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diplomarbeit norbert freudenthaler<br />

architektur & foto<br />

die welt ist alles was der fall ist


<strong>Diplomarbeit</strong> zur Erreichung des akademischen Grades des<br />

Diplomingenieurs für Architektur<br />

am Institut für Gestaltung.studio2 der Fakultät für Architektur<br />

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck<br />

architektur & foto<br />

die welt ist alles was der fall ist<br />

Innsbruck, am 26.06.2008<br />

eingereicht von <strong>Norbert</strong> <strong>Freudenthaler</strong> bei<br />

Univ. Prof. DI Gabriela Seifert


Dank<br />

Wie bei jeder Danksagung möchte der Dankende nicht in die Erklärungsnot gelangen, in der ihn ein Unbedankter<br />

bringen könnte, und daher möchte ich an dieser Stelle vorab allen danken, die an meinem Werden und Schaffen,<br />

wenn auch nur am Rande, als kleines Rädchen, beteiligt waren und an mich geglaubt haben.<br />

Namen sollten hier nicht genannt werden, und so ist es doch schön in der Leichtigkeit einer Selbstüberschätzung<br />

zum Bedankten zu werden ohne es namentlich in großen Lettern, möglichst weit oben in der Liste, bestätigt zu<br />

bekommen.<br />

Aber nun Spaß beiseite, ich will nicht lästern über die, die mir geholfen haben diesen Abschluss zu machen, und<br />

es ist ganz sicher nicht der Verdienst von mir allein, der mich dieses Buch nun in Händen halten lässt.<br />

Die Familie, ohne die ich haltlos in der Anonymität einer fremden Stadt verloren gegangen wäre, ist wohl die stärks-<br />

te Kraft die einem zur Seite steht.<br />

Freunde, der Eine hat viele, ein Anderer wenige, sind nicht nur eine wichtige Stütze, sondern Spiegel von sich<br />

selbst, und solche „Reflexionen“ können einem in kritischen Phasen den nötigen Anstoß geben Fortzufahren und<br />

nicht am Stand zu treten.<br />

Mitstreiter, Menschen die dir weder Freund noch Feind sind, aber im Bestreben ein Ziel zu erreichen, Schulter an<br />

Schulter mit dir an dem selben wie du anecken oder wachsen, sind oft Nährboden für die eigene Entwicklung.<br />

Danke!<br />

Den einzigen Namen den ich hier nennen möchte, ist der meiner Mutter Friedolinde <strong>Freudenthaler</strong>, der ich dieses<br />

Buch post mortem widme.


Inhalt Theorie<br />

Vorwort 9<br />

Geschichte der Fotografie 12<br />

Material und Technik 30<br />

Sehen und Erkennen 40<br />

Neurobiologische Betrachtung der visuellen Wahrnehmung bei Wirbeltieren 44<br />

Psychologische Betrachtung der visuellen Wahrnehmung beim Menschen 52<br />

Klassische Gestaltpsychologie 58<br />

Abbildungs-“Qualität“ 3D + - 2D 64<br />

Das Abbild in der Philosophie 68<br />

Die Reportage als DAS Abbild 80<br />

Die künstlerische Interpretation oder die Kunst in der Architekturfotografie 82<br />

Conclusio 86


Praxis Inhalt<br />

Ein Fotokatalog in Bildern & Essays 102<br />

Die Reportagefotografie als Architekturabbildung 104<br />

Wohnbau / centrum.odorf 106<br />

Architekturfotografie zwischen Kunst und Interpretation 110<br />

Industriebau / Umspannwerk Mitte 112<br />

Die Inszenierung und ihre „Wirklichkeit“ 134<br />

Öffentlicher Bau / Hungerburgbahn NEU 136<br />

Das Abbild und die Nähe zur Wahrheit 164<br />

Einfamilienhaus / XY 166<br />

fotoPOD 176<br />

Literaturliste 202


Vorwort<br />

Wir sind Höhlenbewohner gewesen und haben nichts gesehen. Erst als wir die Höhle verlassen haben, in die Welt<br />

gefallen sind, haben wir uns neu orientieren müssen. Mit Geschrei oder bereits kalmiert, drängten sich die Dinge<br />

der Welt in unser Bewusstsein, neue Räume und Grenzen hielten unser Sehen auf Distanz. Das augenscheinliche<br />

Sehen ergänzte unser haptisches Erinnern auf die Sicht der Dinge.<br />

Architektur und Foto.<br />

„Die Welt ist alles was der Fall ist“ hat Ludwig Wittgenstein im Satz (1) seines „Tractatus logico philosophicus“ ge-<br />

sagt und damit gemeint – war es die Ausweglosigkeit und die Begrenztheit in der vorhandenen Sprache – seine<br />

Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher ihn versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf<br />

ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (6.54, w.o.)<br />

Mit dieser Überwindung der Sätze, dürfte er sich ein metaphysisches Hintertürl geschaffen haben. Auch Friedrich<br />

Nietzsche soll gesagt haben: „Nachdem ich Schopenhauer gelesen habe, muss ich ihn wieder loswerden.“<br />

Wie wird ein Photograph in der Architekturfotografie die Menschen, die sich zwar, von den Architekten gewollt in<br />

dessen Lebensräumen harmonisch tummeln sollen, los oder wie kann er diese einbinden, ohne vom Wesentlichen<br />

abzulenken? Die Fragestellung reduziert sich auf eine rein rhetorische, denn im Grunde wurden keine Geister ge-<br />

rufen, die man nicht mehr los wird, sondern es ist naturgemäß ein technisches Problem der Organisation, wie der<br />

Mensch auf die Architektur oder die Architektur auf den Menschen abgestimmt sein soll.<br />

Entscheidend ist das Auge, der Fokus des Photographen, was denn die Abbildung zeigen soll und ob diese dem<br />

künstlerischen Anspruch gerecht geworden ist. Zumindest das Wesentliche einer Szene im Bild sollte eingefangen<br />

werden. Es heißt noch lange nicht, wenn das Auge ein Motiv ausschneidet und der Apparat seinen Dienst tut,<br />

dass das Ergebnis ein Kunstwerk erschafft. Die Oberflächen, Linien und Schattierungen, das Licht, die Zeit und<br />

der Moment entscheiden, ob ich den Rhythmus, die harmonische Auflösung, den aggressiven Bruch en détail<br />

gefunden oder erkannt habe. Und manchmal genügt oder erfordert es, sich nicht des Kunstanspruchs zu bedie-<br />

nen, sondern nur die Wirklichkeit abbilden zu wollen. Wegen der verschiedenen Anschauungen und Ansichten,


was und wie denn die Wirklichkeit sein soll oder zu sein hat, bleibt sie hinter einem Filter verborgen. Der Begriff<br />

Wirklichkeit in der Bilderwelt sollte im Plural gebraucht werden. Das Vexierbild Hase oder Ente entlässt den Be-<br />

trachter in die Denkaufgabe, eine vorgefasste Anschauung über Bord zu werfen oder tunlichst anzuzweifeln. Das<br />

Objekt der Begierde ist an die Wiedergabe der flüchtigen Vision des schöpferischen Geistes gebunden und kann<br />

sich mit der Hoffnung trösten, Annäherungswerte zu kreieren. Diese Flüchtigkeit des Moments kann das Auge<br />

vielleicht erfassen, ob es aber gelingt den Ausschnitt als Abbildung festzuhalten, ist selten oder beinahe nie dem<br />

Zufall überlassen. Oft wäre es notwendig, bevor das Auge etwas erkennt, was Motiv sein soll, im Sucher bereits<br />

ausgelöst zu haben; den Augenschein, den intuitiven Seherblick eines Blinden vorwegzunehmen. Eine bewusst<br />

manipulierte Verschlusszeit, kann einer Szene mehr Aufschluss geben, als wenn dem Einfluss des vorhandenen<br />

Lichts gehorsam Folge geleistet wird. Darum kann der Kunstanspruch der Wirklichkeit nicht immer gerecht wer-<br />

den. Die Wirklichkeit schlägt der Schnappschusszunft, die sich allzu gern in der Gunst der Kunstsinnigkeit sonnt,<br />

hin und wieder ein Schnippchen. In der Abbildung soll ja auch etwas gesagt oder ausgesprochen werden. Will man<br />

der Bildersprache Glauben schenken, ist die Metaebene des Bildes mehr Ergänzung als Ersatz des gesprochenen<br />

Wortes. Soll es für den Betrachter ein Rätsel bleiben, ob die Aggressivität oder die Defensive im Bild vorder- oder<br />

hintergründig ein- oder ausgeblendet dargestellt ist? Die Klarheit und die Verwirrung erschaffen sich gegenseitig.<br />

Wie im Hologramm erkenne ich nicht immer alles sofort. Immer wieder drängt sich etwas anderes in den Vorder-<br />

grund. Das jetzt Eingefangene ist nicht immer so gewesen. Und was die Zukunft zeigt, wissen wir nicht! Vielmehr<br />

können wir etwas ahnen, und mit Ahnung in der Gegenwart zu reüssieren, kann zukunftsweisend sein, sowohl in<br />

der Architektur als auch in der Fotografie.<br />

Johann <strong>Freudenthaler</strong>


damals: Ein Foto, acht Stunden Belichtung, viele weitere Stunden um das statische Lichtbild<br />

zu entwickeln und zu fixieren.<br />

heute: ein „klick“ ... noch bevor man das Auge vom Sucher auf das digitale Display gerichtet<br />

hat, ist es auf jenem schon zu sehen.<br />

Die Fotografie ist heute eines der wichtigsten Medien und ist zur allgegenwärtigen Selbstverständlichkeit<br />

geworden. Fotos begegnen uns in Zeitungen, Katalogen, Büchern, in der<br />

Kunst, selbst im urbanen Raum lenken Fotos auf Plakaten, Werbetafeln oder Fahrzeugen die<br />

Blicke an sich. Sie sind Teil und Gestalter unserer visuell dominierten Medienlandschaft.<br />

Früher wurde ein Fotograf durch seine technischen Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Die<br />

Kamera musste auf ein Stativ gestellt werden, komplexe Belichtungsberechnungen und<br />

langwierige Dunkelkammerarbeiten waren nötig. Der Besitzer einer einfachen automatischen<br />

Kamera braucht sich nur noch über Motiv und Komposition des Bildes Gedanken machen.<br />

Will man sich aber das komplette Anwendungsspektrum der Fotografie zunutze machen,<br />

benötigt man praktische Kenntnisse der Technik sowie ein gestalterisches Verständnis.<br />

Geschichte der Fotografie


Als Fotografie oder Photographie (aus altgr., phos, „Licht (der Himmelskörper)“, und, graphien,<br />

„zeichnen“, „ritzen“, „malen“, „schreiben“) bezeichnet man:<br />

n ein technisches Verfahren, bei dem mit Hilfe von optischen Verfahren ein Lichtbild auf<br />

ein lichtempfindliches Medium projiziert und dort direkt dauerhaft gespeichert wird<br />

(analoges Verfahren) bzw. in elektronische Daten gewandelt und dann gespeichert wird<br />

(digitales Verfahren)<br />

n das dauerhafte Lichtbild (umgangssprachlich kurz Foto genannt, auch Abzug, Vergrößerung<br />

oder Ausbelichtung), das durch fotografische Verfahren hergestellt wird; dabei<br />

kann es sich entweder um ein Positiv oder ein Negativ handeln.<br />

Vorab muss auch bemerkt werden, dass es im Gegensatz zu anderen Wissenschaften/Künsten<br />

keinen Begründer der Fotografie gibt. Die Fotografie wie wir sie heute kennen ist das<br />

Werk vieler Entdecker auf den verschiedensten Gebieten. Erst durch das Zusammenspiel<br />

der unterschiedlichen Disziplinen, wie der Chemie oder Physik, und das Anwenden deren Erkenntnisse,<br />

entstanden Verfahrenstechniken die wir heute unter dem Sammelbegriff Fotografie<br />

wiederfinden.


Geschichte<br />

Von der Camera Obscura zum digitalen Bildsensor<br />

Die „Camera obscura“ (dunkles Zimmer) wurde<br />

ursprünglich als Zeichenhilfe verwendet. Ab dem<br />

16 Jh. wurden auch bikonvexe Linsen eingesetzt.<br />

Vorraussetzungen für die Entstehung<br />

der Fotografie<br />

Die wichtigste Entdeckung auf dem Gebiet der Chemie waren Stoffe,<br />

die sich unter dem Einfluss des Lichts verändern. Der deutsche Arzt<br />

Johann Heinrich Schulze stellte bereits 1727 fest, dass Chlorsilber unter<br />

Einwirkung des Lichtes geschwärzt wird. 1777 fand der schwedische<br />

Chemiker Carl Wilhelm Scheele heraus, dass durch Licht geschwärztes<br />

Chlorsilber in Ammoniak nicht mehr völlig löslich ist und feinverteiltes<br />

schwarzes Silber hinterlässt, das sich nicht weiter verändert. Hiermit war<br />

also bereits ein Fixiermittel für Fotografien auf Chlorsilberpapier vorhan-<br />

den.<br />

Auf dem Gebiet der Physik und hier insbesondere bei der Optik, wur-<br />

de das Prinzip der „Camera Obscura“ bereits von Aristoteles (384-322<br />

v.Chr.) erwähnt.<br />

Im 11. Jahrhundert befassten sich arabische Gelehrte in ihren Abhand-<br />

lungen ausführlich mit dem technischen Prinzip: In einen fensterlosen<br />

Raum fällt durch ein kleines Loch Licht. Das gebündelte Licht erzeugt auf<br />

der gegenüberliegenden Wand ein auf dem Kopf stehendes, seitenver-<br />

16


kehrtes Abbild der Außenwelt. Um 1500 untersuchte Leonardo da Vinci<br />

anhand einer selbstgebauten Camera Obscura die Gesetze der Optik.<br />

Bei seiner Weiterentwicklung der Konstruktion handelte es sich um einen<br />

Kasten mit geschwärzten Innenwänden und einer transparenten Rück-<br />

wand, die als Mattscheibe diente. Auf dieser konnte das Ergebnis be-<br />

trachtet werden. Der praktische Nutzen dieser Erfindung blieb jedoch bei<br />

aller Faszination zunächst gering. Zudem war das Bild je nach Größe des<br />

Lichtdurchlasses entweder dunkel oder unscharf.<br />

Die Camera Obscura wurde später von Künstlern als Zeichenhilfe be-<br />

nutzt. Das Bild, welches auf der dem Loch gegenüberliegenden Seite<br />

entstand, konnte einfach abgepaust werden.<br />

Dieses Prinzip ist bis heute in allen Spiegelreflexkameras enthalten. Bis<br />

zur Erfindung der Fotografie erfuhr die Camera Obscura keine größeren<br />

Veränderungen. Sie wurde lediglich in verschiedenen Größen und mit<br />

verschiedenen Linsen gebaut.<br />

Die ersten Fotos<br />

Niepce, Joseph Nicéphore (1765-1833), französischer Erfinder und Pio-<br />

nier der Fotografie, gelang es als erstem ein Motiv auf einer lichtempfind-<br />

lichen Platte der Camera Obscura festzuhalten.<br />

Niepces erste Versuche mit Papier, welches mit Silberchlorid lichtemp-<br />

findlich gemacht wurde, scheiterten. Erst 1816 gelang es ihm, auf Chlor-<br />

silberpapier Bilder in der Camera Obscura herzustellen, die allerdings<br />

17<br />

Geschichte<br />

Joseph Nicéphore Niépce (1765-1833); ca. 1795<br />

Nach aufwändigen Experimenten nahm Nièpce im<br />

Frühherbst 1827 in seiner Geburtsstadt Chalonsur-Saône<br />

die erste lichtbeständige Fotografie der<br />

Welt auf, einen Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers<br />

in Le Gras mit einer Belichtungszeit<br />

von acht Stunden im Format 16,5 x 21 cm.


Geschichte<br />

Louis Jacques Mandé Daguerre (1787-1851), 1844<br />

Daguerrotypie-Kamera<br />

nicht lichtbeständig waren. Erste Erfolge bei der dauerhaften Fixierung<br />

der Abbildungen erreichte er um 1827, als er schließlich Asphalt als<br />

lichtempfindliche Schicht verwendete. Der Asphalt wurde in Petroleum<br />

aufgelöst. Diese Lösung wurde auf einer Glas, Stein, Silber, Zinn oder<br />

Kupferplatte dünn aufgetragen. Der belichtete Asphalt wurde hart, wäh-<br />

rend der unbelichtete sich mit einem Lösungsmittel entfernen ließ. Das<br />

so entstandene Bild konnte als Vorlage genutzt werden, die vom Asphalt<br />

befreiten Stellen wurden geätzt oder graviert.<br />

1824 gelang es ihm erstmals eine beständige Fotografie zu erzeugen.<br />

Eines dieser Bilder ist bis heute erhalten geblieben, es zeigt den Blick<br />

aus seinem Arbeitszimmer (1827).<br />

Niepce nannte seine belichteten Platten selber Heliographien (helios =<br />

griech. Sonne, graphien = griech. zeichnen). Dieses Verfahren war für<br />

normale Fotografien ungegeeignet, da die Belichtungszeit bis zu acht<br />

Stunden betrug. Deshalb war es unmöglich Bewegungsabläufe oder so-<br />

gar Menschen darzustellen.<br />

Niepces heliographischer Prozess wurde später in einer abgewandelten<br />

Form zur Herstellung von Druckplatten verwendet - Niepces ursprüngli-<br />

ches Ziel.<br />

Erste praktische Verfahren<br />

Da Niepce für seine Heliographie keine hinreichende finanzielle Unterstüt-<br />

zung finden konnte, schloß er sich 1829 dem französischen Maler Louis Ja-<br />

ques Daguerre an. Sie schlossen einen zehnjährigen Partnerschaftsvertrag<br />

18


ab, mit der Klausel, dass auch im Falle Niepces Todes, sein Sohn Isidore als<br />

Partner bestehen bleibt. In der gemeinsamen Werkstatt wurde der Über-<br />

gang zu den lichtempfindlicheren Silberiodidplatten vorbereitet. Als Niepce<br />

1833 starb, hatte er sein Ziel, eine praktikable Technik zum Erstellen von<br />

Positiven zu entwickeln, allerdings noch nicht erreicht. Trotzdem war Niepce<br />

ein Pionier der Fotografie und steuerte gerade auf dem Gebiet der Fotoche-<br />

mie enorme Leistungen zur Entwicklung erster praktischer Verfahren bei.<br />

Daguerre suchte fieberhaft nach Möglichkeiten, die Belichtungszeit zu ver-<br />

kürzen, denn schließlich benötigten die ersten Bilder von Niepce ca. acht<br />

Stunden. Damit war es also nicht möglich, Menschen oder sich bewegen-<br />

de Dinge zu fotografieren. Daguerre benutzte Silberplatten bzw. versilberte<br />

Kupferplatten, die er durch Joddämpfe lichtempfindlich gemacht hatte. Wie<br />

so häufig im Bereich der Naturwissenschaften entdeckte Daguerre zufällig,<br />

dass durch Belichtung einer Jodsilberplatte ein latentes (nicht sichtbares)<br />

Bild entsteht. Dieses konnte mit Quecksilberdampf entwickelt und damit<br />

also sichtbar gemacht werden. Während einer Aufnahme wurde das Wetter<br />

schlecht und trüb. Daguerre stellte die nur kurz belichtete Platte in einen<br />

Schrank, indem sich auch mehrere Chemikalien befanden. Am nächsten<br />

Tag staunte Daguerre nicht schlecht, als sich auf der Platte das fertige Bild<br />

befand. Er wiederholte das Experiment und nahm nacheinander alle Dinge,<br />

die sich im Schrank befanden heraus, bis nur noch eine Schale mit Queck-<br />

silber aus einem zerbrochenem Thermometer übrig war. Daguerre vermute-<br />

te, dass die Quecksilberdämpfe für das Entstehen des Bildes verantwortlich<br />

sein mussten. Durch diese Entdeckung konnte Daguerre die Belichtungszeit<br />

auf 4 Minuten im Sommer und 15 Minuten im Winter verkürzen.<br />

19<br />

Geschichte<br />

Die älteste erhaltene Daguerrotypie Daguerres aus<br />

dem Jahr 1837;<br />

Blick aus Daguerres Wohnung aufgenommen 1839


Geschichte<br />

William Henry Fox Talbot (1800-1877), 1844<br />

1839 wurde dieses Verfahren, getauft auf den Namen „Daguerreotypie“,<br />

der Öffentlichkeit übergeben. Die Tatsache dass dieses Verfahren frei<br />

verfügbar war, sorgte für eine rasche Ausbreitung der Fotografie in Frank-<br />

reich. Dem neuen Medium kam somit nicht nur eine kulturelle, sondern<br />

auch eine politische Bedeutung zu. Diese Umstände lösten eine eupho-<br />

rische Welle der Begeisterung aus, die bis in die angrenzenden Nachbar-<br />

länder schwappte. Die Erfindung löste überall reges Interesse aus, durch<br />

welches viele neue technische Weiterentwicklungen der Fotografie her-<br />

vorgingen. Daguerre bewies seine Fähigkeiten auch als Geschäftsmann,<br />

so ließ er sich die Daguerreotypie in England patentieren und verkaufte<br />

u.a. Kameraausrüstungen, die er in Lizenz bauen ließ. Daguerre starb<br />

am 10. Juli 1851 in Petit-Bry-sur-Marne in Nordfrankreich.<br />

Damit war die Daguerreotypie die erste verbreitete Form der Fotografie.<br />

Das erste Negativ<br />

Trotzdem Daguerre im Allgemeinen als Erfinder der Fotografie bezeichnet<br />

wird, gelang es dem Engländer Henry Fox Talbot bereits 1835 ein lichtbe-<br />

ständiges Bild in der Camera Obscura auf Chlorsilberpapier herzustellen.<br />

Bei Talbots Verfahren handelte es sich allerdings um ein Negativ-Posi-<br />

tiv-Verfahren, er konnte von einer Aufnahme also beliebig viele Abzüge<br />

machen (Im Gegensatz zu Daguerre). Außerdem benötigte er nur 2-3<br />

Stunden Belichtungszeit und da er sehr früh erkannte wie er seine Bilder<br />

fixieren muss, verbesserte er sein Verfahren und benötigte später nur<br />

noch Belichtungszeiten von unter einer Minute pro Bild.<br />

20


Er behandelte feines Schreibpapier zuerst mit einer Silbernitratlösung<br />

und mit Kaliumjodidlösung, wodurch sich das lichtempfindliche Silber-<br />

jodid in den Papierfasern bildete. Die Empfindlichkeit wurde kurz vor der<br />

Belichtung nochmals durch Abwaschen mit einer Mischung aus Silber-<br />

nitrat und Gallussäure erhöht. Zur Fixierung des Bildes verwendete man<br />

schließlich Natriumdisulfat. Zur Herstellung eines Positivabzuges wurde<br />

Papier in einer gewöhnlichen Salzlösung eingeweicht und getrocknet.<br />

Zum Gebrauch wurde es mit Silbernitratlösung lichtempfindlich gemacht<br />

und mit Hilfe eines Kopierrahmens auf das Negativ gelegt. Nun musste<br />

es nur noch dem Sonnenlicht ausgesetzt werden. Nach gewünschter<br />

Färbung wurde das Papier fixiert und gewaschen. Die Kalotypie, wie<br />

Talbot sein Verfahren nannte, konnte sich zwar nicht mit der Qualität<br />

und Brillanz der Daguerreotrypie messen, aber das Besondere war, dass<br />

es sich um das erste Negativ-Positiv Verfahren handelte, welches die<br />

Grundlage für alle folgenden Reproduktionsverfahren wurde.<br />

Der Aufstieg und das neue Selbstbewusstsein des Bürgertums doku-<br />

mentiert sich in der Popularität der Portraitfotografie zur Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts. Die neue Technik bot für breite Bevölkerungskreise die<br />

Möglichkeit, durch Portraits und Gruppenaufnahmen aus der Anonymi-<br />

tät herauszutreten - etwas, was bisher dem wohlhabenden Adel vorbe-<br />

halten war.<br />

Personenaufnahmen erforderten vom Fotografen wie vom Fotografier-<br />

ten enorme Disziplin und Ausdauer. Die enorm langen Belichtungszei-<br />

ten, die erst nach und nach durch immer lichtstärkere Objektive ver-<br />

21<br />

Geschichte<br />

Miss Horatia Feilding, Halbschwester Talbots, ca.<br />

1842


Geschichte<br />

Nassplatten-Verfahren im Dunkelzelt<br />

Kamera für das Gelatine-Trockenplatten-Verfahren<br />

schwanden, erforderten eigene Vorrichtungen zum Festspannen der<br />

Fotografierten.<br />

Das Nassplatten-Verfahren<br />

Talbots Verfahren hatte einen Nachteil, die Maserung des Papiers (Nega-<br />

tiv) war immer deutlich sichtbar. Frederick Scott Archer beschrieb 1851<br />

ein Verfahren zur Herstellung von Negative auf Basis von Glasplatten.<br />

Er schaffte es eine lichtempfindliche Schicht (welche an Luft erhärtet)<br />

auf Glasplatten aufzutragen. Nach der Entwicklung wurde der nun er-<br />

härtete Film von der Platte abgekratzt und fixiert. Dieses Verfahren, den<br />

Film abzuziehen ist praktisch gesehen der Vorläufer des heute üblichen<br />

Rollfilms. So war es möglich selbst feinste Einzelheiten realitätstreu wie-<br />

derzugeben. Der Nachteil des Verfahrens war, dass die Platten immer<br />

nass verwendet werden mussten, damit die lichtempfindliche Schicht<br />

(Kollodium=farbige klebrige Masse) nicht erhärtet. Der Fotograf musste<br />

also immer eine komplette Dunkelkammerausrüstung dabei haben. Da-<br />

durch wurde das Verfahren recht unpraktikabel. Bei etwas größeren Un-<br />

ternehmungen, wie beispielsweise die Besteigung des Montblanc wog<br />

die gesamte Kameraausrüstung ca. 250 kg.<br />

Das Gelatine-Trockenplatten-Verfahren<br />

Im Jahre 1871 gelang dem englischen Arzt Richard Leach Maddox die<br />

Entwicklung einer Trockenplatte mit einer Bromsilber-Gelatine-Schicht,<br />

22


die in der Empfindlichkeit der Nassplatte gleichkam. Charles Bennet ver-<br />

besserte die Empfindlichkeit dieser Gelatine-Trockenplatte 1878 durch<br />

ein Verfahren, bei dem die empfindliche Schicht bei erhöhter Temperatur<br />

einige Zeit aufbewahrt werden musste. Damit wurde das Nassplatten-<br />

verfahren endgültig verdrängt. Der Fotograf konnte beliebig viele Tro-<br />

ckenplatten herstellen und brauchte nicht mehr seine komplette Dun-<br />

kelkammer mit sich führen, daher leitete diese neue Technik auch den<br />

Aufschwung der Reisefotografie ein. Trockenplatten wurden industriell<br />

gefertigt, so dass sich der Fotograf nur um Aufnahme und Entwicklung<br />

kümmern musste. Erstmals wurden zu jeder Platte Belichtungsinforma-<br />

tionen mitgeliefert (früher stellte jeder Fotograf seine eigene Platte her)<br />

und man entwickelte die ersten Geräte zur Lichtmessung. Durch die<br />

sehr viel höhere Empfindlichkeit gegenüber der Nassplatte, brachte die<br />

Trockenplatte den Fotografen den schon lang ersehnten Traum näher,<br />

sich schnell bewegende Objekte fotografisch festhalten zu können.<br />

Die Tatsache auch Bewegungsabläufe fotografisch festhalten zu kön-<br />

nen, bewirkte auch einen Aufschwung der Wissenschaft. Man konnte<br />

schnelle Bewegungsabläufe, Ereignisse festhalten und studieren. Auf<br />

Grund einer Bildfolge von Eadward Muybridge (1887) wurde z.B. erst-<br />

mals bewiesen, dass ein Pferd im Galopp kurz alle vier Beine in der Luft<br />

hat. Dieses Experiment machte Geschichte, weil es die Ära der Bewe-<br />

gungsfotografie einleitete.<br />

23<br />

Geschichte<br />

Erstes Bewegungsfoto; Pferd im Galopp


Geschichte<br />

George Eastman, Gründer der Firma Kodak, baute<br />

auch die erste „Pocketkamera“, die Brownie<br />

Die ersten Kodak Kameras und die<br />

Erfindung des Rollfilms<br />

George Eastman, ein junger Bankangestellter, war sehr an der Fotografie<br />

interessiert. Er beschäftigte sich 1877 zuerst mit Archers Nassplatten-<br />

Verfahren und später mit den Trockenplatten. Er wollte die z.Z. schwer<br />

handhabbare Fotografie für den einfachen Bürger zugänglich machen.<br />

Somit entwickelte er den ersten Rollfilm, welcher aus mit Gelantine-Emul-<br />

sion empfindlich gemachtem Papier bestand. Zusammen mit William H.<br />

Walker, einem Kamerabauer, entwickelte er einen Rollenhalter, welcher<br />

in jede übliche Plattenkamera passte. Eastman schaffte es erstmals die<br />

Arbeit, die jeder Fotografierende leisten kann, von der Arbeit des Fach-<br />

manns zu trennen. Er konstruierte eine Kamera, die für 100 Aufnahmen<br />

konzipiert war und gründete die Firma Kodak. Diese erste Kodak-Ka-<br />

mera konnte von Jedermann benutzt werden, war sie voll wurde sie per<br />

Post an Kodak gesandt, hier wurden die Bilder entwickelt und ein neuer<br />

Film eingelegt. Innerhalb von 10 Tagen hatte man seine Kamera wieder.<br />

Die Kamera war aufgrund des kleinen Negativ-Formats mit einem Ob-<br />

jektiv von sehr kurzer Brennweite ausgestattet. Dadurch wurde alles von<br />

1 m bis unendlich scharf abgebildet und die Scharfeinstellung erledigte<br />

sich von selbst. Auch war kein Sucher vorgesehen, lediglich Linien an<br />

der Oberseite zum Anvisieren waren vorhanden. Die Aufnahmen waren<br />

kreisrund und hatten einen Durchmesser von 64 mm.<br />

24


Eastman gab seiner Kamera damals den Slogan „Sie drücken den Knopf,<br />

wir machen den Rest“. Aber dennoch war Eastman nicht zufrieden, der<br />

Abziehfilm verlangte Arbeitskräfte, die Zeit und Geld kosteten. Der Che-<br />

miker Henry M. Reichenbach, der von Eastman eingestellt wurde, fand<br />

heraus, dass sich mit dem synthetischen Material Nitrozellulose, welches<br />

1861 von dem Engländer Alexander Parkes erfunden wurde und einigen<br />

Zusätzen ein dünner, biegsamer und transparenter Film herstellen ließ -<br />

der Zelluloidfilm. Im April 1889 wurde das Verfahren zur Herstellung von<br />

Zelluloidfilm patentiert.<br />

Erst durch diesen Zelluloidfilm wurden beispielsweise auch die „leben-<br />

den Bilder“ möglich. Der Zelluloidfilm musste zuerst noch in einer Dun-<br />

kelkammer in die Kamera eingelegt werden. Kodak entwickelte jedoch<br />

weitere Kameras und auch weitere Rollfilme, die sich dann auch bei Ta-<br />

geslicht in die Kamera einlegen ließen.<br />

Georg Eastman revolutionierte die Fotografie dahingehend, dass er sie<br />

der breiten Masse erschloss. Es war nun für jedermann auf billige und<br />

einfache Art und Weise möglich eigene Fotos zu knipsen.<br />

1894 erwarb Eastman eine Lizenz und 1895 die gesamten Rechte des<br />

Patronen-Film-Systems von Samuel N. Turner. Der Zelluloidfilm befand<br />

sich auf einem noch längeren Stück schwarzen Papier, der den Film beim<br />

Aufrollen auf die Spule vor Licht schützen sollte. Auf der Rückseite des<br />

Papiers waren Zahlen geschrieben, die man auf der Kamerarückwand<br />

ablesen konnte. Somit konnte man auch genau von einer zur nächsten<br />

Aufnahme spulen. Dementsprechend brachte Kodak neue Kameras he-<br />

raus, u.a. die Pocket Kodak Serie.<br />

25<br />

Ein Foto aus George Eastman Brownie<br />

Geschichte<br />

The Eastman Company<br />

No. 4 Kodak Camera, 1890; modifiziertes Model


Geschichte<br />

Die UrLeica aus dem Jahr 1913<br />

In die Kodak Pocket Kamera konnte jeder die Filmpatronen selber - auch<br />

bei Tageslicht - einlegen und entnehmen. Die ersten Film-Patronen wa-<br />

ren für zwölf Aufnahmen ausgelegt. Damit war es für den Amateur nicht<br />

mehr notwendig erst 100 Aufnahmen machen zu müssen, bevor er den<br />

Film einschicken konnte.<br />

Weitere Entwicklungen<br />

Im Laufe des 20. Jahrhunderts bildeten sich verschiedene Aufnahme-<br />

formate heraus, die bedingt durch die Verbesserung der Empfindlichkeit<br />

des Filmmaterials immer kleiner wurden. Es entstanden die ersten Klein-<br />

bildkameras (z.B. Leica).<br />

Auch wurden scharfzeichnende und lichtstarke Objektive konstruiert. Ka-<br />

merakonstrukteure wie Carl Zeiss (1854 - 1923), Rudolf Krügener (1847<br />

-1913) und Carl Paul Goerz (1854 - 1923) haben sich hier besonders<br />

verdient gemacht. Weitere große Schritte wurden 1935 und 1936 durch<br />

„Kodachrome-Umkehrfarbfilm“ und „Agfacolor Film“, den ersten Farb-<br />

filmen überhaupt eingeleitet. 1939 kamen auch farbige Negativ-Positiv-<br />

Filme auf den Markt. 1947 wurde das Polaroid-Schwarzweiß- und 1963<br />

das Polaroid-Farbverfahren entwickelt. Weiterhin wurde die Filmemp-<br />

findlichkeit der Filme bis heute stark verbessert. War 1953 noch 21 DIN<br />

(ASA 100) die Obergrenze bei Schwarzweiß-Filmen, so ist es heute kein<br />

Problem mehr Schwarzweiß Filme mit 27 DIN (ASA 400) zu bekommen.<br />

Ebenso bei Farbfilmen war 1953 12 DIN (ASA 12), höchsten 14 DIN<br />

26


(ASA 20) üblich. Heute dagegen kann man Farbfilme mit über 33 DIN<br />

(ASA 1600) bekommen. Die Fotografie hat sich in den Grundzügen seit<br />

Einführung der ersten Kodak-Kameras nicht wesentlich verändert. Auch<br />

heute noch sind die chemischen Grundlagen gleich geblieben, man hat<br />

bisher - trotz ständiger Forschung - kein besseres Material gefunden,<br />

das besser geeignet wäre als Silbersalze. In den letzen 15 bis 20 Jahren<br />

hat lediglich die Elektronik immer mehr an Bedeutung gewonnen, ohne<br />

die beispielsweise die extrem kurzen Verschlusszeiten oder Autofokus<br />

nicht möglich wären.<br />

Das digitale Zeitalter<br />

Die erste CCD (Charge-coupled Device) Still-Video-Kamera wurde 1970<br />

von Bell konstruiert und 1972 meldeten Texas Instruments das erste<br />

Patent auf eine filmlose Kamera an, welche einen Fernsehbildschirm als<br />

Sucher verwendet.<br />

1973 produzierte Fairchild Imaging das erste kommerzielle CCD mit ei-<br />

ner Auflösung von 100 x 100 Pixel. Dieses CCD wurde 1975 in der ers-<br />

ten funktionstüchtigen digitalen Kamera von Kodak benutzt. Entwickelt<br />

hat sie der Erfinder Steven Sasson. Diese Kamera wog 3,6 Kilogramm,<br />

war größer als ein Toaster und benötigte noch 23 Sekunden, um ein<br />

Schwarz-weiß-Bild mit 100x100 Pixel Auflösung auf eine digitale Mag-<br />

netbandkassette zu übertragen; um das Bild auf einem Bildschirm sicht-<br />

bar zu machen, bedurfte es weiterer 23 Sekunden.<br />

27<br />

Geschichte<br />

Sinar p2, eine Fachkamera höchster Flexibilität<br />

und Genauigkeit


Geschichte<br />

Unterschiedliche Sensoren und Größen für digitale<br />

SLR-Kameras<br />

neueste digital SLR von Nikon, die D3 mit einer<br />

Sensorgröße von 24 x 36 mm<br />

1986 stellte Canon mit der RC-701 die erste kommerziell erhältliche Still-<br />

Video-Kamera mit magnetischer Aufzeichnung der Bilddaten vor, Minol-<br />

ta präsentierte den Still Video Back SVB-90 für die Minolta 9000; durch<br />

Austausch der Rückwand der Kleinbild-Spiegelreflexkamera wurde aus<br />

der Minolta 9000 eine digitale Spiegelreflexkamera; gespeichert wurden<br />

die Bilddaten auf 2-Zoll-Disketten.<br />

1987 folgten weitere Modelle der RC-Serie von Canon sowie digitale<br />

Kameras von Fujifilm (ES-1), Konica (KC-400) und Sony (MVC-A7AF).<br />

1988 folgte Nikon mit der QV-1000C und 1990 bzw. 1991 Kodak mit<br />

dem DCS-System (Digital Camera System) sowie Rollei mit dem Digital<br />

Scan Pack. Ab Anfang der 1990er Jahre kann die Digitalfotografie im<br />

kommerziellen Bildproduktionsbereich als eingeführt betrachtet werden.<br />

Die Technik der digitalen Fotografie revolutionierte auch die Möglichkei-<br />

ten der digitalen Kunst, insbesondere durch die Technik der Fotomani-<br />

pulation.<br />

Auf der Photokina 2006 scheint die Zeit der Analogkamera endgültig<br />

vorbei zu sein. Im Jahr 2007 sind weltweit 91 Prozent aller verkauften<br />

Fotokameras digital.<br />

Durch die Digitalisierung der Bildmedien ist die klassische Dunkelkam-<br />

merarbeit praktisch verschwunden. Nur noch wenige Fotografen können<br />

ganz auf den Computer verzichten. Die damit verbundenen Möglichkei-<br />

ten in der Retusche und Druckvorstufe sind nahezu unbegrenzt. Was<br />

28


früher der Vergrößerer, die Chemie und Stoppuhr waren, ist heute eine<br />

Bildbearbeitungssoftware, ein Computer und ein kalibriertes System von<br />

der Kamera über den Bildschirm bis zum Drucker.<br />

In diesem Sinne sind die eben genannten Utensilien ebenfalls maßgeb-<br />

lich an der Fotografie beteiligt.<br />

29<br />

Geschichte


Die Ausrüstung eines Fotografen kann sehr unterschiedlich ausfallen, je nach Profession und<br />

abzubildendem Sujet gibt es eine Vielzahl an Gerätschaften für ein und denselben physikalischen<br />

Vorgang, das Bannen eines Augenblicks auf Film oder Sensor.<br />

Angefangen mit dem Objektiv, dem Kameragehäuse und dem zu belichtenden Medium<br />

spannt sich der Bogen über Stativ, Belichtungsmesser, Filter bis hin zum raffinierten Beleuchtungsmaterial.<br />

Was aber ist mit dem Auge des Fotografen, und den gespeicherten Erinnerungen. Sie sind<br />

letzten Endes die gestaltenden „Räder“ die justiert werden um dem Foto, fernab technischer<br />

Verliebtheit, seine Unverwechselbarkeit zu geben.<br />

Material und Technik


Material & Technik<br />

Schematische Darstellung des Strahlengangs<br />

durch ein Normalobjektiv.<br />

Kamera allgemein<br />

Die Kamera ist in der Regel einäugig, sie arbeitet also mit einem Linsensys-<br />

tem, das mit einer Blende versehen ist. Diese erfüllt zwei Funktionen; sie regelt<br />

die Lichtmenge und die Schärfe. Die Berechnung und Zusammenstellung der<br />

Optik (Linsensystem) bestimmen die Lichtstärke und das Auflösungsvermö-<br />

gen. Durch eine Positionseränderung der Linsen verändert sich die Bildweite<br />

und führt in einem Punkt zu einer scharfen Abbildung. Der Verschluss ermög-<br />

licht verschieden lange Belichtungszeiten und damit auf unterschiedliche Hel-<br />

ligkeit und Blendeneinstellung einzugehen. Im Moment des Auslösens stehen<br />

alle Linsen fest und die Kamera registriert die einfallenden optischen Daten.<br />

Die Optik bildet perspektivisch ab, wobei eine Brennweitenänderung nur<br />

den Abbildungsmaßstab und Ausschnitt verändert, nicht aber die Pers-<br />

pektive. Wird keine Entzerrung benutzt, bildet das optische System der<br />

Kamera alle perspektivischen Verzeichnungen ab.<br />

32


Mit einer Aufnahme wird eine optische Anordnung fixiert, die in ein zwei-<br />

dimensionales, simultanes Bild übertragen wird. Ob die vorhandene<br />

Lichtmenge für eine Aufnahme ausreicht, hängt auch von der Lichtemp-<br />

findlichkeit des Aufnahmemediums ab. Es gilt je höher die ISO desto grö-<br />

ßer der Kontrast und geringer die Auflösung. In der analogen Fotografie<br />

wird dieser Auflösungsverlust durch steigende Körnigkeit sichtbar. Das<br />

digitale Medium spricht hier vom Helligkeits- oder Farbrauschen, dass<br />

aber durch zunehmenden Fortschritt in der Sensortechnologie immer<br />

geringer wird. Im Kleinbildsegment liefern inzwischen ISO-Werte über<br />

3200 schon sehr ansprechende Bildergebnisse.<br />

Bei Farbaufnahmen muss die Kamera zusätzlich auf unterschiedliche<br />

Farbtemperaturen sensibilisiert werden. Die Farbtemperatur wird in °K<br />

gemessen und führen zu unerschiedlichen Farbwiedergaben.<br />

Wird man sich all dieser Variations- und Einstellungsmöglichkeiten be-<br />

wusst, erkennt man auch, dass eine Kamera bedient werden muss um<br />

zu funktionieren, und dies setzt eine genaue Kenntnis über die Funkti-<br />

onsweise der einzelnen Parameter voraus.<br />

Von der Fach- zur Pocketkamera<br />

Fach- oder Großformatkamera<br />

Auch wenn heutige Fachkameras viel mehr Einstellungsmöglichkeiten<br />

und präziser konstruiert sind als ihre historischen Pendantes, so kommt<br />

33<br />

Material & Technik<br />

Eine moderne Fachkamera bietet die mit Abstand<br />

größten Einstellmöglichkeiten und ist in der<br />

Bildqualität das Maß in der Fotografie.<br />

Die Standarten können zueinander in alle Richtungen<br />

geschwenkt und gedreht werden, hier die<br />

Linhof_M679cs.


Material & Technik<br />

Ein digitales Rückteil, wie es auch für Fachkameras<br />

genützt werden kann. [MamiyaZDback]<br />

sie doch dem Urtypus einer Kamera am nächsten. Sie besteht aus zwei<br />

Standarten, die zum einen mechanisch über eine optische Bank und<br />

zum anderen über einen lichtdichten Faltenbalk verbunden sind. Die bei-<br />

den Standarten sind zu einander fast beliebig verschieb- und verdrehbar<br />

gelagert, so dass die Schärfeebene und die Perspektive in einem großen<br />

Bereich beeinflusst werden können.<br />

Auch wenn die Kamera etwas unhandlich aussieht, ist dieser Typ der<br />

Variabelste, was an den vielen Einstellmöglichkeiten liegt.<br />

Die Schärfe wird durch eine Längenänderung des Auszuges eingestellt.<br />

Durch Verschieben der Standarten zueinander kann die Perspektive des<br />

Bildes beeinflusst werden. Es können z.B. stürzende Linien vermieden<br />

werden. [Shift]<br />

Durch Verkippen der Standarten zueinander kann die Schärfeebene<br />

schräg in den Raum gelegt werden, so dass z.B. eine Mauer von vorne<br />

bis hinten scharf fotografiert werden kann. [Tilt]<br />

Die Einstellungen können auf der Mattscheibe hinten an der Kamera<br />

überprüft werden. Man kann also genau das erkennen, was später auf<br />

dem Foto abgebildet wird. Allerdings steht das Bild auf dem Kopf, man<br />

muss also etwas umdenken können. Zum Fotografieren wird dann der<br />

Verschluss geschlossen, eine Filmkassette eingelegt und diese dann be-<br />

lichtet. Bei den Filmkassetten handelt es sich meist um großformatige<br />

Negative von 9 x 12 cm bis 20 x 25 cm. Dadurch ist es möglich sehr<br />

detaillierte Aufnahmen zu machen.<br />

Dieser Kameratyp wird hauptsächlich für Architektur- und Sachfotografie<br />

verwendet, wo eine hohe Bildqualität und ein perspektivisch korrekte<br />

34


(korrigierte) Darstellung erwünscht sind. Sachen und Gebäude „laufen“<br />

auch nicht weg, so dass man genügend Zeit hat, die Kamera optimal<br />

auszurichten, um dann ein Bild zu machen.<br />

Fachkameras sind relativ teuer, aufwendig zu bedienen, nicht unbedingt<br />

für Rollfilm geeignet und unhandlich, also nicht für jede fotografische Auf-<br />

gabe geeignet. Digitale Rückwände werden mittlerweile von verschiede-<br />

nen Herstellern angeboten, sind aber auf Grund ihrer hohen Staubanfäl-<br />

ligkeit und des extrem hohen Preises selbst in der Architekturfotografie<br />

noch selten.<br />

Diese sehr aufwendige aber Qualitativ hochwertigste Aufnahmetechnik<br />

ist für die meisten Anwendungen nicht unbedingt notwendig oder oft<br />

schlicht nicht möglich.<br />

Retrofokus oder Sucherkamera<br />

Die Mittelformat Spiegelreflex ist zwar in ihrem, durch das Format des<br />

Films/Sensors bedingtem, Auflösungsvermögen der klassischen Klein-<br />

bildspiegelreflex Kamera um einiges überlegen, aber wiederum in ihrer<br />

Handhabbarkeit jener weit unterlegen.<br />

Im heute dominierten Digitalsegment der Fotografie nähern sich die Auf-<br />

lösungsvermögen des KB-Sensorformates dem digitalen Mittelformat<br />

immer mehr an. Bei einer Sensorgröße von 36 x 48 mm ist das digitale<br />

Mittelformat zwar deutlich kleiner als ihre analogen Vorgänger aber noch<br />

doppelt so groß wie das klassische Kleinbildformat (Vollformat) mit 24<br />

x 36 mm. Die höhere Auflösung, das geringere Rauschverhalten des<br />

Sensors und der größere Dynamikumfang des Mittelformates ist aber<br />

35<br />

Material & Technik<br />

Schnitt durch das neue PC-E NIKKOR 24mm /<br />

3,5D EDvon Nikon mit Shift/Tilt Funktion. Die Linsengruppe<br />

rechts dient zum ausgleich der durch<br />

den Spiegelkasten bedingten Brennweitenverlängerung<br />

(Retrofokus.


Material & Technik<br />

Die H2D, hier mit dem Hasselblad Digitalrückteil<br />

das 39 Megapixel Auflösung zu bieten hat, bei<br />

einer Größe von 48mm x 36mm. Mehr ist auch<br />

von digitalen Rückteilen für Fachkameras nicht zu<br />

bekommen.<br />

erst ab einem gewissen Vergrößerungsmaßstab relevant und sichtbar.<br />

Alle Formate bis A3 sind auch mit SLR‘s im Kleinbild- oder DX-Format,<br />

vorausgesetzt es handelt sich um eine SLR mit rund 12 MP und High-<br />

end-Objektive mit Höchster Qualität, in bester Qualität zu erreichen und<br />

daher ist die klassische Spiegelreflexkamera auch weitgehend „architek-<br />

turtauglich“. Auch der „Megapixelwahn“ in allen Kameraklassen ist nur<br />

bedingt sinnvoll, da auf Grund des optischen Systems die Auflösung<br />

allein schon durch die Linsen begrenzt ist. Bei einer höhere Pixelzahl ist<br />

somit nicht unbedingt mit einer besseren Bildqualität zu rechnen.<br />

Die Verstellmöglichkeiten und die Genauigkeit einer Fachkamera erreichen<br />

beide nicht. Durch den Spiegelkasten bedingt, müssen die Objektive bei-<br />

der Kameratypen speziell gebaut werden (Retrofokusobjektive): Ein Ret-<br />

rofokusobjektiv besteht – grob vereinfacht – aus zwei Objektiven, nämlich<br />

einem mit der angegebenen Nennbrennweite und einem Zweiten, das da-<br />

rüber hinwegtäuschen hilft, dass der tatsächliche Abstand zur Filmebene<br />

weit größer ist (bedingt durch den Spiegelkasten). Diese Bauweise verur-<br />

sacht Verzeichnungen (tonnen- oder kissenförmig) die nur bedingt und bei<br />

sehr teuren Objektiven weitestgehend korrigiert sind.<br />

Diesen bautypischen „Fehler“ haben beispielsweise Sucherkameras<br />

nicht, dafür ist das im Sucher gezeigte Bild nicht exakt das, das später<br />

auf dem Film zu sehen ist.<br />

In der digitalen Kamerawelt ist das Problem des Spiegelkastens schon<br />

gelöst; statt das Bild durch einen Spiegel und Prisma umzulenken wird es<br />

via LiveView auf dem kamerarückseitigem Display angezeigt, das auch<br />

bei schwierigen Lichtverhältnissen ein gutes Sucherbild abgibt, und nicht<br />

36


wie bei Fachkameras sehr flau ist und zusätzlich noch auf dem Kopf<br />

steht. Es zeigt 100% des Sucherbildes und alle Einstellungsparameter<br />

wie Zeit, Blende, Farbtemperatur, Empfindlichkeit, … sind Live und vor<br />

der Belichtung anzusehen. Somit lassen sich alle Einstellungen noch vor<br />

dem Auslösen kontrollieren. Ist das die perfekte „Architekturkamera“?<br />

Ich spreche hier von der so genannten hochwertigen Bridge-Kameras, die,<br />

wie der Name schon vorwegnimmt, eine Brücke schlägt, zwischen der<br />

SLR- und der Pocketkamera. Leider ist in den „hochwertigen“ Bridgekame-<br />

ras nicht jene Technik zu finden die einen ambitionierten Architekturfotogra-<br />

fen zufriedenstellt. Weder die Objektivqualität oder ihre Verstellmöglichkeit,<br />

noch das Auflösungsvermögen der Sensoren sind auf dem Niveau, dass<br />

das Abbilden von Architektur in der ihr gewohnten Qualität ermöglicht.<br />

Der Massenmarkt, in dem auch die Bridgekameras zu finden sind, fließt<br />

in eine andere Richtung als dem hoch spezialisierten Anspruch des Ar-<br />

chitekturfotografen gerecht zu werden.<br />

Gute Architekturfotos sind aber selbst mit einer einfachen Pocketkamera<br />

zu machen sofern die Linse nicht zu sehr verzeichnet und die Grundein-<br />

stellungen eines jeden Fotos auch manuell einzustellen sind. Das Foto<br />

entsteht zuerst im Kopf des Fotografen und muss erst „gesehen“ wer-<br />

den, das Werkzeug, die Kamera ist doch nur der technische Rahmen<br />

in die das Foto gezwängt wird. Bei einer Fachkamera ist der Rahmen<br />

größer und lässt mehr Raum für Details und Verstellmöglichkeiten, dem<br />

entgegen stellt sich die Spontaneität und Flexibilität mit der kleinere oder<br />

kompakte Kameras punkten.<br />

37<br />

Material & Technik<br />

Nikons erste Fullframe-SLR [24 x 36 mm], eine<br />

Kamera mit 12 MP, ausreichend für Vergrößerungen<br />

bis A3.


Material & Technik<br />

Eine sogenannte Bridge-Kamera, die Sony R1.<br />

Weitere Ausrüstung<br />

Das Equipment zur Architekturfotografie besteht aber nicht nur aus Ka-<br />

mera und Objektiv. Der Bogen spannt sich vom Stativ über Filter bis hin<br />

zu Reinigungsmittel und Gegenständen, die vordergründig nichts mit Ar-<br />

chitekturfotografie zu tun haben, wie Kabelbinder, Tape, Schere, ...<br />

Das Thema Licht ist in der Architekturfotografie vielmehr Thema des Ar-<br />

chitekten als das des Fotografen. Ich persönlich vermeide es zusätzliches<br />

Licht zu verwenden. Die Architektur, wie auch deren Fotografie sollte<br />

mit dem Licht auskommen, das der Architekt eingeplant hat, natürliches<br />

wie auch künstliches. Wird zusätzliches Licht verwendet, zerstört dies<br />

unweigerlich die eigentliche Lichtstimmung im Raum, und diese ist von<br />

größter Bedeutung für die Architektur, und somit auch für dessen Fo-<br />

tograf. Um das Problem der über- und unterbelichteten Bereiche trotz-<br />

dem in den Griff zu bekommen, arbeite ich mit mehreren Belichtungen<br />

die nachträglich am Computer zusammengefügt werden. So wird das<br />

„Zeichnungsvermögen“ der Kamera in den dunklen und hellen Berei-<br />

chen an die unserer Augen herangeführt, eine Technik die DRI (Dynamic<br />

Range Increase) oder HDR (High Dynamic Range) genannt wird.<br />

Durch die Verwendung des Computers in der fotografischen Ausarbei-<br />

tung, rückt dieser heute an die Stelle der Dunkelkammer. Ein professio-<br />

nelles Bildbearbeitungsprogramm eröffnet dem Fotografen nie dagewe-<br />

sene Korrekturmöglichkeiten. Störende Bildelemente werden entfernt,<br />

fehlendes Beiwerk wie Pflanzen oder die mit Granit gepflasterte Einfahrt<br />

38


werden kurzer Hand eingefügt und niemand bemerkt den „Schwindel“.<br />

Diese Verlockungen rauben der Fotografie aber ihren seit Beginn zuei-<br />

genen Dokumentationscharakter. Der Glaube an die „Wahrheit“ auf den<br />

Fotos geht durch die Manipulationsmöglichkeiten verloren.<br />

Kamera, Objektive, Stativ, Filter, Graukarte, Fernauslöser, Speicherkar-<br />

ten, Image Tank, Computer, Bildbearbeitungsprogramm, Reinigungsset,<br />

Schwarzer Stoff, Weißer Stoff, Klebeband, Kabelbinder, Besen & Schau-<br />

fel, Leiter, Messer, Flaschenöffner & Wein, ...<br />

... Wein?<br />

Eine Flasche Wein hat nun wirklich nichts mit der Arbeit des Fotografen<br />

zu tun; vordergründig sicher nicht, aber eine durch ein „Gastgeschenk“<br />

aufgelockerte Stimmung zwischen Hausherr/frau und Fotograf kann der<br />

fotografischen Ausbeute mehr als dienlich sein. Vor allem bei der Arbeit<br />

in Privathäusern, dringt der Fotograf in den Intimbereich einer Familie ein<br />

und mit diese Situation sollte sehr sensibel umgegangen werden. Daher<br />

ist es nur von Vorteil eine kleine Aufmerksamkeit mitzubringen, denn ein<br />

Lächeln und eine gute Flasche Wein führen bestimmt zu besseren „Er-<br />

gebnissen“ als ein ungepflegtes Auftreten gepaart mit trockenem Foto-<br />

grafenprofessionalismus.<br />

Hat man erst den/die Hausherrn/frau auf seiner Seite werden Fotos<br />

möglich, die ohne Unterstützung oder freies Bewegen nicht machbar<br />

gewesen wären.<br />

39<br />

Material & Technik


Es gibt so viele Bilder, wie es Augen gibt. Sam Francis<br />

Sehen und Erkennen<br />

Die Physio- und Psychologie des Sehens


Visuelle Wahrnehmung;<br />

Visuelle Wahrnehmung (Sehen) ist die Wahrnehmung von Objekten auf Grund der Reizung<br />

durch Lichtstrahlen, die von den Objekten ausgesandt, gebeugt oder reflektiert werden.<br />

Die einfachste visuelle Wahrnehmung zeigen einzellige Lebewesen wie das Augentierchen,<br />

mit einem lichtempfindlichen Fleck auf der Oberfläche. Damit ist zumindest eine allgemeine<br />

Helligkeitswahrnehmung möglich, aber durch Drehbewegungen des Körpers auch bereits<br />

eine Richtungsorientierung. Die weiteren Entwicklungen führten zu Becheraugen, Punktaugen<br />

und Facettenaugen der Gliedertiere sowie Linsenaugen bei den Wirbeltieren und einigen<br />

Weichtieren. Dementsprechend wird auch eine zunehmend detaillierte Bildwahrnehmung<br />

möglich, die bei einer parallelen Zweiäugigkeit auch eine Wahrnehmung der Raumtiefe umfasst.<br />

Ferner entstehen mit zunehmender Differenzierung der Sehorgane auch Fähigkeiten<br />

zur Wahrnehmung unterschiedlicher Wellenlängen des Lichtes, das Farbensehen. Unterschiedliche<br />

zeitliche Auflösung der Lichteindrücke ermöglicht auch die Wahrnehmung von<br />

Bewegung von Objekten.


Sehen & Erkennen<br />

Neurobiologische Betrachtung der visuellen Wahrnehmung<br />

bei Wirbeltieren<br />

Schnitt durch ein menschliches Auge<br />

Strahlenbrechung<br />

Das Wirbeltier-Auge enthält ein Linsensystem, das alle von einem Punkt<br />

ausgehenden Strahlen auf einen Punkt der Netzhaut (Retina) zusam-<br />

menführt und so auf diese ein umgekehrtes, verkleinertes Bild der Um-<br />

welt projiziert. Die stärkste Lichtbrechung findet beim Lichteintritt aus<br />

der Luft in die Hornhaut statt. Zur Veränderung der Brennweite lässt<br />

sich die dahinter liegende Linse durch Muskelzug verformen. Kurzfristi-<br />

ge Änderungen der Lichtintensität können durch eine Veränderung der<br />

Pupillengröße durch eine Veränderung der Iris ausgeglichen werden.<br />

Bei längerfristiger Änderung der Lichtverhältnisse kommt es zu einer<br />

Anpassung der Photorezeptoren an die höchste Leuchtdichte im Ge-<br />

sichtsfeld. Das Licht unterschiedlicher Wellenlängen wird unterschied-<br />

lich stark gebrochen (chromatische Aberration), weshalb sich das Auge<br />

in der Regel auf die Brennweite für grünes Licht einstellt und Farben<br />

räumlich zunächst nur sehr grob ausgewertet werden.<br />

44


Netzhautvorgänge<br />

Die visuelle Signaltransduktion spielt sich in den lichtempfindlichen Rezep-<br />

tor-Zellen (Zapfen und Stäbchen) der Retina ab. In ihnen befinden sich licht-<br />

empfindliche Moleküle, die an ein so genanntes G-Protein gekoppelt sind.<br />

Diese lichtempfindlichen Moleküle (z.B. Rhodopsin) bestehen aus Vitamin A<br />

(Retinal) und einem Proteinanteil (Opsin). Trifft ein Photon auf das Molekül, so<br />

verändert es seine räumliche Anordnung (Konformation). Dabei spielen die<br />

beiden Teile des Rhodopsins eine unterschiedliche Rolle. Das Photon wird<br />

vom Vitamin-A-Molekül absorbiert, das daraufhin seine Struktur verändert.<br />

Ist es zuerst noch am elften Kohlenstoffatom geknickt, (11-cis-Retinal)<br />

so richtet es sich nun gerade aus (all-trans-Retinal). Daraufhin verändert<br />

auch der Proteinanteil des Rhodopsin seine Anordnung und kann nun<br />

mit dem G-Protein (Transducin) interagieren. Dieses löst eine signalver-<br />

stärkende Enzymkaskade aus. Bei Wirbeltieren führt diese Enzymkaska-<br />

de zu einer negativeren elektrischen Ladung an der Zellmembran. Damit<br />

ist das Ende der visuellen Signaltransduktionskaskade erreicht.<br />

Allerdings können auch andere Reize diese Kaskade in Gang setzen und<br />

visuelle Eindrücke hervorrufen, ohne dass ein visueller Reiz vorliegt, al-<br />

len voran Druck. Die oftmals hellen Muster die man wahrnehmen kann,<br />

wenn man sich die Augen reibt oder einen Schlag auf das Auge erhalten<br />

hat, sind Folge derselben Signalkaskade in den lichtempfindlichen Zellen<br />

und erzeugen ebenso ein elektrisches Signal.<br />

45<br />

Sehen & Erkennen<br />

Schematische Darstellung von<br />

Stäbchen und Zapfen, und der Aufbau der Retina.


Sehen & Erkennen<br />

Schematische Übersicht über die Sehbahn<br />

Das elektrische Signal wird anschließend von weiteren Zellen der Reti-<br />

na ausgewertet, wobei es in der Retina horizontal und vertikal weiter-<br />

geleitet wird. Horizontal regulieren Horizontalzellen und Amakrinzellen<br />

das Signal, vertikal wird es von Bipolarzellen an die Ganglienzellen wei-<br />

tergeleitet.<br />

Die Ganglienzellen sind Neurone, deren Axone den Sehnerv bilden. Da<br />

die Retina von Wirbeltieren invers gebaut ist, die Photorezeptoren also<br />

vom Licht abgewendet sind, müssen die Axone der Ganglienzellen durch<br />

einen Punkt, den blinden Fleck, das Auge als Sehnerv verlassen.<br />

Schon auf der Retina wird das Signal der Photorezeptoren vorverarbei-<br />

tet. So sorgen die Horizontalzellen am Photorezeptor für eine Kanten-<br />

verstärkung durch laterale Inhibition. Der zentrale Bereich der Retina ist<br />

zudem räumlich höher aufgelöst. Nur hier besitzt jeder Photorezeptor<br />

eine eigene Ganglienzelle. Im restlichen Auge kommen im Durchschnitt<br />

etwa 300 Photorezeptoren auf jede Ganglienzelle. In der Peripherie der<br />

Retina kann das Verhältnis bis zu 3000 Photorezeptoren pro Ganglien-<br />

zelle betragen, weshalb man auch von dendritischen Feldern spricht.<br />

Sehbahn<br />

Die Axone der Sehnerven beider Augen werden in der Sehnervenkreu-<br />

zung so geteilt, dass die Information von der nasalen Hälfte der Retina<br />

in den contralateralen Sulcus Calcarinus geleitet wird, während die In-<br />

46


formation der temporalen Retinahälfte in den ipsilateralen calcarinischen<br />

Sulcus gelangt. Der so geteilte Sehnerv übermittelt die Information in<br />

das Mittelhirn in den jeweiligen Colliculus superior und das Corpus ge-<br />

niculatum laterale (CGL). Vom CGL aus strahlen die Sehstrahlen in den<br />

primären visuellen Kortex (V1) aus. Einige Zellen des CGL strahlen auch<br />

direkt in höhere Gehirnareale aus, wie das für die Bewegungserkennung<br />

zuständige visuelle Kortexareal V5 - diese Signale dienen vermutlich zur<br />

direkten Kontrolle der Bewegungswahrnehmung.<br />

Abhängig von der Größe der Zellkörper im CGL spricht man auch vom<br />

magnozellulären (groß) und parvozellulären (klein) Verarbeitungsweg.<br />

Beide Wege haben unterschiedliche Funktionen und haben unter-<br />

schiedliche Ganglienzelltypen (M- und P-Ganglienzellen). Die bei Säu-<br />

getieren gefundenen W-Zellen lassen sich bei Primaten nicht nachwei-<br />

sen. Bisher wird angenommen, dass die großen Zellkörper vor allem für<br />

Bewegungswahrnehmung und Objektlokalisation, die kleinen vor allem<br />

für Beschaffenheit, Struktur und Farbe zuständig sind. Im CGL wurde<br />

inzwischen, zusätzlich zum magnozellulären und parvozellulären Ver-<br />

arbeitungsweg, ein dritter Verarbeitungsweg gefunden. Wegen der nur<br />

kleinen, vereinzelt zwischen den Schichten vorkommenden Zellen be-<br />

zeichnet man ihn als den koniozellulären Verarbeitungsweg (von grie-<br />

chisch konios, Staub). Er dient wohl zur Verifizierung und Falsifizierung<br />

der in V1 bis V3 gewonnenen Informationen des magno- und parvozel-<br />

lulären Weges und ist daher direkt mit höheren Hirnarealen verschaltet<br />

(z. B. mit V5 für das Bewegungssehen).<br />

47<br />

Sehen & Erkennen<br />

Bewegungserkennung, Objektlokalisation aber<br />

auch das Sehen von Struktur, Farbe und Beschaffenheit<br />

wird vom Mittelhirn ausgehend in verschiedenen<br />

Gehirnarealen verarbeitet. Ein Bild aktiviert<br />

also unterschiedliche Gehirnareale, abhängig<br />

davon, was abgebildet ist.


Sehen & Erkennen<br />

Innerhalb von 150 ms ist die Objekterkennung<br />

abgeschlossen; mit Hilfe spezieller Zellen, die z. B.<br />

nur auf das Erkennen von Händen reagieren, wird<br />

das Sehen und Wahrnehmen praktisch zeitgleich<br />

möglich.<br />

Kortikale Verarbeitungsströme<br />

Im visuellen Kortexareal V1 wird vor allem eine Kantenerkennung<br />

durchgeführt. Diese Informationen werden in das Areal V2 und V3 des<br />

visuellen Kortex weitergeleitet. Ab hier teilen sich die Verarbeitungs-<br />

wege in einen entlang des Scheitels zentral nach vorne und einen<br />

zur Schläfe hin gerichteten Verarbeitungsstrom. Diese haben unter-<br />

schiedliche Funktionen. So dient der Verarbeitungsstrom zur Schläfe<br />

hin gerichtet vor allem der Objekterkennung (daher auch Was-Strom<br />

genannt), der am Scheitel entlang laufende Verarbeitungsstrom der<br />

Bewegungs- und Entfernungsbestimmung (daher auch Wo-Strom<br />

genannt).<br />

Durch diese parallele Verarbeitung wird eine enorm hohe Verarbeitungs-<br />

geschwindigkeit erreicht. Innerhalb von nur 150ms ist die gesamte<br />

Objekterkennung abgeschlossen, was zeitlich (nach der Phototrans-<br />

duktion) auf lediglich 5-10 neuronale Verarbeitungsschritte schließen<br />

lässt. Beide Verarbeitungsströme treffen im Stirnlappen erneut zusam-<br />

men, womit die visuelle Wahrnehmung durch eine Objektkategorisie-<br />

rung und eine räumliche Bestimmung (Größe, Entfernung, Bewegung)<br />

abgeschlossen wird. Das Sehen eines Objektes erfolgt also zeitgleich<br />

mit seiner Wahrnehmung! Entlang dieser kortikalen Verarbeitungswege<br />

wird die räumliche Anordnung der retinalen Ganglienzellen immer wei-<br />

ter, zugunsten von hochspezialisierten Zentren hin, verlassen. V1 und<br />

V2 sind annähernd noch vollständig retinop aufgebaut. In den höheren<br />

48


Kortexarealen hingegen gibt es hochspezifische Zellen, die z.B. nur auf<br />

das Vorhandensein von Händen, Tieren oder Gesichtern reagieren, un-<br />

abhängig davon, wo diese Objekte sich im Sehfeld befinden.<br />

Feed-back-Schleifen<br />

Wird ein zuvor unbekanntes Objekt wahrgenommen, wird der feine aufge-<br />

löste Bereich der Augen (die Fovea centralis) darauf gerichtet und das Ob-<br />

jekt optisch abgetastet. Hat bereits eine Kategorisierung stattgefunden,<br />

wird das Objekt sofort erkannt und auch die Wahrnehmung selber wird<br />

diesem Objekt angepasst. Dies geht sogar soweit, dass Kantenwahrneh-<br />

mung von Scheinkanten, also nicht vorhandenen Kanten, auch im visu-<br />

ellen Kortexareal V1 stattfindet, tatsächlich vorhandene Kanten hingegen<br />

dort dann nicht mehr ausgewertet werden. Handelt es sich hingegen um<br />

ein völlig unbekanntes Objekt, wird es genauer betrachtet und dann einer<br />

passenden Kategorie hinzugefügt. Ist eine solche Einteilung erfolgt, findet<br />

nur noch eine Perzeption statt. Bei einer Fehlbeurteilung dauert es daher<br />

recht lange, bis eine korrigierende Wahrnehmung möglich ist.<br />

Steigerung der optisch limitierten Auflösung<br />

Die tatsächliche, physikalische Auflösung eines Auges ist auf einige Bo-<br />

genminuten begrenzt. Tatsächlich wird eine wesentlich höhere Auflösung<br />

wahrgenommen (etwa um Faktor 10 besser), als sie dem Bauplan des<br />

Auges entspricht. Diese Überauflösung hat mehrere Ursachen, vor allem<br />

49<br />

Sehen & Erkennen<br />

Unbekanntes genießt einen „verschärften“ Blick.<br />

Die tatsächliche Auflösung des Auges ist 10 mal<br />

höher als ihre physikalische.


Sehen & Erkennen<br />

Wir „sehen“ nicht nur mit den Augen, andere<br />

Sinne wie der Geschmacks- oder auch der Gleichgewichtssinn<br />

sind massiv an der Wahrnehmung<br />

beteiligt.<br />

die zeitlich überlagende Auswertung, der durch Augenbewegungen ent-<br />

stehenden zusätzlichen Rauminformation.<br />

Verknüpfungen der visuellen Wahrnehmung mit<br />

anderen Wahrnehmungen<br />

Die Verknüpfung der visuellen Wahrnehmung mit anderen Wahrneh-<br />

mungen geschieht über jeweils eigene Hirnareale. So werden akusti-<br />

sche Wahrnehmungen vermutlich über den Colliculus inferior mit der<br />

visuellen Wahrnehmung verknüpft. Zur Ermittlung der Lotrechten wird<br />

neben der Information des Innenohres auch der visuell wahrgenomme-<br />

ne Horizont verwendet. Allerdings sprechen im visuellen Cortex immer<br />

noch die gleichen Zellen an, wenn sich die Winkellage von Konturen<br />

auf der Netzhaut durch eine Schrägstellung des Kopfes ändert. Die<br />

Lageinformation aus dem Innenohr wird also (mit geringen systema-<br />

tischen Fehlern) korrigierend mit der Netzhautinformation verrechnet,<br />

wie Hubel und Wiesel an Katzen durch elektrophysiologische Ableitun-<br />

gen zeigen konnten.<br />

Drehung des umgekehrten Bildes auf der Netzhaut<br />

Das Bild im Auge wird durch die Linsenabbildung auf der Netzhaut um<br />

180° gedreht. Das Gehirn verarbeitet die Signale allerdings so, dass uns<br />

die Welt nicht als auf dem Kopf stehend erscheint. Hierzu wurden Versu-<br />

che mit Brillen unternommen, welche das Sichtbild nochmals um 180°<br />

50


drehten. Nachdem Versuchspersonen diese Brillen ca. zwei Wochen tru-<br />

gen, sahen sie fast alles wieder normal. Lediglich Details standen noch<br />

Kopf, wie z.B. gedrehte Uhrenzifferblätter in ansonsten aufrechten Kirch-<br />

türmen. Nach dem Abnehmen solcher Brillen kehrte die normale Sicht<br />

innerhalb weniger Tage zurück.<br />

51<br />

Sehen & Erkennen


Sehen & Erkennen<br />

Psychologische Betrachtung der visuellen Wahrnehmung<br />

beim Menschen<br />

Physische Stufe<br />

Die Netzhaut befindet sich auf der rückseitigen Innenseite des Augap-<br />

fels; auf ihr sind Millionen einzelner lichtempfindlicher Zellen - Photore-<br />

zeptoren - in einer halbkugelförmigen Schicht angeordnet. Die lichtche-<br />

mische Zersetzung der im Rezeptor enthaltenen Substanz löst einen<br />

elektrischen Impuls aus, eine „neuronale Erregung“, ein „Signal“, das auf<br />

nachgeschaltete Zellen weitergeleitet wird, die ihrerseits ihre Erregun-<br />

gen in einem hierarchischen Prozess an bestimmte Gebiete des Gehirns<br />

weiterleiten. Diese Vorgänge und ihre hierarchische Struktur werden seit<br />

Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv von der Neurophysiologie erforscht,<br />

anfangs vor allem von David Hubel und Torsten Wiesel, die für ihre bahn-<br />

brechenden Ergebnisse den Nobelpreis erhalten haben.<br />

Es gibt zwei Typen von Photorezeptoren: Stäbchen und Zapfen. Die<br />

Stäbchen vermitteln das Hell-Dunkel-Sehen, die Zapfen das Farbense-<br />

hen. Zapfen sprechen auf Rot-, Grün- oder Blau-Empfindung vermitteln-<br />

de Wellenlängen an. Bei der menschlichen Wahrnehmung unterscheidet<br />

man peripheres Sehen und foveales Sehen. Ersteres dient mit Hilfe vor<br />

allem der Stäbchen dem zwar unscharfen, aber hoch-lichtempfindli-<br />

52


chen Dämmerungssehen (Nachtsehen); zweitens mit Hilfe der Zapfen<br />

dem „scharfen“ Sehen, den die Fovea, das zentrale Gebiet der Reti-<br />

na, in dem sich der Objektbereich um den Blickpunkt herum abbildet,<br />

enthält nur Zapfen, und zwar in großer Dichte. Die Zapfen dienen vor<br />

allem dem Tagsehen, denn sie sprechen nicht auf geringe Lichtintensität<br />

an; deswegen kann man nachts keine Farben wahrnehmen. Aus der<br />

unterschiedlichen spektralen Empfindlichkeit der Stäbchen und Zapfen<br />

ergibt sich der so genannte Purkinje-Effekt: das menschliche Auge ist<br />

im Bereich des Nachtsehens (das heißt in dunkeladaptiertem Zustand,<br />

also bei geringer Beleuchtungsstärke) blauempfindlicher als beim Tagse-<br />

hen. Darüber hinaus verlangsamt sich beim dunkeladaptierten Auge die<br />

Reizverarbeitung, der Seheindruck wird „träger“, diese physiologische<br />

Besonderheit bewirkt den Pulfrich-Effekt.<br />

Psychische Stufe<br />

Der psychischen Stufe gehört das (subjektive) „Erleben“ des Gesehenen an.<br />

Wahrnehmungserlebnisse und ihre Bedingungen sind ein von der Wahr-<br />

nehmungswissenschaft weitgehend unerforschtes Gebiet. Damit befasst<br />

sich vor allem die Gestaltpsychologie.<br />

Die kognitive Verarbeitung des visuellen Perzepts<br />

Wahrnehmen ist zweigliedrig: Ich (1) nehme etwas wahr (2).<br />

Erkennen ist dreigliedrig: Ich (1) erkenne Wahrgenommenes (2)<br />

als diesen Gegenstand (3).<br />

53<br />

Sehen & Erkennen<br />

Zwischen Wahrnehmen und Erkennen liegt das<br />

unbewusste aber auch bewusste Lernen. Beim<br />

Erkennen, dass es sich hier um eine Tür handelt,<br />

bringt sich die Erfahrung in die Wahrnehmung ein.


Sehen & Erkennen<br />

Verschiedene Auswertungsebenen beschreiben<br />

das Erkennen.<br />

Gestaltwahrnehmung beruht zudem auf impliziten (unbewussten) Lern-<br />

prozessen, das sind solche, durch die nicht-erlebte, erlebensjenseitige,<br />

(Gestalt) Funktionen im Gedächtnis miteinander verknüpft werden, wobei<br />

diese dann freilich durch nachfolgende Aktualisierung „ihre“ Gestaltqua-<br />

litäten produzieren, die das stets ganzheitliche Wahrnehmungserlebnis<br />

(Perzept) konstituieren.<br />

Erkennen hingegen beruht auf expliziten Lernprozessen, das sind sol-<br />

che, in denen bereits Erlebtes miteinander assoziiert wird. So wird das<br />

Wahrnehmungserlebnis „schwarzes Etwas“ mit dem geistigen Erlebnis<br />

der Bedeutung und Bezeichnung „Rechteck“ assoziiert. Visuelle Wahr-<br />

nehmungen werden kognitiv und damit in üblichem Sinne „bewusst“ in<br />

drei Schritten verarbeitet:<br />

1. Globalauswertung.<br />

Mit dem ersten Blick auf ein Bild oder eine Szene konzentriert sich der<br />

Betrachter darauf, einen Gesamteindruck der Szene zu gewinnen. Die<br />

visuelle Information wird dabei kategorisiert (z. B. „Landschaft“, „Per-<br />

son“, ...) und einem Schema aus dem Erfahrungsschatz des Betrachters<br />

zugeordnet, das zum weiteren Verständnis benutzt wird. Mit Erfahrung<br />

ist hier das Ergebnis von expliziten (das heißt: auf bewussten Erlebnissen<br />

beruhenden) Lernprozessen gemeint. So erfolgt z.B. die Auswertung von<br />

Zeichnungen oder Texten mit völlig anderen Mitteln als die Auswertung<br />

einer dreidimensionalen Szene.<br />

54


2. Detailauswertung.<br />

Nachdem der Betrachter sich einen Gesamteindruck verschafft hat,<br />

führt er eine Grobabtastung durch. Dazu lenkt er seinen Blick - oft aber<br />

nicht zwingend der Leserichtung folgend - über die Szene und ordnet<br />

die wahrgenommenen Informationen in das bereits aktivierte Schema<br />

ein oder nimmt im Bedarfsfall eine Neukategorisierung vor. Nach dieser<br />

Grobabtastung lenkt der Betrachter seinen Blick auf Bildbereiche, die<br />

visuell hervorstechen, z.B. durch Bewegung, Farbkontraste oder die Un-<br />

terscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund.<br />

3. Elaborative Auswertung.<br />

Erst jetzt aktiviert der Wahrnehmende ein Modell zur Übersetzung der<br />

visuellen Information in ein mentales Modell, welches für seine reale Pro-<br />

blematik und die zu lösende Aufgabe geeignet scheint. Die Betrachtung<br />

wird nun zielorientiert und konzentriert sich auf diejenigen Details, die<br />

zum Aufbau des mentalen Modells benötigt werden, z.B. das Gesicht<br />

oder die Geschlechtsmerkmale einer Person. Unwichtige Details werden<br />

bei diesem Vorgang ausgeblendet, im mentalen Modell nicht berück-<br />

sichtigt und daher auch nicht bewusst wahrgenommen. Dieser letzte<br />

Schritt ist sehr individuell; Auswahl und Reihenfolge der berücksichtigten<br />

Details werden durch Übung und Erfahrung optimiert.<br />

55<br />

Sehen & Erkennen


Sehen & Erkennen<br />

Visuelle Wahrnehmung bei anderen Lebewesen<br />

Die bloße Möglichkeit, Licht wahrzunehmen, besitzen auch die Pflanzen.<br />

Allerdings wird hierbei nicht von Sehen gesprochen, da diese Wahrneh-<br />

mung mit der Photosynthese untrennbar verbunden ist. Sie führt aber<br />

sehr wohl auch zu gezielten Reaktionen, etwa zur Ausrichtung der Blät-<br />

ter nach dem Lichteinfall oder zur Steuerung der Blütenbildung nach der<br />

wahrgenommenen Tageslänge.<br />

Ein völlig anderes Bildsehen als die Wirbeltiere und Weichtiere mit ihren<br />

Linsenaugen weisen Insekten und Krebse auf, die über so genannte Fa-<br />

cettenaugen verfügen. Dabei ist beispielsweise das Bienenauge aus rund<br />

5000 Teilaugen, den Ommatidien, zusammengesetzt. Jedes Ommatidi-<br />

um enthält in einer seitlich durch kontraktile Pigmentzellen abgedunkelten<br />

Becherstruktur 7 einzelne Sinneszellen, die sowohl für unterschiedliche<br />

Polarisationsrichtungen als auch für unterschiedliche Wellenlängenberei-<br />

che des Lichtes empfindlich sind. Nach der Oberfläche hin enthält jedes<br />

Ommatidium eine Sammellinse, welche den „Blickwinkel“ der einzelnen<br />

Facette einengt.<br />

Auch die spektrale Empfindlichkeit von Insektenaugen unterscheidet sie<br />

von den Wirbeltieraugen. Wie Karl von Frisch zeigte, können Bienen ul-<br />

traviolettes Licht wahrnehmen, nicht dagegen rotes. Insekten besitzen<br />

neben den Facettenaugen noch ein weiteres visuelles Wahrnehmungs-<br />

56


organ, die drei Punktaugen (auch Stirnaugen), die vermutlich als Licht-<br />

messer der Feststellung der absoluten Helligkeit dienen.<br />

Klapperschlangen und andere Grubenottern können durch ein spezielles<br />

„Wärmestrahlenauge“ - das Grubenorgan, die infrarote Wärmestrahlung<br />

lokalisieren, die vom Körper warmblütiger Beutetiere ausgeht. Vermutlich<br />

besitzen auch manche Nachtfalter ein ähnliches Organ.<br />

57<br />

Sehen & Erkennen<br />

Auch Pflanzen haben eine visuelle Wahrnehmung,<br />

sie richten sich nach der Sonne aus, bewegen sich<br />

mit ihr und „messen“ die Tageslänge<br />

Das Facettenauge einer Libelle ist ein hochspezialisiertes<br />

Sehorgan, das in diesem Fall einen<br />

beinahe lückenlosen rundum Blick ermöglicht.<br />

Das Grubenorgan bei manchen Schlangen ist ein<br />

zusätzliches „Sehorgan“, wie auch das Sonar der<br />

Delphine und Wale.


Gestaltpsychologie;<br />

Tritt man aus der rein biologisch-medizinischen-Sichtweise des Sehens heraus und ver-<br />

sucht man die visuellen Eindrücke zu verstehen, gelangt man rasch zur Psychologie des<br />

Sehens und da zur Gestaltpsychologie.<br />

Die Gestaltpsychologie wird in der Regel als eine Richtung innerhalb der Psychologie bezeichnet,<br />

die das Erleben (vor allem in der Wahrnehmung) als eine Ganzheit betrachtet, die<br />

auf einer bestimmten Anordnung der ihr zugrunde liegenden Gegebenheiten beruht, wobei<br />

diese Gegebenheiten als Glieder mit dem Ganzen in der Beziehung wechselseitiger Bedingtheit<br />

stehen.<br />

Das Wort „Gestaltpsychologie“ kann nur bedingt als klar definierbarer wissenschaftlicher<br />

Begriff gelten; es ist zum Teil ein durch seinen Gebrauch organisch gewachsener Name für<br />

eine Anzahl ähnlicher Auffassungen. Die Gestaltpsychologien unterschiedlicher Richtung<br />

leiten sich jedoch aus einer einzigen Arbeit aus dem Jahre 1890 her, in der der Philosoph<br />

Christian von Ehrenfels seine Erkenntnis berichtete, die Wahrnehmung enthalte Qualitäten,<br />

die sich nicht aus der Anordnung einfacher Sinnesqualitäten ergeben. So sei die Melodie<br />

eine solche Gestaltqualität, denn die Töne als Elemente der Melodie könnten durch ganz<br />

andere Töne ersetzt werden, und es wäre dennoch dieselbe Melodie, wenn nur die Anordnungsbeziehung<br />

zwischen den Tönen erhalten bliebe.


Sehen & Erkennen<br />

Klassische Gestaltpsychologie<br />

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!<br />

Dieser aus der Antike (korrekter wäre vielleicht die Übersetzung „Das Ganze<br />

ist etwas anderes als die Summe seiner Teile.“) stammende und inzwischen<br />

überstrapazierte Satz lässt sich als Leitmotto der Gestaltpsychologie ver-<br />

stehen. Sie wendet sich gegen die Auffassung, man könne die Psycho-<br />

logie voran bringen, indem man das ‚Seelenleben‘ in immer kleinere Ele-<br />

mente zerlegt. Die Gestaltpsychologie betont den ganzheitlichen Charakter<br />

menschlichen Wahrnehmens, Erlebens und Handelns. Die Grundeinheiten<br />

des Seelenlebens sind die Gestalten. (Zur Veranschaulichung kann man fol-<br />

gendes Beispiel betrachten: Eine Melodie lässt sich nicht erfassen, indem<br />

ihre Noten isoliert voneinander analysiert werden. Die Melodie bildet eine<br />

unzertrennbare Wahrnehmungseinheit, eine Gestalt.)<br />

Berliner Schule der Gestaltpsychologie<br />

Aufgrund der Beobachtungen v. Ehrenfels‘ entstand zu Beginn des 20. Jahr-<br />

hunderts die „Gestaltpsychologie“ als eine neue psychologische Richtung.<br />

Sie wurde zuerst im deutschsprachigen, dann auch im internationalen Raum<br />

einflussreich. Diese „Berliner Schule der Gestaltpsychologie“ nannte sich<br />

auch „Gestalttheorie“ und erweiterte ihren Gegenstand über die Wahrneh-<br />

mung hinaus. Sie ist vor allem ihrer umfangreichen Experimentalforschung<br />

60


auf dem Gebiet der Wahrnehmung wegen bekannt und berühmt geworden<br />

und wird noch Anfang des 21. Jahrhunderts vertreten. Es werden drei Arten<br />

von Gestaltqualitäten des Wahrnehmungserlebens unterschieden (Metzger<br />

1954, S. 62-65), ohne innerhalb dieser Arten eine Systematik anzugeben:<br />

Struktur, (Gefüge, Tektonik) wie gerade, rund, symmetrisch, ge-<br />

schlossen, spitz, wellig;<br />

Ganzbeschaffenheit wie durchsichtig, leuchtend, rau, gelb;<br />

„Wesen“ wie Charakter, Habitus, Gefühlswert.<br />

In der älteren Gestaltpsychologie vom Anfang des 20. Jahrhunderts wird<br />

„Gestaltgesetz“ synonym mit „Gestaltfaktor“, „Faktor“, „Gesetz“ oder<br />

auch mit „Gruppierungsgesetz“ verwendet. Ein Gestaltgesetz bezeich-<br />

net die Art des Zusammenschlusses von erlebten Teilen zu einer erlebten<br />

Ganzheit, oft neben einer Gruppe von einzelnen Gegebenheiten. „Der<br />

Zusammenschluss erfolgt derart, dass die entstehenden Ganzen in ir-<br />

gendeiner Weise vor anderen denkbaren Einteilungen gestaltlich ausge-<br />

zeichnet sind“, und zwar unter anderem so, „dass möglichst einfache,<br />

einheitliche, ...geschlossene, ...symmetrische, ...gleichartige Ganzgebil-<br />

de entstehen“ (Metzger, 1954, S. 108 f). Für diese und einige ande-<br />

re Arten des Zusammenschlusses wurden viele anschauliche Beispiele<br />

zusammengetragen, die den Betrachter unmittelbar überzeugen. Be-<br />

stimmte Fakten wurden klassifiziert, so dass man von einer deskriptiven<br />

Theorie sprechen kann; eine erklärende Theorie für sie wurde jedoch<br />

nicht entwickelt.<br />

61<br />

Sehen & Erkennen<br />

Dasselbe Bild nur um 180 ° gedreht zeigt eine vollkommen<br />

andere Oberfläche; was zuerst spitz und<br />

schroff ist zeigt sich im unteren Bild abgerundet.<br />

Ein zufällig auf Dia gebannter Dualismus, den ich<br />

erst beim Rahmen der Dias entdeckte.


Sehen & Erkennen<br />

Gestaltgesetze<br />

Gesetz der Prägnanz<br />

Es werden bevorzugt Gestalten wahrgenommen, die sich von anderen<br />

durch ein bestimmtes Merkmal abheben. Jede Figur wird so wahrge-<br />

nommen, dass sie in einer möglichst einfachen Struktur resultiert (= „Gu-<br />

te Gestalt“).<br />

Gesetz der Nähe<br />

Elemente mit geringen Abständen zueinander werden als zusammenge-<br />

hörig wahrgenommen.<br />

Gesetz der Ähnlichkeit<br />

Einander ähnliche Elemente werden eher als zusammengehörig erlebt<br />

als einander unähnliche.<br />

Gesetz der Kontinuität<br />

Reize, die eine Fortsetzung vorangehender Reize zu sein scheinen, wer-<br />

den als zusammengehörig angesehen.<br />

Gesetz der Geschlossenheit<br />

Linien, die eine Fläche umschließen, werden unter sonst gleichen Um-<br />

ständen leichter als eine Einheit aufgefasst als diejenigen, die sich nicht<br />

zusammenschließen (D. Katz, Gestaltpsychologie, 1969).<br />

62


Gesetz der gemeinsamen Bewegung<br />

Zwei oder mehrere sich gleichzeitig in eine Richtung bewegende Ele-<br />

mente werden als eine Einheit oder Gestalt wahrgenommen.<br />

Gesetz der fortgesetzt durchgehenden Linie<br />

Linien werden immer so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg.<br />

Kreuzen sich zwei Linien, so gehen wir nicht davon aus, dass der Verlauf<br />

der Linien an dieser Stelle einen Knick macht.<br />

Zusätzlich zu diesen von Wertheimer formulierten Gesetzen fand Ste-<br />

phen Palmer in den 1990er Jahren drei weitere Gestaltgesetze.<br />

Gesetz der gemeinsamen Region<br />

Elemente in abgegrenzten Gebieten werden als zusammengehörig emp-<br />

funden.<br />

Gesetz der Gleichzeitigkeit<br />

Elemente, die sich gleichzeitig verändern, werden als zusammengehörig<br />

empfunden.<br />

Gesetz der verbundenen Elemente<br />

Verbundene Elemente werden als ein Objekt empfunden.<br />

63<br />

Sehen & Erkennen<br />

Gleich mehrere Gestaltgesetze werden in diesem<br />

Bild vereint.


Es ist schon ein Widerspruch in sich, dass gerade dieses bewegungslose und zweidimensionale<br />

Medium Fotografie das scheinbar Häufigste ist, mit und durch das Architektur transportiert<br />

wird. Von der Postkarte über das Fachmagazin bis zum Architekturbildband, alle<br />

bedienen sich der Fotografie.<br />

Architektur, die wohl einzige „Kunstform“ die auch funktionalen Kriterien gerecht werden muss,<br />

ist in Wahrheit nur zu „erfahren“, wenn man sie betritt, durchschreitet und mit allen Sinne erlebt.<br />

Aber sparen wir aus, was das Foto transportiert, nämlich das starre einäugige Bild und<br />

erfahren Architektur mit dem Rest unseres Sinnessspektrums. Schließt man die Augen so<br />

geht zwar ein Großteil der menschlichen Wahrnehmung verloren, aber man nimmt Architektur<br />

auch mit dem Gehör-, Tast- oder selbst dem Geruchssinn wahr. Die Akustik eines Raums<br />

ist ein ebenso wichtiger Parameter zur ganzheitlichen Wahrnehmung wie das Erfühlen seiner<br />

Oberflächen. Wie fühlt sich ein Wohnraum in der Schwüle einer Sommernacht an und wie<br />

erlebe ich denselben im Winter vor dem Kamin, alles Eindrücke und Wahrheiten von Architektur,<br />

die das Foto niemals vermitteln kann. Dann noch die Bewegung durch den Raum, erst<br />

die Veränderung von Proportionen und Blickwinkel in der Aneinanderreihung – bedingt durch<br />

die Bewegung – lassen den Raum dreidimensional und „wirklich“ werden.<br />

Und wie sieht es mit den Gerüchen aus, ein Sinn der ganz tief in unserem Bewusstsein<br />

verankert ist. Wenn wir nach Jahren einen Raum wieder betreten und uns sein Duft in die<br />

Nase steig,t der in unserer Vergangenheit eine bestimmte Prägung erfahren hat, ist dieses<br />

besondere Gefühl sofort da, … wir erinnern uns oft durch Gerüche. Die Emotionen die man<br />

mit einem Ort, also auch der Architektur in Verbindung bringt, können speziell durch dessen<br />

Geruch wieder in Erinnerung gerufen werden. Architektur ist also viel mehr als das, was über<br />

das Sichtbare wahrgenommen wird.


Kommt nun das Auge mit ins Spiel der Wahrnehmung wird es für die Fotografie aber auch<br />

nicht besser. Die Kamera ist der menschlichen Wahrnehmung einfach weit unterlegen, nur in<br />

wenigem ist sie besser, oder anders gesagt speziell.<br />

Die Kamera kann einen ganz bestimmten Moment festhalten, einfrieren und jederzeit verfügbar<br />

machen. Vielleicht ist das der Grund, warum wir uns manche Bilder immer wieder ansehen,<br />

weil wir sie nicht fixieren und reproduzieren können. Eine Fotografie hat nur im Moment des<br />

Verschlusses seine Wahrheit, sie ist in diesem Moment wahr, Sekunden später sind einzelne<br />

Elemente des Bildes schon verändert, Personen verschwunden, eine Wolke vor der Sonne<br />

und die Schatten ganz weich, bildwirksame Einzelteile anders und neu zusammengefügt um<br />

im Lauf der Zeit ständig weiter zu mutieren.<br />

Die Richtigkeit und Eindringlichkeit einer Momentaufnahme hängt aber vom Vermögen der<br />

Person hinter der Kamera ab. Wie ist dessen Zugang zur Fotografie, und im Bezug auf die<br />

Architekturfotografie noch viel wichtiger, wie ist sein Zugang zur Architektur und sein Verständnis<br />

dafür?<br />

Abbildungs-„Qualität“ 3D+ - 2D<br />

Von der Ohnmacht zur Philosophie, zum Abbild<br />

und zur Interpretation


Abbildungs-“Qualität“<br />

Das Abbild in der Philosophie<br />

Der Schatten als Abbild der realen Welt wird dem<br />

Ermpfinden von Wirklichkeit nicht gerecht.<br />

Erkenntnistheoretische Problematik<br />

Von Platon bis Kant: Das wirklichkeitsferne Abbild als Metapher<br />

für die Unvollkommenheit einer auf Sinneswahrnehmung<br />

beschränkten Erkenntnis<br />

Die Verknüpfung der Erkenntnistheorie mit einem Nachdenken über<br />

Abbildungen geht weit in die antike Philosophie zurück – die ersten<br />

ausführlicheren Belegstellen finden sich bei Heraklit. Mit seinem kom-<br />

plexen Aufbau wurde das „Höhlengleichnis“ aus Platons siebtem Buch<br />

des Staats zur zentralen Ausformulierung des Problems: Im Mittelpunkt<br />

des Gleichnisses steht ein in einer Höhle gefesselter Mensch. Alles,<br />

was er zu sehen bekommt, sind die Schatten von Gegenständen, die<br />

sich auf der ihm gegenüberliegenden Wand der Höhle abzeichnen.<br />

Dargeboten werden ihm dabei nicht einmal die Schatten realer Dinge<br />

– er verfolgt ein inszeniertes Schattenspiel. Welche Haltung, so lau-<br />

tet die philosophische Frage, wird der Gekettete, zu den sich an der<br />

Wand abzeichnenden Formen, entwickeln? Muss er sie nicht für die<br />

realen Objekte halten? Der Ausweg aus dem Erkenntnisdilemma ist mit<br />

dem Gleichnis gegeben. Die einzige Chance, die der Wahrnehmen-<br />

de hat, mehr zu begreifen, liegt – solange er sich aus seinen Ketten<br />

nicht befreien kann – in einem philosophischen Nachdenken. Könnte<br />

68


er eine korrekte Idee des Abbildungsprozesses erlangen, so könnte er<br />

durchschauen, was ihm vorgespiegelt wird. Zumindest eines kann er:<br />

ermessen, dass seine gegenwärtige Vorstellungen wenig mit der Welt<br />

zu tun haben.<br />

Bis in die Neuzeit blieb das Nachdenken über eine Erkenntnis mittels Ab-<br />

bildern ein Eckstein religiöser, idealistischer und transzendentalistischer<br />

Philosophie. Es schien plausibel, dass die menschliche Erkenntnis, so-<br />

lange sie sich auf Sinneswahrnehmungen beschränkte, sich Täuschun-<br />

gen auslieferte und zur höheren Erkenntnis – insbesondere der Gottes<br />

– nicht vordringt. Das Nachdenken über Abbild und Wirklichkeit stand<br />

für die Kluft zwischen unserer Vorstellung und der Wirklichkeit. Die Bibel<br />

selbst lieferte die Anknüpfungen an die antike Problemstellung mit Pas-<br />

sagen wie jener aus 1. Korinther 13:<br />

„Es müssen aufhören die Weissagungen, und aufhören die Sprachen,<br />

und das Erkenntnis selbst wird aufhören. Denn unser Wissen<br />

ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk [...] Wir sehen<br />

jetzt durch einen Spiegel in einen dunklen Ort, den aber von Angesicht<br />

zu Angesicht.“ (Luthers Übersetzung von 1545)<br />

Der gegenwärtige Zustand fessle den Menschen, Ebenbild Gottes, an<br />

eine unvollkommene Erkenntnis. Was er von sich sieht, ist nicht mehr,<br />

als was er in einem schlechten Spiegel zu sehen bekommt. Eine ganz<br />

andere Situation der Erkenntnis wird eintreten, wenn wir Gott gegen-<br />

überstehen.<br />

69<br />

Abbildungs-“Qualität“<br />

Interpretationen des Glaubens wurden auf den<br />

Decken von Kirchen abgebildet um unseren Durst<br />

nach visueller Erkenntnis zu stillen und ein Bild zu<br />

prägen


Abbildungs-“Qualität“<br />

Gemälde des französischen Landschaftsmaler<br />

Émile Othon Achille Friesz<br />

Empirismus und eine Zurückbindung der Wissenschaft auf<br />

Abbildungsfunktionen<br />

Noch im Lauf der scholastischen Debatte wagten es Philosophen, das<br />

bekannte Nachdenken über die Unzulänglichkeit der Abbilder umzu-<br />

wenden. Mit dem Aufkommen der mit Mathematik betriebenen pers-<br />

pektivischen Malerei, wie mit dem Ausbau der Naturwissenschaften,<br />

wurde es in einer Wendung und Aneignung der bestehenden Debatte<br />

interessant, gerade eine Welterkenntnis zu propagieren, die mit der Si-<br />

cherheit von Abbildungsprozessen hantierte. Sinnesorgane wurden se-<br />

ziert, man experimentierte mit optischen Linsen und Kameras, die per-<br />

fekte Bilder der Außenwelt in Innenräume hineinprojizierten und baute<br />

die gesamte empiristische, mit den modernen Naturwissenschaften<br />

einhergehende Philosophie auf einem – gegenüber dem platonischen<br />

radikal gestrafften – Abbildungsmodell auf:<br />

Es gibt diesem Modell nach eine Außenwelt. Wir verfügen über Sinnes-<br />

organe, um sie wahrzunehmen. Unsere Organe erzeugen Sinnesein-<br />

drücke, Bilder der Welt in unserem Bewusstsein. Wir müssen demnach<br />

Instrumente entwickeln, mit denen wir weit perfektere Abbildungen der<br />

Welt zustande bringen: Thermometer, Barometer, Teleskope, Mikrosko-<br />

pe – ein Instrumentarium, mit dem wir unsere Sinneswahrnehmungen<br />

auf den Makro- und Mikrokosmos ausdehnen.<br />

Heikel wird der Erkenntnisprozess, so die Empiristen des 18. Jahrhun-<br />

derts, wenn er verunreinigt wird, und wenn „irrige Vorstellungen“ in ihn<br />

70


eindringen. Unsere Fähigkeit, neue Dinge zu erfinden, beruht darauf,<br />

dass wir aus Sinneseindrücken Ideen formen und diese – so John Lo-<br />

cke im Essay concerning Humane Understanding (1690) – zu neuen<br />

Gegenständen zusammensetzen, die wir sodann in der Realität nach<br />

unseren Vorstellungen bauen können. Unser gesamtes Denken gesche-<br />

he in einer „association of Ideas“, einer fortlaufenden Verknüpfung von<br />

Ideen. Gelangten wir dabei zu irrigen Vorstellungen, so könnten wir alle<br />

möglichen abergläubischen Vorstellungen entwickeln.<br />

Unsere Vorstellungen von Gott und dem Leben nach dem Tode müssten<br />

mit größter Sorgfalt gelichtet werden. Am Ende sollten wir zu gänzlich<br />

mit der Vernunft vereinbarten Vorstellungen der Glaubensgegenstände<br />

kommen, so die Kritik, die im selben Moment ausschritt, das Christen-<br />

tum auf einen neuen Deismus zu reduzieren.<br />

Gegenüber dem Empirismus baute sich im Lauf des 17. und 18. Jahrhun-<br />

derts eine neue Position idealistischer Philosophie auf, die sich auf das em-<br />

piristische Erkenntnismodell durchaus einließ: Wenn das, womit wir umgin-<br />

gen, Sinnesdaten sein sollten, und wenn wir, wie die Empiristen behaupteten,<br />

unsere Ideen aus einer Kombination von Sinnesdaten schufen, so mussten<br />

die Vertreter des Empirismus selbst zugeben, dass sie von dem, wovon ihre<br />

Erkenntnis ausging, der Außenwelt, letztlich keine Erkenntnis erlangten. Sie<br />

verarbeiteten Sinnesdaten. Die Dinge, die wir sehen sind nicht die „Dinge an<br />

sich“ und das, was wir mit den Konzepten tun, unser Verknüpfen und Kom-<br />

binieren, ist selbst nicht Teil der auf Wahrnehmungen reduzierbaren Welt.<br />

71<br />

Abbildungs-“Qualität“<br />

Digitalcomposing vom Profi Uli Staiger, Realität<br />

und Fiktion verschwimmen<br />

Titel: coastguard


Abbildungs-“Qualität“<br />

Der Komplex bildlicher Empfindungen (der Einfachheit<br />

halber mit nur einem Auge gesehen).<br />

Abbildung aus Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen<br />

(1900), S. 15.<br />

Eine Hinwendung auf das erkennende Subjekt war die Folge; bei Lo-<br />

cke hatte sie sich bereits angebahnt, wenn er von der „Verknüpfung<br />

von Ideen“ als dem letztendlichen Erkenntnisprozess ausging, und sein<br />

Hauptwerk durchaus nicht über die Außenwelt, sondern eben über das<br />

„menschliche Verstehen“ schrieb.<br />

Die Optionen des 19. und 20. Jahrhunderts: Transzendentalphilosophie,<br />

Materialismus und Positivismus<br />

Das philosophische Spektrum spaltete sich im 19. Jahrhundert in drei<br />

Positionen auf: die transzendentalphilosophische/idealistische, die em-<br />

piristische/materialistische und die positivistische, von denen eine jede<br />

ihren beiden Gegnern vorwerfen kann, ineinander überführbar zu sein.<br />

Der Neuling in diesem Spektrum war der Positivismus.<br />

Der Positivismus verabschiedete sich Mitte des 19. Jahrhunderts von der<br />

Abbildungstheorie. Gemeinsam mit dem Empirismus ging er davon aus,<br />

dass wir Wahrnehmungen zu interpretieren haben, er wechselt jedoch<br />

gemeinsam mit der Transzendentalphilosophie dabei die Perspektive.<br />

Das Bild, das unserer Erkenntnis vorangeht, ist nicht das der Außenwelt<br />

mitsamt einer Camera Obscura, in der sich die Außenwelt widerspiegelt.<br />

Wir sehen auch nicht, wie sich im Auge die Welt abbildet.<br />

Wir haben etwa die Empfindung einer willentlichen Anstrengung, mit der<br />

wir unseren Arm heben, sehen im selben Moment Teile des Bildes, die<br />

wir als unseren Arm identifizieren in Bewegung, notieren andere Empfin-<br />

dungen, die wir als Taktile zusammenordnen. Wir ordnen und verbinden<br />

72


Empfindungen und entscheiden uns dabei, einige zu „unserem Körper“<br />

zu rechnen und andere etwa zum „Zimmer“ das uns umgibt. Dieselben<br />

Empfindungen können genauso gut gerade einem Traum entspringen.<br />

Wir tun im Traum jedoch letztlich das Nämliche, und ordnen einige Emp-<br />

findungen unserem Körper zu und andere einer Außenwelt.<br />

Die Analyse der Empfindungen, unsere Arbeit im Ordnen und Interpre-<br />

tieren, geschieht pragmatisch. Wir schaffen Interpretationen der Daten-<br />

lage, die uns Voraussagen erlauben. Unsere Vorstellung davon, wie die<br />

Welt beschaffen ist, hat dabei nur Modellcharakter. Der Wissenschaftler<br />

ordnet die Befunde letztlich nur „ökonomisch“: Wirkungsmechanismen,<br />

die er nicht benötigt, um eine Voraussage zu treffen, lässt er in seinem<br />

Modell außen vor. Wenn es Bereiche gibt, in denen sich die Dinge nicht<br />

so verhalten, als ob sie aus Partikeln bestehen, wenn es Untersuchun-<br />

gen gibt, in denen sie sich eher wie Wellen verhalten, so sieht sich der<br />

Positivist nicht daran gebunden, das eine oder andere anzunehmen; in-<br />

einen Kontext wird mit ihnen so und im anderen anders umgegangen.<br />

Über die Welt wird hier in Modellannahmen gesprochen; es will den<br />

Positivisten gleich sein, wie sie beschaffen ist, sie wollen nur praktisch<br />

rechnen können. Aus Sicht der Positivisten besteht ein ganz anderes<br />

Problem auf Seiten der Materialisten: Sie bestehen darauf, beim Beweis-<br />

baren zu bleiben und wollen das Modell einer Abbildung der materiellen<br />

Welt zum Eckpfeiler ihrer gesamten Kultur machen, doch wagen sie sich<br />

dabei in eine zutiefst idealistische Gedankenwelt vor:<br />

73<br />

Abbildungs-“Qualität“


Abbildungs-“Qualität“<br />

In Aussagen zu Sachverhalten zerlegbar, das<br />

Abbild einer Schachstellung aus dem Jahr 1921<br />

Abbild – Grundbegriff jeder materialistischen, insbesondere der<br />

marxistisch leninistischen Erkenntnistheorie. Abbilder sind ideelle<br />

Resultate des Widerspiegelungsprozesses, in dem sich die Menschen<br />

auf der Grundlage der gesellschaftlichen Praxis die objektive<br />

Realität mittels des gesellschaftlichen Bewusstseins in verschiedenen<br />

Formen, wie Wissenschaft, Ideologie, Moral, Kunst,<br />

Religion, geistig aneignen. Sie entstehen in einem komplizierten<br />

Prozess der Übersetzung und Umsetzung des Materiellen in Ideelles<br />

(Marx/Engels 23, 27) [...]. Ein Abbild ist dadurch charakterisiert,<br />

dass es von dem Abgebildeten verschieden ist, von ihm abhängig<br />

ist und mit ihm übereinstimmt.;<br />

Klaus Georg, Buhr Manfred, 1975<br />

Die sprachanalytischen Philosophien und die Frage danach,<br />

wie Abbildungen funktionieren<br />

In einem Raum sind verschiedene Schachspiele aufgebaut. Wir bitten je-<br />

manden, nachzusehen, ob auch die links dargestellte Situation des Jah-<br />

res 1921 darunter ist. Das ist keine unmögliche Aufgabe – in dem Raum<br />

muss sich ein Schachspiel befinden, bei dem ein schwarzer Läufer auf a8<br />

steht, ein weißer König auf h8, ein schwarzer Bauer auf h7...; man kann<br />

vor ein beliebiges Schachbrett treten und überprüfen, ob das alles der<br />

Fall ist. Das Bild bildet mit Aussagen zu einzelnen Sachverhalten einen<br />

komplexen Sachverhalt ab. Jede einzelne zitierte Aussage war sinnvoll,<br />

da wir wussten, was der Fall sein sollte, wenn sie wahr ist. (Dann nämlich<br />

steht auf dem ersten bezeichneten Feld tatsächlich ein schwarzer Läufer<br />

etc.) Sinnvolle Aussagen müssen dabei weder den Naturgesetzen gehor-<br />

chen noch irgend eine tatsächliche Situation abbilden. Auch der Satz: „Auf<br />

dem Schachbrett steht auf jedem Feld ein weißer Bauer,“ ist sinnvoll. Das<br />

müssen demnach 64 weiße Bauern sein, und da mögen Schachspieler<br />

74


einwenden, dass ein Spiel nur acht weiße Bauern hat, die nicht überall hin<br />

gelangen können; dennoch ist eben das denkbar, dass etwa ein Künstler<br />

64 weiße Bauern auf die einzelnen Felder eines Brettes verteilt. Die Aussa-<br />

ge ist sinnvoll, gleichgültig, ob ein Schachbrett irgendwo so bestellt ist, da<br />

wir wissen, was der Fall sein soll, wenn sie wahr ist.<br />

Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico Philosophicus (1922) wurde das<br />

Buch, das die Frage, wie Abbildungen funktionieren, neu stellte und da-<br />

bei auf diese banalen Befunde reduzierte. Im Tractatus ging es damit<br />

nicht mehr darum, wie Abbildungen in unser Bewusstsein gelangen, wo<br />

die Welt ist und wo unser Bewusstsein. Wittgenstein blieb bei der ganz<br />

anderen Frage, wieso uns ein Bild im Alltag dienen kann, eine Sachlage<br />

abzubilden. Die Antwort war: Das beliebige Bild lässt sich in Aussagen<br />

davon überführen, was nach dem Bild der Fall sein soll.<br />

Wittgensteins Tractatus wartete im selben Moment mit zwei Überraschun-<br />

gen auf: Alle Abbildungen, ob bildliche oder sprachliche funktionieren, in<br />

dem Maße, in dem sie sinnvoll werden, gleich. Ist das Foto rechts, ein Ab-<br />

bild der Wiener Staatsoper? Ja, da es uns erlaubt, Aussagen zu demnach<br />

bestehenden Sachverhalten zu machen. Ist das Bild, das sich daunter<br />

befindet, ein Bild der Wiener Staatsoper? Nein, da die Wiener Staatsoper<br />

im Stil der Neorenaissance gebaut wurde, dieses Bauwerk aber nicht.<br />

Das beliebige fotografische Bild taugt als Abbild, da es sich von uns in Aus-<br />

sagen zu angeblichen Tatsachen zerlegen lässt. Es notiert Sachverhalte und<br />

75<br />

Staatsoper Wien<br />

Congresszentrum Igls<br />

Abbildungs-“Qualität“


Abbildungs-“Qualität“<br />

Ludwig Josef Johann Wittgenstein<br />

(26. April 1889 - 29. April 1951)<br />

wir können vor das Abgebildete treten und sagen, ob diese Sachverhalte<br />

der Reihe nach mit einem Vermerk „der Fall“ abgehakt werden können.<br />

Die größere Überraschung ist, dass wir demnach die gesamte Welt und<br />

zwar genau soweit, wie wir sie wahrnehmen und als diese Welt identifizieren<br />

können, mit genau solchen Aussagen zu Sachverhalten abbilden können.<br />

Was an Wittgensteins Ausführungen verblüffen musste, war, dass sie be-<br />

liebige Abbildungen auf die Ebene von Aussagen zurückbrachten und<br />

dass sie gleichzeitig ohne eine Theorie zu „Geist“, „Ideen“ und ohne „Din-<br />

ge an sich“ auskamen und dennoch erklärten, wieso sprachliche Aussa-<br />

gen, Bilder, Tondokumente für uns als Abbilder verwendbar werden und<br />

was geschieht, wenn wir Abbilder auswerten – etwa nach einer Person<br />

aus einer Videoüberwachung fahnden. Alle übrigen philosophischen Pro-<br />

bleme, die sich um die Abbild-Debatte ranken, florieren, so Wittgenstein in<br />

der Vorrede des Tractatus, nur, da Ansprüche und Behauptungen in das<br />

Thema hineingezogen werden, die darin nichts zu suchen haben.<br />

Reflexion<br />

Weshalb wir Bildern ansehen, dass sie Abbilder sind, darüber zu sprechen<br />

war einfach. Die schwierigere Frage war, wie wir die Sprache der Aussagen<br />

erlernten, mit der wir uns darüber austauschen können, inwiefern ein Bild<br />

etwas abbildet; sie sollte im Zentrum der späteren Arbeiten Wittgensteins<br />

rund um die Philosophischen Untersuchungen (postum erstveröffentlicht<br />

1953) stehen: Wie finden wir in die Sprache hinein? Die Überlegungen, die<br />

76


sich an diese Frage anknüpften, blieben pragmatisch und davon fasziniert,<br />

dass unsere Kommunikation durchaus funktioniert. Probleme der Philo-<br />

sophie müssen einen ganz anderen Status haben, erwog Wittgenstein in<br />

seinen letzten Überlegungen über Gewissheit (postum erstveröffentlicht<br />

1969). Sie entfalten ihre unabweisbare Problematik nur unter sehr ausge-<br />

suchten Bedingungen in philosophischen Seminaren und Fachzeitschrif-<br />

ten – durchaus sollte man sie nicht bereits darum schon für die fundamen-<br />

talen Probleme der Menschheit erachten, sondern eben für Probleme, die<br />

genau in diesen Diskussionen folgenreich werden.<br />

Die Probleme, die Abbildungen im Alltag aufwerfen, sind anderer Natur<br />

als die philosophischen. Gesucht sind im alltäglichen Umgang mit Abbil-<br />

dungen eindeutige Abbildungsverfahren, datensparenden Reduktionen<br />

auf die zu machenden Aussagen, bequem durchsuchbare Abbildungs-<br />

formate, biometrische Kennzeichen, genetische Fingerabdrücke, Instru-<br />

mentarien, die es erlauben, mit Abbildungen in den atomaren Bereich<br />

vorzudringen, Großteleskope, die es ermöglichen, präzisere Bilder des<br />

Weltalls zu liefern.<br />

Die Problemstellungen, auf die die Philosophie verwies, haben einen be-<br />

nennbaren Kern: Sobald wir über Abbilder erkenntnistheoretisch nach-<br />

denken und sobald wir das Abbild und den Abbildungsprozess zu einem<br />

Abbild des Erkenntnisprozesses erheben, bringen wir in aller Regel In-<br />

stanzen in unser Nachdenken hinein, die außerhalb derselben Abbilder<br />

und unserer Erkenntnis stehen: Die „Außenwelt“, das „Bewusstsein“,<br />

den „Geist“, die „Dinge an sich“, die „Ideen“, die wir von ihnen ent-<br />

77<br />

Abbildungs-“Qualität“


Abbildungs-“Qualität“<br />

wickeln. Das Wort Abbildung sorgt für diese heimlichen Einladungen<br />

durch den mit dem Wort einhergehenden Bezug auf das, was außerhalb<br />

des Abbilds liegt, das Abgebildete, wie durch den heimlichen Blick auf<br />

den Betrachter, der erst (bei einem Vergleich des Bildes mit der Wirk-<br />

lichkeit) erkennt, dass es sich bei dem Bild um ein Abbild handelt. Man<br />

wird in einer historischen Perspektive sagen können, dass dies nicht<br />

der Haken der Debatte ist, sondern der Grund, warum sie geführt wird.<br />

Es ging mit den idealistischen Philosophien, die in Reflexion der pla-<br />

tonischen Philosophie argumentierten, gerade darum, einen Bereich<br />

jenseits der sinnlichen Wahrnehmung zu postulieren. Der Staat, der im<br />

20. Jahrhundert sein eigenes philosophisches Wörterbuch herausgab,<br />

und mit dem Artikel „Abbild“ die Grundlagen der marxistisch materialisti-<br />

schen Philosophie eröffnete, riskierte die Probleme seiner Ausführungen<br />

in derselben Manier durchaus gezielt. Die Folgeprobleme waren bewusst<br />

aufgeworfen: Die Darlegung ging in den Bereich der idealistischen Phi-<br />

losophie und konnte die Leser im selben Moment umso klarer vor die<br />

Entscheidung stellen, es mit den gegnerischen Idealisten zu halten oder<br />

die materialistische Sicht einzunehmen, nach der sowohl das Wahrge-<br />

nommene wie der Wahrnehmungsapparat sich bei der eingehenden<br />

Untersuchung als rein materiell erweisen würden (wenn wir mit unserer<br />

Untersuchung durch das sich uns bietende Bild hindurch auf die Materie<br />

und das Bewusstsein als den Ort ihrer Abbildung zugreifen könnten). Der<br />

Artikel, der gänzlich uninteressant hätte sein können, da wir im Alltag<br />

durchaus problemlos mit Abbildungen umgehen, wurde zum Eckstein,<br />

von dem aus sich Forderungen an die Gesellschaft, die Kunst und die<br />

78


Religion erheben ließen, im materialistischen Abbildungsprozess tätig zu<br />

werden. Er entfaltete seine Tragkraft als dieser Eckstein nicht trotz des<br />

heiklen Problems, das er auftat, sondern gerade, da er es erzeugte und<br />

eine feste Grundsatzentscheidung damit einforderte.<br />

Im Moment dürften die philosophischen Probleme von Abbildungspro-<br />

zessen diese Tragweite und Verwendbarkeit in Diskussionen nicht mehr<br />

aufweisen.<br />

Abbildungs-“Qualität“


Abbildungs-“Qualität“<br />

Die Reportage als DAS Abbild<br />

Das Abbild und seine Wirklichkeit<br />

Ein Abbild ist nicht die Wirklichkeit,<br />

aber ein Instrument zur „Verwirklichung“. <strong>Freudenthaler</strong>, 2008<br />

Eine Abbildung ist die Beziehung eines Bildes zur Außenwelt, d.h. auf<br />

das, was im Bild widergespiegelt, „abgebildet“ werden soll, so dass es<br />

in ihm (wieder-) erkennbar wird.<br />

Während das Wort im alltäglichen Gebrauch ganz problemlos verwendet<br />

wird, gehört es im Bereich der philosophischen Erkenntnistheorie zu je-<br />

nen Begriffen, die in unlösbare Probleme führen (sobald man nämlich die<br />

Erkenntnis als eine Form der Abbildung der Wirklichkeit definiert).<br />

Die Frage nach der Abbildungsqualität ist im Bezug auf das Abbild, und<br />

dies ist in der Architekturfotografie die am weitest verbreitete Technik der<br />

wertfreien Architekturdarstellung, vielmehr eine philosophische als physio-<br />

logische im Sinne der Frage: was ist wirklich zweidimensional abbildbar.<br />

Eine Architekturfotografie ist nicht die Architektur, aber ein visuelles Mittel<br />

sie wertfrei und ohne Modeunterwürfigkeit darzustellen und zu doku-<br />

mentieren. Die Art dieser Fotografien lässt sich im Kontext der Repor-<br />

80


tage oder Dokumentation am ehesten beschreiben. Was sind nun die<br />

Parameter einer solchen Abbildung und welcher Mittel bedient sie sich?<br />

Die Reportage gilt als Tatsachenbericht mit „unterhaltendem“ Charakter.<br />

Auf der einen Seite steht die Information die vermittelt wird und dem er-<br />

gänzend steht eine Geschichte, die in unserem Fall der Architektur einen<br />

technischen, sozialen, künstlerischen, soziologischen, … „Spielraum“<br />

verleiht. Von einer flüchtig wirkenden Totalen ausgehend, kann die Doku-<br />

mentation bis in die, für das Bauwerk charakteristisch geltenden Details,<br />

vordringen. Das Objekt wird dabei weder geschönt noch verunstaltet,<br />

kein Putztrupp beseitigt hier Gebrauchsspuren und es werden auch et-<br />

waige Mängel in der Ausführung nicht versteckt. Menschen, die eigentli-<br />

chen Benützer der Architektur, sind bis heute so gut wie aus den Bildern<br />

verbannt, nicht so in der Reportage. Erst das „Mitwirken“ des Menschen<br />

erzeugt die, für die Reportage notwendigen Bezüge und den Maßstab.<br />

Die Reportage ist im Fall der Fotografie auch eine Erzählung, die je nach<br />

Kontext andere Stilmerkmale einsetzen kann. Was aber immer bleiben<br />

muss, ist eine neutrale Darstellung. Diese Art der Fotografie hält eine un-<br />

mittelbar erlebte Situation – wie die eines Augenzeugen – fest.<br />

Abbildungs-“Qualität“


Abbildungs-“Qualität“<br />

Die künstlerische Interpretation<br />

oder die Kunst in der Architekturfotografie<br />

Wir haben die Kunst,<br />

damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen. Friedrich Nietzsche<br />

Definition der Interpretation:<br />

Interpretation (v. latein. interpretatio „Auslegung, Übersetzung, Erklärung“)<br />

bedeutet im allgemeinen oder alltäglichen Sinne das Verstehen oder die<br />

Deutung der zugrundegelegten Bedeutung, Aussage oder des Kontextes.<br />

Interpretation im Sinne der Wissenschaften, die sich mit Kunst und<br />

kulturellen Leistungen beschäftigen, insbesondere der Kunsttheorie ist<br />

der Vorgang, in dem ein literarisches, musikalisches oder bildnerisches<br />

Kunstwerk ausgelegt oder gedeutet wird. Interpretation umfasst neben<br />

der Analyse formaler Aspekt auch die Untersuchung des Subtextes.<br />

Der Versuch einer Deutung setzt voraus, dass der interpretierte Ge-<br />

genstand der Auslegung bedarf. Nach anderen Auffassungen ist jedes<br />

Verstehen schon Interpretieren. Auch das Ergebnis dieses Vorgangs<br />

bezeichnet man als Interpretation. In den ephemeren (flüchtigen) Kunst-<br />

formen wie Musik, Theater oder Tanz ist schon die Aufführung selbst<br />

eine Interpretation eines Werkes, und daher steht für den Künstler das<br />

aus dem englischen übernommene Werk Interpret.<br />

82


Fotografie als „Kunst“<br />

Als künstlerische Fotografie, Fotokunst oder Kunstfotografie werden<br />

Anwendungen fotografischer Mittel bezeichnet, bei denen ein Anliegen<br />

inhaltlich ausgedrückt werden soll (und deren Zweck meist nicht unmit-<br />

telbar die kommerzielle Verwertung ist).<br />

Allgemeines<br />

In der künstlerischen Fotografie kann das Medium Fotografie als künst-<br />

lerisches Ausdrucksmittel oder zum Erzielen aufklärerischer, sozialkriti-<br />

scher oder anderer ideologischer bzw. politischer Wirkungen verwendet<br />

werden. Im Allgemeinen kann bei der künstlerischen Fotografie das Foto<br />

auch als Werk bezeichnet werden und ist als bildende Kunst zu verste-<br />

hen. Nach dieser Definition bilden Fotos nicht immer die Wahrheit ab,<br />

sondern sind die Interpretation eines Moments. Solche künstlerischen<br />

Fotos sind zumeist Teile aus so genannten Serien. Die Betrachtung der<br />

gesamten Serie, anstatt eines einzelnen Werkes, kann das Erfassen der<br />

beabsichtigten Aussage erleichtern. In der Kunstfotografie kann es auch<br />

zu Korrekturen am Bild im Labor oder am Computer kommen, dabei<br />

sind der Kreativität des Künstlers keine Grenzen gesetzt.<br />

Eine erste Kunstfotografie entstand Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem<br />

Bemühen, mit der Kamera die Malerei zu imitieren, einerseits wurden Bil-<br />

der z.B. unschärfer gemacht, andererseits wurden in Studios Menschen<br />

in malerischen Umgebungen abgebildet, neben einer auf dem Teppich<br />

83<br />

Fotografie als Sozialkritik.<br />

Abbildungs-“Qualität“


Abbildungs-“Qualität“<br />

Stillebensind auch in der Fotografie allgegenwärtig.<br />

stehenden griechischen Säule beispielsweise. Die jüngere Differenzie-<br />

rung zwischen künstlerischer und angewandter Fotografie hat sich et-<br />

wa ab 1945 herausgebildet. Die Anfänge der künstlerischen Fotografie<br />

setzen stilistisch in der Kunst des späten Biedermeier an, deren Ziel die<br />

möglichst authentische Darstellung der Wirklichkeit war. Vor allem die bei<br />

der Kamera zwingende scharfe Abgrenzung des Bildrandes durch das<br />

Bildformat, war im Biedermeier bereits gemalt worden, um die Reihung<br />

der Motive als Teile ihrer Welt zu zeigen; Kleinbürgertum gegenüber der<br />

egozentrischen Sicht des Adels auf die Welt. Auf der anderen Seite war<br />

die Fotografie stilbildend für den Impressionismus (Momentfotografie),<br />

dessen erste Ausstellung in einem Fotoatelier stattfand, bei Nadar. Die<br />

künstlerische Fotografie löste sich jedoch rasch von dieser Zielsetzung<br />

und gliederte sich in zahlreiche Stilrichtungen und Genres auf.<br />

Zur künstlerischen Fotografie gehören zumindest teilweise die Stilrich-<br />

tungen Porträt-, Industrie-, Architektur-, Werbe-, Mode-, Akt-, Natur- und<br />

Landschafts-, Genre- und Experimentelle Fotografie. Auch die Doku-<br />

mentation und fotografische Interpretation künstlerischen Wirkens, wie<br />

beispielsweise der Aktionen und Werke des Künstlerpaars Christo und<br />

Jeanne-Claude können zur künstlerischen Fotografie gezählt werden.<br />

Wie oben erwähnt, zählt auch die Architekturfotografie zu den „Künsten“<br />

in der Fotografie. Dies resultiert wohl aus der Tatsache heraus, dass die<br />

Architektur in diesem Medium fotografisch in Szene gesetzt und damit äs-<br />

thetisch aufbereitet wird. Dabei lichtet der „Künstler“ nur in den seltensten<br />

84


Fällen Meisterwerke der Architektur, zeitgenössisch oder historischer Na-<br />

tur, ab. Oft werden gerade gewöhnliche oder unbedeutende Bauwerke in<br />

ein neues, fremdes Licht gerückt. Im zweidimensionalen Geviert des Fotos<br />

konstruiert der Fotograf eine räumliche Organisation und die Struktur von<br />

Gebäuden und ihrer Umgebung in gesteigerter Form.<br />

Das Bildmedium Fotografie, seit einiger Zeit auch offiziell zur Kunstgat-<br />

tung erhoben, zeigt, selbst in der vom Gedanken der realitätstreuen<br />

Dokumentation geprägten Sparte Architekturfotografie, keineswegs nur<br />

Spiegelbilder unserer architektonischen Wirklichkeit, sondern den jeweils<br />

gewählten Gegenstand für seinen Zweck nutzbar gemacht.<br />

Inszenierung als fotografische Präparierung von Architektur muss<br />

kein Akt sein, der eine überzogene Exponierung des dargestellten<br />

bedeutet. Alleine indem man Architektur in der Fläche des Fotos<br />

von ablenkenden „Nebendarstellern“ befreit und sie im Bildausschnitt<br />

isoliert wird ein Akt der Inszenierung vorgenommen. (…)<br />

Eine „objektive Sicht“ auf die Dinge gibt es nur insofern, als die<br />

Kamera die aufzunehmenden Daten des abzulichtenden Gegenstandes<br />

durch ein Objektiv erfasst. Der Bildausschnitt und die<br />

Bildeinstellung führen zu einer präzisen, aber begrenzten Auswahl.<br />

Auswahl meint auch Ausschluss: (…) Auch die gewählte<br />

Perspektive bedeutet zwangsläufig eine Inszenierung, die zur<br />

Charakterisierung des Bildgegenstandes beiträgt.<br />

(Adriani Götz, 2002, S.9, 10)<br />

Farb- oder Schwarz-Weiß-Fotografie, Hinzunahme von zusätzlichem<br />

Licht, Filter, u. v. m. tragen zum Gesamteindruck bei und lenken die Auf-<br />

merksamkeit auf vorher festgelegte Punkte.<br />

85<br />

Abbildungs-“Qualität“<br />

Der Schatten der Vergangenheit liegt auf dem revitalisierten<br />

und neu genützten Gebäude von Lois<br />

Welzenbacher.


Eine Faustregel in der Fotografie besagt, dass es keine Regeln gibt, sondern Richtlinien. Und<br />

selbst diese können manchmal außer Acht gelassen werden, wenn dies zu einem wirkungsvolleren<br />

Bild führt.<br />

Conclusio


Wenn das reflektierte Licht zur Erinnerung wird;<br />

Das Licht bahnt sich seinen Weg, ausgehend von einer Oberfläche durch die Linse unseres<br />

Auges und trifft auf die Netzhaut. Verkehrt, verkleinert und ohne jegliche Bedeutung. Wir<br />

können zwar den physikalischen Vorgang des Sehens beschreiben, den daraus resultierenden<br />

neuronalen Elektronensturm der in unserem Gehirn tobt, können wir letztlich nicht<br />

vollständig entschlüsseln, zu komplex ist das Gewirr der Milliarden Verbindungen die das<br />

Wahrnehmen ausmachen.<br />

Als Neugeborener ist jedes Bild das wir sehen unverständlich, wir müssen das Sehen erst<br />

erlernen. Es fehlt uns einfach an Erfahrung. Erst das Benennen des Gesehenen lässt uns<br />

verstehen und langsam entschlüsseln wir die uns überrollende Bilderflut. Es ist also nicht<br />

das Auge, das sieht, vielmehr ist es das Gehirn, wobei das Auge - aufgrund seines neuronalen<br />

Aufbaus - auch oft als Teil des Gehirns definiert wird.<br />

Ein Beispiel: Wenn wir einen gotischen Raum auf einem Foto sehen, selbst aber noch nie einen<br />

solchen betreten haben, so werden wir nur einen Bruchteil dessen wahrnehmen, was in einem<br />

solchen Raum zu erfahren ist. Ist in unserer Erinnerung das Erlebnis gotischer Raum fest gespeichert,<br />

sehen wir viel mehr auf dem Foto als eigentlich abgebildet oder abbildbar ist.<br />

Wie viel und was Jemand sieht ist also eine Frage der „Bildung“. Sehen muss man lernen.<br />

(Schattner Karljosef, Kinold Klaus, 2003, S.21)


Will man die Fotografie und das Sehen im Allgemeinen auf einen Nenner stellen so wird<br />

man schnell erkennen, dass die Analogie nicht stand halten kann.<br />

Die falschen Problemstellungen stammen aus der falschen Analogie zwischen Fotografie und visueller<br />

Wahrnehmung, die jedermann für sich gegeben hielt. Das Fotobild hält aber einen erstarrten Moment<br />

innerhalb einer stets wechselnden optischen Anordnung fest. (…) Zu einem latenten Bild auf der Retina<br />

besteht hier nicht einmal die leiseste Ähnlichkeit. Gibson, 1982<br />

Vielleicht liegt die Faszination der Fotografie gerade in dem Vermögen des „Festhaltens“ von<br />

Momenten. Unser visuelles Wahrnehmungssystem hat diese Möglichkeit der Fixierung nicht.


Conclusio<br />

Nordthailand; Neben einer Staubpiste eine „Plakatwand“<br />

mit einer Szene aus dem Leben des<br />

Königs bemalt. Auf der Rückseite ist nichts davon<br />

zu erahnen.<br />

92<br />

Konzentration, Selektion und Abstraktion<br />

Unser Sehen und auch unsere Wahrnehmung sind von Konzentration,<br />

Selektion und Abstraktion geprägt. Wir sehen nicht die Details die uns<br />

umgeben, die wir ständig benützen (Türklinke), sondern sehen in einem<br />

handlungsorientiertem Kontext. Andererseits gibt es Phänomene auf die<br />

unser Sehsinn stark reagiert, wie zum Beispiel Bewegungen am Rande<br />

unseres Blickfeldes, Konturen und Linien, sowie starke Farbkontraste,<br />

diese weisen entweder auf mögliche Gefahren hin, oder unterstützen<br />

Strukturen, Flächen oder Gegenstände zu erkennen.<br />

Im Gehirn findet, nachdem schon auf Ebene der Retina eine Selektion<br />

stattgefunden hat, eine weitere Selektion und Auswahl statt und daraus<br />

resultierend wird eine kognitive Welt zusammengebaut. An dieser Stelle<br />

wird nun klar, dass Realität und Wirklichkeit nicht über das Sehen allein<br />

definiert werden können. „Realität“ … Objektwelt oder Seinsweise der<br />

Dinge, oder wahrgenommene Welt, die Erscheinungsweise der Dinge,<br />

welche Wirklichkeit nun wahr ist, lässt sich so nicht sagen.<br />

Beim Fotografieren ist es wichtig zuerst das „Sehen“ zu schulen um im<br />

Weiteren durch Selektion – die Fotografie ist auch die Kunst des Weglas-<br />

sens – und Komposition Schwerpunkte gezielt zu gewichten.<br />

Wie einer seinen Blick auf die Welt richtet, hängt also sowohl von<br />

seinem Wissen über die Welt als auch von seinen Zielen ab – d.h.<br />

von der Information, die er sucht. (Hochberg, 1977)


Beim Prozess des Sehens wird also je nach Intention aus der Bilderflut<br />

das herausgefiltert, was von Wichtigkeit oder Interesse ist, alles andre<br />

wird, zwar nicht komplett weggelassen aber doch stark gedämpft und<br />

findet somit keine weitere Speicherung Ähnlich ist die Vorgehensweise<br />

bei einem Gespräch in einer lauten Geräuschkulisse, die einfach ausge-<br />

blendet wird.<br />

Die Kamera hingegen speichert alles was in ihrem technischen Rahmen<br />

möglich ist. Sie arbeitet also wie ein Auge ohne Gehirn, und deshalb<br />

muss der Fotograf mit seinem das Bild gestalten, wichtige Bildteile durch<br />

gezieltes Einsetzen von Schärfe, Kontrast oder Positionierung im Bild<br />

betonen, Unbedeutendes durch Unschärfe oder gezieltes Aussparen in<br />

seiner Bedeutung mindern.<br />

Gestalten<br />

Schon in früher Kindheit üben wir uns in Gestaltung. Kinder liegen in der<br />

Wiese und verfolgen die Wolken am Himmel und plötzlich entsteht der<br />

Wunsch, den amorphen Strukturen und Formen der Wolken eine Ge-<br />

stalt zuzuordnen. Wir sehen Figuren, Fabelwesen und Tiere wo nichts als<br />

Wasserdampf ist, oder beim Betrachten einer Gesteinsoberfläche wer-<br />

den die Rillen und Strukturen geordnet und einer Gestalt zum Beispiel<br />

einem Gesicht zusammengefügt. Es ist wohl ein Grundverlangen von<br />

uns Menschen das Gesehene zu ordnen und zu strukturieren. Unvoll-<br />

ständige Gestalten werden vollendet und als Ganzes „gesehen“. Unsere<br />

visuelle Wahrnehmung ist eine ganzheitliche. Wird in der Kunst von Ge-<br />

93<br />

Conclusio<br />

Es scheint ein angeborener Reflex zu sein in gestaltlosen<br />

Formen reale Bilder zu sehen.


Conclusio<br />

Ein teilweise zerstörtes Gebäude auf Cuba ist<br />

Übungsplatz des hiesigen Militärs.<br />

staltung gesprochen, wird das Kunstobjekt meist in den Parameteren<br />

der Komposition betrachtet, bei der Fotografie ist aber der Begriff der<br />

Transformation der zutreffendere. Durch die Position der Kamera werden<br />

alle abgebildeten Objekte in ein bestimmtes Verhältnis gestellt, ändert<br />

man den Standpunkt, entstehen oft vollkommen neue Verhältnisse und<br />

daraus resultiert eine ganz andere Bildaussage.<br />

Gestaltungsregeln<br />

n der Bildausschnitt und dessen Begrenzung sind Ausgangspunkt<br />

für die Gestaltung. (Rahmenfunktion bestimmter Bildelemente wer-<br />

den durch den Kamerastandpunkt bestimmt)<br />

n das Gesamtbild entsteht aus den innerbildlichen Elementen. (Aus-<br />

schnitt, Anschnitt und die Auswahl der Elemente werden von Ka-<br />

merastandpunkt und Brennweite bestimmt)<br />

n das Bildformat: Quadrat-, Quer- und Hochformat kann die Bildwir-<br />

kung verstärken<br />

n Hervorheben einer geschlossenen Figur vor seinem Hintergrund<br />

durch eine gezielte Schärfe- Unschärfeverteilung.<br />

n Klare Formen und Strukturen prägnant dargestellt erzeugen Ruhe.<br />

n Ähnliches wird zu einer Einheit zusammengefasst und in Beziehung<br />

gesetzt.<br />

n Nahe beieinanderliegende Elemente, Formen, Farben werden als<br />

Gruppe gesehen und unterstreichen dadurch einen Schwerpunkt.<br />

n Durch Betonung von Unterschieden oder Asymmetrie wird Span-<br />

94<br />

nung erzeugt.


Manipulation<br />

Das Verändern von Bildinformationen ist so alt wie die Fotografie selbst,<br />

seit jeher haben Fotografen in der Dunkelkammer bei der Ausarbeitung<br />

der Positiva die Bilder manipuliert. Heute im digitalen Zeitalter ist die Bear-<br />

beitung durch die EBV (elektronische Bildverarbeitung) um vieles leichter<br />

und umfangreicher geworden und in Ermangelung eines „Originals“, wie<br />

es das Negativ war, sind gekonnte Retuschen oder gravierende Manipu-<br />

lationen gar nicht mehr als solche zu identifizieren. Es stellt sich hier die<br />

Frage, ob ein digitales Foto überhaupt noch als Fotografie „Schreiben mit<br />

Licht“ gelten kann, wo es kaum einen Beweis für seine Originalität gibt. Die<br />

Glaubwürdigkeit der Fotografie ist ins wanken geraten, und es stellt sich<br />

die Frage ob die Wirklichkeit auf den Fotos der Realität entspricht.<br />

Realität und Wirklichkeit<br />

Die Diskussion um Photographie, Realität und Wirklichkeit stützt<br />

sich auf immer wiederkehrende Argumente. Was vor der Kamera<br />

existiert hat, wird hinter dem Objektiv aufgezeichnet. Der mechanische<br />

Apparat verbürgt die Garantie für die Objektivität und Dokumentation.<br />

Wenn man diese einfache Begründung akzeptiert,<br />

dann könnte der Apparat die objektive Realität aufzeichnen, und<br />

die Photographie wird als Kopie und Ausdruck verstanden<br />

Eine andere Beschreibung spricht von der Photographie als Bildmedium,<br />

das nicht von einem selbstständigen Apparat dirigiert<br />

wird, sondern erst von der Hand und dem Konzept des Photographen<br />

bestimmt wird, der sich diesen Apparat in einer bestimmten<br />

Weise gefügig macht. …;<br />

(Schnelle-Schneyder Marlene, 2003, S.158)<br />

95<br />

Conclusio<br />

Ein Flugzeug der Lauda-Air kurz vor der Landung<br />

auf dem Flughafen Innsbruck. Durch den ungewohnten<br />

Blickwinkel neigt der Betrachter die<br />

Realitätstreue zu hinterfragen.


Conclusio<br />

Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht.<br />

(Roth, Gerhard, 1998)<br />

Da uns optische Täuschungen zum Beispiel eine Wahrheit abseits der<br />

Realität vorspielen und unsere Wahrnehmung somit in Frage stellen,<br />

muss man sich fragen, wann wir etwas für wirklich halten. Dazu hat Roth<br />

drei Wirklichkeitskriterien benannt:<br />

Syntaktisch: Objekte werden als tatsächlich angenommen, je heller<br />

sie gegenüber ihrer Umgebung sind, je kontrastreicher sie sich abheben,<br />

je schärfere Konturen sie aufweisen und wenn ihre Oberfläche<br />

in Bezug auf Farbe und Gestalt reichhaltig strukturiert ist. Wenn<br />

wir ein Objekt sehen oder hören, also mehrere Sinne angesprochen<br />

werden, und es dreidimensional ist, halten wir es für wirklicher.<br />

Semantisch: Wenn man Objekte und Geschehnisse unmittelbar<br />

erkennt und ihnen Bedeutung zuordnen kann und sie zusätzlich<br />

noch attraktiv sind, werden sie für real gehalten.<br />

Pragmatisch: Wenn wir auf Objekte einwirken oder sie anfassen können,<br />

wirken sie auf uns tatsächlich. Wir machen diese Erfahrung im<br />

Säuglingsalter oder wenn wir intersubjektive Bestätigung erhalten.;<br />

(Schnelle-Schneyder Marlene, 2003, S.158)<br />

Mittel und Wege<br />

Ob etwas als schön wahrgenommen wird, ist eine Frage der Maßstä-<br />

be. Ob etwas als groß oder klein wahrgenommen wird, ist eine Frage<br />

des Maßstabs (und der Perspektive). Helligkeit ist eine Frage des Lichts<br />

und der Belichtungs-Messtechnik. Die differenzierte Wiedergabe unter-<br />

schiedlicher Oberflächen ist schließlich eine Frage der Lichtführung.<br />

96


Komposition<br />

Um ein Gebäude abzubilden, sollte man es zuerst von alles Seiten be-<br />

trachten und dessen „Persönlichkeit“ herausfinden, idealerweise über<br />

einen längeren Zeitraum, um auch spezielle Lichteffekte zu erfahren. Ein<br />

Haus am morgen fotografiert, wirkt vom Standpunkt X ganz anders als<br />

zur Mittagszeit oder zur „Blauen Stunde“. Die Suche nach dem oder den<br />

„idealen“ Kamerastandpunkten sollte auch noch ohne Kamera erfolgen.<br />

Erst wenn diese definiert sind, kommt die Kamera ins Spiel. Auf dem<br />

Stativ fixiert, wird dann aus dem festgelegten Standpunkt das Foto erar-<br />

beitet. Erst durch das Stativ – die reduzierte Flexibilität fokussiert die Ar-<br />

beitsweise abseits der Beliebigkeit - bekommt das Fotografieren seinen<br />

professionellen Anspruch. Bildaufbau und -komposition unterliegen un-<br />

terschiedlichen Richtlinien, Goldener Schnitt, Achsenführung (Senkrech-<br />

te oder Schräge), Schwerpunktposition und weitere Parameter werden<br />

je nach Verwendungszweck des Fotos unterschiedlich behandelt. Das<br />

reine Abbild oder die Dokumentation für Architekten und Architekturzeit-<br />

schriften ist anders zu behandeln als beispielsweise eine Fotostrecke für<br />

einen bebilderten Werbefolder einer Hotellerie.<br />

Im Einen werden die Raumschaffenden Elemente herausgehoben, un-<br />

terstrichen durch klare Linien und das Weglassen von Nebensächlich-<br />

keiten, im Anderen soll ein der Funktion des Hauses stimmiges Gefühl<br />

erzeugt werden. Stimmungsvolles Licht, glückliche Menschen und mo-<br />

derne Architektur verschmelzen zu einem werbeträchtigen Sujet.<br />

97<br />

Conclusio<br />

Lois Welzenbachers Parkhotel in Hall kurz vor<br />

Sonnenuntergang. Die Sonnenstrahlen treffen fast<br />

waagrecht auf die Westseite des Gebäudes.


Conclusio<br />

Das gleiche Gebäude zu unterschiedlichen Tageszeiten<br />

fotografiert, zeigt wie different die Wirkung<br />

sein kann.<br />

Licht<br />

Der wichtigste Parameter für die Fotografie ist das Licht, direkt und hart<br />

kommt es von unserem Zentralgestirn; und trotzdem, auch wenn die<br />

idealisierte Darstellung eines Gebäudes unter blauem Himmel mit ein<br />

paar imposanten Kumuluswolken im Jahresmittel eher die Ausnahme<br />

sind, strahlen erstaunlich viele Fotos in diesem Licht. Nur wo viel Licht<br />

ist, ist bekanntlich auch viel Schatten, und der ist für so manches Detail<br />

oder das gesamte Bauwerk nicht förderlich. Viel klarer erscheint die Ar-<br />

chitektur mit all seinen Details unter diffusem Licht. Eine hellgraue Wol-<br />

kendecke ist zwar nicht so effektvoll in ihrer Stimmung, ermöglicht der<br />

Fotografie aber viel mehr zu zeigen.<br />

Steht die Sonne aber ungetrübt über dem Objekt der Begierde, so sollte<br />

man zumindest ungefähr wissen, wann und wo sie aufgeht, sich even-<br />

tuell große Schatten durch andere Bauwerke oder Vegetation ergeben<br />

und wann und wo sie wieder untergeht. Für jeden Standpunkt gibt es<br />

einen idealen Sonnenstand, der das Gebäude im „besten Licht“ zeigt,<br />

vorausgesetzt man bringt die nötige Zeit mit.<br />

Ein Gebäude von außen zu fotografieren ist eine Sache, dasselbe aber<br />

von innen zu bewerkstelligen ist eine ganz andere Herausforderung.<br />

Meiner Meinung nach ist jegliches Verwenden von zusätzlichem Licht<br />

unzulässig und falsch. Der Architekt schafft Räume, die, sofern daran<br />

gedacht wurde, über das eindringende und das zusätzlich installier-<br />

te Licht gesehen und erfahren werden. Die Arbeit des Architekten mit<br />

dem Lenken des Lichtes ist maßgeblich mit der Qualität der Architek-<br />

tur verwoben. Erst das Licht ermöglicht es uns Architektur mit unserem<br />

98


„Haupt-“ Sinn wahrzunehmen und in diese Arbeit darf der Fotograf nicht<br />

verändernd eingreifen.<br />

Aber wie soll man dann die „dunkle Ecke“ ausgleichen, die vom mensch-<br />

lichen Auge zwar als dunkel wahrgenommen wird, auf dem Foto aber<br />

beinahe schwarz erscheint. (Dies ist durch den geringeren Dynamikum-<br />

fang des zu belichtendem Mediums bedingt und der Tatsache, dass das<br />

Auge ständig den Lichteinfall regulieren kann und nicht einen Mittelwert<br />

verwendet.)<br />

Im digitalen Zeitalter gibt es darauf eine einfache Lösung, man hilft sich<br />

mit einer Belichtungsreihe, die nachträglich mittels EBV zu einem, dem<br />

menschlichem Sehen angepassten Bild, zusammenfügt wird.<br />

Der Kontext<br />

Der genius loci verlangt immer nach neuen Interpretationen, um<br />

überleben zu können. Er kann nicht „eingefroren“ werden, sondern<br />

er muss in Beziehung mit den Forderungen der Gegenwart verstanden<br />

werden. Solch ein dynamisches Konzept für den Begriff<br />

„Ort“ ist die einzige Grundlage für eine schöpferische Anpassung<br />

an eine vorhandene Umgebung.; (Christian Norberg-Schulz)<br />

Wird über Architektur gesprochen, so wird gern auch vom „Genius<br />

loci“ gesprochen. Schaut man sich Architekturbücher, Architekturzeitschriften,<br />

Architekturfotografien an, reduziert sich der so gern<br />

im Mund geführte Geist des Ortes allzu oft auf nur noch jenes,<br />

was dem vollmundig beschworenen Genius doch nur hinzugefügt<br />

worden ist – das Neue. Links und rechts davon bleibt nur das, was<br />

bei der Aufnahme kaum noch weiter zu beschneiden war. Architekturfotograf<br />

und Architekt handeln in unübertrefflicher Einmündigkeit<br />

– nicht erst seit heute: Die Unsitte, die reine Architektur<br />

99<br />

Die „Krone“ des Bergisels.<br />

Conclusio


Conclusio<br />

zu zeigen, indem sie vom – als störend empfundenen – Umfeld<br />

bereinigt wird, geht bis zu den Anfängen der Auftrags-Architekturfotografie<br />

zurück. Um das Bild vollständig zu machen: zu dem einmütig<br />

agierenden System Architekt – Architekturfotograf gehören<br />

natürlich auch Redaktionen und Lektorate. Jeder innerhalb dieses<br />

Systems hat seine eigenen, durchaus einleuchtenden Begründungen.<br />

Natürlich möchte man lieber die Sache selbst zeigen – und<br />

eben nicht das belanglose Beiwerk, das unerquickliche Drumherum,<br />

das nur zu oft ungestaltete oder verunstaltete Umfeld. Aus<br />

all diesen durchaus verständlichen Reaktionen des Wegsehens<br />

entstand in der Summe eine Buch- und Zeitschriftenkultur des<br />

„Guten Beispiels“. Unsägliches wird beinahe systematisch ausgeklammert.<br />

Geht man – mit den publizierten Bildern im Kopf – an<br />

die Originalschauplätze, hat man oft die große Mühe, die zuvor so<br />

sauber als „Insel-Lösung“ präsentierten Edelsteine in natura überhaupt<br />

wiederzufinden. Das Unsägliche wird nicht besser, indem<br />

es aus den Bildern ausgeblendet wird. Das zu Zeigende wird nicht<br />

schlechter, wenn das Unsägliche mit im Bild ist. In natura muss<br />

man es schließlich auch ertragen – und umgekehrt. Ob Genius loci<br />

oder nur Wüstenei – das Umfeld gehört notwendig zur Architektur<br />

dazu, also auch zur Architekturfotografie!<br />

(Dechau Wilfried, 1995, S.127)<br />

Menschen in der Architekturfotografie<br />

Seit jeher ist auffällig, dass gerade in der Architekturfotografie der Mensch<br />

– für den doch die Architektur geschaffen wurde – aus eben jenem so gut<br />

wie immer ausgespart wird. Auf die Frage nach dem Warum wird schnell<br />

klar, dass es viel leichter ist Architektur ohne Benützer zu fotografieren als<br />

mit. Es wirkt künstlich wenn Menschen den Raum füllen, außerdem lenken<br />

sie die Aufmerksamkeit auf sich und weg von der Architektur, die sie noch<br />

zuguterletzt zum Teil durch ihre schlichte Anwesenheit verdecken. Am Be-<br />

ginn der Fotografie war es unmöglich Menschen auf Fotos zu bannen, die<br />

100


Belichtungszeiten waren viel zu lang. Heute wäre dies kein Problem und<br />

trotzdem gibt es keine Menschen auf Architekturfotos. Manche Fotografen<br />

gehen sogar soweit, dass sie mittels Filter die Belichtungszeit soweit erhö-<br />

hen, dass die sich bewegenden Menschen aus den Fotos verschwinden.<br />

Es ist zwar nachvollziehbar, dass der Mensch in vielen Fällen als aufgesetzt<br />

oder störend empfunden wird, aber durch gezieltes Belichten zwischen ½<br />

Sekunde bis einige Sekunden und einer mehr oder weniger ausgepräg-<br />

ten Bewegung der Person oder Personen auf der Aufnahme, entsteht ein<br />

klar strukturiertes von der Architektur dominiertes Foto, in dem aber auch<br />

der Mensch - schemenhaft durch die Bewegung - abgebildet wird. Der<br />

Mensch wird maßstabsgebend und darüber hinaus erzeugt die Anwesen-<br />

heit der Personen eine andere Stimmung beim Betrachter.<br />

Conclusio<br />

Durch die lange Belichtungszeit wird der Mensch<br />

nur noch in seiner Bewegung festgehalten, der<br />

maßstäbliche Wirkung bleibt aber erhalten.


Hier beginnt nun die eigentliche Auseinandersetzung mit meiner Architekturfotografie.<br />

Meine Arbeiten und der Versuch einer eigenen Identität spannen einen Bogen zwischen<br />

ABBILD und BILDKUNST<br />

Ein Fotokatalog in Bildern & Essays


Reportage<br />

Die Reportagefotografie als Architekturabbildung<br />

104<br />

Die Reportagefotografie, der Fotojournalismus oder die Bildbe-<br />

richterstattung verwendet die Ausdrucksformen und Mittel der<br />

Fotografie, um Reportagen (von französisch reportage), das heißt<br />

Berichterstattungen über Hintergründe in Politik, Kultur, und ande-<br />

ren Bereichen von gesellschaftlichem Belang, zu illustrieren oder<br />

ausschließlich in bildhafter Weise darzustellen. Berichterstatter ist<br />

der Foto-Reporter.<br />

Diese Art der Fotografie ist gekennzeichnet durch:<br />

n Zeitlichen Bezug zur Abfolge eines Ereignisses<br />

n das Bemühen um Authentizität<br />

n Erzählcharakter zusammen mit anderen Methoden der Re-<br />

portage<br />

1947 wurde die Agentur Magnum Photos gegründet, deren Mit-<br />

glieder bis heute eine herausragende Position einnehmen.<br />

Ethische Überlegungen<br />

Am Beginn der geschichtlichen Entwicklung der Fotografie war die-<br />

se von der Überlegung getragen, ein möglichst realistisches Abbild<br />

der „wahren“ Umwelt zu erstellen. Dies ist schon allein deshalb<br />

nicht möglich, weil die Fotografie den dreidimensionalen Raum auf


eine Ebene mit beschränktem Ausschnitt reduziert. Dies kann die<br />

Bildaussage des Motivs unter Umständen bis zur Karikatur verzer-<br />

ren, dennoch werden fotografischen Bildern hoher Wahrheitsgehalt<br />

und große Glaubwürdigkeit zugedacht.<br />

Der Reportagefotograf hat daher eine hohe ethische Verantwor-<br />

tung, wenn er sich nicht als ein Instrument der Propaganda ver-<br />

wenden lassen möchte.<br />

Ebenso ist die Grenze zur Verletzung der Intimsphäre und einer rei-<br />

nen Befriedigung der Sensationsgier (Paparazzi-Fotografie) schnell<br />

überschritten.<br />

Technik<br />

Die Entwicklung transportabler, kleiner Kameras und empfindlicher<br />

Filme ermöglichte seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Aufnahme<br />

am Ort des Geschehens sowie die Erfassung bewegter Vorgän-<br />

ge. Dies revolutionierte auch die Berichterstattung von den Krie-<br />

gen jener Zeit: Die Fotografie konnte das Grauen der tatsächlichen<br />

Kampfhandlungen und des alltäglichen Sterbens im Feld transpor-<br />

tieren.<br />

Heute hat die Digitalfotografie eine Vormachtstellung erobert und<br />

ermöglicht eine weitere Beschleunigung der Berichterstattung. Un-<br />

ter der im Vergleich zum Film noch leichteren Manipulierbarkeit hat<br />

allerdings die Glaubwürdigkeit weiter gelitten.<br />

105


106<br />

Wohnbau / centrum o.dorf<br />

5. BTV Bauherrenpreis für Tirol – Auszeichnung<br />

„Inneres Wachstum anstelle von Landverbrauch“ war im übertra-<br />

genen Sinn Thema von Europan 4, einem internationalen Wettbe-<br />

werbsverfahren, das jungen Architekten die Chance bietet, Visio-<br />

nen für die Stadt der Zukunft zu entwickeln. Die Stadt Innsbruck hat<br />

sich mit der komplexen Aufgabe eines neuen Stadtteilzentrums für<br />

das olympische Dorf am Wettbewerb beteiligt. Das Siegerprojekt<br />

bot eine auf verschiedenen Ebenen außergewöhnliche Lösung. Die<br />

Architekten haben erkannt, dass sie dieser Aufgabe mit Gestaltung<br />

alleine nicht gerecht werden können, sich neben architektonischen<br />

Fragen mit den sozialen und strukturellen Problemen auseinander-<br />

setzen müssen. Entstanden ist ein Projekt, bei dem Architektur und<br />

Städtebau sich gegenseitig bedingen; ein unsentimentales State-<br />

ment, das in Beziehung zur vorhandenen Bebauung steht und<br />

auf sensible Weise dem Quartier eine neue Identität verleiht. Das<br />

Stadtteilzentrum ist bezogen auf die architektonische Gestaltung,<br />

Maßstäblichkeit, Nutzungsvielfalt und den gesellschaftlichen Pro-<br />

zess im Quartier ein Musterbeispiel, das seinesgleichen sucht. Hier<br />

wurde hochwertiger Lebensraum geschaffen, nicht in Form einer<br />

romantischen Reminiszenz an die traditionelle, gewachsene Stadt,<br />

vielmehr in Form einer vitalen Plattform für das alltägliche Leben<br />

und gemeinschaftliche Aktivitäten. Politik, Stadtplanung, Bauträger<br />

und Architekten haben der Architektur die soziale Verantwortung,


die sie zu leisten imstande ist, zurückgegeben und den urbanis-<br />

tischen Eingriff auf dem langen Weg der Realisierung verantwor-<br />

tungsvoll begleitet. (Jurytext: Marta Schreieck aut. architektur und<br />

tirol, 17.10.2007)<br />

Datenblatt<br />

Adresse: An-der-Lan-Straße 42, 6020 Innsbruck, Österreich<br />

ArchitektIn: Froetscher Lichtenwagner (Willi Froetscher, Christian<br />

Lichtenwagner)<br />

Mitarbeit Architektur: Leszek Liszka, Petra Schuster, Christian Lindner<br />

BauherrIn: IIG Innsbrucker Immobilien GmbH & Co KG<br />

StatikerIn: ZSZ-Ingenieure<br />

LandschaftsarchitektIn: Alice Größinger<br />

örtliche Bauaufsicht: IIG Innsbrucker Immobilien GmbH & Co KG<br />

Wettbewerb: 1996<br />

Planungsbeginn: 2001<br />

Ausführung: 2003 - 2006<br />

Grundstücksfläche: 24.200 m2<br />

Nutzfläche: 21.700 m2<br />

Umbauter Raum: 92.000 m3<br />

Reportage


Reportage<br />

108<br />

Eine Reportage in 36 Bildern<br />

Wie schon erwähnt, versucht der Reporter, ohne die „Wahrheit“ zu<br />

verzerren, einen Bericht zu erstellen. Die Fotoreportage ist das bildge-<br />

wordene Wort eines Journalisten, der auf der Suche nach Authenti-<br />

zität die „schnelle“ Wahrheit findet.<br />

Die Fotos sind während des ersten<br />

Lokalaugenscheins entstanden und<br />

sollen einen unvoreingenommenen<br />

Blick auf diese Architektur zeigen.<br />

Der umbaute Raum der einer neu-<br />

en Nutzung zugeführt wird, wird mit<br />

kritischem Blick und wechselnden<br />

Emotionen wahrgenommen und<br />

festgehalten. Man versucht sowohl<br />

die Gesamtheit und deren Umgang<br />

mit dem bereits verjährtem, wie<br />

auch das eine oder andere Detail<br />

einzufangen und zu verstehen. Der<br />

Fokus ist in ständigem Wechsel und<br />

zwischendurch ein „Klick“, der bescheidene Laut, der die persönliche<br />

Sicht dezent begleitet, nicht zu persönlich, aber ausreichend differen-<br />

ziert, damit der Charakter erhalten bleibt. Die Tatsache, dass auf 36<br />

Bildern nur drei Menschen zu sehen sind, war nicht beabsichtigt, darf<br />

aber durchaus als Denkanstoß interpretiert werden.


Staffage<br />

Architekturfotografie zwischen Kunst und Interpretation<br />

110<br />

Beim Betrachten der funktionsdominierten Architektur des Um-<br />

spannwerk Mitte des renommierten Architekturbüros van Berkel &<br />

Bos, hat sich für mich die Frage aufgeworfen, ob nicht fernab jegli-<br />

chen dokumentarischen Anspruchs an das „Abbild“, das Architek-<br />

turfoto auch als „Kunstwerk“ interpretiert werden kann.<br />

Anhand dieser Architektur zeige ich, dass die Fotografie mit Zu-<br />

hilfenahme der digitalen Nachbearbeitung aus dem „Schatten“<br />

der reinen Sachfotografie, mit all ihren „objektiven“ Ansprüchen,<br />

heraustritt und sich als eigenständige „Fotokunst“ manifestiert.<br />

Blättert man in diversen Fachmagazinen abseits renommierter Ar-<br />

chitekturzeitschriften so wird schnell klar, dass das reine Abbild,<br />

beinahe zweckentfremdet in ihrer Verunmenschlichung, in vieler-<br />

lei Hinsicht ausgedient hat. International ausgeschriebene Foto-<br />

wettbewerbe zum Thema Architektur bringen „Sieger“ hervor, die<br />

vielmehr „Kunst“ schaffen, als Abbilder von Kunst. Der Fotograf<br />

kehrt in seinem Medium an den Platz des kreativen Gestalters zu-<br />

rück und schafft „beseelte“ Werke mittels Aufnahmeverfahren und<br />

Nachbearbeitung und eben nicht Werke beseelter Architektur.<br />

Erst durch die schier unerschöpflichen Möglichkeiten der digita-<br />

len Bildbearbeitung können die Fotografien in sämtliche Einzelteile<br />

zerlegt, dann manipuliert, interpretiert und transferiert werden, um<br />

dann, als vollkommen eigenständige „Aussagen“ künstlerischem


Schaffens, zu einem Ganzen zusammengefügt zu werden. Die Phi-<br />

losophie, die hinter diesem kreativem Prozess steht, rückt an die<br />

Stelle, an der zuvor die Architektur im Foto stand, und diese wird<br />

zur Staffage. Natürlich kommt es vor, dass ein Foto nicht immer ein-<br />

deutig einem „Genre“ zuzuordnen ist; ist es nun Interpretation, oder<br />

Abbild? Ein Fassadenausschnitt in SW eines relativ monochromen<br />

Originals weckt doch starke Erinnerungen an die dokumentarische<br />

Aufnahmetechnik eines Klaus Kinold, der die Architektur doch so<br />

zeigen will, wie sie ist. [Anmerkung: Ist sie denn schwarzweiß, mit<br />

stets parallelen Senkrechten und scharf von vorn bis hinten?]<br />

Hier wird schnell klar, dass es keine klare Trennlinie zwischen dem<br />

sachlichen Abbild und der Kunst gibt. Was des einen Mittel, ist des<br />

anderen Zweck.<br />

Ob nun mittels Falschfarben, Wiederholung, High- oder Low-Key,<br />

Unschärfe, irrealen Schärfeverläufen, Kollagetechnik oder anderen<br />

Mitteln gearbeitet wird, obliegt dem Schaffenden.<br />

Aber was soll es bringen der Architekturfotografie ein „künstleri-<br />

sches“ Mäntelchen umzuhängen, und wer soll sich dafür interes-<br />

sieren?<br />

Diese Frage ist nach kurzer Reflexion schnell beantwortet und zwar<br />

mit der simplen Gegenfrage: „Was hat ein Andy Warhol für die Kon-<br />

sumindustrie getan“, oder besser noch: „was bringen die Möglich-<br />

keiten der EBV der Werbung?“<br />

Was für die Idealisierung „objektiver“ Abbilder dienlich ist, kann<br />

auch für die künstlerische Interpretation herangezogen werden.<br />

111<br />

Staffage


112<br />

Industriebau /<br />

Umspannwerk Mitte<br />

Schönes Monster<br />

... Die Betonstruktur des dreige-<br />

schoßigen Zweckbaus umgibt<br />

eine äußere Hülle aus schwarzer<br />

Basaltlava. Das schwere Ergussgestein – erstarrte Lava aus dem<br />

Eifelgebiet – wurde als Metapher für gefrorene Energie eingesetzt.<br />

Es verleiht dem Block eine mächtige Massivität von furchterregen-<br />

der Schönheit ähnlich dem Gebirgszug der Nordkette, die den<br />

Stadtraum im Hintergrund begrenzt: die Schöne und das Unge-<br />

heuer in Personalunion. Beton, Glas und Stahl sind die weiteren<br />

Materialien, die eingesetzt wurden, verhalten sie sich in ihrem Her-<br />

stellungsprozess schließlich ähnlich wie die erstarrte Lava. Holz<br />

oder Ziegel sucht man deshalb vergeblich.<br />

Sanft geschwungene Fassadenfluchten und eine bewegte – eben-<br />

falls mit Basaltlava überzogene – Dachlandschaft bringen behäbige<br />

Bewegung in das schlafende Monster. Sorgfältig erfolgte die Aus-<br />

wahl des Steins. Er stammt aus einem alteingesessenen kleinen<br />

Familienbetrieb, der als einziger in der Lage war, die erforderliche<br />

Menge in einer einheitlichen Qualität zu liefern. Die Oberflächen der<br />

Platten präsentieren sich daher homogen und nicht als unregelmä-<br />

ßiger Fleckerlteppich, wie zum Beispiel beim ebenfalls in Basalt ge-<br />

hüllten Museum für Moderne Kunst im Wiener Museumsquartier.


Die Umsetzung der Idee einer gefalteten Landschaft, aus der das Um-<br />

spannwerk als Buckel emporragt, gelang durch eine farbliche annä-<br />

hernd gleiche Platzoberfläche aus schwarzem Beton. Die Außenwände<br />

des Gebäudes scheinen das Plateau nicht zu berühren, sondern ver-<br />

schwinden im Schatten der zurückgesetzten Hohlkehlen. An Süd- und<br />

Westfassade setzen schmale horizontale Fensterbänder grafische Ak-<br />

zente. Innen ist diesen Wandsegmenten eine blaugetönte Glashaut vor-<br />

geblendet, die für surreale Farb- und Lichteffekte sorgt. Bei den Türen<br />

in Knallgelb und Wandflächen in zartem Hellblau trifft man auf die Logo-<br />

farben des UN Studio, teilweise reagiert das Farbkonzept im Inneren auf<br />

die Farbigkeit der technischen Geräte, wie zum Beispiel im rundum gelb<br />

gefärbten Schaltraum. ...; (aus online Architektur)<br />

Datenblatt<br />

Adresse: Salurnerstraße 11, 6020 Innsbruck, Österreich<br />

ArchitektIn: UN Studio (Ben van Berkel, Caroline Bos)<br />

Mitarbeit Architektur: Hannes Pfau (PL), Jacco van Wengerden,<br />

Gianni Cito, Ludo Grooteman, Laura Negrini, Hans Sterck, Paul<br />

Vriend, Boudewijn Rosman, Eli Aschenasy, Yuri Werner, Hjalmar<br />

Frederikson, Caspar le Fèvre<br />

BauherrIn: Innsbrucker Kommunalbetriebe AG<br />

StatikerIn: Peter Ladurner-Rennau<br />

Planungsbeginn: 1998<br />

Ausführung: 1999 - 2000<br />

113<br />

Staffage


Staffage<br />

114<br />

Kunst & Architekturfotografie<br />

Vorab muss gesagt werden, dass das Fotografieren von Industrie-<br />

bauten üblicherweise dem Zweck der Dokumentation dient, da-<br />

her ist der Blick auf diese Objekte möglichst klar und unverfälscht.<br />

Dem gegenüber stelle ich - gleich einem Opposit - die Umsetzung<br />

in künstlerische Interpretationen.<br />

Ausgehend von dokumentarischen Aufnahmen, die ich zuerst in-<br />

nen wie auch außen von dem Gebäude angefertigt habe, werden<br />

diese in einem zweiten Schritt am Computer verändert. Durch die-<br />

sen Prozess verlieren die Abbildungen oft gänzlich ihren ursprüng-<br />

lich objektiven Charakter.<br />

Es ist sicherlich nicht Sinn der Architekturfotografie das Abgebilde-<br />

te soweit zu verändern bis die Bildaussage nicht mehr der Wahr-<br />

heit entspricht; ich möchte aber zeigen, dass eine in die Jahre ge-<br />

kommene Sparte der Fotografie - die Architekturfotografie ist doch<br />

wirklich die längste Zeit auf ihren „dokumentaristischen“ Anspruch<br />

reduziert worden, oder für Hochglanzmagazine stilsicher wie ein<br />

perfekt gestyltes Modell abgelichtet worden - auch aus ihrer eng<br />

geschnürten Korsage ausbrechen und sich der Mittel, die in der<br />

Fotokunst schon lange verwendet werden, bemächtigen kann. Fo-<br />

tos von Architekturen sollten in einem größeren Rahmen ihre Bild-<br />

kraft ausspielen können und auch, wie im folgenden Fall, das eine<br />

oder andere mal, durch ihre Andersartigkeit auffallend sein.<br />

Ein neuer Zugang der Vieles möglich macht.


116<br />

extremer Schärfeverlauf - hoher Kontrast - SW - Ausschnitt


SW - Reduktion der Architektur auf einen Teil der Fassade - Teilung des<br />

Bildes in Licht und Schatten<br />

Staffage


Staffage<br />

118<br />

Zoomeffekt


Bewegungsunschärfe<br />

119<br />

Staffage


Staffage<br />

SW - Punktraster


Staffage


Staffage<br />

122<br />

Das analoge Verfahren der Cross-Entwicklung lässt sich auch digital imitieren.<br />

Der Farbeindruck wird auf diese spezielle Weise verändert und der<br />

Bildcharakter wird dadurch komplett verändert.


Dieses Foto wurde mittels EBV (die Lichter wurden verstärkt und durch<br />

Weichzeichner stimmungsvoll in Szene gesetzt) in seinem Bildcharakter<br />

völlig verändert. Für den Industriebau eine unübliche Darstellungsweise,<br />

erinnert es in seiner Wirkung an die Fotografien eines David Hamilton, also<br />

einem ganz anderes Genre.<br />

123<br />

Staffage


Staffage<br />

124<br />

Durch die sehr spezielle Sichtweise wirken die beiden Fotos sehr abstrakt<br />

und stellen sich daher nicht unbedingt als Abbilder dar, vielmehr können sie<br />

als künstlerische Interpretation gedeutet werden.


125<br />

Staffage


Staffage<br />

126<br />

Nichts wurde verändert, alles ist wie es scheint und doch wirkt die Gegenüberstellung<br />

dieser zwei extremen Perspektiven auf einer Doppelseite fast<br />

abstrakt, kann man mit dem linken Auge dem linken Fluchtpunkt fixieren,<br />

während man mit dem rechten Auge den rechten fixiert, man möchte es ...


127<br />

Staffage


128<br />

links: Das Abbild.<br />

rechts: Die Mehrfachbelichtung, schon seit jeher eine künstlerische Interpretationsmethode<br />

der starren Fotografie, hier noch kombiniert mit unterschiedlichen<br />

Brennweiten.


Staffage<br />

130<br />

links: Die perspektivische Wirkung dieser Fotografie wird nachträglich<br />

durch eine zentrierte Bewegungsunschärfe des Raums verstärkt. Die<br />

Schaltinstallation wird dabei ausgespart.<br />

rechts: Die nachträgliche Reduktion der Tiefenschärfe und die Wegnahme<br />

der Farbe im Raum lassen das Fotografierte fast modellhaft wirken.


131<br />

Staffage


Staffage<br />

132<br />

Abbild oder künstlerische Interpretation; allein das bewusste Weglassen der<br />

Umgebung reduziert den Gebäudeteil auf beinahe rein grafisch wirkende<br />

Elemente, verstärkt noch durch die fast monochrome Fassadenfarbe.


Inszenierung<br />

Die Inszenierung und ihre „Wirklichkeit“<br />

Es ist der erste Dezember 2007, kurz nach zwanzig Uhr und eine<br />

Stadtpolitik feiert ihre neuen Wahrzeichen. Es war schon eine be-<br />

merkenswerte Inszenierung für ein paar Stationen aus Glas Stahl<br />

und Beton, aber der Name Hadid und die zahlreichen Probleme<br />

die letzten Endes doch noch rechtzeitig gelöst wurden, verlangten<br />

förmlich eine überschwängliche Zeremonie, zu Ehren der durchfüh-<br />

renden Kräfte, und für das Volk, welches mittels lasergesteuerter<br />

Show in Begeisterung versetzt wurde. Ein Volksfest zu Ehren der<br />

Durchsetzungskraft von Politik und Kultur.<br />

Architektur war schon immer auch ein Instrumentarium für die vor-<br />

herrschende Politik, was an jenem besagten Abend in Innsbruck<br />

dargeboten wurde, war jedoch Neuland für mich. Obwohl ich aus


„sicherer“ Entfernung das Treiben beobachtete, zog es mich doch<br />

in seinen Bann und radierte so einige Zweifel, die ich persönlich mit<br />

diesem Projekt hatte, für einige Zeit aus. Wie geblendet muss erst<br />

ein Architekturlaie nach solch einer Laserbehandlung sein?<br />

Der Zweck heilt die Mittel, und in der causa Hungerburgbahn wur-<br />

de mit den Mitteln nicht gespart, warum auch, es handelt sich<br />

sicher um die weltweit schönsten Wartehäuschen.<br />

Innsbruck versucht sich mit Erfolg einen Namen in der zeitge-<br />

nössischen Architekturszene zu machen und trägt das Image<br />

einer architekturoffenen „Welt“-stadt lautstark hinaus. Bleibt<br />

nur zu hoffen, dass die Architektur nicht zur Statue politischer<br />

Interessen und Eitelkeiten verkommt.<br />

Vorerst wird hierfür viel gestaunt und wo Architektur zum Stau-<br />

nen beiträgt, kann diese nicht so schlecht sein.<br />

135


Inszenierung<br />

136<br />

Öffentlicher Bau / Hungerburgbahn NEU<br />

Ein Neubau der Hungerburgbahn wurde bereits seit den Vierzi-<br />

gerjahren diskutiert. Damals wurde vom Gauleiter Hofer die Ent-<br />

fernung des „störenden“ Rundgemäldes und der Stahlbrücke der<br />

Hungerburgbahn angestrebt.<br />

1985 wurde von Stadtrat Knoll die im Volksmund „Knollmetro“ ge-<br />

nannte unterirdische Standseilbahn direkt vom Saggen auf die See-<br />

grube beworben. Es folgten weiter Projekte – wie z. B. die „Golden<br />

Line“, eine Art schienengebundene Umlaufbahn eines Zillertaler Seil-<br />

bahnunternehmens. Dieses und andere erwogene Projekte waren<br />

jedoch in der Bevölkerung stark<br />

umstritten, da keine nachweisliche<br />

Verbesserung der Verkehrsanbin-<br />

dung erzielt werden konnte.<br />

Nach zwei Jahren Bauzeit wur-<br />

de im Dezember 2007 die neue<br />

Hungerburgbahn mit einem alt-<br />

stadtnäheren, unterirdischen<br />

Endbahnhof beim Kongresshaus<br />

und einer teilweise unterirdischen<br />

Trassenführung in Betrieb ge-<br />

nommen. Die renommierte Ar-<br />

chitektin Zaha Hadid, die in Inns-<br />

bruck schon die Bergiselschanze


geplant hat, konnte mit ihrem<br />

Projekt einen ausgeschriebe-<br />

nen Wettbewerb gewinnen. Das<br />

Projekt wurde als Public Private<br />

Partnership zwischen Stadt Inns-<br />

bruck und STRABAG finanziert<br />

und realisiert.<br />

Die Strecke beginnt unterirdisch<br />

bei der Station Congress am En-<br />

de des Kongresshauses, folgt in<br />

einem 371,5 m langen Tunnel der<br />

Europaratsallee und dem Renn-<br />

weg und kommt bei der Zwischen-<br />

station Löwenhaus wieder an die Oberfläche. Nach Überquerung<br />

des Inns über eine 242 m lange s-förmige Schrägseilstahlbrücke mit<br />

zwei Pylonen mündet die Trasse dann in den 445 m langen Wei-<br />

herburgtunnel, in dem die Streckenmitte und somit die Ausweiche<br />

liegt. Ab der Zwischenstation Alpenzoo führt die Strecke oberirdisch<br />

auf einer 462 m langen Stahlbetonbrücke und mündet kurz vor der<br />

Bergstation in die alte Trasse.<br />

Die Bahn wird vorwiegend touristisch genutzt, da sie im Stadtver-<br />

kehr nur wenig verkehrlichen Nutzen hat. Hauptsächlich hofft man<br />

auf Einnahmen durch den Kongresstourismus. Deshalb bildet die<br />

Bahn mit Kongresshaus, Parkhäusern und Busparkplätzen im Be-<br />

reich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der<br />

137<br />

Inszenierung


Inszenierung<br />

138<br />

Universität Innsbruck eine orga-<br />

nisatorische Einheit, während sie<br />

von wichtigen Schienen - öffentli-<br />

chenPersonennahverkehrs-Ach- sen der Stadt etwa einen halben<br />

Kilometer entfernt ist – die direkte<br />

Anbindung der Station Congress<br />

ist nur durch Buslinien gegeben.<br />

Die Bahn sollte auch dem öffent-<br />

lichen Personennahverkehr zwi-<br />

schen Stadt und Hungerburg die-<br />

nen. Allerdings ist die Anbindung<br />

sowohl in der Stadt als auch auf<br />

der Hungerburg selbst zu abgele-<br />

gen, da die Bahn zwischen 500 m<br />

und 1 km östlich der Wohnsiedlungen am Abhang der Hungerburg<br />

verläuft und von diesen, wie auch vom Alpenzoo, durch die stark<br />

zergliederte Topographie getrennt ist. Dennoch finanziert die Stadt<br />

Innsbruck zusätzlichen Randzeitenbetrieb und ermöglicht die Benüt-<br />

zung mit normalen Verkehrsverbunds-Kernzonentickets (Monats-,<br />

Halbjahres- und Jahresticket).


Datenblatt<br />

Adresse: Rennweg 3 (Talstation Congress), 6020 Innsbruck,<br />

Österreich<br />

ArchitektIn: Zaha Hadid Architects<br />

(Zaha M. Hadid, Patrik Schumacher)<br />

Mitarbeit Architektur: Thomas Vietzke (Projektleitung)<br />

BauherrIn: INKB Innsbrucker Nordkettenbahnen GmbH<br />

StatikerIn: B+G Ingenieure Bollinger & Grohmann GmbH (Klaus<br />

Bollinger, Manfred Grohmann)<br />

Weitere KonsulentInnen:<br />

Generalunternehmer: STRABAG<br />

AG<br />

Bauleitung: Malojer Baumanage-<br />

ment GmbH & Co, Innsbruck<br />

Maschinen, Seile: Leitner GmbH,<br />

Gießhübl<br />

Brücke: ILF Beratende Ingenieure<br />

ZT GmbH, Rum/Innsbruck<br />

Lichtplanung: Zumtobel Lighting<br />

GmbH, Dornbirn<br />

Planungsbeginn: 2004<br />

Ausführung: 2005 - 2007<br />

139<br />

Inszenierung


Inszenierung<br />

Die Nordansicht zeigt wie die Station dem<br />

Straßenverlauf folgt.<br />

140<br />

In Szene gesetzt<br />

Station Congress<br />

Die besondere Formensprache der Architektin und das gewählte<br />

Material sollten den visuellen Eindruck erwecken es handle sich<br />

hierbei um die Nachahmung natürlicher Formen, die wärend des


Schmelzens von Eis entstehen. In der Tat, ist dieser Eindruck nicht<br />

von der Hand zu weisen, und in der Kälte des Februars - passend<br />

zum Objekt der fotografischen Begierde - startete ich die Fotoserie<br />

über die neuen Hungerburgbahn Stationen.<br />

Architektur dieser Art, sollte doch einfach zu fotografieren sein, war<br />

mein erster Gedanke, der sich aber im Nachhinein als Irrtum her-<br />

ausstellen sollte. Untertags, wo die Form nicht durch die Lichtin-<br />

Bei der Westansicht verliert sich der Eindruck<br />

eines Kurvenverlaufs im Gebäude, eine Folge<br />

der organischen Form.<br />

Inszenierung


Inszenierung<br />

li. u. re.<br />

Nur eine geringe Veränderung des Aufnahmestandpunktes<br />

bewirkt schon ein vollkommen<br />

anderes Erscheinungsbild.<br />

142<br />

szenierung betont wird, verliert diese Architektur, und eines muss<br />

leider bemerkt werden: je näher man den Gebäuden kommt, des-<br />

to auffälliger werden die ungenau verarbeiteten Details, massiv an<br />

Wirkung, zumindes auf den Fotos. Und so entschied ich mich der


Dramaturgie in den Abbildungen der Stationen eins drauf zu setzen<br />

und verlegte den Aufnahmezeitpunkt zur „Blauen Stunde“. Diese<br />

in Wahrheit nur knapp 15 Minuten sind in der Architekturfotografie<br />

von größter Beliebtheit, da sie das Ablichten von innen und aussen<br />

in einer einzigen Belichtung zulassen. So kann sich die Architektur<br />

in bestem Licht und einem Höchstmaß an Inszenierung darbieten.<br />

Totalen, Panoramen, spannende Blickwinkel und die HDR-Technik<br />

unterstützen diese Wirkung. Die Szenerie vor Ort wird durch die<br />

Wahl des Aufnahmezeitpunktes noch unterstützt und unterstreicht<br />

die Qualität moderner Architektur durch eindrucksvolle Fotos.<br />

143


Im Innenraum der Station Congress, sprich im Untergeschoß, verliert sich<br />

das Glas und Sichtbeton wird das vorherrschende Material.


145<br />

Inszenierung


Inszenierung


Ein Panorama in der „Betonhöhle“ und ein Foto hinauf,<br />

das an den Blick aus einem Gletschertor erinnert.<br />

147


148<br />

Station Löwenhaus<br />

Kurz zuvor tritt die Bahn aus dem Untergrund und setzt hier zum<br />

Sprung über den Inn an. Eine gestrandete Skulptur aus Glas die<br />

sich über einen Unterbau aus Sichtbeton legt. Elegant, formschön<br />

und die wohl teuerste Art sich das Warten - am anderen Ende stei-<br />

gen gerade Gäste des Alpenzoos ein oder aus - zu verschönern.


149<br />

Die Architektur setzt zum Sprung über den Inn<br />

an und findet seine Fortführung in der zweifach<br />

geschwungenen Brücke.<br />

Inszenierung


Drei Ansichten die keiner weiteren Erleuterung bedürfen.


152<br />

Station Alpenzoo<br />

Ein Zwischenstopp mit Aussicht.<br />

Verlässt man an dieser Stelle die<br />

Bahn ist das Ziel der Fahrt der<br />

Alpenzoo, und nebenbei genießt<br />

man die wunderbare Aussicht -<br />

der Ausstiegspunkt liegt etwa 20<br />

m über Grund - auf Serles, Wipp-<br />

tal und Innsbruck.


Inszenierung<br />

Die Ansicht von Osten her durch die<br />

von der Strassenlaterne beleuchteten<br />

Bäume und rechts der Blick senkrecht<br />

nach Oben.


156<br />

Station Hungerburg<br />

Setzt man die Reise fort, so ge-<br />

langt man auf die Hungerburg, die<br />

Sonnenterrasse Innsbrucks.<br />

Hier landet man wieder im Unter-<br />

grund und gelangt durch ein „Glet-<br />

schertor“, das den Innenraum mit<br />

zwei riesigen Flügeln überdacht,<br />

zu einer großen Aussichtsebene<br />

mit freiem Blick über Innsbruck<br />

und die umliegenden Berge.


157<br />

Inszenierung


158<br />

Ostansicht, hier gut sichtbar die Aussicht, die man von der weit auskragenden<br />

Aussichtsplattform hat.


Ein Durchblick auf die Seegrube.<br />

Inszenierung


Inszenierung<br />

Das neue und das ewige Wahrzeichen<br />

von Innsbruck, die neue Hungerburgstation<br />

und die Nordkette.<br />

160


161<br />

nächste Doppelseite:<br />

Vom Innenraum aus wirkt die Glaskonstruktion<br />

wie ein eingeparktes Raumschiff.<br />

Inszenierung


Inszenierung


Inszenierung


Abbild<br />

Das Abbild und die Nähe zur Wahrheit<br />

164<br />

Seit das Medium Foto in das Weltbild des Architekten trat um<br />

dessen Werke darzustellen und öffentlich zu verbreiten, haben<br />

sich eine Vielzahl von Fotografen in dieser Disziplin versucht<br />

und in der klassischen Abbildung den objektiven Rahmen ge-<br />

funden den dreidimensionalen Raum, reduziert auf zwei, einer<br />

breiten Masse zugänglich zu machen.<br />

Der Fotograf versucht nicht durch eine spezielle Inszenierung,<br />

oder einer Geschichte, die rund um das Bauwerk gespannt<br />

wird, Aufmerksamkeit zu erlangen. Allein die Architektur spre-<br />

chen lassen und Blickwinkel finden die für dieses Bauwerk cha-<br />

rakteristisch sind, machen aus einem beliebigen Architekturfo-<br />

to ein Abbild. Es ist kein toter Körper den der Architekt entwirft,<br />

es ist ein Wesen, mit Ecken und Kanten, Stimmungen die den<br />

Bewohner beeinflussen und verändern können. Dieses Wesen<br />

kann auch auf Fotos sichtbar gemacht werden. Wie das Port-<br />

rät eines Menschen Einblicke in das „Innere“ eröffnet, oder nur<br />

eine ganz spezielle Seite zeigt, um ganz bewusst einem gewis-<br />

sen Sujet gerecht zu werden, werden im Architekturabbild die<br />

Wesenszüge der Architektur hervorgehoben und im Sinne des<br />

Fotografen „objektiv“ dargestellt.


Wer die Architektur nicht versteht,<br />

oder sich nicht mit ihr im Sinne ei-<br />

nes Dialoges verständigen kann,<br />

kann diese auch nicht Abbilden.<br />

Der Architekt spricht eine Spra-<br />

che die, reduzieren wir sie hier auf<br />

drei Dimensionen, unausgespro-<br />

chen beim durchwandern, sehen<br />

und ertasten, verstanden wer-<br />

den muss, um in einem weiteren<br />

Schritt einer Allgemeinheit - mit-<br />

tels Foto - verständlich gemacht<br />

werden zu können.<br />

So ist es von eminenter Wichtigkeit nicht allein das Dokument im<br />

Abbild zu sehen, sondern auch den Charakter und das Selbstver-<br />

ständnis einer Architektur zu erfassen, ohne aber in ein klischee-<br />

haftes hochglanz-postkarten-Sujet abzugleiten.<br />

Die Wahrheit ist nicht im Schwarz oder Weiß zu finden, es sind die<br />

Nuancen dazwischen die der Wahrheit am nächsten kommen.<br />

165<br />

Abbild


166<br />

Einfamilienhaus / Meyer<br />

Maßarbeit<br />

Auf einem leicht geneigten Hanggrundstück steht dieses Gebäude als<br />

2-3-geschossige Stahlbetonskulptur am Rand einer Einfamilienhaus-<br />

siedlung. Die einzelnen Wohnteile öffnen sich nach den Bedürfnissen<br />

der Bewohner und den Ausblicken in die Landschaft: die Kinderzim-


mer zum Garten im untersten Geschoss, der Ess-/ Kochbereich nach<br />

Westen, Süden und Osten, wo auch die Außenterrasse mit einem<br />

Pool situiert ist. Das Elternzimmer im obersten Geschoß gibt den Blick<br />

nach Süden, der Wohnbereich zum nördlich gelegenen Wald frei. Zwi-<br />

schen diesen beiden Räumen liegt ein Badbereich, der sich wieder-<br />

um zu einer uneinsehbaren Terrasse öffnet. Diese führt dann weiter<br />

auf den höchsten erreichbaren Teil des Hauses, der Dachterrasse mit<br />

Rundumblick. Alle Aufenthaltsbereiche können über Außenflächen er-<br />

schlossen werden. Dieses Konzept der Innen- und Außenraumbezie-<br />

hungen und -erschließungen ist die eigentliche Entwurfsthematik.<br />

Datenblatt<br />

Adresse: Gramartstr. 52 e, 6020 Innsbruck, Österreich<br />

ArchitektIn: Holzbox ZT Gmbh<br />

BauherrIn: Familie Meyer<br />

StatikerIn: Reinhard Donabauer<br />

Planungsbeginn: 2006<br />

Ausführung: 2006 - 2007<br />

Grundstücksfläche: 815 m 2<br />

Wohn-Nutzfläche: 230m 2<br />

(+ Terrassen, Carport, Lager, Pool)<br />

Umbauter Raum: 980 m 3


Abbild<br />

Abbilder einer Architektur<br />

Es war eine intensive Suche ein geeignetes Objekt zu finden, doch<br />

an einem Waldrand stand da dieses beton- und glaslastige Ein-<br />

familienhaus, das so gar nicht in die Schublade der schmucken<br />

Landhäuschen am Waldesrand<br />

passte. Diese Formal und im Ma-<br />

terial stark reduzierte Architektur<br />

sollte das Objekt meiner letzten<br />

Sicht oder vielmehr Interpretation<br />

von Architektur werden.<br />

Beim Abbild muss der Fotograf in<br />

seiner Arbeitsweise gleich mehre-<br />

re Professionen in gleicher Weise<br />

ineinanderfliessen lassen, bevor er<br />

an die eigentliche Arbeit, dem Fo-<br />

tografieren, geht. Ein Erkennen der<br />

architektonischen Merkmale, das<br />

Verständnis über die Wirkung von<br />

Materialien in unterschiedlichem<br />

Licht, die Bezüge von Innen und<br />

Aussen, der Einfluss des Wetters<br />

auf die Wirkung der Architektur,<br />

alles Parameter die in die Kompo-<br />

sition Einfließen und im Foto kom-


169<br />

Abbild


170<br />

primiert aber auch selektiv zum<br />

Ausdruck kommen. Hier gibt es<br />

weder Show noch Effekthascherei<br />

und die persönlichen Empfindun-<br />

gen im Bezug zur abzubildenden<br />

Architektur sollten keinesfalls aus<br />

den Bildern herauszulesen sein.<br />

Objektivität steht im Vordergrund<br />

und die Inszenierung ist die Archi-<br />

tektur selbst.<br />

Die Fotografie trägt zum Verständ-<br />

nis der Architektur bei, indem sie,<br />

wie in diesem Fall, die klare Orga-<br />

nisation des Hauses auch auf die<br />

Fotos überträgt und zurückhal-<br />

tend in den Ansichten den Cha-<br />

rakter des Hauses wiedergibt.<br />

Details, wie die Vorhänge, die hier<br />

auch aussenliegend, die Transpa-<br />

renz der großen Glasflächen vor zuviel Einblick schützen sind unver-<br />

wechselbare Statements des Architekten. Ebenso ist schon beim<br />

ersten Anblick auffallend mit welch radikaler Orthogonalität das<br />

Gebäude angelegt ist. Durch gezielte Blickwinkel und Ausschnitte<br />

werden diese Gestaltungsmittel in der Fotografie betont und zeigen<br />

so im Detail wichtige Parameter des Gesamtkonzeptes.


Die Zusatzbauten wie Pool und Keller die mit dem Hauptgebäude<br />

einen Hof bilden sind natürlich auch in die Fotodokumentation<br />

des Gebäudes mit ein zu beziehen.<br />

Diese Architektur besticht durch ihre Klarheit, die schlichte Insze-<br />

nierung der Waagrechten und Senkrechten; diese Sprache die vom<br />

Entwurf an charakteristisch war, soll bis zum Abbild gesprochen<br />

werden.<br />

171<br />

Abbild


Abbild<br />

172<br />

Hofansichten


173<br />

Abbild


Abbild<br />

174<br />

Die Kommunikationsebene mit Küche, Essbereich und großer Terrasse,<br />

sowie einer Kleinen Nasszelle.


Im darüberliegenden Geschoß das<br />

offene Badezimmer.<br />

Rückansicht der Küche.<br />

175<br />

Abbild


Im Anschluss an die vier Fotoprojekte habe ich hier noch einige Arbeiten aus der jüngeren<br />

Vergangenheit unter der Rubrik fotoPOD zusammengestellt. Es handelt sich dabei um Auftrags<br />

wie auch freie Arbeiten die im Kontext der Architekturfotografie entstanden sind.<br />

fotoPOD


fotoPOD<br />

178<br />

Zu Beginn „der Stein des Anstoßes“ heute maximal ein Zankapfel in der österreichischen<br />

Architekturszene, das MUMOK im Museumsquartier. [Wien, 2006]


179<br />

fotoPOD


fotoPOD<br />

180<br />

Unbemannte offene Wohnkontainer zwischen Firmensitz und Westbahn.<br />

[Innsbruck, 2008]


181


fotoPOD<br />

182<br />

Abseits der Touristenströme, in diesem<br />

Fall kaum 50 Meter von der Lagune<br />

entfernt, zeigt sich selbst Venedig<br />

von ihrer beschaulichen Seite.<br />

[Venedig, 2006]


183<br />

fotoPOD


fotoPOD<br />

184<br />

IKEA Lager durch wilden Baumwuchs vor „neugierigen“ Blicken geschützt.<br />

[Innsbruck, 2008]


185<br />

fotoPOD


fotoPOD<br />

186<br />

Ein „Glashaus“ aus Kunststoff, durch die Inszenierung in der Blauen Stunde<br />

wird aus der reduzierten Form - unterstützt durch die symetrische Aufnahme -<br />

ein „Leuchtkasten“ der Emotionen weckt. [Schruns, 2007]


187<br />

fotoPOD


fotoPOD<br />

Durch das gezielte Einsetzen der Gebäudeachsen und<br />

der Szenerie in der Beleuchtung wird das Gebäude in<br />

eine Stimmung transferiert, die maximale Wirkung erzielt.<br />

[Schruns, 2007]


189<br />

fotoPOD


Die späte Blaue Stunde, ein ausgeklügeltes Lichtsystem und das Einsetzen<br />

der, für den Architekten wie auch den Fotografen, wichtigen Achsen und<br />

Fluchtpunkten. [Schruns, 2007]


191<br />

fotoPOD


192<br />

Der gestreckte Baukörper, das Raster und der Versuch den Betrachter mit<br />

dem Benützer gleichzustellen, führt bei dieser Arbeit zur Zentralperspektive.<br />

[Innsbruck, 2006]


194<br />

Lois Welzenbachers Parkhotel in Hall konnte nur durch alte Fotos in den<br />

Originalzustand mit den auskragenden Balkonen zurückgeführt werden, ein<br />

Beispiel für den Wert mancher dokumentarischer Fotografien. [Hall, 2006]


196<br />

Frank O. Gehry‘s „Ginger and Fred“ an der Jiraskuv Brücke. [Prag, 2006]


fotoPOD


In den U-Bahnschächten Prags. [Prag, 2006]


199<br />

fotoPOD


200<br />

Verkehrsadern im Chaos der Metropole Bangkok. Durch die auf den ersten<br />

schnellen Blick beinahe korrekt aneinandergefügte Bildsequenz, wird bei<br />

genauerer Betrachtung das Chaos doppelt herausgehoben. Nichts passt<br />

zusammen, und trotzdem entsteht als erster Eindruck beinahe ein Panorama<br />

dieser urbanen Szenerie. [Bangkok, 2008]


201


Literaturliste:<br />

Adriani Götz<br />

In Szene gesetzt, Architektur in der Fotografie der Gegenwart<br />

Veröffentlichung des Museums für Neue Kunst, ZKM Karlsruhe, 2002<br />

Buddemeier Heinz<br />

Das Foto, Geschichte und Theorie der Fotografie als Grundlage eines neuen Urteils<br />

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg, 1981<br />

Daidalos 66<br />

Fotografie als Argument, Die heimlichen Normen der Architektur-Fotografie<br />

Gütersloh, 1997<br />

Dechau Wildried<br />

architektur abbilden<br />

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1995<br />

David Hubel<br />

Auge und Gehirn: Neurobiologie des Sehens.<br />

Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 1995<br />

Gregory Richard<br />

Auge und Gehirn, Psychologie des Sehens.<br />

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg, 2001


Hünecke Richard<br />

Architektur vor der Kamera<br />

Arthur Moewig Verlag Taschenbuch GmbH, Rastatt, 1982<br />

Kant Immanuel<br />

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können<br />

Riga, Fr. Hartknoch, 1783. Bibliotheca Augustana e-Text<br />

Kinold Klaus, Fotograf<br />

Ich will Architektur zeigen, wie sie ist.<br />

Richter Verlag, Düsseldorf, 1993<br />

Klaus Georg, Buhr Manfred (Hrsg.)<br />

Philosophisches Wörterbuch. 1. Band<br />

Verlag das europäische Buch, Berlin 1975<br />

Krischanitz Margerita<br />

Architektur wahrnehmen<br />

BauArt-Verein für die Förderung von Architektur, Städtebau und Kunst, Wien, 1992<br />

Locke John<br />

An Essay concerning Humane Understanding<br />

London: Printed for Tho. Basset/ Sold by Edw. Mory, 1690


Metzger Wolfgang<br />

Gesetze des Sehens<br />

Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt, 1975<br />

Mach Ernst<br />

Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zu Psychischen [1900]<br />

9 Auflage, Jena, 1922<br />

Platon<br />

Der Staat<br />

hrsg. von Andreas Schubert, Paderborn, 1995<br />

Roth, Gerhard<br />

Das Gehirn und seine Wirklichkeit, kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen,<br />

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1998<br />

Sachsse Rolf<br />

Photographie als Medium der Architekturinterpretation<br />

K. G. Saur Verlag KG, München, 1984<br />

Schattner Karljosef, Kinold Klaus<br />

Architektur Architecture+Fotografie Photographie<br />

Basel; Boston; Berlin; Birkäuser Verlag, 2003


Schnelle-Schneyder Marlene<br />

Sehen und Photographieren, Von der Ästhetik zum Bild,<br />

Springer Verlag, Berlin Heidelberg, 2003<br />

Singer Wolf<br />

Gestaltwahrnehmung, Zusammenspiel von Auge und Hirn.<br />

In: H. Kettenmann und M. Gibson<br />

Kosmos Gehirn. Neurowissenschaftliche Gesellschaft e. V. und BMBF,<br />

Berlin 2002<br />

Sontag Susan<br />

Über Fotografie<br />

Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt, 1980<br />

Weski Thomas<br />

Andreas Guesky<br />

Snoeck Verlagsgesellschaft mbH, Köln, 2007<br />

Wittgenstein Ludwig<br />

Tractatus Logico-Philosophicus [1922] dt./ engl.<br />

London Routledge & Keagan, 1955


Wittgenstein Ludwig<br />

Philosophische Untersuchungen dt./ engl.<br />

übers. G.E.M. Anschombe; Oxford: Blackwell, 1953<br />

Wittgenstein Ludwig<br />

Über Gewissheit. On certainty<br />

herausgegeben von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright; Oxford: Blackwell, 1969<br />

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