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Referat von Theo Schaad, ehemaliger Geschäftsführer des SEK

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Die Kirche vor den Herausforderungen<br />

gesellschaftlicher Megatrends<br />

Ein Gesprächsbeitrag zur Positionierung<br />

der Evangelisch-methodistischen Kirche in der Gesellschaft


- 2 -<br />

© <strong>Theo</strong> <strong>Schaad</strong>, Lilienweg 70, 3098 Köniz, Tel. 031 971 88 00, Mail: theo.schaad@bluewin.ch


- 3 -<br />

1. Die Studie „Die Zukunft der Reformierten“<br />

Im Jahr 2010 erschien die Studie „Die Zukunft der Reformierten“ 1 , verfasst vom Lausanner<br />

Religionssoziologen Prof. Dr. Jörg Stolz und seiner Assistentin Edmée Ballif. Sie geht auf<br />

einen Auftrag <strong>des</strong> Schweizerischen Evangelischen Kirchenbun<strong>des</strong> <strong>SEK</strong> an das Observatoire<br />

<strong>des</strong> Religions en Suisse der Universität Lausanne zurück. Der Rat <strong>SEK</strong> suchte im Zuge der<br />

geplanten Verfassungsrevision nach Grundlagen für die zukünftigen Herausforderungen an<br />

die Kirchen. Die Studie stellt in einem ersten Teil acht so genannte Megatrends in der Gesellschaft<br />

vor, welche für die Arbeit der Kirchen relevant sind und erwägt deren Auswirkungen.<br />

In einem zweiten Teil referiert sie die bisher <strong>von</strong> den reformierten Kirchen unternommenen<br />

Studien und Bemühungen um die Bewältigung der Zukunft. Die Studie befasst sich weitgehend<br />

mit dem Typus der Volkskirche, auch wenn sie einen kurzen Abschnitt über die EMK<br />

enthält. Es lohnt sich, zuerst einen kurzen Blick auf die beiden Typen „Volkskirchen“ und<br />

„Freikirchen“ zu werfen.<br />

1.1 Die Volks- und Lan<strong>des</strong>kirchen<br />

Unter reformierten Volkskirchen sind einerseits diejenigen Kirchen zu verstehen, die aus der<br />

Reformation hervorgegangen sind und an den jeweiligen Orten die römisch-katholische Kirche<br />

abgelöst hatten. Sie kennen die Tradition, dass die Christengemeinde der Bürgergemeinde<br />

entspricht und haben im Zuge <strong>des</strong> Westfälischen Friedens (1648) <strong>des</strong> „cuius regio<br />

eius religio“ (wessen Gebiet, <strong>des</strong>sen Religion) bis in die napoleonische Zeit hinein weitergeführt.<br />

Andrerseits verstehen sich auch diejenigen Kirchen als Volkskirchen, die in den Gebieten,<br />

die die Reformation nicht angenommen hatten, im Laufe der Zeit durch Migration entstanden<br />

sind (vor allem in der Zentral- und Südschweiz). Sie haben z.T. erst gegen Ende <strong>des</strong> 20.<br />

Jahrhunderts den Status <strong>von</strong> öffentlich-rechtlichen Körperschaften erhalten.<br />

Diese Volks- und Lan<strong>des</strong>kirchen sehen sich bis heute als Teil der Gesellschaft. Ihre Aufgabe<br />

ist das Verweben <strong>von</strong> biblischer Botschaft und Zivilgesellschaft und die spirituelle Begleitung<br />

all derer ist, die sich als reformiert verstehen. Sie gehen da<strong>von</strong> aus, dass die Mitgliedschaft<br />

in der Kirche das traditionell normale und nicht an ein Bekenntnis gebunden ist. Sie gewähren<br />

dem Individuum den Raum, den es beansprucht. Sichtbar sind sie in der Gemeinschaft<br />

der Kerngemeinde, die zusammen Gottesdienste feiert, sich zu gemeinschaftlichen und kulturellen<br />

Anlässen trifft und diakonisch engagiert.<br />

1.2 Die Freikirchen<br />

Der Unterschied zwischen den Volks- und Freikirchen liegt weitgehend darin, dass diese nie<br />

mit dem Staat verbunden waren und nicht an ein bestimmtes Gebiet gebunden sind. Sie definieren<br />

sich über den Inhalt der <strong>von</strong> ihnen verkündigten biblischen Botschaft. Die Evangelisch-methodistische<br />

Kirche stützt sich dabei sowohl auf die altkirchlichen Bekenntnisse als<br />

auch auf die in der Kirchenverfassung genannten Grundlagentexte. Wer Mitglied der EMK<br />

wird, bekennt sich zu Jesus Christus als seinem Herrn und Heiland, der Offenbarung Gottes<br />

allein in der Heiligen Schrift und dem Willen, das Leben „entsprechend der verliehenen Gnade“<br />

zu gestalten. Sichtbar wird auch sie im Feiern der Gottesdienste, in gemeinschaftlichen<br />

Anlässen und im diakonischen Dienst.<br />

_____________________<br />

1 J. Stolz/E. Ballif, Die Zukunft der Reformierten, <strong>Theo</strong>logischer Verlag Zürich, 2010


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Unter den Freikirchen in der Schweiz nimmt die EMK insofern eine Sonderstellung ein als sie<br />

Teil einer weltumspannenden evangelischen Kirche und grössenmässig den reformierten<br />

Kirchen durchaus ebenbürtig ist. Der Weltbund der methodistischen Kirchen zählt etwa<br />

gleich viele Mitglieder wie die World Communion of Reformed Churches.<br />

2. Die acht gesellschaftlichen Megatrends und ihre Chancen für die EMK<br />

Die EMK hat in den über 40 Jahren seit der Vereinigung der Methodistenkirche mit der<br />

Evangelischen Gemeinschaft im Jahre 1969 rund 60% ihrer Mitglieder verloren. Sie macht<br />

sich heute ernsthaft Gedanken über ihre Zukunft. Es bietet sich darum an, die Situation der<br />

EMK an den Ergebnissen der Studie „Die Zukunft der Reformierten“, besonders an den acht<br />

gesellschaftlichen Trends zu messen.<br />

2.1 Entflechtung gesellschaftlicher Teilsysteme <strong>von</strong> Religion<br />

Die Studie schreibt, „dass die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche wie Recht, Politik,<br />

Bildung, Gesundheit, Erziehung, Wissenschaft, und eben auch Religion immer weiter<br />

‚auseinander treten’ und immer mehr nach eigenen Gesetzen ablaufen.“ (Stolz, S. 28). Im<br />

Besonderen weist die Studie hin auf die Entflechtung <strong>von</strong> Kirche und Staat, Kirche und Erziehungssystem,<br />

Kirche und Teilsystemen im Marktbereich. Der heutige Trend erscheint als Abschluss<br />

einer Bewegung, die sich mit dem ausgehenden Mittelalter angebahnt hatte. Die<br />

Zeit, in der das menschliche und gesellschaftliche Leben als grosse Einheit, durchdringen<br />

<strong>von</strong> der <strong>Theo</strong>logie und überwacht durch die Kirche verstanden wurde, ist endgültig vorbei.<br />

Eigentlich sind diese Entflechtungen im System der Freikirche bereits angelegt. Mit dem<br />

Staat hat sie ein ausgesprochenes „Nicht-Verhältnis“. Sie muss sich wie jede andere ideelle<br />

Gruppierung im Vereinsrecht organisieren. Die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme wie<br />

Recht, Politik, Bildung, Gesundheit, Erziehung wurden immer als ein Gegenüber verstanden.<br />

In der Verkündigung wurde wenig darauf Bezug genommen. Sie wurden höchstens als Instrumente<br />

für die Verkündigung <strong>des</strong> Evangeliums in Wort und Tat genutzt. Die EMK betrieb<br />

in der Schweiz im letzten Jahrhundert zahlreiche kirchliche Einrichtungen im Bereich der Beherbergung<br />

(Hotels), <strong>des</strong> Buchdrucks und Verlagswesens, der Bildung<br />

(Haushaltungsschule), <strong>des</strong> Sozialen (Kinderheim) und im Gesundheitswesen (Diakonissenhäuser<br />

mit angeschlossenen Spitalbetrieben). Fast alle diese Verbindungen wurden in den<br />

letzten Jahren aufgelöst. Sie wurden als nicht mehr ihrem Zweck entsprechend verstanden.<br />

Die Entflechtungen, wie sie die Studie schildert, erscheint zunächst als ein Verlust für die Kirchen,<br />

vor allem die Volks- und Lan<strong>des</strong>kirchen. Ihr Einfluss auf diese Gebiete ist verschwunden.<br />

Sie eröffnen ihnen aber auch eine ausgesprochene Chance. Die Studie schreibt: „Wissenschaftler<br />

suchen dann vor allem innerwissenschaftliche Anerkennung (Reputation), Politiker<br />

Wahlerfolge, Journalisten Ereignisse mit Neuheits- und Skandalwert usw., wobei sie gegenüber<br />

den Kriterien und Zielen <strong>von</strong> Akteuren anderer Teilsysteme (relativ) gleichgültig werden“<br />

(Stolz, S. 29). Dies gibt der christlichen Botschaft eine ganz neue Freiheit. Die früheren<br />

inhaltlichen Konkurrenten der Kirchen, die Philosophie und die Naturwissenschaften, haben<br />

sich weitgehend aus der Auseinandersetzung mit der Kirche herausgelöst. Die Philosophie<br />

hat sich weit zurückgezogen und die Auseinandersetzung zwischen Naturwissenschaft und<br />

<strong>Theo</strong>logie findet hauptsächlich noch in den Köpfen <strong>von</strong> Lehrern und Journalisten statt, welche<br />

die Kirche als zurückgeblieben zeichnen wollen, ohne den heutigen Stand evangelischer<br />

Schöpfungstheologie zur Kenntnis zu nehmen. Das aktuelle Gespräch zwischen <strong>Theo</strong>logen<br />

und Neurologen zur Frage <strong>des</strong> freien Willens findet auf hohem Niveau statt.<br />

Die Entflechtung der gesellschaftlichen Teilsysteme <strong>von</strong> Religion hat zur Folge, dass die<br />

evangelische Botschaft als das „ganz Andere“ verkündigt werden kann, ohne mit bestehen-


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den Systemen zu kollidieren. Die kirchliche Verkündigung hat damit eine ganz neue Freiheit<br />

gewonnen.<br />

Die Gefahr dieser Situation besteht für die Freikirche allerdings darin, dass sie die anderen<br />

gesellschaftlichen Teilsysteme neben der eigenen Existenz und der zu verkündigenden Botschaft<br />

als sekundär und wenig wichtig erachtet. Wissenschaftsfeindlichkeit droht sich immer<br />

wieder breit zu machen. Im Rahmen ihrer Schöpfungs- und Gnadentheologie hat die EMK<br />

die Leistungen dieser Teilsysteme – sei es der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft<br />

und anderen - zur Kenntnis zu nehmen, zu würdigen und zu untersuchen, wie die befreiende<br />

Botschaft <strong>von</strong> der Gnade Gottes zum Menschen in seiner Systemverhaftung spricht.<br />

2.2 Die Individualisierung<br />

„Individualisierung bedeutet, dass Individuen zunehmend aus traditionellen Sozialstrukturen<br />

entlassen werden. Die Menschen sind nicht mehr über ihre Familien- und Geschlechtszugehörigkeit<br />

zeit ihres Lebens auf eine soziale Schicht, eine Konfession, eine mögliche soziale<br />

Rolle, einen fixen Wohnort festgelegt“ (Stolz, Seite 35).<br />

Diesen Trend bekommt die EMK schmerzlich zu spüren. Die Zahl <strong>von</strong> Jugendlichen, die ihre<br />

Sozialisation weitgehend in der Gemeinde gefunden haben und dabei bleiben, hat dramatisch<br />

abgenommen. Die EMK kann nicht mehr einfach auf die nachfolgenden Generationen<br />

aus den eigenen Reihen zählen, sondern muss Mitglieder immer wieder neu finden.<br />

Es war eine der Stärken <strong>des</strong> Methodismus, dass er den Menschen nicht nur die befreiende<br />

Gnade Gottes gepredigt, sondern ihnen gleichzeitig eine Form <strong>von</strong> Gemeinschaft angeboten<br />

hat, in der sie den Glauben leben, stärken und vertiefen konnten. In der Kleingruppe der<br />

Klasse und in der Gemeinde stellt er eine Sozialstruktur zur Verfügung, in der sich Menschen<br />

verstanden und gehalten fühlten.<br />

Die Studie stellt fest, dass das Angebot <strong>von</strong> solchen Sozialstrukturen im säkularen Bereich<br />

gewachsen ist (siehe 2.5 Aufschwung säkularer Konkurrenten <strong>von</strong> Kirche). Individualisierung<br />

bedeutet, dass ein Verlassen <strong>von</strong> Sozialstrukturen, d.h. <strong>von</strong> Familie, Religionsgemeinschaft,<br />

aber auch politischer Partei oder Interessengruppen wie Vereinen keine Frage der Treue im<br />

ethischen Sinn mehr ist.<br />

Individualisierung bedeutet Vereinzelung. Gerade die Freikirchen haben Menschen angesprochen,<br />

die aus irgendeinem Grund aus ihrer religiösen und wertebestimmten Sozialstruktur<br />

herausgelöst waren. Bischof F. Schäfer nannte sie in einer Ordinationspredigt einmal „die<br />

Unbehausten“. Es sind Menschen, die ungeachtet ihrer Geschichte und Herkunft nach Antworten<br />

auf Lebensfragen und Halt in Religion suchen und ihre Spiritualität leben möchten.<br />

Diese Gruppe <strong>von</strong> Menschen nimmt im Zuge der Individualisierung rasant zu. Die Einladung<br />

in die Nachfolge Jesu gib ihnen Richtung und Ziel zur Lebensgestaltung, sei es als vereinzelter<br />

Mensch oder als Gemeinschaft suchen<strong>des</strong> Individuum.<br />

Der Trend zur Vereinzelung stellt aber die Frage nach der Sozialgestalt <strong>von</strong> Kirche. Der „Erfolg“<br />

der Kirche wird in der Regel an der Zahl ihrer Mitglieder gemessen; die Medien gehen<br />

sogar nur <strong>von</strong> der Zahl der Gottesdienstbesuchenden aus. Es wird kaum gefragt, was die<br />

biblische Botschaft inhaltlich den Menschen gebracht hat und bringt. Die Verkündigung <strong>von</strong><br />

Glauben, Liebe und Hoffnung, basierend auf der schöpferischen Kraft Gottes, hat die christliche<br />

Kultur geprägt und tut dies weiterhin. Das erste Ziel der Kirche ist diese Verkündigung,<br />

die den Menschen verändert. Dass daraus auch eine Sozialgestalt wächst, ist zweitrangig.<br />

Die Erfahrung zeigt, dass sich Glaubende immer zusammengefunden und Gemeinden gebildet<br />

haben.


- 6 -<br />

Die Geschichte der EMK zeigt, dass das Angebot <strong>von</strong> Gemeinschaft dem vereinzelten Menschen<br />

eine grosse Hilfe war. Wenn man aber die heutige Diskussion um die Zukunft der Kirche<br />

verfolgt, wächst der Eindruck, dass „die Gemeinde“ einen höheren Stellenwert erhalten<br />

hat als das Individuum. Wenn das so ist, stellt der Trend zur Individualisierung tatsächlich<br />

eine grosse Bedrohung für die Kirche dar. Wenn es aber gelingt, dem Inhalt der Verkündigung<br />

Priorität einzuräumen, eröffnet die Individualisierung grosse Möglichkeiten, Menschen<br />

mit der Botschaft Jesu zu erreichen.<br />

2.3 Neue Lebensformen und „Lebensstil-Milieus“<br />

„Wenn durch Individualisierung vormals relativ stabile Klassenzugehörigkeiten und traditionelle<br />

sozialmoralische und territoriale Milieus zerstört werden, kommt die Frage auf, wie die<br />

Menschen einander noch ’einordnen’ können. Woher soll man wissen, mit wem man es zu<br />

tun hat, mit wem man Kontakt aufnehmen soll, mit wem es sich ‚lohnt’, Freundschaften und<br />

Bekanntschaften aufzunehmen? Hier helfen die neu entstehenden ‚Lebensstil-Milieus’. Sie<br />

zeichnen sich neben je eigenem Ressourcenzugang und Lebensformen auch durch einen je<br />

unterschiedlichen ‚Lebensstil’, mit zugehörigen Werten, Normen, typischen Zielen, Freizeitbeschäftigungen,<br />

ästhetischen Vorlieben etc. aus.“ (Stolz, Seite 42).<br />

Die „Lebensstil-Milieus“ wurden vom Heidelberger Sinus-Institut für die Belange der Werbung<br />

entwickelt. Es werden zehn Milieus definiert, denen die Menschen zugeordnet werden<br />

und deren Verhalten analysiert wird. Eine Untersuchung einer Schweizer Lan<strong>des</strong>kirche hat<br />

ergeben, dass ihre aktiven Mitglieder gerade aus drei <strong>von</strong> diesen zehn Milieus stammen.<br />

Die gestellten Fragen sind für die Kirchen nicht neu. Der Beginn der methodistischen Bewegung<br />

in England hatte gerade damit zu tun, dass die durch die Industrialisierung entstandenen<br />

Schichten <strong>von</strong> der Staatskirche vernachlässigt worden waren. Aber Wesley wandte sich<br />

nicht nur ihnen zu. Seine Tagebücher und seine Korrespondenz zeigen, dass er mit Menschen<br />

aus allen Ständen in Verbindung stand. Er wandte sich an alle, die die Predigt vom<br />

Heil in Christus hören wollten. Grundsätzlich ist da<strong>von</strong> auszugehen, dass die biblische Botschaft<br />

allen Menschen in allen Milieus gilt. Nun kann sich eine Kirche natürlich entscheiden,<br />

sich mit der Botschaft an eine ganz bestimmte Schicht der Bevölkerung zu wenden, wie dies<br />

z.B. die Heilsarmee tut (die sich aber gerade nicht als Kirche versteht). Aber an dieser Stelle<br />

hat die EMK heute ein Problem.<br />

Im Jahr 1968 vereinigten sich in der Schweiz zwei Freikirchen zur Evangelisch-methodistischen<br />

Kirche: Die Methodistenkirche und die Evangelische Gemeinschaft. Im Rückblick -<br />

und aufgrund <strong>von</strong> Erfahrungen <strong>des</strong> Autors in Gemeinden aus beiden Herkunftskirchen - kann<br />

gesagt werden, dass es einen grundlegenden Unterschied im Selbstverständnis dieser Kirchen<br />

gab, der nie aufgearbeitet wurde: Die Methodistenkirche umfasste Menschen aus den<br />

verschiedensten Lebensmilieus. Sie bot ihnen einen Ort, an dem sie ihren Glauben stärken<br />

konnten, um ihn je wieder in ihrem Milieu zu leben. Die Evangelische Gemeinschaft versuchte,<br />

selber Lebensstil-Milieu mit den ihr „zugehörigen Werten, Normen, typischen Zielen, Freizeitbeschäftigungen,<br />

ästhetischen Vorlieben etc.“ (s.o.) zu sein. Mag diese Darstellung auch<br />

schwarz/weiss gezeichnet sein, sie zeigt das Problem. Die EMK müsste die Frage diskutieren,<br />

ob sie nicht das kühne Wagnis eingehen müsste, ihre Botschaft wieder so zu fassen,<br />

dass Menschen aus den verschiedensten Lebensstil-Milieus Antworten auf ihre Fragen finden<br />

und den Glauben leben können ohne ihr eigenes Milieu verlassen zu müssen.<br />

Ein solcher Weg würde an die Gestaltung <strong>des</strong> Gemeindeprogrammes hohe Anforderungen<br />

stellen. Einerseits sollte die Möglichkeit, in der Gemeinde eine Sozialstruktur zu bilden, nicht<br />

verloren gehen. Es müsste aber auch möglich sein, dass Menschen aus den verschiedensten<br />

Milieus sich darin zusammenfinden - vor allem zum Feiern <strong>des</strong> Gottesdienstes und der<br />

Sakramente, aber auch zum Austausch in Glaubensfragen und im Erwachsenenkatechumenat<br />

- ohne diese als eigenes Lebensstil-Milieu in Anspruch nehmen zu müssen.


- 7 -<br />

Verheerend wäre es, wenn sich die EMK zu einem eigenen Lebensstil-Milieu entwickeln würde,<br />

in dem nur Gleichgesinnte Platz finden. So kann man zwar auch Gemeinde sein - aber<br />

nicht Kirche als Verkündigerin der universalen Gnade Gottes.<br />

2.4 Wertewandel<br />

„Wen die Individuen durch Individualisierung faktisch gezwungen sind, immer mehr selbst zu<br />

entscheiden und dadurch immer unterschiedlicher werden, so benötigen sie Werte, welche<br />

diesem Sachverhalt angemessen sind. … Hatte man noch in der 1. Hälfte <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts<br />

in weiten Teilen der westlichen Gesellschaften Pflicht- und Akzeptanzwerte hoch gehalten,<br />

also etwa Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung, Treue, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit<br />

usw., so wurden diese Werte mehr und mehr (und in einem Schub dann in den sechziger<br />

Jahren) durch Selbstentfaltungswerte ersetzt. Hierzu gehören“ (nach Helmut Klages,<br />

1985) „einerseits hedonistische Werte wie die Suche nach Genuss, Abenteuer, Spannung,<br />

Emotionalität wie auch individualistische Werte wie z.B. Kreativität, Spontaneität, Selbstverwirklichung,<br />

Toleranz oder Ungebundenheit“ (Stolz, Seite 45).<br />

Wie geht eine Kirche, die sehr viel Arbeit darauf verwendet, in ihren sozialen Grundsätzen<br />

und im sozialen Bekenntnis Antwort auf Lebensfragen zu geben, mit diesem Wertewandel<br />

um? Entscheidet sie sich für ein weitgehen<strong>des</strong> Festhalten an Akzeptanzwerten und gegen<br />

heutige Formen, in denen sich der Individualismus ausprägt?<br />

Hier wäre zu erinnern an die in der methodistischen <strong>Theo</strong>logie übliche Unterscheidung <strong>von</strong><br />

„essentials“ und „opinions“, also <strong>von</strong> dem, was grundlegend für den christlichen Glauben<br />

steht und dem, was daraus folgt. Die essenzielle Verkündigung der Gnade Gottes muss<br />

auch die Nach-68-er-Generation erreichen können, ohne sie ins Korsett der Pflicht- und Akzeptanzwerte<br />

der ersten Hälfte <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts zu zwängen. Im Diskurs über die „opinions“<br />

ist die Vielfalt <strong>des</strong>sen zu entdecken, was die grundlegende Verkündigung in Menschen<br />

unterschiedlicher Prägung bewirkt. Oder als Bild beschrieben: Die Kirche hat nicht die Leitplanken<br />

christlicher Werte zu bestimmen, sondern Christus als Leitlinie zu verstehen, an der<br />

sich die Glaubenden unterschiedlichster Milieus und Sozialstrukturen ausrichten können.<br />

Ein Beispiel: Die Abkehr der Gesellschaft <strong>von</strong> den Pflicht- und Akzeptanzwerten zeigt sich<br />

heute ganz besonders in den Sozialstrukturen <strong>von</strong> Ehe und Familie. Sie standen unter der<br />

Pflicht, gelingen zu müssen. Die Forderung <strong>von</strong> Treue und Verantwortung war grundlegend.<br />

Heute werden diese Formen <strong>des</strong> Zusammenlebens vielmehr als Willenskonstrukte verstanden.<br />

Eine Ehe bleibt so lange bestehen, als die beiden Partner es wollen und die Familie<br />

bleibt so lange beisammen, als der Wille, Verantwortung über die Generationengrenzen hinweg<br />

wahrzunehmen, da ist. Aufgabe der Kirche ist es, diesen Willen anzuerkennen und Eheleute<br />

und Familien in diesem Willen zu bestärken.<br />

Die Studie sagt, „dass die Individuen sich <strong>von</strong> der Institution Kirche nichts mehr sagen lassen.<br />

Kirchen können wohl noch zum Denken anregen, aber kein ‚Wahrheiten’ mehr durchsetzen“<br />

(Stolz, Seite 46). Als Beobachtung ist dies sicher richtig. Aber ist es wirklich die Aufgabe<br />

der Kirche „Wahrheiten durchzusetzen“? Die erste Wahrheit, die sie zu verkündigen<br />

hat, ist die Zuverlässigkeit der Gnade Gottes, der Zuspruch der schöpferischen Kraft Gottes,<br />

die das Leben der Menschen verändert. Die konkrete Auswirkung wird immer diskutiert werden,<br />

grundsätzlich gilt aber das „denken und denken lassen“.<br />

2.5 Aufschwung säkularer Konkurrenten <strong>von</strong> Kirche


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„Da die Individuen in immer mehr Bereichen zu Nachfragern und Anbietern werden und alle<br />

ihre Mitgliedschaften als frei wählbar erscheinen, werden auch Kirchenmitgliedschaft, religiöse<br />

Praxis, Gemeinschaft, religiöser Glaube und Diakonie zu ’Angeboten’, welche man<br />

‚nachfragen’ kann, bzw. für welche man seine Zeit und Energie ‚anbieten’ kann. In modernen<br />

Gesellschaften sehen sich alle diese ‚Produkte’ der Kirchen einer sehr scharfen säkularen<br />

Konkurrenz ausgesetzt“ (Stolz, Seiten 46f).<br />

Die Studie verwendet in diesem Abschnitt für die Tätigkeit der Kirchen die Sprache der Wirtschaft.<br />

Sie spricht <strong>von</strong> Angebot und Nachfrage, Produkten und Konkurrenz. Bisher hat sich<br />

die Kirche dagegen gewehrt, auf dieser Ebene mit anderen „Anbietern“ verglichen zu werden.<br />

Zu heilig ist ihr ihre Botschaft, zu einmalig für den Menschen.<br />

Aber gerade darum kann sie sich der Konkurrenz stellen und braucht sie nicht zu fürchten.<br />

Sie muss sich aber die Frage gefallen lassen, was denn ihre „unique selling proposition<br />

USP“ sei, das Merkmal, das die Kirche im Wettbewerb deutlich <strong>von</strong> den anderen Angeboten<br />

abhebt. Was ist denn ihr Produkt, das sie anzubieten hat?<br />

Die Studie sieht sie vor allem in formalen Grössen wie religiöser Praxis, Gemeinschaft und<br />

Diakonie. Doch das greift zu kurz. Diese Formen sind gefüllt mit einem Inhalt. Es geht um die<br />

Botschaft, welche die Kirche auszurichten hat.<br />

Traditionellerweise hat die Jährliche Konferenz der EMK die Frage zu stellen: „Was predigen<br />

wir?“ Es wäre interessant, festzuhalten, was die Schwerpunkte der heutigen Verkündigung in<br />

der Kirche sind. In den sechziger Jahren <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts hat die Krise der Evangelisation<br />

eingesetzt. Die Botschaft <strong>von</strong> der Begnadigung <strong>des</strong> Sünders, der Aufruf zur Umkehr,<br />

die Themen <strong>von</strong> Verlorenheit und Rettung scheinen seither nicht mehr zu greifen.<br />

Es muss neu überlegt werden, welches die Anknüpfungspunkte im menschlichen Leben<br />

sind, auf welche Bedürfnisse <strong>des</strong> Menschen die biblische Botschaft zuerst eine Antwort gibt.<br />

Dazu gehören eindeutig Lebensübergänge und -brüche: Geburt (Taufe), Übergänge (Konfirmation,<br />

Trauung) und der Tod (Trauerfeier). An diesen Punkten hat die Kirche die Möglichkeit,<br />

ihre Botschaft als Antwort auf die Sinnfrage zu geben, ebenso in Seelsorge- und Beratungsgesprächen.<br />

Nur: Was ist die Antwort? Da liegt eine grosse theologische Aufgabe vor,<br />

die angepackt werden muss.<br />

Die Kirche hat das Auftreten säkularer Konkurrenz nicht zu fürchten, wenn sie die theologische<br />

Arbeit nicht scheut, ihre Botschaft – ohne <strong>des</strong>halb die Kernbotschaft aufzugeben – an<br />

den Bedürfnissen der Menschen auszurichten. Die Kommunikationsspezialisten sprechen<br />

<strong>von</strong> „adressatengerecht“ anstelle <strong>von</strong> absendergerecht“. Die Studie ist darin ganz ernst zu<br />

nehmen, dass sie die Art der Vermittlung der Botschaft sorgfältig überdenken muss. Aber<br />

auch hier gilt, dass die Form dem Inhalt folgen muss und nicht umgekehrt.<br />

2.6 Religiöse Pluralisierung und die Zunahme der Konfessionslosen<br />

Die Zahl der Konfessionslosen in der Schweiz ist zwischen 1970 und 2000 <strong>von</strong> 1% auf 11%<br />

angestiegen, die Zahl der Muslime <strong>von</strong> 0.3% auf 4.2%. Diese Zahlen dürften nach Auswertung<br />

der Volkszählung 2010 nochmals markant gestiegen sein.<br />

Für die Existenz der Freikirchen sind diese Zahlen insofern <strong>von</strong> Belang, als die ansteigende<br />

Zahl der Konfessionslosen auch ein Indiz ist dafür, dass Religion nicht mehr zwingend mit<br />

der Zugehörigkeit zu einer Institution verbunden ist. Diese „Entinstitutionalisierung“ erlebt die<br />

EMK darin, dass die Zahl der Mitglieder immer kleiner wird gegenüber der Zahl derer, die<br />

zwar <strong>von</strong> der Kirche erreicht werden, ihr aber nicht formell angehören.


- 9 -<br />

In diesem Zusammenhang muss die Frage gestellt werden, ob für die EMK die Veränderung<br />

der Mitgliederzahl das wichtigste Kriterium in ihrer Entwicklung sei. Wenn früher gesagt wurde,<br />

dass die Wirkung <strong>des</strong> Methodismus sich nur zu einem kleinen Teil in der Kirche selbst<br />

manifestiere, eine grosser Teil aber über sie hinausgehe, dann ist das auch für die Zukunft<br />

mit zu bedenken.<br />

Zur religiösen Pluralisierung gehören auch die Migrations-Gemeinden. Zugewanderte aus<br />

anderen Kontinenten und Kulturen bilden eigene Gemeinden, in denen sie ihre Religiosität<br />

leben. Zahlreiche Gemeinden der EMK haben diesen Gemeinden nicht nur Räume zur Verfügung<br />

gestellt, sondern auch die Zusammenarbeit gesucht. Die Organisationsformen der<br />

EMK sind eine hilfreiche Möglichkeit, solche Gemeinden in die Kirche zu integrieren und ihnen<br />

doch ihre kulturelle Selbständigkeit zu lassen.<br />

2.7 Informationsgesellschaft und neue Technologien<br />

„Der Eintritt in die Informationsgesellschaft hat für die reformierten Kirchen einschneidende<br />

Folgen. Die Gemeinden und Kirchen müssen sich in und mit Hilfe der Massenmedien darstellen.<br />

Sie stehen dabei in einer wachsenden Konkurrenz mit einer Vielzahl <strong>von</strong> anderen sozialen<br />

Akteuren um das knappe Gut der Aufmerksamkeit“ (Stolz, Seite 52).<br />

Auch die Botschaft der Kirche ist zuerst einmal Information. Und um diese zu vermitteln sind<br />

die neuen Technologien bestens geeignet. Sie ist aber gleichzeitig menschliche Zusprache,<br />

die <strong>von</strong> Mensch zu Mensch gehen muss. Die Neigung in der Kirche gross, vor allem auf die<br />

Verkündigung <strong>von</strong> Mensch zu Mensch zu setzen, da die aktive Beteiligung an der Informationsgesellschaft<br />

mit relativ hohen Kosten verbunden ist. Die EMK ist zu klein und hat zu wenig<br />

finanzielle Ressourcen, um in diesem Bereich ein „Player“ zu sein. Trotzdem darf das Anliegen<br />

nicht ausser acht gelassen werden.<br />

Aufmerksamkeit in den Medien wird erreicht über Themen und Persönlichkeiten. In der Kirche<br />

müsste überlegt werden, welche thematischen Schwerpunkte so aufgearbeitet werden<br />

könnten, dass diese in den Medien zum Tragen kämen. Dasselbe gilt für den Aufbau <strong>von</strong><br />

Persönlichkeiten, die für kompetente Auskünfte zur Verfügung stünden.<br />

Das Medienkonzept der EMK ist immer wieder daraufhin zu untersuchen, welchen Anteil an<br />

personellen und finanziellen Ressourcen in eine angemessene Medienarbeit zu investieren<br />

sind.<br />

2.8 Die „Wiederkehr“ der Religion<br />

Die Studie nennt diesen Trend, um sogleich zu betonen, dass er keiner sei. „Für eine Rückkehr<br />

der Religion(en) auf der Ebene faktisch gelebter Religiosität kann – aufs Ganze gesehen<br />

– in der Schweiz keine Rede sein.“ Auf einer anderen Ebene ist das Interesse an Religion<br />

aber durchaus gewachsen: „Nicht zuletzt aufgrund der Verunsicherungen durch den Islam<br />

ist das Interesse an den christlichen Kirchen im Allgemeinen und auch das politische und<br />

staatliche Interesse an starken und verlässlichen christlichen Kirchen in der Schweiz gestiegen“<br />

(Stolz, S. 53). Die Kirchen stehen tatsächlich vor der Situation, dass einerseits in Politik<br />

und Wirtschaft vermehrt nach ihrem inhaltlichen Beitrag gefragt wird und andrerseits die<br />

kirchliche Basis schmaler wird.<br />

Das Phänomen dürfte mit anderen Trends eng zusammenhängen, z.B. der Entflechtung der<br />

gesellschaftlichen Teilsysteme, aber auch mit der Individualisierung. Persönliche Religiosität<br />

trägt nicht mehr das Stigma <strong>des</strong> unaufgeklärten Menschen, sondern wird respektiert. Und die<br />

Zugehörigkeit zu einer Freikirche bedeutet nicht mehr ein Ausscheren aus der Zivilgesellschaft,<br />

sie ist in der Vielfalt der Lebensmilieus akzeptiert. So liegen im Phänomen, dass Reli-


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gion gesellschaftlich wieder eine Rolle spielt, durchaus auch eine Chance für die Arbeit der<br />

EMK.<br />

3. Folgerungen<br />

Die in der Studie aufgeführten Trends zeigen, dass sich die Gesellschaft, das Umfeld der Kirche,<br />

in den letzten 50 Jahren massiv verändert hat. Die stark rückläufigen Mitgliederzahlen<br />

der EMK deuten darauf hin, dass es ihr nicht gelungen ist, sich diesen Veränderungen anzupassen.<br />

Die Veränderungen in der Gesellschaft, insbesondere die zunehmende Säkularisierung, lassen<br />

in der Kirche schnell den Gedanken aufkommen, dass diese sich gegen die Kirche wende.<br />

Wird diesem Gedanken gefolgt, droht schnell die Gettoisierung. Eine genauere Betrachtung<br />

der Trends zeigt aber, dass diese durchaus auch Chancen eröffnen für das kirchliche<br />

Wirken. Will die Kirche ihrem Auftrag gerecht werden, müssen sie ernst genommen werden.<br />

Die Kirche muss zur festen Überzeugung kommen, dass sie in ihrer Verkündigung, ihrer Botschaft<br />

an die Menschen, etwas Einmaliges in die Hand bekommen hat, das ihr <strong>von</strong> niemandem<br />

streitig gemacht werden noch inhaltlich überboten werden kann. Sie benötigt das Vertrauen<br />

in die lebensbejahende Botschaft <strong>des</strong> Evangeliums. Sie muss wieder da<strong>von</strong> überzeugt<br />

sein, dass sie das Licht in der Hand hält, das nicht unter einem Gefäss verborgen werden<br />

soll, sondern auf den Leuchter gehört, damit es gesehen wird. Sie braucht das Vertrauen<br />

darauf, dass die Stadt, die auf dem Berg liegt, nicht verborgen bleiben kann.<br />

Die Studie weist eine grosse Zahl <strong>von</strong> Tabellen und Diagrammen auf, welche die grossen<br />

Veränderungen anhand statistischer Zahlen aufzeigen. Für die Kirche ist es wichtig, dass sie<br />

hinter diesen Zahlen die Menschen sieht. Es sind aber nicht mehr die Menschen aus der ersten<br />

Hälfte <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts, die im Versuch, die Pflicht- und Akzeptanzwerte ihrer<br />

Zeit zu erfüllen, zu scheitern drohen und <strong>von</strong> der Botschaft der rechtfertigenden Gnade getröstet<br />

werden. Es sind Menschen, die sich <strong>von</strong> der Bevormundung durch Institutionen gelöst<br />

haben und im Sinne der Individualisierung sich selber zu definieren versuchen. Die Kirche<br />

muss diesem Menschen auf Augenhöhe begegnen und sehr genau hinhören, nach welchem<br />

Zuspruch er fragt.<br />

Ein Beispiel: Die Studie „Die Zukunft der Reformierten führte an Ostern 2010 zu einem Artikel<br />

in der „NZZ am Sonntag“ mit der Nachricht, dass die Reformierten im Jahre 2050 noch<br />

maximal 20% der Bevölkerung ausmachen werden. Zahlreiche Mediengespräche waren die<br />

Folge dieser Nachricht. In einem Telefonat mit einem Journalisten betonte ich, dass sich die<br />

Kirche in Zukunft vermehrt über ihre Inhalte werde definieren müssen. „Was sind denn die<br />

Inhalte der Kirche? Geben sie mir drei Stichworte“ forderte der Journalist. Ich nannte „Glaube,<br />

Liebe, Hoffnung“. Der Glaube an den Schöpfergott und die Geschöpflichkeit <strong>des</strong> Menschen,<br />

die Liebe zu Gott, zu den Menschen und zu sich selbst und die Hoffnung, die durch<br />

Ostern markiert wird – nämlich, dass nichts so bleiben muss, wie es ist“. „Das ist ein Satz,<br />

den ich mir merke: Es muss nichts so bleiben, wie es ist!“ reagierte der Journalist fast euphorisch.<br />

Da hatte offensichtlich evangelische Botschaft jemanden existentiell erreicht.<br />

Nachdem die Vorstellungen <strong>von</strong> Himmel und Hölle, <strong>von</strong> einer ewigen Seligkeit und einer<br />

ewigen Verdammnis nicht mehr die Grundsorge <strong>des</strong> Menschen sind, muss nach dem Ziel<br />

der „Operation Evangelium“ gefragt werden. Geht es nicht im Grunde genommen darum,<br />

dass das Leben – und gemeint ist das materielle Leben zwischen Geburt und Tod – gelingt,<br />

also nicht verloren geht?<br />

In einer Diskussion meinte der frühere Systematik-Dozenten an der Hochschule für <strong>Theo</strong>logie<br />

in Reutlingen, Dr. Manfred Marquart: „Wir müssten in der Verkündigung <strong>von</strong> den Paulusbriefen<br />

zu den Evangelien zurückkehren, zu dem, was Jesus gesagt und getan hat.“ Inhalt-


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lich könnte das heissen, dass dem individualisierten Menschen, der sich fragt: „Bin ich derjenige,<br />

der ich sein könnte, sein möchte, sein sollte? Wie kann ich mich selber weiter<br />

entfalten?“ zugesagt wird: „Du bist so angenommen, wie Du bist. Du bist <strong>von</strong> Deinem Schöpfer<br />

anerkannt. Entwickle Dich weiter und sei getrost.“<br />

Nicht <strong>von</strong> ungefähr hat sich eine grosse reformierte Kantonalkirche in der Schweiz als „Such-<br />

und Weggemeinschaft“ bezeichnet. Sie umfasst mit diesem Begriff alle evangelischen Einwohner<br />

<strong>des</strong> betreffenden Kantons. Die EMK darf aber ruhig sagen, dass sie nicht nur auf der<br />

Suche ist, sondern gefunden hat: Den erlebbaren Glauben, das sich bestätigende Vertrauen<br />

in die Gnade Gottes.<br />

Nebst diesen inhaltlichen Fragen stellen sich auch die formalen: „Wie predigen wir?“. Mit Anlässen<br />

im Bereich der Gemeinde (Gottesdienste, Erwachsenenbildung, Themengruppen)<br />

sind heute kaum mehr Menschen zu erreichen, die nicht zur Kirche gehören. Da ist der „Aufschwung<br />

säkularer Konkurrenten“ zu sehr spürbar. Ausnahmen bilden noch die Kasualien.<br />

Die zahlreichen Experimente mit Gottesdiensten zeigen unterschiedliche Ergebnisse. Zu fragen<br />

ist aber, ob hier die formalen Veränderungen tatsächlich der Verkündigung der Botschaft<br />

dienen – und wenn ja, welcher.<br />

Wichtig für die Verbreitung der biblischen Botschaft sind nach wie vor die Glaubenden selbst.<br />

Das beginnt in der Familie, im Weitergeben der biblischen Geschichten durch Eltern und<br />

Grosseltern. Diese anzuleiten und zu unterstützen ist Basisaufgabe der Kirche.<br />

Dann ist es das Leben der Glaubenden – je in ihrem Lebensmilieu und ihrer Sozialstruktur,<br />

ihr Umgang mit Lebens- und Existenzfragen, aber auch ihre Getrostheit und ihre Ausstrahlung,<br />

die letztendlich Träger der christlichen Botschaft sind. Darin müssen sie <strong>von</strong> der Kirche<br />

gefördert und bestärkt werden. Es ist eigentlich ein „zurück zu den Wurzeln“ der methodistischen<br />

Bewegung.<br />

Als Modell der Kirche (und nicht nur der EMK) schwebt mir ein Bild vor: Das mittelalterliche<br />

Kloster wird gebildet <strong>von</strong> einer Gruppe <strong>von</strong> Menschen, die nach bestimmten Regeln leben.<br />

Sie wissen sich für das Umland verantwortlich, ohne ihm seine Regeln aufzudrängen. Aber<br />

die Menschen im Umland wissen: Dort, wo diese Menschen Gott feiern und anbeten, dort<br />

geschieht das Wesentliche und ich finde Antworten auf meine Fragen.<br />

Köniz, 22. Februar 2012/TS

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