daß er davon wußte. Als Iofur Raknison dann noch die<br />
Schärfe seiner Krallen an einem frisch getöteten Walroß<br />
erprobte, dessen Haut er wie Papier aufschlitzte, und anschließend<br />
die Wucht seiner Schläge am Schädel des Walrosses<br />
demonstrierte, den er mit zwei Schlägen zertrümmerte wie ein<br />
Ei, verließ Lyra Iofur unter einem Vorwand, um allein zu sein;<br />
diesmal weinte sie vor Angst.<br />
Nicht einmal Pantalaimon, der Lyra sonst immer aufheiterte,<br />
fiel etwas ein, das ihr Hoffnung machen konnte. Sie<br />
konnte lediglich das Alethiometer noch einmal befragen. Iorek<br />
werde in einer Stunde hier sein, sagte es, und dann sagte es noch<br />
einmal, Lyra müsse ihm vertrauen. Lyra hatte sogar das Gefühl<br />
— allerdings war das schwerer zu lesen —, das Alethiometer<br />
tadle sie dafür, dieselbe Frage zweimal gestellt zu haben.<br />
Inzwischen hatte sich die Nachricht vom Zweikampf überall<br />
verbreitet, und auf dem dafür vorgesehenen Platz wimmelte es<br />
von Bären. Hochrangige Bären besetzten die besten Plätze, und<br />
ein besonderer Bereich war für die Bärinnen, darunter natürlich<br />
Iofurs Frauen, abgeteilt worden. Lyra hätte zu gern mehr<br />
über die Bärinnen gewußt, aber jetzt war nicht die Zeit, herumzugehen<br />
und Fragen zu stellen. Statt dessen hielt sie sich in Iofur<br />
Raknisons Nähe. Sie beobachtete, wie die Höflinge in seiner<br />
Umgebung ihren Rang gegenüber gewöhnlichen Bären von<br />
außerhalb herauskehrten, und versuchte, die Bedeutung der<br />
verschiedenen Helmbüsche, Spangen und Abzeichen zu erraten,<br />
die alle Bären zu tragen schienen. Einige der höchstrangigen<br />
Bären trugen kleine Stoffpuppen mit sich herum, die wie<br />
Iofurs Ersatzdæmon aussahen; vielleicht wollten sie sich bei<br />
ihm einschmeicheln, indem sie die von ihm initiierte Mode<br />
nachahmten. Lyra empfand eine hämische Freude, als sie sah,<br />
wie ratlos die Bären waren, sobald sie merkten, daß Iofur seine<br />
385
Puppe weggelegt hatte. Sollten sie ihre Puppen auch wegwerfen?<br />
Waren sie jetzt in Ungnade gefallen? Wie sollten sie sich<br />
benehmen?<br />
Denn das war die bei Hofe vorherrschende Stimmung, wie<br />
Lyra allmählich erkannte: Niemand wußte, woran er war. Diese<br />
Bären waren nicht charakterfest und standhaft wie Iorek Byrnison;<br />
sie lebten in einer Atmosphäre ständiger Verunsicherung.<br />
Jeder beobachtete den anderen, und alle beobachteten Iofur.<br />
Und sie beobachteten Lyra mit unverhüllter Neugier. Lyra<br />
hielt sich bescheiden neben Iofur, sagte nichts und schlug die<br />
Augen nieder, wenn ein Bär sie ansah.<br />
<strong>Der</strong> Nebel hatte sich inzwischen gelichtet, und die Luft war<br />
klar. Zufällig war die kurze Spanne um Mittag, in der es etwas<br />
heller wurde, auch die Zeit, in der Iorek nach Lyras Schätzung<br />
eintreffen mußte. Zitternd stand sie auf einer kleinen Anhöhe<br />
aus festgetretenem Schnee am Rand des Kampfplatzes, sah zu<br />
dem hellen Schein am Himmel hinauf und wünschte sich mit<br />
der ganzen Macht ihres Herzens, eine Schar zerzauster schwarzer<br />
Gestalten möge vom Himmel herabkommen und sie mitnehmen<br />
oder die geheimnisvolle Stadt in der Aurora würde vor<br />
ihr erscheinen und sie könnte in aller Ruhe im hellen Sonnenschein<br />
über die breiten Boulevards schlendern. Oder Ma Costa<br />
würde sie in ihre starken Arme schließen, wo es warm nach<br />
ihrem Körper und nach Essen roch…<br />
Lyra merkte, daß ihr Tränen über die Wangen liefen, Tränen,<br />
die fast sofort gefroren und die sie unter Schmerzen wieder<br />
wegkratzen mußte. Sie hatte solche Angst. Bären weinten nicht<br />
und verstanden deshalb auch nicht, wie Lyra zumute war; sie<br />
hielten es für eine menschliche Eigentümlichkeit, die keine<br />
weitere Bedeutung hatte. Und Pantalaimon konnte Lyra natürlich<br />
nicht trösten, wie er es sonst tat, obwohl sie die Hand in der<br />
Tasche fest um die warme, kleine Maus geschlossen hatte und er<br />
mit seiner Nase ihre Finger liebkoste.<br />
386
Neben ihr legten die Schmiede letzte Hand an Iofur Raknisons<br />
Rüstung. Iofur ragte in die Höhe wie ein Turm aus glänzend<br />
poliertem Stahl. Die einzelnen Platten waren mit Golddraht<br />
eingelegt, der Helm umschloß den oberen Teil seines<br />
Kopfes wie eine gleißende Hülle in Silbergrau mit tiefen<br />
Augenschlitzen, und der untere Teil seines Körpers war durch<br />
ein eng anliegendes Kettenhemd geschützt. Als Lyra diese<br />
Rüstung sah, wurde ihr klar, daß sie Iorek Byrnison verraten<br />
hatte, denn Iorek hatte nichts Vergleichbares. Seine Rüstung<br />
schützte nur Rücken und Seiten. Wieder sah Lyra Iofur Raknison<br />
an, diese elegante, kraftvolle Erscheinung, und sie spürte in<br />
sich eine tiefe Verzweiflung, eine Mischung aus Schuld und<br />
Angst.<br />
»Entschuldigt, Eure Majestät«, sagte sie, »vielleicht erinnert<br />
Ihr Euch, was ich vorher gesagt habe…«<br />
Ihr Stimme zitterte und klang im Freien dünn und schwach.<br />
Abgelenkt von dem toten Seehund, den drei Bären vor ihm<br />
hochhielten, damit er ihn mit seinen spitz zugefeilten Krallen<br />
zerfetzen konnte, wandte Iofur Raknison ihr seinen mächtigen<br />
Kopf zu.<br />
»Ja? Was ist denn?«<br />
»Erinnert Ihr Euch, daß ich vorhin sagte, ich müßte zuerst<br />
mit Iorek Byrnison sprechen und so tun, als…«<br />
Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als lautes Gebrüll von<br />
den Bären auf dem Wachturm kam. Die anderen Bären wußten,<br />
was das bedeutete, und stimmten triumphierend in das<br />
Gebrüll ein. Iorek war gesichtet worden.<br />
»Ja?« drängte Lyra. »Ich halte ihn also zum Narren, Ihr werdet<br />
sehen.«<br />
»Ja, ja. Geh schon. Geh und rede ihm gut zu!«<br />
Iofur Raknison war so durcheinander vor Zorn und Aufregung,<br />
daß er kaum sprechen konnte.<br />
Allein ging Lyra über den leergeräumten Kampfplatz, hinter<br />
387
sich im Schnee eine Spur kleiner Fußstapfen. Die Bären auf der<br />
anderen Seite machten Platz, um sie durchzulassen. Zwischen<br />
ihren massigen Körpern kam im fahlen Dämmerlicht der<br />
Horizont in Sicht. Wo war Iorek Byrnison? Sie konnte ihn nicht<br />
sehen, aber natürlich war der Wachturm hoch, und von dort<br />
sah man weiter. Sie konnte nur weiter durch den Schnee stapfen.<br />
Er sah sie, bevor sie ihn sah. Ein letzter Satz und lautes Klappern<br />
von Metall, dann stand inmitten einer Schneewolke Iorek<br />
Byrnison vor ihr.<br />
»Iorek! Ich habe etwas Schreckliches getan! Du mußt gegen<br />
Iofur Raknison kämpfen, und du bist überhaupt nicht vorbereitet<br />
— du bist müde und hungrig, und deine Rüstung ist…«<br />
»Was hast du Schreckliches getan?«<br />
»Ich habe ihm gesagt, daß du kommst, weil ich es auf dem<br />
Symboldeuter gelesen habe. Er will unbedingt wie ein Mensch<br />
sein und einen Dæmon haben, um jeden Preis. Also habe ich so<br />
getan, als sei ich dein Dæmon und als wollte ich dich verlassen<br />
und statt dessen sein Dæmon werden, aber damit das passieren<br />
könne, müsse er gegen dich kämpfen. Weil sonst, Iorek, sonst<br />
hätten sie dich gar nicht kämpfen lassen, sie wollten dich einfach<br />
verbrennen, bevor du ihnen zu nahe kommen kannst…«<br />
»Du hast Iofur Raknison überlistet?«<br />
»Ja. Ich habe ihn dazu überredet, daß er gegen dich kämpft,<br />
statt dich einfach wie einen Geächteten zu töten, und der Sieger<br />
soll dann König der Bären sein. Ich mußte das tun, weil…«<br />
»Belacqua? Nein, Lyra die Listenreiche solltest du heißen«,<br />
sagte er. »Ich will nichts anderes als gegen ihn kämpfen. Komm<br />
mit, kleiner Dæmon.«<br />
Sie sah Iorek Byrnison an, wie er hager und wild in seiner<br />
zerbeulten Rüstung vor ihr stand, und ihr Herz wollte platzen<br />
vor Stolz.<br />
Nebeneinander marschierten sie auf den gewaltig vor ihnen<br />
388
aufragenden Palast Iofurs zu, vor dessen Mauern sich der<br />
Kampfplatz erstreckte. Auf den Zinnen drängten sich Bären,<br />
weiße Gesichter füllten jedes Fenster, und um den Platz standen<br />
Bären wie eine dichte, trübweiße Mauer mit schwarzen Punkten<br />
für Augen und Nasen. Als sie näher kamen, teilten die<br />
Bären sich in zwei Reihen, um Iorek Byrnison und seinen<br />
Dæmon durchzulassen. Die Augen sämtlicher Bären waren auf<br />
sie gerichtet.<br />
Auf dem Platz angekommen, stellte sich Iorek vor Iofur<br />
Raknison. <strong>Der</strong> König stieg von der Anhöhe aus festgetretenem<br />
Schnee herunter, und die beiden Bären blickten sich aus einigen<br />
Metern Entfernung an.<br />
Lyra stand so dicht neben Iorek, daß sie ein Zittern in ihm<br />
spürte wie das eines großen Dynamos, der anbarische Energie<br />
erzeugte. Sie berührte ihn kurz am Hals unter dem Rand seines<br />
Helms und sagte: »Alles Gute, Iorek, mein Lieber. Du bist der<br />
wirkliche König, nicht er. Er ist nichts.«<br />
Dann trat sie zurück.<br />
»Bären!« brüllte Iorek Byrnison. Laut hallte das Echo von den<br />
Palastwänden zurück und schreckte die Vögel aus ihren<br />
Nestern. »Die Bedingungen dieses Zweikampfes sind die folgenden:<br />
Wenn Iofur Raknison mich tötet, wird er für immer<br />
König sein, und keine Herausforderung und kein Zweifel können<br />
ihm dann noch etwas anhaben. Wenn ich Iofur Raknison<br />
töte, werde ich euer König. Als erstes werde ich euch befehlen,<br />
diesen Palast einzureißen, dieses geschleckte und parfümierte<br />
Narrenhaus, und das ganze Gold und den Marmor ins Meer zu<br />
kippen. Das Metall der Bären ist Eisen, nicht Gold. Iofur Raknison<br />
hat Svalbard beschmutzt. Ich bin hier, um es zu reinigen,<br />
Iofur Raknison, ich fordere dich hiermit zum Kampf heraus.«<br />
Iofur machte einen Satz nach vorn, als könne er sich kaum<br />
noch bezähmen.<br />
»Bären!« brüllte er seinerseits. »Iorek ist zurückgekommen,<br />
389
weil ich ihn dazu aufgefordert habe. Ich habe ihn kommen lassen.<br />
Deshalb stelle ich in diesem Zweikampf die Bedingungen,<br />
und sie lauten so: Wenn ich Iorek Byrnison töte, soll er in<br />
Stücke gerissen und sein Fleisch den Klippenalpen vorgeworfen<br />
werden. Sein Kopf wird auf den Zinnen meines Palastes ausgestellt.<br />
Jede Erinnerung an ihn wird gelöscht. Seinen Namen auszusprechen<br />
wird mit dem Tode bestraft…«<br />
Er sprach noch eine Weile weiter, und dann kam wieder<br />
Iorek an die Reihe und nach ihm noch einmal Iofur. Rede und<br />
Gegenrede erfolgten nach einer festen Formel, einem getreulich<br />
befolgten Ritual. Lyra beobachtete die beiden so grundverschiedenen<br />
Bären mit gespannter Aufmerksamkeit: den<br />
geschniegelten, vor Kraft und Gesundheit strotzenden Iofur in<br />
seiner prächtigen Rüstung, eine stolze, königliche Erscheinung,<br />
und den etwas kleineren Iorek, obwohl Lyra nie gedacht hätte,<br />
daß er ihr je klein vorkommen würde, in seiner schäbigen<br />
Rüstung, dem rostigen und zerbeulten Panzer. Aber Ioreks<br />
Rüstung war seine Seele. Er hatte sie gemacht, und sie paßte<br />
ihm wie angegossen. Er war eins mit ihr, während Iofur nicht<br />
mit seiner Rüstung zufrieden war. Iofur wollte noch eine<br />
andere Seele. Er war ruhelos, während Iorek in sich ruhte.<br />
Lyra merkte, daß auch die Bären einen ähnlichen Vergleich<br />
anstellten. Iorek und Iofur waren mehr als nur zwei Bären. Sie<br />
standen für zwei entgegengesetzte Arten des Bärentums, für<br />
zweierlei Zukunft, zwei verschiedene Schicksale. Iofur hatte die<br />
Bären in die eine Richtung geführt, Iorek würde sie in eine<br />
andere führen, und wenn die Entscheidung für die eine<br />
Zukunft gefallen wäre, würde der Weg in die andere für immer<br />
versperrt sein.<br />
Allmählich ging das Kampfritual in die zweite Runde. Die<br />
beiden Bären begannen, unruhig und mit hin und her schwingenden<br />
Köpfen auf dem Schnee auf und ab zu gehen und sich<br />
langsam einander zu nähern. Die Zuschauer erstarrten, nur ihre<br />
390
Augen folgten ihnen. Dann sprangen die Bären mit lautem<br />
Gebrüll und inmitten einer Wolke aufgewirbelten Schnees aufeinander<br />
zu. Wie zwei große Felsmassen auf benachbarten Berggipfeln,<br />
die, durch ein Erdbeben losgerissen, mit wachsender<br />
Geschwindigkeit talwärts rollen, über Gletscherspalten hinwegfegen<br />
und Bäume zu Splittern zermalmen und zuletzt mit elementarer<br />
Wucht aufeinanderprallen und in Staub und Gesteinssplittern<br />
zerstieben: so stießen die beiden Bären aufeinander. <strong>Der</strong><br />
Aufprall erschütterte den Boden, und gewaltig donnernd kam<br />
das Echo von den Palastmauern zurück. Die Bären zerbrachen<br />
allerdings nicht, wie Stein zerbrochen wäre. Sie fielen beide auf<br />
die Seite, und als erster erhob sich Iorek wieder. Geschmeidig<br />
sprang er auf und stürzte sich erneut auf Iofur, dessen Rüstung<br />
durch den Zusammenstoß beschädigt worden war und der den<br />
Kopf nicht mehr richtig heben konnte. Iorek versuchte, an den<br />
verwundbaren Spalt in Iofurs Hals zu kommen. Mit der Tatze<br />
fuhr er durch das weiße Fell, dann hakte er seine Krallen unter<br />
dem Rand von Iofurs Helm ein und bog ihn nach vorn.<br />
Iofur merkte die Gefahr und schüttelte sich fauchend, wie<br />
Lyra Iorek sich am Ufer in Trollesund hatte schütteln sehen;<br />
Fontänen von Wassertropfen waren damals hoch in die Luft<br />
gespritzt. Iorek verlor das Gleichgewicht und fiel um, und Iofur<br />
stellte sich auf die Hinterbeine; die stählernen Rückenplatten<br />
seiner Rüstung kreischten, als er sie durch schiere Körperkraft<br />
geradebog. Dann stürzte er sich wie eine Lawine auf Iorek, der<br />
immer noch am Boden lag.<br />
Die Wucht des Aufpralls verschlug Lyra den Atem. Sogar die<br />
Erde unter ihr bebte. Wie konnte Iorek das überstehen? Er<br />
drehte und wand sich zwar mit aller Macht und suchte nach<br />
einem festen Halt am Boden, aber er lag auf dem Rücken, und<br />
Iofur hatte sich in der Nähe seiner Kehle verbissen. Blutstropfen<br />
flogen durch die Luft, und einer landete auf Lyras Pelz. Sie<br />
preßte ihre Hand darauf wie auf ein Liebespfand.<br />
391
Dann schlug Iorek seine hinteren Tatzen in die Glieder von<br />
Iofurs Kettenhemd und riß es auf. <strong>Der</strong> ganze vordere Teil ging<br />
ab, und Iofur sprang zur Seite, um den Schaden zu begutachten,<br />
während Iorek sich wieder aufrappelte.<br />
Um Atem ringend standen die beiden Bären einander<br />
gegenüber. Das Kettenhemd bot keinen Schutz mehr, sondern<br />
behinderte Iofur; es hing immer noch an seinem Hinterteil fest,<br />
so daß er es um die Hinterbeine nachzog. Iorek war allerdings<br />
schlimmer dran. Er blutete heftig aus einer Wunde am Hals<br />
und keuchte schwer.<br />
Doch sprang er Iofur an, bevor der König sich aus dem Kettenhemd<br />
befreien konnte, warf ihn um und war mit einem Satz<br />
an der Blöße am Hals, wo er den Rand des Helmes verbogen<br />
hatte. Iofur warf ihn ab, und wieder rollten die beiden Bären<br />
über den Boden. Fontänen von Schnee spritzten nach allen Seiten,<br />
so daß zwischendurch nicht zu sehen war, wer die Oberhand<br />
hatte.<br />
Lyra wagte kaum zu atmen und preßte ihre Hände so stark<br />
zusammen, daß sie schmerzten. Sie meinte zu sehen, wie Iofur<br />
eine Wunde in Ioreks Bauch riß, aber das konnte nicht sein,<br />
denn im nächsten Augenblick, nach einer weiteren, gewaltigen<br />
Explosion von Schnee, standen beide Bären aufrecht wie Boxer<br />
da, und Iorek schlug mit seinen mächtigen Pranken nach Iofurs<br />
Gesicht, während Iofur genauso wild zurückschlug.<br />
Die Wucht der Schläge ließ Lyra erzittern. Es war, als ob ein<br />
Riese mit einem Schmiedehammer zuschlüge, einem Hammer,<br />
der mit fünf stählernen Spitzen besetzt war…<br />
Eisen prallte auf Eisen, Zähne schlugen aneinander, der<br />
Atem ging stoßweise, und Füße stampften über die gefrorene<br />
Erde. <strong>Der</strong> Schnee war mit Rot bespritzt und meterweit zu<br />
einem karmesinroten Matsch zertrampelt.<br />
Iofurs Rüstung war inzwischen in einem erbärmlichen<br />
Zustand. Die Panzerplatten waren aufgerissen und zerbeult, der<br />
392
Golddraht hing heraus oder war dick mit Blut beschmiert, den<br />
Helm hatte er verloren. Ioreks Rüstung befand sich, so unansehnlich<br />
sie war, in besserem Zustand. Eingedellt, aber intakt,<br />
hielt sie den wuchtigen Hammerschlägen des Bärenkönigs<br />
stand, und die brutalen, fünfzehn Zentimeter langen Krallen<br />
glitten an ihr ab.<br />
Auf der anderen Seite war Iofur größer und stärker als Iorek,<br />
und Iorek war müde und hungrig und hatte mehr Blut verloren.<br />
Er war am Bauch verwundet, an beiden Armen und am<br />
Hals, während Iofur nur am Unterkiefer blutete. Lyra<br />
wünschte, sie könnte ihrem Freund helfen, aber was konnte sie<br />
tun?<br />
Und es stand jetzt zunehmend schlechter um Iorek. Er<br />
hinkte, und jedesmal, wenn er die Vorderpfote aufsetzte, sah<br />
man, daß sie sein Gewicht kaum trug. Er schlug damit nicht<br />
mehr zu, und die Schläge seiner rechten Hand wurden auch<br />
schwächer; sie wirkten eher wie ein Tätscheln, verglichen mit<br />
den mächtigen Hieben, die er wenige Minuten zuvor ausgeteilt<br />
hatte.<br />
Auch Iofur bemerkte das. Er begann Iorek zu verspotten,<br />
beschimpfte ihn als lahme Ente, winselnden Welpen, rostzerfressenes<br />
Wrack und einen dem Tod Geweihten und deckte ihn<br />
die ganze Zeit mit Schlägen von rechts und links ein, die Iorek<br />
nicht mehr parieren konnte. Schritt für Schritt mußte Iorek<br />
zurückweichen, und immer tiefer duckte er sich unter dem<br />
Hagel von Schlägen, den der Bärenkönig mit höhnischen<br />
Bemerkungen auf ihn niedergehen ließ.<br />
Lyra war in Tränen aufgelöst. Ihr tapferer und furchtloser<br />
Beschützer würde sterben, und sie durfte ihn nicht verraten,<br />
indem sie wegblickte, denn wenn er sie ansah, sollte er ihre<br />
strahlenden Augen voller Liebe und Glauben sehen, kein feige<br />
verhülltes Gesicht oder eine furchtsam abgewandte Schulter.<br />
Also sah sie hin, aber durch den Tränenschleier sah sie nicht,<br />
393
was wirklich geschah, und vielleicht hätte sie es sowieso nicht<br />
erkannt. Iofur jedenfalls sah es ganz sicher nicht.<br />
Denn Iorek wich nur deshalb zurück, weil er festen, trockenen<br />
Boden unter den Füßen brauchte und einen Felsblock, von<br />
dem er sich abdrücken konnte; der nutzlos herunterhängende<br />
linke Arm war in Wirklichkeit ausgeruht und stark. Einen<br />
Bären hätte er nicht hereinlegen können, aber Lyra hatte ihm ja<br />
gesagt, daß Iofur kein Bär sein wollte, sondern ein Mensch; deshalb<br />
konnte Iorek ihn überlisten.<br />
Schließlich fand er, was er brauchte: einen festen, tief im<br />
geforenen Boden verankerten Felsen. Er stellte sich mit dem<br />
Rücken dagegen, sammelte alle Kraft in den Beinen und paßte<br />
den richtigen Augenblick ab.<br />
<strong>Der</strong> Augenblick kam, als Iofur sich hoch aufrichtete, in Triumphgeheul<br />
ausbrach und den Kopf höhnisch nach links auf<br />
Ioreks scheinbar schwache Seite drehte.<br />
Jetzt erwachte Iorek zum Leben. Wie eine Welle, die sich im<br />
Meer über Tausende von Kilometern aufbaut und im tiefen<br />
Wasser nicht zu sehen ist, sich aber dann, wenn sie das seichte<br />
Küstengewässer erreicht, himmelhoch auftürmt und die Menschen<br />
an der Küste in Angst und Schrecken versetzt, bevor sie<br />
mit unwiderstehlicher Kraft an Land kracht — so erhob sich<br />
Iorek Byrnison gegen Iofur, stieß sich mit Urgewalt von dem<br />
festen, trockenen Felsen ab und versetzte mit seiner entfesselten<br />
linken Pranke dem ungeschützten Kiefer Iofur Raknisons<br />
einen gewaltigen Schlag.<br />
Die Wucht, mit der er zuschlug, war grauenhaft. <strong>Der</strong> untere<br />
Teil des Kiefers wurde abgerissen, flog durch die Luft und<br />
bespritzte den Schnee meterweit mit Blut.<br />
Iofurs Zunge quoll rot über die aufgerissene Kehle. Auf einmal<br />
war der Bärenkönig stumm, hilflos und konnte nicht mehr<br />
beißen. Darauf hatte Iorek gewartet. Er machte einen Satz nach<br />
vorn und grub seine Zähne in Iofurs Kehle. Er schüttelte ihn<br />
394
hierhin und dorthin, hob den gewaltigen Körper auf und<br />
schmetterte ihn zu Boden, als sei Iofur ein Seehund.<br />
Dann riß er seinen Kopf nach oben, und Iofur Raknison<br />
hauchte unter dem Biß seiner Zähne sein Leben aus.<br />
Noch ein letztes Ritual mußte vollzogen werden. Iorek<br />
schlitzte die ungeschützte Brust des toten Königs auf und zog<br />
das Fell zurück, bis man die dicht nebeneinander liegenden<br />
weißen Rippen sah wie die Spanten eines umgekippten Bootes,<br />
Iorek faßte in die Rippen, riß Iofurs rotes, dampfendes Herz<br />
heraus und verschlang es an Ort und Stelle, vor Iofurs Untertanen.<br />
Dann ertönte Beifallsgeschrei. Ein Höllenlärm entstand, und<br />
die Bären stürzten nach vorn, um Iofurs Bezwinger ihre Ehrerbietung<br />
zu erweisen.<br />
Iorek Byrnison erhob seine Stimme über den Lärm.<br />
»Bären! Wer ist euer König?«<br />
Die Antwort war ein Schrei wie das Donnern sämtlicher<br />
Brandungen an allen Stranden der Welt in einem Orkan.<br />
»Iorek Byrnison!«<br />
Die Bären wußten, was sie jetzt zu tun hatten. Sie entledigten<br />
sich sofort sämtlicher Abzeichen, Schärpen und Krönchen,<br />
trampelten verächtlich mit den Füßen darauf herum und hatten<br />
sie im nächsten Moment schon vergessen. Sie waren jetzt<br />
Ioreks Bären, und zwar richtige Bären, keine Möchtegernmenschen,<br />
die sich immer ihrer Minderwertigkeit bewußt waren.<br />
Sie strömten zum Palast und begannen, von den Türmen große<br />
Marmorblöcke herunterzuwerfen, und sie rüttelten mit ihren<br />
mächtigen Tatzen an den zinnengekrönten Mauern, bis sich die<br />
Steine lösten, und schleuderten sie dann über die Klippen hinunter,<br />
wo sie auf der Anlegestelle einige hundert Meter tiefer<br />
auftrafen.<br />
Iorek beachtete sie nicht weiter, sondern hakte seinen Panzer<br />
los, um sich die Wunden zu lecken. Doch noch bevor er das tun<br />
395
konnte, war Lyra neben ihm, stampfte mit dem Fuß auf dem<br />
gefrorenen, tiefroten Schnee auf und rief den Bären zu, sie sollten<br />
aufhören, den Palast einzureißen, weil sich drinnen Gefangene<br />
befänden. Die Bären hörten sie nicht, wohl aber Iorek, und<br />
als er einen Befehl brüllte, hielten die Bären mit ihrem Zerstörungswerk<br />
sofort inne.<br />
»Menschen?« fragte er.<br />
»Ja… Iofur Raknison hat sie ins Verließ geworfen… man muß<br />
sie befreien und woanders hinbringen, so werden sie durch die<br />
herunterfallenden Steine getötet.«<br />
Iorek gab schnell entsprechende Anweisungen, und einige<br />
Bären eilten in den Palast, um die Gefangenen freizulassen. Lyra<br />
wandte sich Iorek zu.<br />
»Laß mich dir helfen… lieber Iorek, hoffentlich bist du nicht<br />
zu schlimm verletzt… oh, wenn ich doch wenigstens etwas zum<br />
Verbinden hätte! <strong>Der</strong> Schnitt auf deinem Bauch sieht ja<br />
schrecklich aus…«<br />
Ein Bär legte einen Mundvoll eines steifgefrorenen grünen<br />
Zeugs auf den Boden vor Ioreks Füßen.<br />
»Blutmoos«, sagte Iorek. »Lege es für mich auf die Wunden,<br />
Lyra. Dann lege die Haut darüber zusammen und halte Schnee<br />
darauf, bis es gefroren ist.«<br />
Bären ließ er nicht an sich heran, auch wenn sie beflissen ihre<br />
Hilfe anboten. Außerdem hatte Lyra geschickte Hände, und sie<br />
wollte unbedingt helfen. Das kleine Mädchen beugte sich also<br />
über den großen Bärenkönig, häufte das Blutmoos auf seine<br />
Wunden und kühlte das rohe Fleisch, bis es aufhörte zu bluten.<br />
Als sie fertig war, waren ihre Fäustlinge blutgetränkt, doch<br />
Iorek blutete nicht mehr.<br />
Inzwischen waren die Gefangenen herausgekommen — ein<br />
zitterndes Häuflein von Männern, die verwirrt um sich sahen.<br />
Es hatte keinen Zweck, mit dem Professor zu reden, dachte<br />
Lyra, denn der Arme war ja verrückt. Zwar hätte sie gern<br />
396
gewußt, wer die anderen waren, aber es gab so viele wichtige<br />
Dinge zu tun. Und sie wollte Iorek nicht stören, der in rascher<br />
Folge Befehle erteilte und Bären hierhin und dorthin schickte.<br />
Sie hatte Angst um Roger und Lee Scoresby und um die Hexen,<br />
und sie war hungrig und müde… Vielleicht war es das Beste, im<br />
Moment nicht im Weg herumzustehen.<br />
In einer ruhigen Ecke des Kampfplatzes rollte sie sich<br />
zusammen; Pantalaimon hatte sie sich als Marder wärmend um<br />
die Schultern gelegt. Dann deckte sie sich mit Schnee zu, wie es<br />
die Bären taten, und schlief ein.<br />
Jemand berührte sie am Fuß, und eine fremde Bärenstimme<br />
sagte: »Lyra Listenreich, der König möchte dich sprechen.«<br />
Lyra war fast tot vor Kälte und konnte die Augen nicht öffnen,<br />
weil sie zugefroren waren. Erst als Pantalaimon sie leckte,<br />
schmolz das Eis auf den Lidern, und bald sah sie vor sich im<br />
Mondlicht den jungen Bären, der zu ihr gesprochen hatte.<br />
Sie versuchte aufzustehen, fiel aber zweimal wieder um.<br />
»Reite auf mir«, sagte der Bär und kniete sich hin. Sie stieg<br />
auf seinen breiten Rücken und hielt sich schwankend fest, während<br />
er sie zu einer tiefen Senke brachte, in der sich viele Bären<br />
versammelt hatten.<br />
Unter den Bären befand sich eine kleine Gestalt, die jetzt auf<br />
Lyra zurannte und deren Dæmon aufsprang, um Pantalaimon<br />
zu begrüßen.<br />
»Roger!« schrie Lyra.<br />
»Iorek Byrnison hat gesagt, ich solle im Schnee warten, bis er<br />
dich holt — wir sind aus dem Ballon gefallen, Lyra! Nachdem<br />
du rausgefallen warst, sind wir noch viele Meilen weitergeflogen,<br />
und dann hat Mr. Scoresby noch mehr Gas herausgelassen,<br />
und wir sind mit einem Berg zusammengestoßen, und dann<br />
sind wir einen Hang hinuntergepurzelt, der so steil war, wie du<br />
dir gar nicht vorstellen kannst! Und ich weiß nicht, wo Mr. Sco<br />
397
esby jetzt ist oder die Hexen. Da waren nur ich und Iorek<br />
Byrnison. Er machte sich sofort auf den Weg, um dich zu<br />
suchen. Ich habe von dem Kampf gehört…«<br />
Lyra sah sich um. Die Gefangenen bauten auf Anweisung<br />
eines älteren Bären aus Treibholz und Leinwandfetzen einen<br />
Unterstand. Sie schienen froh, daß sie etwas zu tun hatten. Einer<br />
versuchte mit einem Feuerstein, Feuer zu machen.<br />
»Da ist etwas zu essen«, sagte der junge Bär, der Lyra aufgeweckt<br />
hatte.<br />
Auf dem Schnee lag ein frischer Seehund. <strong>Der</strong> Bär schlitzte<br />
ihn mit einer Kralle auf und zeigte Lyra, wo die Nieren waren.<br />
Lyra aß eine davon roh; sie war warm und weich und schmeckte<br />
unvorstellbar köstlich.<br />
»Iß auch den Speck«, sagte der Bär und riß ein Stück für sie<br />
ab. <strong>Der</strong> Speck schmeckte nach Sahne mit Haselnüssen. Roger<br />
zögerte, folgte dann aber Lyras Beispiel. Gierig aßen sie, und<br />
schon wenige Minuten später war Lyra ganz wach, und die<br />
Wärme kehrte in ihre Glieder zurück.<br />
Sie wischte sich den Mund ab und sah sich um, aber Iorek<br />
war nirgends zu sehen.<br />
»Iorek Byrnison bespricht sich mit seinen Beratern«, sagte<br />
der junge Bär. »Er möchte dich sehen, sobald du gegessen hast.<br />
Komm mit.«<br />
Er führte sie über eine Anhöhe im Schnee zu einer Stelle, wo<br />
Bären aus Eisblöcken eine Mauer errichteten. Iorek saß inmitten<br />
einer Gruppe älterer Bären und stand auf, um sie zu begrüßen.<br />
»Lyra Listenreich«, sagte er, »komm und höre, was man mir<br />
berichtet.«<br />
Er erklärte den anderen Bären nicht, wer sie war; vielleicht<br />
wußten sie es ja schon. Jedenfalls machten sie ihr Platz und<br />
behandelten sie mit ausgesuchter Höflichkeit, als sei sie eine<br />
Königin. Lyra platzte fast vor Stolz darüber, unter den Strahlen<br />
398
der Aurora am Polarhimmel neben ihrem Freund Iorek Byrnison<br />
zu sitzen und an dem Gespräch der Bären teilzunehmen.<br />
Wie sich herausstellte, war Iofur Raknisons Herrschaft wie<br />
ein böser Zauber gewesen. Einige machten dafür den Einfluß<br />
von Mrs. Coulter verantwortlich, die Iofur schon vor Ioreks<br />
Verbannung besucht hatte, ohne daß Iorek davon wußte, und<br />
Iofur verschiedene Dinge geschenkt hatte.<br />
»Sie gab ihm eine Droge«, sagte ein Bär, »die er heimlich<br />
Hjalmur Hjalmurson gab und die Hjalmur den Verstand verwirrte.«<br />
Hjalmur Hjalmurson, schloß Lyra, mußte der Bär sein, den<br />
Iorek getötet hatte und dessen Tod schuld an Ioreks Verbannung<br />
war. Also steckte Mrs. Coulter auch dahinter! Aber das<br />
war noch längst nicht alles.<br />
»Einige von den Dingen, die sie vorhatte, sind nach den<br />
Gesetzen der Menschen verboten, aber diese Gesetze gelten<br />
nicht auf Svalbard. Sie wollte hier eine Station wie Bolvangar<br />
einrichten, nur noch schlimmer, und Iofur wollte ihr das erlauben,<br />
allem Bärenbrauch zuwider; denn Menschen kommen<br />
zwar als Besucher oder Gefangene nach Svalbard, sie haben hier<br />
aber nie gelebt und gearbeitet. Mrs. Coulter wollte ihre Macht<br />
über Iofur Raknison und seine Macht über uns nach und nach<br />
immer weiter ausdehnen, bis wir nur noch ihre Geschöpfe<br />
wären, ihre Befehle ausführten und ihr ermöglichten, ihre<br />
schrecklichen Pläne auszuführen…«<br />
<strong>Der</strong> alte Bär, der das sagte, hieß Søren Eisarson. Er war ein<br />
Berater des Königs, einer, der unter Iofur Raknison sehr gelitten<br />
hatte.<br />
»Was macht Mrs. Coulter jetzt, Lyra?« fragte Iorek Byrnison.<br />
»Und was wird sie tun, wenn sie von Iofurs Tod erfährt?«<br />
Lyra holte das Alethiometer heraus. Das Licht war so<br />
schlecht, daß man die Symbole kaum sah, und Iorek befahl, eine<br />
Fackel zu bringen.<br />
399
»Was ist mit Mr. Scoresby passiert?« fragte Lyra, während sie<br />
warteten. »Und mit den Hexen?«<br />
»Die Hexen wurden von einem anderen Hexenclan angegriffen.<br />
Ich weiß nicht, ob dieser andere Clan mit den Kinderabschneidern<br />
verbündet war, jedenfalls griffen sie scharenweise<br />
an, als der Sturm ausbrach. Ich habe nicht gesehen, was mit<br />
Serafina Pekkala passierte. Was Lee Scoresby angeht, so stieg der<br />
Ballon wieder auf, nachdem der Junge und ich herausgefallen<br />
waren, und nahm ihn mit. Aber dein Symboldeuter sagt dir<br />
sicher, was den beiden zugestoßen ist.«<br />
Ein Bär kam mit einem Schlitten, auf dem ein Kessel mit<br />
glühender Holzkohle stand. Er stieß einen harzigen Ast hinein,<br />
der sofort Feuer fing, und im Licht der Flammen drehte Lyra<br />
die Zeiger des Alethiometers und befragte es nach Lee Scoresby.<br />
Wie sich herausstellte, war er immer noch in der Luft, und<br />
die Winde trugen ihn nach Nowaja Semlja. Die Klippenalpe<br />
hatten ihm nichts anhaben können, den anderen Hexenclan<br />
hatte er erfolgreich abgewehrt.<br />
Lyra sagte das Iorek, und Iorek nickte zufrieden.<br />
»In der Luft ist er sicher«, sagte er. »Und Mrs. Coulter?«<br />
Die Antwort darauf war schwieriger. Lyra mußte lange über<br />
die Reihenfolge nachdenken, in der die Nadel von Symbol zu<br />
Symbol schwang. Die Bären starrten sie neugierig an, hielten<br />
sich aber höflich zurück aus Achtung vor Iorek Byrnison und<br />
weil sie wußten, daß Iorek Byrnison seinerseits Lyra achtete.<br />
Lyra verdrängte die Anwesenheit der Bären aus ihrem Bewußtsein<br />
und versenkte sich in das Alethiometer.<br />
Endlich verstand sie den Zusammenhang der verschiedenen<br />
Symbole. Es war eine schlimme Botschaft.<br />
»Es sagt, daß Mrs. Coulter… Sie hat erfahren, daß wir hierher<br />
geflogen sind, und sie hat einen mit Maschinengewehren<br />
bewaffneten Transportzeppelin organisiert — wenn ich die<br />
Symbole richtig lese —, und sie sind in diesem Augenblick auf<br />
400
dem Weg nach Svalbard. Natürlich weiß sie noch nicht, daß<br />
Iofur Raknison geschlagen ist, aber sie wird es bald wissen,<br />
weil… Ach ja, weil einige Hexen es ihr sagen werden, die es von<br />
den Klippenalpen wissen. <strong>Der</strong> Himmel ist anscheinend voller<br />
Spione, Iorek. Sie kommt, weil sie… angeblich weil sie Iofur<br />
Raknison helfen will, aber in Wirklichkeit will sie die Macht<br />
von ihm übernehmen mit Hilfe eines Tatarenregiments, das<br />
mit dem Schiff unterwegs ist. Sie könnten schon in wenigen<br />
Stunden hier sein.<br />
Und sobald sie kann, wird sie Lord Asriel in seinem Gefängnis<br />
aufsuchen und ihn töten lassen. Weil…Jetzt wird mir etwas<br />
klar, das ich bisher nie verstanden habe, Iorek! Nämlich warum<br />
sie Lord Asriel töten will: Weil sie weiß, was er vorhat, und<br />
davor Angst hat, und weil sie es selber tun will und die Macht an<br />
sich reißen will, bevor er es kann… Es muß die Stadt am Himmel<br />
sein, ja! Sie will sie als erste erreichen! Und da lese ich noch<br />
etwas anderes…«<br />
Lyra beugte sich über das Instrument und konzentrierte sich<br />
verbissen auf die Nadel, die hierhin und dorthin zuckte, so<br />
rasch, daß man ihr kaum folgen konnte. Roger, der Lyra über<br />
die Schulter blickte, sah nicht einmal, wo sie jeweils stehenblieb;<br />
er sah lediglich ein schnelles Wechselspiel zwischen Lyras<br />
Fingern, die an den Zeigern drehten, und der darauf antwortenden<br />
Nadel. Das Ganze schien mit einer Sprache sowenig zu<br />
tun zu haben wie das Nordlicht.<br />
»Ja«, sagte Lyra schließlich, sie ließ das Instrument in den<br />
Schoß sinken und seufzte und sah sich verwirrt um, als sie aus<br />
ihrer tiefen Versenkung erwachte. »Ja, jetzt verstehe ich das. Sie<br />
ist wieder hinter mir her. Sie will etwas, das ich habe, weil Lord<br />
Asriel es auch will. Sie braucht es für dieses… dieses Experiment,<br />
was immer es ist.«<br />
Lyra brach ab und holte tief Luft. Etwas machte ihr zu schaffen,<br />
und sie wußte nicht, was. Sie war überzeugt, daß dieses<br />
401
Etwas, das so wichtig war, das Alethiometer war. Schließlich<br />
hatte Mrs. Coulter das Alethiometer doch haben wollen, und<br />
was konnte es sonst sein? Zugleich konnte es nicht das Alethiometer<br />
sein, denn das Alethiometer drückte sich anders aus,<br />
wenn es von sich selbst sprach, nicht so.<br />
»Wahrscheinlich ist es das Alethiometer«, sagte sie unglücklich.<br />
»Das vermute ich schon lange. Ich muß es unbedingt Lord<br />
Asriel geben, bevor sie es an sich bringt. Wenn sie es bekommt,<br />
müssen wir alle sterben.«<br />
Als sie das sagte, war sie so erschöpft, allem überdrüssig und<br />
traurig bis ins Mark, daß der Tod eine Erlösung gewesen wäre.<br />
Aber das Beispiel Ioreks hinderte sie daran, das zuzugeben. Sie<br />
steckte das Alethiometer ein und setzte sich auf.<br />
»Wann wird sie hier sein?« fragte Iorek.<br />
»In wenigen Stunden. Ich denke, ich sollte Lord Asriel das<br />
Alethiometer so schnell wie möglich bringen.«<br />
»Ich komme mit«, sagte Iorek.<br />
Lyra widersprach nicht. Während Iorek Befehle erteilte und<br />
eine bewaffnete Truppe zusammenstellte, die sie auf dem letzten<br />
Teil ihrer Reise in den Norden begleiten sollte, saß sie ganz<br />
ruhig da und versuchte, ihre Kräfte zu sammeln. Sie hatte das<br />
Gefühl, daß das Lesen des Alethiometers sie ihre letzte Kraft<br />
gekostet hatte. Dann machte sie die Augen zu und schlief ein,<br />
doch schon wenig später wurde sie geweckt, und sie brachen<br />
auf.<br />
402
Einundzwanzig<br />
Lord Asriels Willkommen<br />
Lyra ritt auf einem starken jungen Bären, neben ihr Roger auf<br />
einem anderen, während Iorek unermüdlich vorauslief und<br />
eine mit einem Feuerwerfer bewaffnete Truppe die Nachhut<br />
bildete.<br />
<strong>Der</strong> Weg war lang und beschwerlich. Das Innere von Svalbard<br />
war gebirgig, mit schroffen Gipfeln und zerklüfteten<br />
Bergkämmen, durchschnitten von tiefen Schluchten und steilen<br />
Tälern, und die Kälte war ungeheuerlich. Sehnsüchtig<br />
dachte Lyra an die weich dahingleitenden Schlitten der Gypter<br />
auf dem Weg nach Bolvangar; wie schnell und bequem ihr<br />
diese Art zu reisen jetzt erschien. Hier war die Luft noch eisiger<br />
als alles, was sie je erlebt hatte; oder vielleicht war auch nur der<br />
Bär, auf dem sie ritt, nicht so leichtfüßig wie Iorek, oder sie war<br />
einfach vollkommen erschöpft und ausgelaugt. Jedenfalls war<br />
die Reise furchtbar anstrengend.<br />
Lyra wußte weder, in welcher Richtung ihr Ziel lag, noch,<br />
wie weit es weg war. Sie wußte nur, was der alte Bär Sören Eisarson<br />
ihr erzählt hatte, als sie den Feuerwerfer für die Reise vorbereitet<br />
hatten. Eisarson hatte an den Verhandlungen mit Lord<br />
Asriel über die Bedingungen seiner Haft teilgenommen und<br />
erinnerte sich noch lebhaft daran.<br />
Zuerst, sagte er, hätten die Bären von Svalbard keinen Unter<br />
403
schied zwischen Lord Asriel und den anderen Politikern, Königen<br />
und Unruhestiftern festgestellt, die auf ihre öde Insel verbannt<br />
wurden. Solche Gefangenen seien immer wichtig, sonst<br />
hätten ihre Landsleute sie gleich umgebracht; sie könnten eines<br />
Tages also auch für die Bären wichtig werden, wenn ihr politisches<br />
Schicksal umschlug und sie in ihren Ländern wieder an<br />
die Macht kamen. Es konnte sich für die Bären also auszahlen,<br />
sie nicht grausam oder verächtlich zu behandeln.<br />
Deshalb hatte Lord Asriel auf Svalbard weder schlechtere<br />
noch bessere Bedingungen angetroffen als Hunderte Verbannte<br />
vor ihm. Bestimmte Umstände hatten allerdings dazu geführt,<br />
daß seine Wächter bei ihm wachsamer waren als bei anderen<br />
Gefangenen. Eine Aura des Geheimnisvollen und spirituell<br />
Verderblichen umgab alles, was mit Staub zu tun hatte; auf den<br />
Gesichtern derer, die Lord Asriel gebracht hatten, hatte ganz<br />
deutlich Panik gestanden; und schließlich gab es noch die privaten<br />
Gespräche von Mrs. Coulter mit Iofur Raknison.<br />
Außerdem hatten die Bären noch nie jemanden mit Lord<br />
Asriels hochmütigem und gebieterischem Wesen kennengelernt,<br />
gegen das sogar Iofur Raknison nicht angekommen war.<br />
Nachdrücklich und sprachgewandt hatte Lord Asriel den<br />
Bärenkönig dazu überredet, ihn selbst entscheiden zu lassen,<br />
wo er wohnen wollte.<br />
Die ihm zuerst zugewiesene Wohnung liege zu tief, hatte er<br />
gesagt. Er brauche eine hochgelegene Wohnung über dem<br />
Rauch und dem Lärm der Feuerminen und Schmieden. Er<br />
zeichnete den Bären auf, wie die Wohnung aussehen sollte, und<br />
sagte ihnen, wo sie liegen sollte. Dann bestach er sie mit Gold<br />
und schmeichelte und drohte Iofur Raknison so lange, bis die<br />
Bären verwirrt gehorchten und sich an die Arbeit machten.<br />
Schon bald erhob sich auf einer nach Norden gerichteten Landzunge<br />
ein großes, festes Haus mit offenen Kaminen, in denen in<br />
großen Stücken die von den Bären geförderte und herbeige<br />
404
schaffte Kohle brannte, und mit großen Fenstern aus echtem<br />
Glas. Dort residierte er, der Gefangene, wie ein König.<br />
Und dort ging er daran, ein Laboratorium zusammenzustellen.<br />
Mit verbissenem Eifer bestellte er Bücher, Instrumente, Chemikalien<br />
und die verschiedensten Werkzeuge und sonstigen<br />
Ausrüstungsgegenstände. Und irgendwie hatte er alles bekommen,<br />
aus den verschiedensten Quellen, zum Teil offen, zum<br />
Teil eingeschmuggelt von Besuchern, auf deren Besuch er als<br />
ihm zustehend gedrungen hatte. Über Land, zu Wasser und auf<br />
dem Luftweg hatte Lord Asriel seine Materialien zusammengetragen,<br />
und ein halbes Jahr nach seiner Gefangennahme hatte er<br />
alles, was er brauchte.<br />
Und nun arbeitete, dachte, plante und rechnete er und wartete<br />
nur noch auf das eine, das er brauchte, um die Aufgabe zu<br />
vollenden, vor der die Oblations-Behörde solche Angst hatte.<br />
Und dieses Letzte, das er brauchte, war bereits zu ihm unterwegs.<br />
Lyra sah das Gefängnis ihres Vaters zum erstenmal, als Iorek<br />
Byrnison am Fuß eines Gebirgskammes anhielt, damit die Kinder<br />
ihre Glieder bewegen und strecken konnten, da sie gefährlich<br />
ausgekühlt und steif gefroren waren.<br />
»Sieh, da oben«, sagte er.<br />
Ein breiter, zerfurchter und mit Eis- und Felsbrocken übersäter<br />
Hang, in den man mühsam einen Pfad gehauen hatte,<br />
führte zu einer Felsnase, die sich schwarz und spitz vor dem<br />
Himmel abhob. Die Aurora schien nicht, aber die Sterne glitzerten.<br />
Auf dem Gipfel der Felsnase stand ein großes Gebäude,<br />
das hell durch die Nacht leuchtete. Was Lyra sah, war weder das<br />
rußige, unruhige Flackern von Tranlampen noch das grelle<br />
Weiß anbarischer Scheinwerfer, sondern das warme, cremefarbene<br />
Licht von Naphthalampen.<br />
405
Auch die Fenster, durch die das Licht schien, zeigten, wie<br />
mächtig Lord Asriel war. Glas war teuer, und durch große Fensterscheiben<br />
verschwendete man in diesen extremen Breiten<br />
Unmengen von Heizmaterial. Lord Asriels Haus zeugte von<br />
einem noch größeren Reichtum und Einfluß als Iofur Raknisons<br />
aufgedonnerter Palast.<br />
Sie stiegen zum letzten mal auf ihre Bären, und Iorek ging<br />
ihnen voraus den Pfad zum Haus hinauf. Oben gelangten sie in<br />
einen tief verschneiten Hof, um den eine niedrige Mauer lief.<br />
Als Iorek das Tor aufstieß, hörten sie drinnen im Haus eine<br />
Klingel.<br />
Lyra kletterte von ihrem Bären herunter; sie konnte kaum<br />
noch stehen. Dann half sie Roger beim Absteigen, und sich<br />
gegenseitig stützend stolperten die Kinder durch den bis zu den<br />
Oberschenkeln reichenden Schnee zur Eingangstreppe.<br />
Wie warm es im Haus sein würde! Wie ruhig und friedlich!<br />
Lyra streckte die Hand nach der Klingel aus, doch noch<br />
bevor sie klingeln konnte, ging die Tür auf. Dahinter erschien<br />
ein kleiner, schwach erleuchteter Flur, der die Wärme im Haus<br />
halten sollte, und unter der Flurlampe stand jemand, den Lyra<br />
kannte: Lord Asriels Diener Thorold mit seinem Dæmon<br />
Anfang, einem Pinscher.<br />
Erschöpft schlug Lyra die Kapuze zurück.<br />
»Wer…«, begann Thorold, doch als er sah, wer es war, rief er:<br />
»Doch nicht Lyra? Die kleine Lyra? Träum ich denn?«<br />
Er langte hinter sich, um die innere Tür zu öffnen.<br />
Die Tür führte in einen saalartigen Raum, in dessen steinernem<br />
Kamin ein Kohlenfeuer loderte. Warmes Naphthalicht<br />
schien auf Teppiche, Ledersessel und poliertes Holz… Lyra<br />
hatte so etwas nicht mehr gesehen, seit sie Jordan College verlassen<br />
hatte, und sie spürte plötzlich einen Kloß im Hals.<br />
Lord Asriels Dæmon, die Schneeleopardin, knurrte.<br />
Dann stand auf einmal ihr Vater da, mit seinem energischen<br />
406
Gesicht mit den dunklen Augen, aus denen wilde Entschlossenheit,<br />
Triumph und Tatkraft blitzten. Doch dann wich plötzlich<br />
alle Farbe aus seinem Gesicht, und seine Augen weiteten sich in<br />
namenlosem Entsetzen, als er seine Tochter erkannte.<br />
»Nein! Nein!«<br />
Er stolperte zurück und hielt sich am Kaminsims fest. Lyra<br />
war wie gelähmt.<br />
»Verschwinde!« schrie Lord Asriel. »Dreh dich um und verschwinde,<br />
los! Ich habe nicht nach dir geschickt.«<br />
Lyra konnte nicht sprechen. Sie öffnete den Mund zweimal,<br />
dreimal, und dann brachte sie heraus: »Nein, nein, ich bin doch<br />
hier, weil…«<br />
Er schüttelte nur fortwährend den Kopf und streckte die<br />
Hände aus, wie um sie abzuwehren. Lyra wollte ihren Augen<br />
nicht trauen.<br />
In der Absicht, ihn zu beruhigen, trat sie einen Schritt auf ihn<br />
zu, und Roger folgte ihr nervös. Ihre Dæmonen flatterten in die<br />
Wärme, und einen Augenblick später strich sich Lord Asriel<br />
mit der Hand über die Schläfe. Er schien sich etwas erholt zu<br />
haben, und die Farbe kehrte allmählich in seine Wangen<br />
zurück, als er auf die beiden Kinder heruntersah.<br />
»Lyra«, sagte er. »Bist du es, Lyra?«<br />
»Ja, Onkel Asriel«, sagte sie. Jetzt schien nicht der richtige<br />
Zeitpunkt, ihre wirkliche verwandtschaftliche Beziehung zu<br />
erörtern. »Ich bringe dir das Alethiometer des Rektors von Jordan<br />
College.«<br />
»Ja, natürlich«, sagte er. »Wer ist das?«<br />
»Das ist Roger Parslow«, erwiderte sie, »der Küchenjunge<br />
von Jordan College. Aber…«<br />
»Wie seid ihr hergekommen?«<br />
»Ich wollte es gerade sagen. Draußen wartet Iorek Byrnison,<br />
er hat uns hergebracht. Er hat mich den ganzen Weg von Trollesund<br />
herbegleitet, und wir haben Iofur überlistet…«<br />
407
»Wer ist Iorek Byrnison?«<br />
»Ein gepanzerter Bär. Er hat uns hergebracht.«<br />
»Thorold«, rief Lord Asriel, »laß für die Kinder ein heißes<br />
Bad einlaufen, und gib ihnen etwas zu essen. Dann müssen sie<br />
schlafen. Ihre Kleider sind schmutzig; suche ihnen etwas zum<br />
Anziehen heraus. Bitte gleich, während ich mit diesem Bären<br />
spreche.«<br />
Lyra spürte, wie in ihrem Kopf alles verschwamm. Vielleicht<br />
war es die Wärme, vielleicht die Erleichterung. Sie sah zu, wie<br />
der Diener sich verbeugte und hinausging und wie Lord Asriel<br />
in den Flur trat und die Tür hinter sich schloß. Dann sank sie in<br />
den nächsten Sessel.<br />
Im nächsten Augenblick, so schien ihr, sprach Thorold sie an.<br />
»Folgen Sie mir, Miss«, sagte er, und sie stemmte sich hoch<br />
und folgte ihm mit Roger in ein warmes Badezimmer, in dem<br />
an einem beheizten Halter weiche Handtücher hingen und im<br />
Naphthalicht eine mit Wasser gefüllte Wanne dampfte.<br />
»Geh du zuerst rein«, sagte Lyra. »Ich bleibe hier, dann können<br />
wir uns unterhalten.«<br />
Also stieg Roger in die Wanne, um sich zu waschen. Er<br />
zuckte zusammen und keuchte, so heiß war das Wasser. Sie<br />
waren schon oft nackt zusammen schwimmen gewesen und<br />
hatten in der Isis oder im Cherwell mit anderen Kindern<br />
getobt, aber das hier war anders.<br />
»Ich hab Angst vor deinem Onkel«, sagte Roger durch die<br />
offene Tür. »Ich meine, vor deinem Vater.«<br />
»Nenne ihn lieber weiter meinen Onkel. Ich habe manchmal<br />
auch vor ihm Angst.«<br />
»Als wir vorhin hereinkamen, sah er mich überhaupt nicht.<br />
Er sah nur dich und war entsetzt, bis er auch mich sah. Dann<br />
beruhigte er sich sofort.«<br />
»Er war einfach überrascht«, sagte Lyra. »Das würde jedem so<br />
gehen, der plötzlich jemanden sieht, den er nicht erwartet hat.<br />
408
Er hat mich zuletzt damals im Ruhezimmer gesehen. Das muß<br />
doch ein Schock sein.«<br />
»Nein«, sagte Roger, »das war nicht nur ein Schock. Er sah<br />
mich an wie ein Wolf oder so was.«<br />
»Das bildest du dir nur ein.«<br />
»Nein. Ich hab mehr Angst vor ihm als damals vor Mrs.<br />
Coulter, wirklich.«<br />
Roger seifte sich ein, und Lyra holte das Alethiometer heraus.<br />
»Soll ich den Symboldeuter danach fragen?« sagte Lyra.<br />
»Hm, weiß nicht. Es gibt Dinge, die ich gar nicht wissen will.<br />
Ich hab das Gefühl, daß ich, seit die Gobbler nach Oxford<br />
gekommen sind, immer nur von schlechten Dingen höre. Es ist<br />
nichts Schönes dabei, höchstens mal etwas ganz Kleines in der<br />
unmittelbaren Zukunft, wie das schöne Bad hier oder das<br />
warme Handtuch. Und wenn ich mich abgetrocknet habe,<br />
freue ich mich vielleicht auf etwas zu essen, aber weiter denke<br />
ich nicht. Und wenn ich gegessen habe, freue ich mich vielleicht<br />
auf ein bequemes Bett, in dem ich pennen kann. Aber was<br />
danach kommt: Ich weiß nicht, Lyra. Wir haben schreckliche<br />
Dinge erlebt, oder? Und sehr wahrscheinlich stehen uns noch<br />
mehr schreckliche Dinge bevor. Ich denke mir also, am besten<br />
man weiß gar nicht, was die Zukunft bringt. Ich halte mich an<br />
die Gegenwart.«<br />
»Ja«, sagte Lyra müde. »Manchmal geht es mir genauso.«<br />
Sie behielt das Alethiometer zwar noch eine Weile in der<br />
Hand, aber nur um sich zu trösten. Sie drehte nicht an den Zeigern<br />
und achtete nicht auf das Ausschwingen der Nadel. Pantalaimon<br />
beobachtete das Instrument stumm.<br />
Nachdem sie sich beide gewaschen und ein Käsebrot gegessen<br />
und mit warmem Wasser verdünnten Wein getrunken hatten,<br />
sagte der Diener Thorold: »<strong>Der</strong> Junge soll schlafen gehen;<br />
ich zeige ihm, wo. Sie, Miss Lyra, bittet seine Lordschaft noch zu<br />
sich in die Bibliothek.«<br />
409
Er führte Lyra in ein Zimmer, durch dessen große Fenster<br />
man weit unten das gefrorene Meer sah. Auch hier brannte in<br />
einem großen Kamin ein Kohlenfeuer, und eine Naphthalampe<br />
war so heruntergedreht, daß der Blick aus dem Zimmer<br />
nach draußen auf das öde, nur von Sternen beschienene Panorama<br />
kaum durch störende Spiegelungen beeinträchtigt wurde.<br />
Lord Asriel saß in einem großen Armsessel auf der einen Seite<br />
des Feuers und bedeutete Lyra, sich in den anderen Sessel ihm<br />
gegenüber zu setzen.<br />
»Dein Freund Iorek Byrnison ruht sich draußen aus«, sagte<br />
er. »Er ist lieber in der Kälte.«<br />
»Hat er dir von dem Zweikampf mit Iofur Raknison<br />
erzählt?«<br />
»Nur in groben Zügen. Wenn ich ihn richtig verstehe, ist er<br />
jetzt König von Svalbard. Stimmt das?«<br />
»Natürlich. Iorek lügt nie.«<br />
»Er scheint sich zu deinem Beschützer ernannt zu haben.«<br />
»Nein, John Faa hat ihm gesagt, er solle sich um mich kümmern,<br />
deshalb tut er es. Er befolgt nur die Anweisungen John<br />
Faas.«<br />
»Was hat John Faa damit zu tun?«<br />
»Das sag ich dir, wenn du mir was anderes sagst. Du bist mein<br />
Vater, nicht wahr?«<br />
»Ja. Warum?«<br />
»Du hättest mir das schon früher sagen sollen, deshalb. Du<br />
darfst solche Sachen anderen Leuten nicht verschweigen, weil<br />
sie sich dann, wenn sie es herausfinden, dumm vorkommen,<br />
und das ist gemein. Was macht es denn, wenn ich weiß, daß ich<br />
deine Tochter bin? Du hättest es mir schon Vorjahren sagen<br />
können. Du hättest es mir sagen können, und du hättest mich<br />
bitten können, es geheimzuhalten, und wenn du mich darum<br />
gebeten hättest, hätte ich das auch getan, egal wie alt ich gewesen<br />
wäre. Ich wäre so stolz gewesen, daß niemand das Geheim<br />
410
nis von mir erfahren hätte. Aber das hast du nicht. Du hast es<br />
anderen gesagt, aber nicht mir.«<br />
»Wer behauptet das?«<br />
»John Faa.«<br />
»Hat er dir gesagt, wer deine Mutter ist?«<br />
»Ja.«<br />
»Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Und ich lasse mich<br />
nicht von einer frechen kleinen Rotznase ausfragen und<br />
beschimpfen. Ich will hören, was du auf dem Weg hierher gesehen<br />
und getan hast.«<br />
»Ich habe dir doch das blöde Alethiometer gebracht, oder?«<br />
platzte Lyra heraus, den Tränen nahe. »Auf dem ganzen Weg<br />
von Jordan bis hierher habe ich darauf aufgepaßt, es versteckt<br />
und behütet, egal was passierte, und ich habe gelernt, wie man<br />
es liest, und es den ganzen Weg hergebracht, obwohl ich auch<br />
hätte zu Hause bleiben und es mir bequem machen können,<br />
und du bedankst dich nicht mal und zeigst durch nichts, daß du<br />
dich freust, mich zu sehen. Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt<br />
getan hab. Aber ich hab’s getan, und ich hab immer weitergemacht,<br />
auch in Iofur Raknisons stinkendem Palast unter<br />
all den Bären hab ich weitergemacht, ganz allein, und ich hab<br />
Iofur durch eine List dazu überredet, daß er mit Iorek kämpft,<br />
damit ich deinetwegen hierherkommen kann… Und als du<br />
mich dann gesehen hast, bist du fast ohnmächtig umgefallen,<br />
als ob ich eine schreckliche Sache wäre, die du nie wieder sehen<br />
willst. Du bist kein Mensch, Lord Asriel. Du bist nicht mein<br />
Vater. Mein Vater würde mich nicht so behandeln. Väter lieben<br />
ihre Töchter doch. Du liebst mich nicht, und ich liebe dich<br />
nicht, und dabei bleibt es. Ich hab Farder Coram lieb, und ich<br />
hab Iorek Byrnison lieb; ich hab einen Panzerbären lieber als<br />
meinen Vater. Und ich wette, Iorek Byrnison hat mich lieber als<br />
du.«<br />
»Du hast eben selbst gesagt, daß er nur einen Befehl John<br />
411
Faas ausführt. Wenn du jetzt sentimental wirst, verschwende<br />
ich meine Zeit nicht damit, mit dir zu reden.«<br />
»Dann nimm doch dein blödes Alethiometer, und ich geh<br />
mit Iorek wieder.«<br />
»Wohin denn?«<br />
»Zum Palast zurück. Er kann gegen Mrs. Coulter und die<br />
Oblations-Behörde kämpfen, wenn sie kommen. Wenn er verliert,<br />
sterbe ich auch, aber das ist mir egal. Wenn er gewinnt,<br />
holen wir Lee Scoresby, und ich fahre in seinem Ballon weg<br />
und…«<br />
»Wer ist Lee Scoresby?«<br />
»Ein Aeronaut. Er hat uns hergebracht, und dann hatten wir<br />
einen Zusammenstoß. Bitte schön, hier hast du das Alethiometer.<br />
Es ist alles heil.«<br />
Lord Asriel machte keine Anstalten, das Instrument zu nehmen,<br />
deshalb legte Lyra es auf das Messinggitter der Feuerstelle.<br />
»Und eigentlich müßte ich dir auch sagen, daß Mrs. Coulter<br />
auf dem Weg nach Svalbard ist, und sobald sie hört, was mit<br />
Iofur Raknison passiert ist, kommt sie sicher hierher, in einem<br />
Zeppelin zusammen mit ganz vielen Soldaten. Und dann werden<br />
sie uns alle töten, auf Befehl des Magisteriums.«<br />
»Sie bekommen uns nicht in die Hände«, sagte Lord Asriel<br />
gelassen.<br />
Er wirkte so ruhig und gelöst, daß Lyras wilde Empörung<br />
schrumpfte.<br />
»Das weißt du nicht«, sagte sie unsicher.<br />
»Doch.«<br />
»Heißt das, du hast noch ein anderes Alethiometer?«<br />
»Dazu brauche ich kein Alethiometer. Jetzt will ich von deiner<br />
Reise hierher hören, Lyra. Bitte von Anfang an und ohne<br />
etwas auszulassen.«<br />
Lyra gehorchte. Sie begann damit, wie sie sich im Ruhezimmer<br />
versteckt hatte, und erzählte, wie die Gobbler Roger ent<br />
412
führt hatten, wie sie zu Mrs. Coulter gekommen und was<br />
danach passiert war.<br />
Es war eine lange Geschichte, und als sie fertig war, sagte sie:<br />
»Eines wüßte ich gern, und ich finde, ich hab ein Recht darauf,<br />
es zu wissen, wie ich das Recht hatte zu wissen, wer ich bin. Und<br />
da du mir das nicht gesagt hast, beantworte mir zum Ausgleich<br />
jetzt meine Frage. Also: Was ist Staub? Und warum<br />
haben alle solche Angst davor?«<br />
Er sah sie an, als überlege er, ob sie verstehen würde, was er<br />
ihr sagen wollte. Noch nie hatte er sie so ernst angesehen,<br />
dachte sie; bis jetzt war er immer wie ein Erwachsener gewesen,<br />
der nachsichtig auf die Streiche eines Kindes herabsieht. Jetzt<br />
dagegen schien er sie einer Antwort für würdig zu halten.<br />
»Staub ist das, was das Alethiometer antreibt«, sagte er.<br />
»Ah… habe ich mir fast gedacht! Aber was noch? Wie hat<br />
man ihn entdeckt?«<br />
»Die Kirche wußte im Grunde schon immer davon. Dort<br />
predigt man seit Jahrhunderten von Staub, nur nannte man es<br />
anders. Aber vor einigen Jahren entdeckte ein Moskowiter<br />
namens Boris Michailowitsch Rusakow ein neues Elementarteilchen.<br />
Hast du von Elektronen, Photonen, Neutrinos und<br />
solchen Dingen gehört? Man nennt sie Elementarteilchen, weil<br />
man sie nicht weiter aufspalten kann; sie enthalten nur sich<br />
selbst. Gut, und dieses neue Elementarteilchen ließ sich zwar<br />
auch nicht aufspalten, aber es war nur sehr schwer meßbar, weil<br />
es auf keine der üblichen Arten reagierte. Am schwierigsten war<br />
für Rusakow zu verstehen, warum das neue Teilchen sich überall<br />
dort zu konzentrieren schien, wo Menschen waren, als ob es<br />
von uns angezogen würde, ganz besonders von Erwachsenen.<br />
Zwar zogen auch Kinder es an, aber nicht annähernd so stark,<br />
solange ihre Dæmonen noch keine feste Gestalt angenommen<br />
hatten. In der Zeit der Pubertät beginnen sie den Staub dann<br />
stärker anzuziehen, bis er sich genauso stark an sie heftet wie an<br />
413
Erwachsene. Nun haben alle Entdeckungen dieser Art Auswirkungen<br />
auf die Lehre der Kirche und müssen deshalb durch das<br />
Magisterium in Genf abgesegnet werden. Rusakows Entdekkung<br />
war aber so unwahrscheinlich und seltsam, daß der<br />
Inspektor des Geistlichen Disziplinargerichts argwöhnte, Rusakow<br />
sei vom Teufel besessen. Er führte in seinem Labor eine<br />
Teufelsaustreibung durch und verhörte Rusakow nach den<br />
Regeln der Inquisition, doch schließlich mußte die Kirche sich<br />
damit abfinden, daß Rusakow weder ein Lügner noch ein<br />
Betrüger war: Staub existierte tatsächlich.<br />
Damit standen sie vor dem Problem, daß sie entscheiden<br />
mußten, was Staub war. Und angesichts des Wesens der Kirche<br />
konnten sie nur eine Entscheidung treffen. Das Magisterium<br />
entschied, Staub sei der physikalische Beweis der Erbsünde.<br />
Weißt du, was das ist?«<br />
Lyra nagte auf ihren Lippen. Sie fühlte sich an Jordan erinnert,<br />
wenn sie Fragen zu etwas gestellt bekam, von dem sie im<br />
Unterricht einmal gehört hatte.<br />
»So ungefähr«, sagte sie.<br />
»Nein, du weißt es nicht. Geh an das Regal neben dem<br />
Schreibtisch und bringe mir die Bibel.«<br />
Lyra gehorchte und gab ihrem Vater das große, schwarze<br />
Buch.<br />
»Kennst du die Geschichte von Adam und Eva?«<br />
»Klar«, sagte sie. »Eva durfte den Apfel nicht essen, aber die<br />
Schlange führte sie in Versuchung, und dann tat sie es doch.«<br />
»Und was geschah dann?«<br />
»Hm… Sie wurden rausgeworfen. Gott warf sie aus dem<br />
Paradies heraus.«<br />
»Gott hatte ihnen verboten, von der Frucht zu essen, weil sie<br />
sonst sterben würden. Sie waren ja nackt im Garten, sie waren<br />
wie Kinder, und ihre Dæmonen konnten jede beliebige Gestalt<br />
annehmen. Die Geschichte geht so.«<br />
414
Er schlug das dritte Kapitel der Genesis auf und las:<br />
»Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den<br />
Früchten der Bäume im Garten;<br />
aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten<br />
hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie nicht an, daß<br />
ihr nicht sterbet!<br />
Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs<br />
des Todes sterben,<br />
sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset,<br />
werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie<br />
Gott und wissen, was gut und böse ist.<br />
Und das Weib sah, daß von dem Baum gut zu essen<br />
wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend,<br />
weil er dem Dæmon des Menschen seine wahrhafte<br />
Gestalt gab. Und sie nahm von der Frucht und aß<br />
und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er<br />
aß.<br />
Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie<br />
sahen die wahre Gestalt ihrer Dæmonen und sprachen<br />
mit ihnen.<br />
Doch als der Mann und das Weib ihre Dæmonen<br />
erkannten, wußten sie, daß ein großer Wandel über sie<br />
gekommen war, denn bis dahin waren sie eins gewesen<br />
mit den Geschöpfen der Erde und der Luft, und es hatte<br />
keinen Unterschied zwischen ihnen gegeben.<br />
Und sie sahen den Unterschied und wußten, was gut<br />
und böse war; sie schämten sich und flochten Feigenblätter<br />
zusammen und machten sich Schurze, um ihre Blöße<br />
zu bedecken.«<br />
Lord Asriel klappte das Buch zu.<br />
»Und so kam die Sünde in die Welt«, sagte er, »die Sünde, die<br />
Scham und der Tod. Das alles kam in dem Augenblick, in dem<br />
ihre Dæmonen eine feste Gestalt annahmen.«<br />
415
»Aber…« Lyra suchte nach Worten. »Aber die Geschichte ist<br />
doch gar nicht wahr, oder? Nicht wahr wie Chemie oder<br />
Maschinenbau, nicht diese Art von wahr. Adam und Eva gab es<br />
doch nicht wirklich? <strong>Der</strong> Cassington-Stipendiat meinte, das sei<br />
nur eine Art Märchen.«<br />
»Das Cassington-Stipendium wird der Tradition gemäß<br />
einem Freidenker verliehen; seine Aufgabe ist, den Glauben der<br />
anderen Wissenschaftler herauszufordern. Also sagt er natürlich<br />
so was. Aber stelle dir Adam und Eva als imaginäre Zahlen<br />
vor, wie die Wurzel aus minus eins: Man kann ihre Existenz<br />
letztlich nicht beweisen, aber wenn man sie in Gleichungen<br />
einbezieht, kann man alle möglichen Dinge rechnen, die man<br />
ohne sie nicht rechnen könnte. Jedenfalls lehrt die Kirche das<br />
seit Tausenden von Jahren. Und als Rusakow den Staub entdeckte,<br />
gab es endlich auch einen physikalischen Beweis dafür,<br />
daß sich etwas verändert, wenn Unschuld zu Erfahrung wird.<br />
Übrigens kommt die Bezeichnung Staub auch aus der Bibel.<br />
Zuerst sprach man von Rusakow-Teilchen, aber dann machte<br />
jemand auf einen merkwürdigen Vers gegen Ende des dritten<br />
Kapitels der Genesis aufmerksam, in dem Gott Adam verflucht,<br />
weil er von der Frucht gegessen hat.«<br />
Lord Asriel schlug die Bibel auf und zeigte Lyra das Stelle. Sie<br />
las:<br />
»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen,<br />
bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.<br />
Denn du bist Staub und sollst zu Staub werden.«<br />
»Den kirchlichen Gelehrten hat die Übersetzung dieses Verses<br />
immer Kopfzerbrechen bereitet«, sagte Lord Asriel. »Einige<br />
meinen, es dürfe nicht heißen ›du sollst zu Staub werden‹, sondern<br />
›du sollst Staub unterworfen sein‹, andere sagen, in Wirklichkeit<br />
handle es sich um das Eingeständnis Gottes, daß er<br />
selbst mit einem Teil seines Wesens ein Sünder sei. Jeder sagt<br />
etwas anderes, und das kann auch gar nicht anders sein, denn<br />
416
der Text ist verdorben. Aber es war ein so schönes Wort, deshalb<br />
nannte man die Teilchen kurzerhand Staub.«<br />
»Und wer sind die Gobbler?« fragte Lyra.<br />
»Die General-Oblations-Behörde… die Komplizen deiner<br />
Mutter. Wirklich klug von ihr, sich genau zum richtigen Zeitpunkt<br />
eine eigene Machtbasis zu schaffen, aber sie ist ja auch<br />
eine intelligente Frau, wie du sicher schon gemerkt hast. Das<br />
Magisterium hat nichts dagegen, wenn es alle möglichen verschiedenen<br />
Behörden gibt. Es kann sie gegeneinander ausspielen;<br />
wenn eine Behörde erfolgreich ist, tut man im Magisterium<br />
so, als habe man sie schon die ganze Zeit unterstützt, und wenn<br />
eine scheitert, tut man so, als handle es sich um lauter Verräter,<br />
die sowieso ohne Genehmigung gearbeitet hätten.<br />
Deine Mutter hat immer nach Macht gestrebt, mußt du wissen.<br />
Zuerst wollte sie sie auf normale Weise erlangen, durch<br />
Heirat, aber das klappte nicht, wie du wahrscheinlich gehört<br />
hast. Also mußte sie sich an die Kirche wenden. Natürlich<br />
konnte sie nicht denselben Weg einschlagen wie ein Mann und<br />
Priester werden und so weiter — sie brauchte eine besondere<br />
Methode. Sie mußte eine eigene Ordnung gründen, Beziehungen<br />
aufbauen, die sie dann spielen lassen konnte. Sich auf Staub<br />
zu spezialisieren war ein kluger Schachzug. Davor hatten alle<br />
Angst, und niemand wußte, was er dagegen tun konnte. Als sie<br />
also anbot, eine Untersuchung zu leiten, war man im Magisterium<br />
so erleichtert, daß man sie mit Geld und allen notwendigen<br />
Hilfsmitteln unterstützte.«<br />
»Aber sie schneiden —« Lyra brachte es nicht über sich, weiterzusprechen,<br />
es würgte sie regelrecht. »Du weißt, was sie getan<br />
haben! Warum hat die Kirche das zugelassen?«<br />
»Es gibt einen Präzedenzfall. Etwas Ähnliches wurde schon<br />
einmal gemacht. Weißt du, was das Wort Kastration bedeutet?<br />
Es bedeutet, daß man einem Jungen die Geschlechtsorgane<br />
abschneidet, so daß er sich nicht zu einem normalen Mann ent<br />
417
wickeln kann. Ein Kastrat hat sein Leben lang eine hohe<br />
Sopranstimme, und die Kirche hatte auch nichts gegen diese<br />
Praxis: Kastraten hörten sich in der Kirchenmusik so schön an.<br />
Einige wurden große Sänger, wunderbare Künstler. Viele wurden<br />
aber nur dicke, aufgedunsene Männer, die eigentlich gar<br />
keine waren, und einige starben auch an den Folgen der Operation.<br />
Die Kirche schreckt vor einem kleinen Schnitt jedenfalls<br />
nicht zurück, und es gibt einen Präzedenzfall. Und heute kann<br />
man das ja viel hygienischer machen als damals, als man weder<br />
Betäubungsmittel noch sterile Verbände, noch entsprechende<br />
Pflege kannte. Es wäre eine vergleichsweise harmlose Sache.«<br />
»Ist es nicht!« sagte Lyra heftig. »Wirklich nicht!«<br />
»Nein, natürlich nicht. Deshalb mußten sie sich ja auch hoch<br />
im Norden verstecken, wo es dunkel und neblig ist. Die Kirche<br />
war natürlich froh, daß so jemand wie dein Mutter das Unternehmen<br />
leitete. Wer hätte einer so charmanten, reizenden und<br />
vernünftigen Frau mit so guten Beziehungen mißtrauen können?<br />
Zugleich war das Unternehmen ja geheim und inoffiziell,<br />
deshalb konnte das Magisterium im Bedarfsfall auch jede Verbindung<br />
mit ihr bestreiten.«<br />
»Aber wer kam überhaupt auf die Idee mit dem Schneiden?«<br />
»Das war deine Mutter. Sie vermutete, daß es einen Zusammenhang<br />
zwischen zwei Ereignissen zur Zeit der Pubertät gab:<br />
zwischen der Änderung der Gestalt des Dæmons und der Tatsache,<br />
daß die Jugendlichen Staub anzogen. Wenn man nun den<br />
Dæmon vom Körper trennte, würden wir dem Staub — der<br />
Erbsünde — vielleicht nicht mehr unterworfen sein. Die Frage<br />
war, ob es möglich ist, Dæmon und Körper zu trennen, ohne<br />
daß der Mensch stirbt. Deine Mutter hat viele Reisen unternommen<br />
und alle möglichen Dinge gesehen. Sie ist auch in<br />
Afrika gewesen. Die Afrikaner haben eine Methode, durch die<br />
sie Menschen zu Sklaven machen, zu sogenannten Zombies. Das<br />
sind willenlose Geschöpfe, die Tag und Nacht arbeiten, ohne<br />
418
wegzurennen oder sich zu beklagen. Sie sehen aus wie Leichen…«<br />
»Menschen ohne Dæmon!«<br />
»Genau. Deine Mutter wußte also, daß es möglich war, beides<br />
zu trennen.«<br />
»Und… Tony Costa hat mir von schrecklichen Gespenstern<br />
erzählt, die es in den Wäldern im Norden gibt. Wahrscheinlich<br />
sind das auch Menschen ohne Dæmon.«<br />
»Richtig. Jedenfalls entstand aus solchen Ideen und aus der<br />
Besessenheit der Kirche mit der Erbsünde die General-Oblations-Behörde.«<br />
Lord Asriels Dæmon zuckte mit den Ohren, und er legte der<br />
Leopardin die Hand auf den schönen Kopf.<br />
»Noch etwas geschah, wenn sie den Schnitt machten«, fuhr<br />
er fort, »auch wenn sie es nicht merkten. Die Energie, die Körper<br />
und Dæmon verbindet, ist ungeheuer stark. Wird der<br />
Schnitt gemacht, wird diese Energie im Bruchteil einer<br />
Sekunde freigesetzt. Man hat das nicht bemerkt, weil man diese<br />
Energie falsch als Schock, Abscheu oder moralische Empörung<br />
interpretierte und sich antrainierte, dabei nichts zu empfinden.<br />
Man begriff also nicht, was man mit dieser Energie anstellen<br />
konnte, und dachte nicht daran, sie nutzbar zu machen…«<br />
Lyra konnte nicht mehr stillsitzen. Sie stand auf, ging zum<br />
Fenster und starrte blicklos in die weite, dunkle Ödnis hinaus.<br />
Es gab so viel Grausamkeit. Egal, wie wichtig es war, das mit der<br />
Erbsünde herauszufinden: Was man Tony Makarios und den<br />
anderen Kindern angetan hatte, war zu grausam. Dafür gab es<br />
keine Rechtfertigung.<br />
»Und was hast du getan?« fragte sie. »Hast du auch Daemonen<br />
abgeschnitten?«<br />
»Ich interessiere mich für etwas ganz anderes. Ich glaube, die<br />
Oblations-Behörde geht nicht weit genug. Ich möchte zur<br />
Quelle des Staubes vorstoßen.«<br />
419
»Zur Quelle? Wo kommt der Staub denn her?«<br />
»Von jenem anderen Universum, das wir durch die Aurora<br />
sehen können.«<br />
Lyra drehte sich zu ihm um. Entspannt lehnte ihr Vater in<br />
seinem Sessel, aber aus seinen Augen sprachen eine ungezügelte<br />
Kraft und eine Wildheit, die der seines Dæmons ebenbürtig<br />
war. Sie liebte ihn nicht, und sie konnte ihm nicht trauen, aber<br />
sie bewunderte ihn und den extravaganten Luxus, den er in dieser<br />
Einöde zusammengetragen hatte, und seinen gewaltigen<br />
Ehrgeiz.<br />
»Was ist das für ein anderes Universum?« fragte sie.<br />
»Eine von Milliarden von Welten, die nebeneinander existieren.<br />
Die Hexen wissen seit Jahrhunderten davon, aber die ersten<br />
Theologen, die die Existenz dieser Welten mathematisch<br />
bewiesen, wurden vor gut fünfzig Jahren exkommuniziert.<br />
Dabei existieren sie, unbestreitbar. Allerdings hielt es bisher<br />
keiner für möglich, von einer Welt in die andere hinüberzutreten.<br />
Dadurch, so glaubten wir, würden elementare Gesetze verletzt.<br />
Nun, wir hatten unrecht. Es gelang uns, die Welt da oben<br />
zu sehen. Und wenn Licht dort hinüberkommt, können wir das<br />
auch. Wir mußten einfach erst lernen, diese Welt zu sehen, Lyra,<br />
wie du gelernt hast, das Alethiometer zu benutzen.<br />
Diese Welt entstand nun wie jede andere Welt als Folge einer<br />
Möglichkeit. Es ist, als würde man eine Münze werfen: Sie kann<br />
mit Kopf oder Zahl herunterfallen, aber wir wissen es erst,<br />
wenn sie heruntergefallen ist. Liegt der Kopf oben, heißt das,<br />
die Möglichkeit, daß die Zahl oben liegt, ist ausgeschieden. Bis<br />
zu diesem Moment waren beide Möglichkeiten gleichberechtigt.<br />
Aber in einer anderen Welt liegt die Zahl oben. Wenn das<br />
geschieht, brechen die beiden Welten auseinander. Ich verwende<br />
das Beispiel mit der Münze zur Veranschaulichung. Daß<br />
bestimmte Möglichkeiten ausscheiden, passiert auch auf der<br />
420
Ebene der Elementarteilchen auf genau dieselbe Art: Im einen<br />
Moment sind noch mehrere Dinge möglich, im nächsten wird<br />
aus einer Möglichkeit Wirklichkeit, und die anderen Möglichkeiten<br />
gibt es nicht mehr. Es sei denn, es entstehen andere Welten,<br />
in denen diese Möglichkeiten verwirklicht wurden.<br />
Und ich werde die Welt jenseits der Aurora betreten, weil ich<br />
glaube, daß aus ihr der Staub in diese Welt kommt. Du hast die<br />
Lichtbilder gesehen, die ich den Wissenschaftlern im Ruhezimmer<br />
gezeigt habe. Du hast die Stadt selbst gesehen. Wenn<br />
Licht die Barriere zwischen den Welten überwinden kann,<br />
wenn der Staub das kann und wenn wir diese Stadt sehen können,<br />
dann können wir auch eine Brücke hinüberbauen und sie<br />
überqueren. Dazu braucht man allerdings einen ungeheuren<br />
Schub an Energie. Aber ich kann es schaffen. Irgendwo von da<br />
draußen kommen Staub, Tod, Sünde, Elend und die ganze Zerstörungswut<br />
auf dieser Welt. Die Menschen können nichts<br />
sehen, ohne es gleich zerstören zu wollen, Lyra. Das ist die<br />
eigentliche Erbsünde. Und ich werde sie vernichten. <strong>Der</strong> Tod<br />
wird sterben.«<br />
»Haben sie dich deshalb hier eingesperrt?«<br />
»Ja. Sie haben schreckliche Angst. Und mit gutem Grund.«<br />
Er stand auf, und auch sein Dæmon erhob sich, stolz, schön<br />
und tödlich. Lyra saß regungslos da. Sie hatte Angst vor ihrem<br />
Vater; zugleich bewunderte sie ihn zutiefst, und sie hielt ihn für<br />
völlig verrückt. Aber durfte sie sich ein Urteil anmaßen?<br />
»Geh schlafen«, sagte er. »Thorold zeigt dir dein Zimmer.«<br />
Er wandte sich zum Gehen.<br />
»Du hast das Alethiometer liegenlassen«, sagte sie.<br />
»Ach ja, aber ich brauche es jetzt eigentlich gar nicht«, sagte<br />
er. »Ohne die Bücher würde es mir sowieso nichts nützen. Ich<br />
glaube mehr, der Rektor von Jordan wollte es dir geben. Hat er<br />
wirklich gesagt, du solltest es mir bringen?«<br />
»Ja, natürlich!« sagte sie. Aber dann dachte sie noch einmal<br />
421
nach, und ihr fiel ein, daß der Rektor das nicht gesagt hatte. Sie<br />
hatte es die ganze Zeit angenommen, denn warum hätte er es<br />
ihr sonst geben sollen? »Nein«, sagte sie, »ich weiß nicht. Ich<br />
dachte…«<br />
»Tja, ich will es nicht. Es gehört dir, Lyra.«<br />
»Aber…«<br />
»Gute Nacht, Kind.«<br />
Sprachlos und zu verwirrt, um eine der vielen Fragen stellen<br />
zu können, die sie bedrängten, nahm Lyra das Alethiometer<br />
und wickelte es in den schwarzen Samt. Am Feuer sitzend sah<br />
sie ihm nach, wie er das Zimmer verließ.<br />
422
Zweiundzwanzig<br />
Verrat<br />
Sie wachte auf, weil ein Fremder sie am Arm schüttelte. Erst als<br />
Pantalaimon hochfuhr und knurrte, erkannte sie Thorold. Er<br />
hielt eine Naphthalampe, und seine Hand zitterte.<br />
»Miss… Miss… stehen Sie schnell auf. Ich weiß nicht, was ich<br />
tun soll. Er hat keine Anweisungen hinterlassen. Ich glaube, er<br />
ist verrückt, Miss.«<br />
»Was? Was ist passiert?«<br />
»Lord Asriel, Miss. Er war wie im Delirium, nachdem Sie zu<br />
Bett gegangen sind. Ich habe ihn noch nie so rasend erlebt. Er<br />
hat eine Menge Instrumente und Batterien in einen Schlitten<br />
gepackt, die Hunde angespannt und ist fort. Aber er hat den<br />
Jungen dabei, Miss!«<br />
»Roger? Er hat Roger mitgenommen?«<br />
»Er sagte, ich solle ihn wecken und anziehen, und ich habe<br />
ihm nicht widersprochen… das habe ich nie… der Junge fragte<br />
die ganze Zeit nach Ihnen, Miss… aber Lord Asriel wollte nur<br />
ihn… wissen Sie noch, wie Sie durch die Tür traten, Miss? Wie<br />
er sie sah und seinen Augen nicht trauen wollte und sagte, sie<br />
sollten verschwinden?«<br />
Lyras Kopf war ein solches Durcheinander aus Erschöpfung<br />
und Angst, daß sie nichts denken konnte und nur »Ja? ja?« sagte.<br />
»Das war, weil er ein Kind brauchte, um sein Experiment zu<br />
423
eenden, Miss! Und Lord Asriel hat eine ganz besondere Art,<br />
sich zu beschaffen, was er braucht, er verlangt es einfach und<br />
schon…«<br />
In Lyras Kopf brach ein Aufruhr los, als ob sie versuchte,<br />
etwas, das sie wußte, aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen.<br />
Sie stieg aus dem Bett und wollte nach ihren Kleidern greifen,<br />
als sie plötzlich zusammenbrach und sich ihr ein wilder<br />
Schrei der Verzweiflung entrang. Zwar war es Lyra, die schrie,<br />
aber der Schrei war größer als sie, gleichsam als schreie die Verzweiflung<br />
selbst. Ihr waren Lord Asriels Worte eingefallen: Die<br />
Energie, die Körper und Dæmon verbindet, ist ungeheuer stark, und<br />
um die Kluft zwischen den Welten zu überqueren, brauche<br />
man einen ungeheuren Schub an Energie…<br />
Sie hatte soeben gemerkt, was sie getan hatte.<br />
Sie hatte sich bis hierher durchgekämpft, um Lord Asriel<br />
etwas zu bringen, und hatte geglaubt, zu wissen, was er<br />
brauchte. Dabei war es überhaupt nicht das Alethiometer. Lord<br />
Asriel brauchte ein Kind.<br />
Sie hatte ihm Roger gebracht.<br />
Deshalb hatte er, als er sie gesehen hatte, geschrien: »Ich habe<br />
nicht nach dir geschickt!« Er hatte nach einem Kind geschickt,<br />
und das Schicksal hatte ihm die eigene Tochter gebracht. Das<br />
hatte er zumindest geglaubt, bis sie zur Seite getreten und sein<br />
Blick auf Roger gefallen war.<br />
Lyra litt Seelenqualen. Sie hatte Roger retten wollen, dabei<br />
hatte sie die ganze Zeit alles getan, ihn zu verraten…<br />
Sie zitterte und schluchzte, rasend vor Schmerz. Es durfte<br />
nicht wahr sein.<br />
Thorold versuchte, sie zu trösten, aber er kannte den Grund<br />
ihrer Qual nicht und konnte ihr nur nervös die Schulter tätscheln.<br />
»Iorek…«, schluchzte sie und stieß den Diener zur Seite. »Wo<br />
ist Iorek Byrnison? <strong>Der</strong> Bär? Ist er noch draußen?«<br />
424
<strong>Der</strong> alte Mann zuckte hilflos die Schultern.<br />
»So hilf mir doch!« schrie sie, zitternd vor Schwäche und<br />
Angst. »Hilf mir beim Anziehen. Ich muß weg. Bitte! Mach<br />
schnell!«<br />
Thorold stellte die Lampe ab und tat, wie ihm geheißen.<br />
Wenn Lyra in diesem gebieterischen Ton Befehle erteilte, war<br />
sie auch mit tränennassem Gesicht und zitternden Lippen<br />
ihrem Vater sehr ähnlich. Während Pantalaimon mit dem<br />
Schwanz heftig auf den Boden schlug und sein Fell geradezu<br />
Funken sprühte, brachte Thorold Lyra eilends ihre steifen, stinkenden<br />
Pelze und half ihr beim Anziehen. Sobald alle Knöpfe<br />
zu und alle losen Enden festgesteckt waren, ging Lyra zur Tür<br />
und öffnete sie. Die Kälte traf ihren Hals wie ein Schwert, und<br />
die Tränen auf ihren Wangen gefroren sofort.<br />
»Iorek!« rief sie. »Iorek Byrnison! Komm her, denn ich brauche<br />
dich!«<br />
Im Schnee schüttelte sich etwas, Metall klapperte, und der<br />
Bär stand vor ihr. Er hatte seelenruhig unter dem fallenden<br />
Schnee geschlafen. Im Licht der Lampe, die Thorold ans Fenster<br />
hielt, sah Lyra den langen Kopf mit den dunklen Augenhöhlen<br />
und einen Schimmer weißen Fells unter dem rot-schwarzen<br />
Metall, und sie hätte Iorek am liebsten umarmt und sich trostsuchend<br />
an ihn gedrückt, an seinen eisernen Helm und sein<br />
vereistes Fell.<br />
»Also?« sagte er.<br />
»Wir müssen hinter Lord Asriel her. Er hat Roger mitgenommen<br />
und will… ich kann gar nicht daran denken — Iorek,<br />
ich flehe dich an, mach ganz schnell!«<br />
»Steig auf«, sagte er, und sie sprang auf seinen Rücken.<br />
Er brauchte nicht zu fragen, welche Richtung er einschlagen<br />
sollte: Schlittenspuren führten schnurgerade aus dem Hof und<br />
über die Ebene, und Iorek begann ihnen nachzutraben. Lyra<br />
hatte sich seine Bewegungen inzwischen so sehr zu eigen<br />
425
gemacht, daß sie ganz automatisch das Gleichgewicht hielt.<br />
Schneller als je zuvor rannte Iorek über die dicke Schneedecke,<br />
die den felsigen Grund bedeckte, und die Platten seines Panzers<br />
verschoben sich unter Lyra im regelmäßigen Rhythmus seiner<br />
großen Schritte.<br />
Hinter ihnen folgten leichtfüßig die anderen Bären mit dem<br />
Feuerwerfer. <strong>Der</strong> Weg lag deutlich vor ihnen, denn der Mond<br />
stand hoch am Himmel, und das Licht, mit dem er die verschneite<br />
Landschaft übergoß, war hell und tauchte die Welt in<br />
glänzendes Silber und tiefes Schwarz. Die Schlittenspuren liefen<br />
geradewegs auf eine Kette wildgezackter Berge zu, merkwürdiger,<br />
spitz zulaufender Formen, die so schwarz wie das<br />
Samttuch des Alethiometers in den Himmel schnitten. Von<br />
dem Schlitten selbst war nichts zu sehen — oder bewegte sich<br />
ganz in der Ferne an der Flanke des höchsten Berges etwas?<br />
Angestrengt starrte Lyra geradeaus, und Pantalaimon flog, so<br />
hoch er konnte, und spähte mit den scharfen Augen einer Eule<br />
in dieselbe Richtung.<br />
»Ja«, sagte er einen Augenblick später, als er wieder auf ihrem<br />
Handgelenk saß, »es ist Lord Asriel. Er treibt seine Hunde an<br />
wie wahnsinnig, und hinten im Schlitten sitzt ein Kind…«<br />
Lyra merkte, wie Iorek Byrnison seinen Schritt änderte.<br />
Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er wurde langsamer<br />
und schwenkte den erhobenen Kopf nach links und rechts.<br />
»Was ist los?« fragte Lyra.<br />
Iorek antwortete nicht, sondern lauschte aufmerksam. Lyra<br />
hörte nichts. Doch dann hörte sie etwas: ein geheimnisvolles,<br />
weit entferntes Knistern und Rauschen. Sie hatte das Geräusch<br />
schon einmal gehört: das Rauschen der Aurora. Aus dem Nichts<br />
tauchte ein heller Schein auf, der wie ein schimmernder Vorhang<br />
vor dem nördlichen Himmel hing. All die unsichtbaren<br />
Milliarden und Billionen geladener Teilchen, darunter vielleicht<br />
auch Staub, trugen zu jenem Leuchten in den oberen<br />
426
Schichten der Atmosphäre bei. Offenbar stand ein außergewöhnliches<br />
Spektakel bevor, wie Lyra es noch nicht gesehen<br />
hatte, als ob die Aurora wüßte, was für ein Drama sich hier<br />
unten abspielte, und es mit entsprechend eindrucksvollen<br />
Effekten ausleuchten wollte.<br />
Doch die Bären sahen nicht nach oben. Ihre Aufmerksamkeit<br />
galt ausschließlich dem Erdboden. Also war es nicht die<br />
Aurora, die Ioreks Aufmerksamkeit fesselte. Er stand jetzt völlig<br />
bewegungslos da, und Lyra glitt von seinem Rücken, da sie<br />
wußte, daß seine Sinne sich sonst nicht frei entfalten konnten.<br />
Irgend etwas beunruhigte ihn.<br />
Lyra drehte sich um und sah über die endlos weite Ebene<br />
zurück zu Lord Asriels Haus und zu dem Gebirge, das sie am<br />
Vortag überquert hatten, doch bemerkte sie nichts Verdächtiges.<br />
Das Leuchten der Aurora wurde unterdessen immer stärker.<br />
Die ersten Schleier zitterten und rasten zur Seite, und über<br />
ihnen falteten und entfalteten sich immer neue bizarre Vorhänge,<br />
die von Minute zu Minute größer wurden und intensiver<br />
leuchteten; Bögen und Schlingen wirbelten von Horizont<br />
zu Horizont und schickten ihr gleißendes Licht bis zum Zenit.<br />
Deutlicher denn je hörte Lyra das kosmische Singen und Brausen<br />
gewaltiger, unsichtbarer Kräfte.<br />
»Hexen!« rief die Stimme eines Bären, und Lyra wandte sich<br />
froh und erleichtert um.<br />
Doch eine harte Schnauze stieß sie zurück, und atemlos und<br />
in stummem Entsetzen sah sie, daß an dem Platz, an dem sie<br />
eben noch gestanden hatte, das Ende eines grüngefiederten<br />
Pfeiles aus dem Schnee ragte. Spitze und Schaft versanken im<br />
Schnee.<br />
Unmöglich! dachte sie schwach, aber es stimmte, denn ein<br />
zweiter Pfeil prallte klappernd von Ioreks Rüstung, der über ihr<br />
stand, ab. Das waren nicht Serafina Pekkalas Hexen, sondern<br />
Hexen eines anderen Clans. Ein Dutzend oder mehr kreisten<br />
427
über ihnen, stießen herunter, um ihre Pfeile abzuschießen, und<br />
stiegen wieder auf. Lyra fluchte mit den schlimmsten Wörtern,<br />
die sie kannte.<br />
Iorek Byrnison erteilte rasche Befehle. Die Bären waren ganz<br />
offensichtlich erfahren im Kampf gegen Hexen, denn sie hatten<br />
sich sofort zur Verteidigung formiert, während die Hexen<br />
ebenfalls ohne Verzug zum Angriff übergingen. Sie konnten<br />
nur aus nächster Entfernung genau zielen, und um keine Pfeile<br />
zu verschwenden, stießen sie herunter, schössen am tiefsten<br />
Punkt ihres Abwärtsfluges und stiegen dann sofort wieder hinauf.<br />
Wenn sie allerdings am tiefsten Punkt angelangt und ihre<br />
Hände mit Pfeil und Bogen beschäftigt waren, waren sie verwundbar,<br />
und die Bären schnellten mit ausgestreckten Tatzen<br />
hoch, um sie herunterzuholen. Mehr als eine Hexe stürzte ab<br />
und wurde sofort getötet.<br />
Lyra duckte sich neben einem Felsen, um sich vor den Hexen<br />
zu schützen. Einige schössen auf sie, aber die Pfeile verfehlten<br />
ihr Ziel weit; und als Lyra wieder aufblickte, sah sie, daß der<br />
größte Teil des Hexenschwarmes kehrtmachte und zurückflog.<br />
Lyra war erleichtert, allerdings nur kurz. Aus der Richtung,<br />
in die die Hexen flogen, sah sie zahlreiche neue kommen, die<br />
sich ihnen anschlössen. In ihrer Mitte schwebte eine Reihe heller<br />
Lichter, und über der weiten, von der Aurora überstrahlten<br />
Ebene von Svalbard hörte Lyra ein Geräusch, das sie kannte und<br />
fürchtete: das harte Klopfen eines Gasmotors. Dort näherte sich<br />
der Zeppelin mit Mrs. Coulter und ihren Soldaten an Bord.<br />
Iorek knurrte einen Befehl, und die Bären formierten sich<br />
sofort neu. Im gespenstisch flackernden Licht des Himmels sah<br />
Lyra, wie sie eilig den Feuerwerfer vom Schlitten luden. Die<br />
Vorhut des neuen Hexenschwarmes hatte die Bären jetzt auch<br />
entdeckt, und die Hexen stießen herunter und überschütteten<br />
sie mit einem Pfeilhagel. Die Bären vertrauten aber ihren<br />
Rüstungen und fuhren unbeeindruckt fort, den Feuerwerfer<br />
428
mit seinem langen, schräg zum Himmel aufragenden Arm, der<br />
Schale oder Schüssel mit einem Durchmesser von einem Meter<br />
und dem großen eisernen Behälter, aus dem es rauchte und<br />
dampfte, aufzubauen.<br />
Lyra sah, wie aus dem eisernen Behälter eine Stichflamme<br />
herausschlug, und dann trat die Mannschaft der Bären auch<br />
schon mit geübten Handgriffen in Aktion. Zwei holten den<br />
langen Arm des Feuerwerfers nieder, ein anderer schaufelte das<br />
Feuer auf die Schale, und auf Kommando ließen sie den Arm<br />
hochschnellen, und der schleuderte den brennenden Schwefel<br />
hoch in den dunklen Himmel hinauf.<br />
Die Hexen flogen so dicht gedrängt über ihnen, daß schon<br />
beim ersten Schuß drei in Flammen aufgingen. Lyra merkte<br />
allerdings bald, daß das eigentliche Ziel der Bären der Zeppelin<br />
war. <strong>Der</strong> Pilot hatte entweder noch nie einen Feuerwerfer gesehen,<br />
oder er unterschätzte dessen Wirkung. Jedenfalls flog er<br />
weiter geradeaus auf die Bären zu, ohne aufzusteigen oder<br />
einen Millimeter vom Kurs abzuweichen.<br />
Bald wurde klar, daß auch die Besatzung des Zeppelins über<br />
eine wirkungsvolle Waffe verfügte, ein auf die Nase der Gondel<br />
montiertes Maschinengewehr. Lyra sah, wie Funken von den<br />
Rüstungen einiger Bären stoben und wie die Bären sich duckten,<br />
noch bevor sie das Rattern des Gewehrs hörte. Sie schrie vor<br />
Angst auf.<br />
»Den Bären passiert nichts«, sagte Iorek Byrnison. »Durch so<br />
einen Panzer kommt man mit kleinen Kugeln nicht durch.«<br />
Sie setzten wieder den Feuerwerfer ein. Diesmal flog der<br />
grell aufleuchtende Schwefel senkrecht nach oben auf die Gondel<br />
zu und zerbarst dort in einer Kaskade brennender Teilchen,<br />
die nach allen Seiten flogen. <strong>Der</strong> Zeppelin legte sich nach links<br />
und entfernte sich dröhnend in einem großen Bogen. Dann<br />
kam er wieder auf die Bären zu, die den Feuerwerfer neu luden,<br />
so schnell sie konnten. Als der Zeppelin näher kam, senkte sich<br />
429
der Arm des Feuerwerfers knarrend. Das Maschinengewehr<br />
hustete und spuckte, zwei Bären fielen um, und Iorek Byrnison<br />
knurrte leise etwas. Als das Luftschiff fast genau senkrecht über<br />
ihnen stand, brüllte ein Bär einen Befehl, und von einer Feder<br />
getrieben schnellte der Arm des Feuerwerfers wieder nach<br />
oben.<br />
Diesmal schleuderte er den Schwefel gegen die gasgefüllte<br />
Hülle des Zeppelins. Über einen festen Rahmen war eine Haut<br />
aus geölter Seide gespannt, und diese Haut hielt zwar kleineren<br />
Kratzern stand, nicht aber einer zentnerschweren Ladung glühenden<br />
Gesteins. Die Seide riß von oben bis unten auf, und<br />
Schwefel und Wasserstoff verbanden sich in einem furchtbaren<br />
Flammenmeer.<br />
Schlagartig wurde die Seide durchsichtig, und das Skelett des<br />
Zeppelins hob sich dunkel vor einem Inferno aus Orange, Rot<br />
und Gelb ab. Wie von Geisterhand gehalten, hing es noch einen<br />
Moment in der Luft, dann sank es fast widerwillig und schlug<br />
auf dem Boden auf. Kleine Gestalten, die sich schwarz vor dem<br />
Schnee und dem Feuer abhoben, rannten stolpernd davon, und<br />
die Hexen kamen heruntergeflogen, um sie von den Flammen<br />
wegzuzerren. Eine Minute später war der Zeppelin nur noch<br />
eine Masse aus verbogenem Metall, eingehüllt in eine Rauchglocke,<br />
aus der ab und zu noch Flammen schlugen.<br />
Die Soldaten an Bord und auch die anderen Passagiere —<br />
Lyra war zwar zu weit weg, um Mrs. Coulter erkennen zu können,<br />
aber sie wußte, daß sie da war — verloren keine Zeit. Mit<br />
Hilfe der Hexen zogen sie das Maschinengewehr aus dem<br />
schwelenden Haufen, stellten es auf und setzten den Kampf am<br />
Boden fort.<br />
»Wir müssen weiter«, sagte Iorek. »Die werden noch lange<br />
aushaken.«<br />
Er brüllte etwas, und eine Gruppe Bären trennte sich von der<br />
Hauptmacht und griff die Tataren auf der rechten Flanke an.<br />
430
Lyra spürte, wie gern Iorek sich mit ihnen ins Getümmel<br />
gestürzt hätte, aber in ihr schrie es unablässig: Weiter! Weiter!,<br />
und sie hatte die ganze Zeit Bilder von Roger und Lord Asriel<br />
vor Augen. Iorek Byrnison wußte das. Er wandte sich vom<br />
Kampf ab und dem vor ihnen liegenden Berg zu und überließ<br />
es seinen Bären, die Tataren aufzuhalten.<br />
Sie kletterten weiter. Lyra spähte angestrengt voraus, aber<br />
nicht einmal Pantalaimons Eulenaugen konnten an der Flanke<br />
des Berges, den sie emporstiegen, eine Bewegung ausmachen.<br />
Jedoch waren Lord Asriels Schlittenspuren deutlich zu sehen,<br />
und Iorek folgte ihnen im Eiltempo. Mit federnden Sprüngen<br />
setzte er durch den Schnee und wirbelte ihn hoch auf. Was jetzt<br />
hinter ihnen geschah, ging sie nichts mehr an. Lyra hatte es<br />
zurückgelassen. Sie hatte das Gefühl, die Welt überhaupt zu<br />
verlassen, so konzentriert auf ihre Aufgabe und entfernt von<br />
allem anderen war sie, so hoch stiegen sie hinauf und so seltsam<br />
und gespenstisch war das Licht, das sie umfloß.<br />
»Iorek«, sagte sie, »wirst du Lee Scoresby finden?«<br />
»Lebend oder tot, ich finde ihn.«<br />
»Und wenn du Serafina Pekkala siehst…«<br />
»Ich sage ihr, was du getan hast.«<br />
»Danke, Iorek.«<br />
Ein Zeitlang sprachen sie nicht mehr. Lyra verfiel in eine Art<br />
Trance zwischen Schlafen und Wachen, in einen Wachtraum,<br />
in dem ihr war, als trügen die Bären sie zu einer Stadt in den<br />
Sternen.<br />
Gerade wollte sie Iorek Byrnison den Traum erzählen, als er<br />
seinen Schritt verlangsamte und stehenblieb.<br />
»Die Spuren gehen weiter«, sagte er, »aber ich kann ihnen<br />
nicht folgen.«<br />
Lyra stieg ab und trat neben ihn. Iorek stand am Rand eines<br />
Abgrunds. Es war schwer zu sagen, ob es sich um eine Spalte im<br />
Eis oder im Felsen handelte, und im Grunde war es auch egal.<br />
431
Entscheidend war, daß die Spalte ins bodenlose Dunkel<br />
abstürzte.<br />
Die Spuren von Lord Asriels Schlitten führten bis an den<br />
Rand… und hinüber, über eine Brücke aus zusammengebackenem<br />
Schnee.<br />
<strong>Der</strong> schwere Schlitten hatte der Brücke allerdings deutlich<br />
zugesetzt. Sie hatte am anderen Ende der Kluft einen Riß, und<br />
auf der ihnen zugewandten Seite des Risses hatte sie sich einen<br />
halben Meter gesenkt. Das Gewicht eines Kindes mochte sie<br />
noch tragen, das Gewicht eines Panzerbären sicher nicht mehr.<br />
Lord Asriels Spuren führten jenseits der Brücke hangaufwärts.<br />
Wenn Lyra weiter wollte, mußte sie allein gehen.<br />
Sie sah Iorek Byrnison an.<br />
»Ich muß hinüber«, sagte sie. »Danke für alles, was du getan<br />
hast. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich ihn einhole. Vielleicht<br />
müssen wir ja sowieso alle sterben, ob ich ihn nun einhole<br />
oder nicht. Aber wenn ich zurückkomme, dann bedanke ich<br />
mich noch richtig bei dir, König Iorek Byrnison.«<br />
Sie legte ihm die Hand auf den Kopf, und er ließ es geschehen<br />
und nickte sanft.<br />
»Leb wohl, Lyra Listenreich«, sagte er.<br />
Ihr Herz pochte schmerzhaft vor Liebe, als sie sich umdrehte<br />
und den Fuß auf die Brücke setzte. <strong>Der</strong> Schnee knackte unter<br />
ihr, und Pantalaimon flog hinüber und ließ sich am anderen<br />
Ende der Brücke im Schnee nieder, um ihr von dort aus Mut zu<br />
machen. Lyra setzte einen Fuß vor den anderen und überlegte<br />
bei jedem Schritt, ob sie losrennen und hinüberspringen sollte<br />
oder ob sie besser langsam ging und so leicht wie möglich auftrat,<br />
wie sie es jetzt tat. Auf halbem Weg hinüber knackte es<br />
erneut laut. Hinter ihrem Fuß löste sich ein Stück und verschwand<br />
lautlos im Abgrund, und die Brücke sackte wieder<br />
einige Zentimeter ab.<br />
Lyra erstarrte. Pantalaimon saß in Gestalt eines Leoparden<br />
432
geduckt am andere Ende, bereit hinunterzuspringen, um sie<br />
aufzuhalten.<br />
Die Brücke hielt. Lyra machte einen Schritt, dann noch<br />
einen, und dann spürte sie, wie unter ihren Füßen etwas nachgab,<br />
und sprang mit aller Kraft ans andere Ende. Sie landete in<br />
dem Augenblick bäuchlings im Schnee, in dem hinter ihr die<br />
gesamte Brücke mit einem leisen Sausen in die Spalte stürzte.<br />
Pantalaimon hatte seine Krallen in ihren Pelz geschlagen<br />
und hielt sie fest.<br />
Eine Minute später machte sie die Augen auf und entfernte<br />
sich kriechend vom Rand der Spalte. Zurück konnte sie nicht<br />
mehr. Sie stand auf und grüßte den Bären, der sie beobachtete,<br />
mit erhobener Hand. Iorek Byrnison richtete sich auf die Hinterbeine<br />
auf und grüßte ebenfalls, dann wandte er sich um und<br />
eilte hangabwärts, um seinen Untertanen im Kampf gegen Mrs.<br />
Coulter und die Soldaten aus dem Zeppelin beizustehen.<br />
Lyra war allein.<br />
433
Dreiundzwanzig<br />
Die Brücke zu den Sternen<br />
Sobald Iorek Byrnison außer Sicht war, überkam Lyra eine<br />
ungeheure Erschöpfung. Blind drehte sie sich um und tastete<br />
nach Pantalaimon.<br />
»Ach Pan, lieber Pan, ich kann nicht mehr! Ich habe solche<br />
Angst… und ich bin so müde… der lange Weg und jetzt diese<br />
Todesangst! Ich wünschte, jemand anders wäre an meiner<br />
Stelle, wirklich!«<br />
Ihr Dæmon kuschelte sich in Gestalt einer Katze warm und<br />
tröstlich an ihren Hals.<br />
»Ich weiß einfach nicht mehr, was wir tun sollen«, schluchzte<br />
Lyra. »Es ist zuviel für uns, Pan, wir können doch nicht…«<br />
Sie klammerte sich an ihn und wiegte sich langsam vor und<br />
zurück, ihr heftiges Schluchzen tönte laut über den endlosen<br />
Schnee.<br />
»Und selbst wenn… wenn Mrs. Coulter zuerst zu Roger<br />
käme, würde ihn das auch nicht retten, weil sie ihn wieder nach<br />
Bolvangar oder einen noch schlimmeren Ort bringen würde,<br />
und mich würden sie aus Rache umbringen… Warum tun sie<br />
Kindern so etwas an, Pan? Hassen sie Kinder denn so sehr, daß<br />
sie sie auseinanderreißen wollen? Warum tun sie das bloß?«<br />
Aber Pantalaimon wußte auch keine Antwort darauf, er<br />
konnte sich nur an Lyra drücken. Und ganz allmählich ließ der<br />
434
Sturm der Gefühle nach, und Lyra kam wieder zu sich. Sie war<br />
immer noch Lyra, auch wenn sie fror und Angst hatte.<br />
»Ich wünschte…«, sagte sie und brach ab. Wünschen allein<br />
brachte gar nichts. Ein letzter Schluchzer schüttelte sie, dann<br />
war sie bereit weiterzugehen.<br />
<strong>Der</strong> Mond war untergegangen, und der südliche Himmel<br />
war tiefschwarz, obwohl Milliarden von Sternen an ihm funkelten<br />
wie Diamanten auf Samt. Ihr Licht wurde freilich bei<br />
weitem, ja hundertfach überstrahlt vom Licht der Aurora. Nie<br />
hatte Lyra sie so hell und dramatisch leuchten sehen; mit jedem<br />
Zucken und Zittern tanzten neue wunderbare Lichterscheinungen<br />
über den Himmel, und hinter dem ständig sich verändernden<br />
Lichtschleier war klar und deutlich jene andere Welt,<br />
jene sonnenbeschienene Stadt zu sehen.<br />
Je höher sie kamen, desto weiter breitete sich das öde Land<br />
unter ihnen aus. Im Norden lag das gefrorene Meer, hier und da<br />
zu Bergkämmen aufgeschichtet, wo zwei Eisschollen gegeneinander<br />
geschoben worden waren, sonst aber eine flache, weiße,<br />
endlose Fläche, die bis zum Pol reichte und darüber hinaus,<br />
gestaltlos, ohne Leben, ohne Farbe und unvorstellbar trostlos.<br />
Im Osten und Westen erhoben sich weitere Berge, gewaltig<br />
aufragende, gezackte Gipfel, deren steile Hänge dick mit<br />
Schnee bedeckt waren, den der Wind zu scharfkantigen, klingenähnlichen<br />
Gebilden verweht hatte. Aus dem Süden waren<br />
sie gekommen, und Lyra blickte sehnsüchtig zurück, ob sie<br />
irgendwo ihren lieben Freund Iorek Byrnison und seine<br />
Kampfgenossen erspähen konnte, doch nichts bewegte sich auf<br />
der weiten Ebene. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das<br />
ausgebrannte Wrack des Zeppelins sah und den scharlachroten<br />
Schnee um die Leichen der Krieger.<br />
Pantalaimon flog in Gestalt einer Eule hoch hinauf und stieß<br />
schon kurze Zeit später wieder auf ihr Handgelenk herunter.<br />
»Sie sind gleich hinter dem Gipfel dort!« rief er. »Lord Asriel<br />
435
hat seine Instrumente ausgebreitet, und Roger kommt nicht<br />
los…«<br />
Als er das sagte, flackerte das Licht der Aurora, wurde schwächer<br />
wie eine anbarische Birne, deren Ende gekommen ist, und<br />
ging dann aus. Im Dunkel spürte Lyra jedoch die Gegenwart des<br />
Staubes, denn die Luft schien geladen mit finsteren Absichten<br />
gleich den Schemen noch nicht geborener Gedanken.<br />
Inmitten der sie umhüllenden Dunkelheit hörte sie den<br />
Schrei eines Kindes: »Lyra! Lyra!«<br />
»Ich komme!« schrie sie zurück und stolperte, kletterte,<br />
rutschte und kämpfte sich vorwärts. Obwohl am Ende ihrer<br />
Kräfte angelangt, schleppte sie sich unermüdlich weiter und<br />
weiter durch den geisterhaft schimmernden Schnee.<br />
»Lyra! Lyra!«<br />
»Ich bin gleich da«, keuchte sie. »Gleich da, Roger!«<br />
Pantalaimon verwandelte sich aufgeregt in ein Tier nach<br />
dem anderen: Löwe, Hermelin, Adler, Wildkatze, Hase, Salamander,<br />
Eule, Leopard, alle Gestalten, die er je angenommen<br />
hatte, eine Vielfalt von Formen im Angesicht des Staubes…<br />
»Lyra!«<br />
Dann hatte sie den Gipfel erreicht und sah, was auf der anderen<br />
Seite geschah.<br />
Fünfzig Meter vor ihr stand im Sternenlicht Lord Asriel und<br />
drehte zwei Drähte zusammen, die zu seinem Schlitten führten.<br />
<strong>Der</strong> Schlitten war umgedreht, und auf ihm standen eine ganze<br />
Reihe von Batterien, Gefäßen und verschiedenen Instrumenten,<br />
die der Frost bereits mit einer Eisschicht überzogen hatte.<br />
Lord Asriel war in schwere Pelze vermummt, sein Gesicht<br />
wurde vom Schein einer Naphthalampe erleuchtet. Neben ihm<br />
kauerte wie eine Sphinx sein Dæmon, die Schneeleopardin mit<br />
dem schön gefleckten Fell, unter dem sich glänzend die Muskeln<br />
abzeichneten; ihr Schwanz schlug träge auf den Schnee.<br />
Im Maul hielt sie Rogers Dæmon.<br />
436
Das kleine Geschöpf wehrte sich und schlug um sich und<br />
flatterte, jetzt ein Vogel, dann ein Hund, eine Katze, eine Ratte<br />
und wieder ein Vogel, und es rief immer wieder nach Roger, der<br />
sich nur wenige Meter entfernt verzweifelt gegen die unerbittliche<br />
Kraft stemmte, mit der die Schneeleopardin seinen<br />
Dæmon festhielt, und vor Schmerzen und Kälte schrie. Er<br />
schrie den Namen seines Dæmons und den Lyras und rannte zu<br />
Lord Asriel und zerrte ihn am Arm, aber Lord Asriel stieß ihn<br />
zur Seite. Er versuchte es wieder, weinte und schluchzte, bat<br />
und flehte, aber Lord Asriel hörte ihm nicht zu und stieß ihn<br />
nur immer wieder zurück.<br />
Sie standen am Rand einer Klippe. Jenseits war nichts außer<br />
einer grenzenlosen Finsternis. Sie befanden sich tausend Fuß<br />
oder mehr über dem gefrorenen Meer. All das sah Lyra im Licht<br />
der Sterne. Doch dann, als Lord Asriel die Drähte zusammenschloß,<br />
erstrahlte die Aurora plötzlich wieder in hellem Glanz<br />
wie ein Energieblitz, der zwischen zwei Polen hin- und herzuckt,<br />
nur daß er hier tausend Meilen hoch und zehntausend<br />
Meilen lang war, ein fallender und steigender, wellenförmig<br />
sich fortpflanzender glorreicher Katarakt des Lichtes.<br />
Lord Asriel war der Herr des ganzen Spektakels…<br />
Oder er gewann daraus Energie, denn von einer riesigen<br />
Rolle auf dem Schlitten lief ein Draht geradewegs nach oben<br />
zum Himmel. Aus dem Dunkel stieß ein Rabe herunter, den<br />
Lyra als Dæmon einer Hexe erkannte. Eine Hexe half Lord<br />
Asriel, und sie hatte den Draht nach oben getragen.<br />
Die Aurora strahlte wieder.<br />
Lord Asriel war fast bereit.<br />
Er drehte sich zu Roger um und winkte ihn heran, und<br />
Roger gehorchte hilflos; er schüttelte den Kopf, flehte und<br />
weinte, aber er kam hilflos näher.<br />
»Nein! Lauf weg!« schrie Lyra und stürzte den Hang hinunter<br />
auf ihn zu.<br />
437
Pantalaimon sprang die Schneeleopardin an und entriß<br />
Rogers Dæmon ihren Fängen. Blitzschnell setzte die Leopardin<br />
ihm nach, und Pantalaimon ließ Rogers Dæmon los. Die beiden<br />
jungen Dæmonen wechselten die Gestalt und stürzten sich<br />
dann in den Kampf mit dem großen, gefleckten Tier.<br />
Die Leopardin schlug mit ihren nadelscharfen Krallen nach<br />
rechts und links, und ihr wildes Knurren und Fauchen übertönte<br />
sogar Lyras Schreie. Auch die beiden Kinder kämpften<br />
gegen sie oder vielmehr gegen die Gestalten in der trüben Luft,<br />
jene finsteren Absichten, die in Massen mit dem Staub auf sie<br />
herunterströmten.<br />
Und über ihnen wogten die Schleier der Aurora, deren<br />
unstetes Licht im einen Moment ein Gebäude, dann einen See<br />
oder eine Reihe Palmen beschien, so daß man den Eindruck<br />
hatte, man könnte einfach von dieser Welt in jene hinübertreten.<br />
Lyra sprang auf und packte Roger bei der Hand. Sie zog<br />
daran, und sie rissen sich von Lord Asriel los und rannten Hand<br />
in Hand weg, doch Roger schrie und wand sich, denn die Leopardin<br />
hatte seinen Dæmon wieder gepackt, und Lyra kannte<br />
die Folterqualen, die er litt, und versuchte anzuhalten…<br />
Aber sie konnten nicht mehr anhalten.<br />
<strong>Der</strong> Boden unter ihnen hatte sich in Bewegung gesetzt.<br />
Ein ganzes Schneebrett glitt unaufhaltsam nach unten…<br />
Auf das gefrorene Meer zu, tausend Fuß unter ihnen…<br />
»LYRA!«<br />
Ihr Herz raste…<br />
Ihre Hände klammerten sich aneinander…<br />
Und dann — Rogers Körper leblos in ihren Armen; und hoch<br />
über ihnen das größte Wunder.<br />
Die mit Sternen übersäte, weite Himmelskuppel bekam<br />
plötzlich, wie von einem Speer durchbohrt, ein Loch.<br />
Ein Lichtstrahl, ein Strahl reiner Energie, schoß nach oben<br />
438
wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schnellt. Die Ströme farbigen<br />
Lichts der Aurora rissen mit einem knirschenden, mahlenden<br />
Geräusch auseinander, das von einem Ende des Universums<br />
zum anderen zu hören war, und mitten am Himmel<br />
erschien Land…<br />
Sonnenlicht!<br />
Sonnenlicht auf dem Fell eines <strong>goldene</strong>n Affen…<br />
Denn die Bewegung des Schneebretts war zum Stillstand<br />
gekommen, vielleicht hatte ein unsichtbarer Felsvorsprung es<br />
aufgehalten, und Lyra sah, wie über dem zertrampelten Schnee<br />
des Gipfels der <strong>goldene</strong> Affe aus der Luft auf die Seite der Leopardin<br />
sprang und wie die beiden Dämonen sich mit gesträubtem<br />
Fell und gespannten Muskeln mißtrauisch beäugten. <strong>Der</strong><br />
Schwanz des Affen zeigte senkrecht nach oben, der Schwanz<br />
der Leopardin schlug machtvoll hin und her. Dann streckte der<br />
Affe vorsichtig eine Pfote aus, die Leopardin senkte in einer<br />
anmutigen Bewegung den Kopf, sie berührten sich…<br />
Und als Lyra aufsah, stand Mrs. Coulter selbst da, und Lord<br />
Asriel hatte die Arme um sie geschlungen. Licht umspielte die<br />
beiden, ähnlich den Funken und Strahlen einer gewaltigen<br />
anbarischen Energie. Lyra konnte nur ahnen, was geschehen<br />
war: Irgendwie mußte Mrs. Coulter über die Spalte gekommen<br />
und ihr hierher herauf gefolgt sein…<br />
Ihre Eltern, zusammen!<br />
Und in leidenschaftlicher Umarmung, nie hätte Lyra sich das<br />
träumen lassen.<br />
Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Roger lag tot in ihren<br />
Armen, still, friedlich, endlich zur Ruhe gekommen. Sie hörte,<br />
wie ihre Eltern miteinander sprachen.<br />
»Das werden sie nie erlauben«, sagte ihre Mutter.<br />
»Was heißt erlauben?« sagte ihr Vater. »Wir brauchen keine<br />
Erlaubnis, schließlich sind wir keine Kinder mehr. Dank mir<br />
kann jeder, der will, da rüber.«<br />
439
»Aber sie haben es verboten! Sie werden den Weg versperren<br />
und jeden exkommunizieren, der es versucht!«<br />
»Zu viele werden es versuchen, man wird sie nicht daran hindern<br />
können. Es wird das Ende der Kirche sein, Marisa, das<br />
Ende des Magisteriums, das Ende von Jahrhunderten der Dunkelheit!<br />
Sieh das Licht da oben: die Sonne einer anderen Welt!<br />
Spürst du nicht die Wärme auf deiner Haut?«<br />
»Aber sie sind stärker als alle, Asriel! Du weißt nicht…«<br />
»Ich weiß nicht? Ich? Niemand auf der Welt weiß besser als<br />
ich, wie stark die Kirche ist! Aber dafür ist sie nicht stark genug.<br />
Durch den Staub wird sich sowieso alles ändern, und das läßt<br />
sich jetzt nicht mehr aufhalten.«<br />
»Ist es das, was du wolltest? Daß wir alle in Sünde und Finsternis<br />
ersticken und umkommen?«<br />
»Ich will ausbrechen, Marisa! Und das habe ich getan. Sieh<br />
doch, wie die Palmen am Strand sich wiegen! Spürst du den<br />
Wind? Den Wind einer anderen Welt! Fühle ihn in deinen<br />
Haaren, auf deinem Gesicht…«<br />
Lord Asriel schlug Mrs. Coulters Kapuze zurück, drehte ihr<br />
Gesicht dem Wind zu und fuhr ihr mit den Händen durch das<br />
Haar. Lyra sah atemlos zu und wagte nicht, sich zu rühren.<br />
Die Frau klammerte sich an ihn wie betäubt und schüttelte<br />
unglücklich den Kopf. »Nein… nein… sie kommen, Asriel — sie<br />
wissen, wo ich bin…«<br />
»Dann komm mit, weg von hier und dieser Welt!«<br />
»Das wage ich nicht…«<br />
»Du? Du wagst es nicht? Deine Tochter würde mitkommen.<br />
Sie würde alles wagen und ihre Mutter beschämen.«<br />
»Dann nimm doch sie mit, bitte sehr. Sie gehört mehr zu dir<br />
als zu mir.«<br />
»Das ist nicht wahr. Du hast sie aufgenommen, du hast versucht,<br />
sie zu erziehen. Du wolltest sie doch damals.«<br />
»Aber sie war zu ungezogen, zu dickköpfig. Ich habe zu lange<br />
440
gewartet… Wo ist sie eigentlich jetzt? Ich bin ihren Fußstapfen<br />
hier herauf gefolgt…«<br />
»Willst du sie denn immer noch zu dir nehmen? Zweimal<br />
hast du versucht, sie festzuhalten, und zweimal ist sie geflohen.<br />
Ich an ihrer Stelle würde lieber weglaufen, ganz weit weglaufen,<br />
als dir eine dritte Chance geben.«<br />
Seine Hände, die immer noch ihren Kopf hielten, griffen<br />
plötzlich zu, und er zog Mrs. Coulter an sich und küßte sie leidenschaftlich,<br />
ein Kuß mehr der Grausamkeit als der Liebe, wie<br />
es Lyra schien. Als ihr Blick auf die Dæmonen der beiden fiel,<br />
bot sich ihr ein seltsamer Anblick: Die Leopardin kauerte<br />
geduckt da, die Krallen im Fleisch des <strong>goldene</strong>n Affen, und der<br />
Affe lag selig und halb ohnmächtig im Schnee.<br />
Dann stieß Mrs. Coulter Lord Asriel heftig zurück und sagte:<br />
»Nein, Asriel — mein Platz ist in dieser Welt, nicht dort drüben…«<br />
»Komm mit!« drängte er sie. »Komm mit und arbeite mit<br />
mir!«<br />
»Wir können nicht zusammenarbeiten, du und ich.«<br />
»Nein? Wir zwei, wir könnten das ganze Universum auseinandernehmen<br />
und wieder zusammensetzen, Marisa! Wir<br />
könnten die Quelle des Staubes finden und sie für immer<br />
zuschütten! Und wie gern wärst du bei dieser großartigen Aufgabe<br />
dabei, das weiß ich doch genau. Du kannst mir alles vorlügen,<br />
über die Oblations-Behörde, über deine Liebhaber — ja,<br />
ich weiß das mit Boreal, und es ist mir egal —, über die Kirche<br />
und sogar über das Kind, aber nicht über deine wirklichen<br />
Wünsche…«<br />
Und wieder preßten sie, getrieben von einer unersättlichen<br />
Gier, ihre Münder aufeinander. Ihre Dæmonen liebkosten sich<br />
heftig; die Schneeleopardin rollte sich auf den Rücken, der Affe<br />
fuhr mit seinen Krallen durch das weiche Fell an ihrem Hals,<br />
und sie knurrte ganz tief vor Wohlbehagen.<br />
441
»Wenn ich nicht mitkomme, wirst du versuchen, mich zu<br />
vernichten«, sagte Mrs. Coulter und riß sich los.<br />
»Warum sollte ich?« rief er lachend, und das Licht der anderen<br />
Welt umfloß seinen Kopf. »Komm mit, arbeite mit mir,<br />
und dein Leben wird mir wichtig sein. Bleibe hier, und du bist<br />
mir völlig egal. Bilde dir nicht ein, ich würde dann noch einen<br />
Gedanken an dich verschwenden. Also bleibe und spinne deine<br />
Intrigen in dieser Welt, oder komm mit!«<br />
Mrs. Coulter zögerte; ihre Augen gingen zu, und sie wankte,<br />
als ob sie ohnmächtig würde. Doch sie hielt sich aufrecht und<br />
öffnete die Augen wieder. In ihnen lag eine unendlich schöne<br />
Traurigkeit.<br />
»Nein«, sagte sie, »nein.«<br />
Ihre Dæmonen hatten sich wieder getrennt. Lord Asriel<br />
beugte sich nach unten und drehte seine starken Finger in das<br />
Leopardenfell. Dann wandte er sich um und ging ohne ein weiteres<br />
Wort hinauf und verschwand. <strong>Der</strong> <strong>goldene</strong> Affe sprang in<br />
Mrs. Coulters Arme, gab unglückliche Laute von sich und sah<br />
der Schneeleopardin mit sehnsüchtig ausgestreckten Armen<br />
nach, Mrs. Coulters Gesicht war eine Maske aus Tränen. Lyra<br />
sah sie glänzen, sie waren echt. Dann wandte auch ihre Mutter<br />
sich um, geschüttelt von stummem Schluchzen, ging den Berg<br />
hinunter und verschwand.<br />
Lyra sah ihr unbeteiligt nach, dann blickte sie zum Himmel<br />
auf.<br />
Leer und still hing die Stadt über ihr, wie neu gebaut, als<br />
warte sie noch auf ihre Bewohner oder als schlafe sie und warte<br />
darauf, aufgeweckt zu werden. Die Sonne der anderen Welt<br />
schien in diese Welt herüber; sie vergoldete Lyras Hände,<br />
schmolz das Eis auf Rogers Kapuze aus Wolfspelz, machte seine<br />
bleichen Wangen durchsichtig und schimmerte in seinen offenen,<br />
blicklosen Augen.<br />
<strong>Der</strong> Kummer zerriß Lyra fast, vermischt mit Wut. Sie hätte<br />
442
ihren Vater umbringen können; wenn sie ihm das Herz hätte<br />
herausreißen können, hätte sie es auf der Stelle getan, für das,<br />
was er Roger angetan hatte und ihr selbst: Er hatte sie hintergangen<br />
— wie konnte er es wagen?<br />
Sie hielt immer noch Rogers Leiche. Pantalaimon sagte<br />
etwas, aber in Lyras Kopf herrschte ein solcher Tumult, daß sie<br />
ihn erst hörte, als er seine Katzenkrallen in ihren Handrücken<br />
drückte. Sie fuhr auf.<br />
»Was? Was?«<br />
»Staub!« sagte er.<br />
»Wovon redest du?«<br />
»Vom Staub. Er sucht die Quelle des Staubes, um sie zu zerstören,<br />
oder?«<br />
»Das hat er gesagt.«<br />
»Und die Oblations-Behörde, die Kirche, Bolvangar und<br />
Mrs. Coulter und alle anderen wollen sie auch zerstören, ja?«<br />
»Ja… oder verhindern, daß er weiter auf die Menschen einwirkt…<br />
Warum?«<br />
»Wenn sie alle glauben, daß Staub etwas Schlechtes ist, muß<br />
er etwas Gutes sein.«<br />
Lyra sagte nichts, aber irgendwo tief in ihr erwachte etwas.<br />
»Wir haben sie von Staub sprechen hören«, fuhr Pantalaimon<br />
fort, »und daß sie solche Angst davor haben, und weißt du<br />
was? Wir haben ihnen geglaubt, obwohl wir doch erlebt haben,<br />
daß sie nur schlechte und böse Dinge taten… Wir hielten Staub<br />
für etwas Schlechtes, weil die Erwachsenen das sagten. Wenn er<br />
nun gar nichts Schlechtes ist? Was ist, wenn er…«<br />
»Ja«, rief Lyra atemlos. »Was ist, wenn er gut ist…«<br />
Sie sah Pantalaimon an, und in seinen grünen Wildkatzenaugen<br />
spiegelte sich ihre eigene Erregung. Ihr war schwindlig,<br />
als drehe sich die Welt unter ihr.<br />
Wenn Staub gut war… etwas Erstrebenswertes, Willkommenes,<br />
Segensreiches…«<br />
443
»Wir könnten uns auch auf die Suche machen, Pan!« sagte<br />
sie.<br />
Das hatte er hören wollen.<br />
»Vielleicht finden wir ihn vor Lord Asriel«, sagte er, »und…«<br />
Sie schwiegen beide angesichts dieser gigantischen Aufgabe.<br />
Lyra sah zum lodernden Himmel auf. Wie klein sie war, sie und<br />
ihr Dæmon, verglichen mit der erhabenen Größe des Universums,<br />
und wie wenig sie wußten, verglichen mit den tiefen<br />
Geheimnissen da oben.<br />
»Wir könnten es schaffen«, beharrte Pantalaimon. »Wir sind<br />
doch auch den ganzen Weg hierher gekommen. Wir könnten<br />
es schaffen.«<br />
»Aber wir wären allein. Iorek Byrnison könnte uns nicht<br />
begleiten und uns helfen. Auch Farder Coram nicht oder Serafina<br />
Pekkala oder Lee Scoresby oder sonst jemand.«<br />
»Dann ist das eben so. Ist doch egal. Außerdem sind wir doch<br />
nicht allein, jedenfalls nicht wie…«<br />
Sie wußte, was er meinte: nicht wie Tony Makarios, nicht wie<br />
diese unglückseligen, verlorenen Dæmonen in Bolvangar; wir<br />
sind<br />
immer noch ein Wesen, wir zwei sind eins.<br />
»Und wir haben das Alethiometer«, sagte sie. »Ja, ich denke,<br />
wir müssen es tun, Pan. Wir gehen da rauf und suchen nach<br />
dem Staub, und wenn wir ihn gefunden haben, werden wir wissen,<br />
was wir tun sollen.«<br />
Rogers Leiche lag immer noch in ihren Armen. Sanft bettete<br />
sie ihn auf den Boden.<br />
»Und das tun wir dann«, sagte sie.<br />
Sie wandte sich um. Hinter ihnen lagen Schmerzen, Tod und<br />
Angst, vor ihnen Zweifel, Gefahren und unergründliche<br />
Geheimnisse. Aber sie waren nicht allein.<br />
Lyra und ihr Dæmon kehrten der Welt, in der sie geboren<br />
worden waren, den Rücken, wandten sich der Sonne zu und<br />
gingen mitten in den Himmel hinein.<br />
444
Ende<br />
des<br />
ersten<br />
Buches
Inhalt<br />
I<br />
Oxford<br />
Eins<br />
Die Karaffe 9<br />
Zwei<br />
<strong>Der</strong> Norden 25<br />
Drei<br />
Lyras Jordan 42<br />
Vier<br />
Das Alethiometer 78<br />
Fünf<br />
Die Cocktailparty 94<br />
Sechs<br />
Im Netz 112<br />
Sieben<br />
John Faa 126<br />
Acht<br />
Enttäuschung 148<br />
Neun<br />
Die Spione 161<br />
II<br />
Bolvangar<br />
Zehn<br />
<strong>Der</strong> Konsul und der Bär 185<br />
Elf<br />
Die Rüstung 206
Zwölf<br />
<strong>Der</strong> verlorene Junge 230<br />
Dreizehn<br />
<strong>Der</strong> Fechtkampf 242<br />
Vierzehn<br />
Dei Lichter von Bolvangar 261<br />
Fünfzehn<br />
Die Dæmonenkäfige 280<br />
Sechzehn<br />
Die silberne Guillotine 299<br />
Siebzehn<br />
Die Hexen 315<br />
III<br />
Svalbard<br />
Achtzehn<br />
Nebel und Eis 345<br />
Neunzehn<br />
Gefangen 364<br />
Zwanzig<br />
Auf Messers Schneide 384<br />
Einundzwanzig<br />
Lord Asriels Willkommen 403<br />
Zweiundzwanzig<br />
Verrat 423<br />
Dreiundzwanzig<br />
Die Brücke zu den Sternen 434
Ebenfalls bei CARLSEN:<br />
Leonardo Wild<br />
Unemotion<br />
Aus dem Englischen<br />
von Harald Tondern<br />
216 Seiten<br />
Gebunden<br />
ISBN 3-551-58004-9<br />
In der Welt dieses Romans muß die vielzitierte<br />
»Emotionale Intelligenz« nicht mehr entdeckt werden:<br />
Man weiß längst um die Macht der Gefühle<br />
und versucht sie zu manipulieren.<br />
Sieht so unsere Zukunft aus?<br />
CARLSEN