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Die Sehnsucht nach dem Neuanfang

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■2 TiTel<br />

Vorher: Vertriebsmanager<br />

Nachher: Weinhändler<br />

Fast 20 Jahre lang arbeitete Guido Keller bei Daimler.<br />

Dann wollte der Autokonzern Personal abbauen und<br />

stellte Keller vor die Wahl: Abfindung oder Altersteilzeit.<br />

Weinliebhaber und Genussmensch Keller nahm das<br />

Geld und gründete seinen eigenen Weinladen in<br />

Stuttgart-Degerloch. „Es war riskant, aber es war die<br />

beste Entscheidung meines Lebens“, sagt der 56-Jährige<br />

heute. „Wein und Kultur“ lautet sein Geschäftsmodell:<br />

Mal lädt Keller zu Lieder- und Gedichtabenden, mal zu<br />

Weinproben oder After-Work-Partys.<br />

Immer abends kamen die Tränen. Milla<br />

Stroh fuhr mit <strong>dem</strong> Zug <strong>nach</strong> Hause.<br />

Draußen war es längst dunkel; das Abteil<br />

beinahe menschenleer. Wie so oft hatte<br />

sie gerade einen elfstündigen Arbeitstag<br />

hinter sich, hatte endlose Zahlenkolonnen<br />

aneinandergereiht und mal eben schnell<br />

eine Präsentation fertiggestellt. Sie hatte<br />

sich beherrscht, als sich ihr Chef alle fünf<br />

Minuten <strong>nach</strong> „<strong>dem</strong> Stand der Dinge“ erkundigte<br />

und sie ihm am liebsten entgegengeschleudert<br />

hätte: „Mensch, lass mich<br />

doch einfach mal in Ruhe arbeiten.“ Und<br />

mal wieder hatte sie, als am Ende des Tages<br />

alles gut gelaufen war, kein einziges Wort<br />

des Lobes gehört.<br />

„Im Zug war es dann vorbei mit der Beherrschung.<br />

Ich konnte nur noch heulen –<br />

vor Frust, vor Enttäuschung, vor Stress“,<br />

erzählt die 33-Jährige über ihre Zeit als<br />

Controllerin bei der Allianz-Versicherung<br />

in Stuttgart: „Ich war todunglücklich. Aber<br />

alle um mich herum haben gesagt, du hast<br />

doch einen tollen Job, bei einer großen<br />

Firma mit einem guten Namen. Du hast<br />

eine sichere Perspektive. Also habe ich den<br />

Fehler bei mir gesucht. Willst du zu viel<br />

vom Leben? Bist du vielleicht zu anspruchsvoll?“<br />

Dreieinhalb Jahre führte sie<br />

den Kampf mit sich selbst. Im Sommer<br />

2008 siegte der Mut über die Verzweiflung.<br />

Milla Stroh kündigte bei der Allianz.<br />

NOcH mal VON VOrN aNfaNGeN.<br />

Alles auf null stellen. Irgendwann kommt<br />

fast jeder einmal an den Punkt, an <strong>dem</strong> er<br />

sich fragt: „Was ist eigentlich aus meinen<br />

Träumen geworden? Soll es das jetzt schon<br />

gewesen sein?“ Spätestens an Silvester,<br />

wenn die Sektkorken knallen, fängt das<br />

Grübeln an: „Was wäre, wenn ich alles<br />

hinschmeiße? Mein Leben noch mal<br />

umkrempel?“ Nichts erscheint in einem<br />

solchen Moment so verheißungsvoll wie<br />

ein <strong>Neuanfang</strong>, und kaum etwas macht<br />

gleichzeitig so viel Angst wie dieser Sprung<br />

ins Ungewisse.<br />

Milla Stroh träumte von der Welt der<br />

Mode, von silbernen Pumps und glitzernden<br />

Tops, von Moskau und Paris, von<br />

Gucci und Prada, nicht von Policen und<br />

Krediten, von grauen Anzügen, Excel-Tabellen<br />

und Power-Point-Präsentationen.<br />

Doch Jobangebote bekam die Stuttgarte-<br />

rin, die vier Sprachen fließend spricht und<br />

schon während ihres MBA-Studiums ein<br />

Faible für Marketing und Konsum entwickelte,<br />

nur wieder als Zahlendreherin.<br />

Im Herbst 2008 hatte Milla Stroh gut 50<br />

Bewerbungen geschrieben. <strong>Die</strong> sechs Wochen<br />

Kündigungsfrist neigten sich <strong>dem</strong><br />

Ende, aber noch immer war kein Job in der<br />

Modebranche in Sicht. <strong>Die</strong> Lage wurde<br />

brenzlig. Also setzte sich Milla Stroh kurzerhand<br />

in den Flieger <strong>nach</strong> Moskau. Ihr<br />

Ziel: die internationale Mo<strong>dem</strong>esse CPM.<br />

„Am Anfang kostete es eine wahnsinnige<br />

Überwindung, die Leute einfach so anzusprechen.<br />

Um manche Stände bin ich<br />

dreimal herumgelaufen, bevor ich mich<br />

getraut habe.“ Viele der Messehostessen<br />

wollten die junge Frau erst mal abwimmeln.<br />

Milla Stroh kämpfte sich zu den Verantwortlichen<br />

durch. Mit Erfolg. Ihr<br />

Charme und ihr professionelles Auftreten<br />

überzeugten die Geschäftsführerin der<br />

Textilfirma Steilmann. Seit 1. Januar baut<br />

sie für den Konzern das Russlandgeschäft<br />

für die Premiummarken auf.<br />

Neue Arbeit – neues Glück. Rund acht<br />

Millionen Menschen fangen in Deutschland<br />

pro Jahr einen neuen Job an. <strong>Die</strong><br />

meisten wechseln schlicht den Arbeitgeber,<br />

manche kämpfen sich aus der Arbeitslosigkeit<br />

heraus, und ein paar gründen ihre<br />

eigene Firma. Der ¬ hat Menschen<br />

getroffen, die den Sprung gewagt haben.<br />

Da wird aus <strong>dem</strong> Diakon ein Bergführer,<br />

aus der Headhunterin eine Totengräberin<br />

oder aus <strong>dem</strong> Chirurgen ein Trucker.<br />

<strong>Die</strong> Kündigung, ein ständig nörgelnder<br />

Chef, eine Depression – oft sind Krisen<br />

Auslöser für Veränderungen. Situationen,<br />

die einen innehalten lassen, die einen zwingen,<br />

das eigene Leben noch mal zu überdenken.<br />

<strong>Die</strong> berühmten „jetzt oder nie“-<br />

Momente, die zeigen, dass die Chance gekommen<br />

ist, das Leben anders anzugehen.<br />

Gerade in Zeiten wie diesen, in denen<br />

Unternehmen wie Nokia über Nacht ganze<br />

Werke in Billiglohnländer verlagern, wo ➔<br />

Vorher: controllerin<br />

Nachher: mo<strong>dem</strong>anagerin<br />

Milla Stroh kündigte im Sommer 2008 ihre Stelle<br />

als Controllerin bei der Allianz, ohne einen neuen<br />

Job zu haben. „Angst kann einen auch beflügeln“,<br />

sagt die 33-Jährige. Seit <strong>dem</strong> 1. Januar baut sie für<br />

den Modekonzern Steilmann das Premiummarken-<br />

Geschäft in Russland auf. „In Deutschland gibt<br />

es so viel Sicherheit. Wir sind es gar nicht mehr<br />

gewohnt, mit <strong>dem</strong> Risiko umzugehen.“<br />

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