Bickel Peter: Musik aus der Maschine: Computervermittelte Musik
Bickel Peter: Musik aus der Maschine: Computervermittelte Musik
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Danksagung<br />
Für Anregungen und Verbesserungsvorschläge möchte ich mich be-<br />
son<strong>der</strong>s bei Siegfried Zielinski und Harald Kepler bedanken. P.B.<br />
CI P-Tit ela uf n a hm e d er Deutschen Bi b I i o t h e k<br />
<strong>Bickel</strong>, <strong>Peter</strong>:<br />
<strong>Musik</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Maschine</strong> : computervermittelte <strong>Musik</strong> zwischen<br />
synthetischer Produktion und Reproduktion / <strong>Peter</strong> <strong>Bickel</strong>. -<br />
Berlin : Ed, Sigma Bohn, 1992<br />
(Sigma-Medienwissenschaft ; Bd. 14)<br />
ISBN 3-89404-908-1<br />
NE: GT<br />
Copyright 1992 by edition sgma* rainer bohn verlag, Berlin.<br />
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhe-<br />
berrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb <strong>der</strong> engen Grenzen des<br />
Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig<br />
und sfrafbur. 'Das gilt insbeson<strong>der</strong>e für Vervielfaltigungen, Mikroverfiimungen,<br />
Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.<br />
Druck: WZB Printed in Germany<br />
\
I<br />
I<br />
V. <strong>Musik</strong> im Zeitalter ihrer Synthetisierbarkeit<br />
,,As thepeople here grow col<strong>der</strong><br />
' * I turn to my Computer<br />
And spend my evenings with it<br />
Li& afiiend-<br />
I was bading a newprogramme<br />
I had or<strong>der</strong>ed Fom a magazine<br />
"Are you lonely, are you lost?<br />
This voice console is a must"<br />
Ipress Execute.<br />
Hello, I know that you've been feeling tireg<br />
I bring you love and deeper un<strong>der</strong>standing.<br />
Hello, I know that you 're unhappy,<br />
I bring you love and deeper un<strong>der</strong>standing. ''<br />
(Kate Bush)<br />
Walter Benjamin erreichte mit seinem 1936 in <strong>der</strong> "Zeitschrift für Sozial-<br />
forschung" erschienenen Aufsatz über das Schicksal des Kunstwerks, das von<br />
ihm <strong>aus</strong> kulturhistorischer und ästhetischer Perspektive betrachtet wurde, eine<br />
bis heute ungebrochene Popularität, die sich in den zahlreichen Bezugnahmen<br />
aktueller Forxhungsliteratur nach wie vor äußert. Die Diskussion <strong>der</strong> Benja-<br />
minschen Thesen, die an <strong>der</strong> mediengeschichtlichen Umwälzung vom Theater<br />
zum Kino bzw. von <strong>der</strong> traditionellen Bildenden Kunst zur technisch reprodu-<br />
zierten wie beispielsweise <strong>der</strong> Photographie entwickelt wurden, wird selbst in<br />
<strong>der</strong> musikwissenschaftlichen Literatur nach wie vor vehement geführt, doch in<br />
den seltensten Fällen in Verbindung mit den neuesten Digital-Technologien <strong>der</strong><br />
I03
musikalischen Produktion gesetzt. Eine nähere Beschäftigung mit dem "Kunst-<br />
werk-Aufsatz" zeigt, daß Benjamins Überlegungen im Umfeld <strong>der</strong> digitalisierten<br />
<strong>Musik</strong> bis heute viele Fragen aufwerfen, die sich jedoch - nicht zuletzt wegen<br />
<strong>der</strong> essayistischen Argumentation und <strong>der</strong> sprunghaften Gedankenführung - einer<br />
Beantwortung zunehmend entziehen. Die Begrifflichkeiten, die jahrzehntelang<br />
zur definitorischen Abgrenzung benutzt worden waren, erweisen sich als immer<br />
weniger tragfähig; dies mag sicherlich damit zusammenhängen, daß die Annä-<br />
herung an die <strong>aus</strong> Samplern hervorgebrachten Klänge immer noch überwiegend<br />
auf klassischen Kunstkategorien fußt, die seit <strong>der</strong> griechisch-römischen Antike<br />
weitgehend unverän<strong>der</strong>t blieben.'85<br />
1. Selbständigkeit und Unabhängigkeit<br />
Walter Benjamin führt zu den Strukturunterschieden zwischen Malerei und dem<br />
mit Montage arbeitenden Film, die analog auf <strong>Musik</strong> übertragen werden können,<br />
folgendes <strong>aus</strong>: „Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kamera-<br />
mann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Ge-<br />
gebenen, <strong>der</strong> Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe <strong>der</strong> Gegebenheiten<br />
ein. Die Bil<strong>der</strong>, die beide davon tragen, sind ungeheuer verschieden. Das des<br />
Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vierfältig zerstückeltes, dessen<br />
Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammen finden. ''186 in seiner Segmen-<br />
tierung, <strong>der</strong> <strong>aus</strong>schnitthaften Wie<strong>der</strong>verwertung und seiner Zersplitterung beim<br />
Sampling ist das reproduziert erzeugte <strong>Musik</strong>stück im Benjaminschen Sinne187<br />
natürlich wesentlich selbständiger als das Original. Wenn das akustische Mate-<br />
rial gar kein in akustisch realem Raum passierendes Ereignis als Quelle hatte,<br />
ist das "Abbild" schlicht selbständig, weil es unabhängig vom Original ist. Es<br />
kann Klangspektren (Frequenzverän<strong>der</strong>ungen, Längen, etc.) und Raumdimen-<br />
sionen (Hallanteile, etc.) einnehmen, die dem Original verwehrt sind. Es können<br />
185 Vgl. KneiE <strong>Musik</strong>ästhetik. In: Carl Dahlh<strong>aus</strong> 1988, S.133-169.<br />
186 Benjamin 1963, S.32.<br />
187 Es „erweist sich die technische Reproduktion dem Original gegenüber selbständiger uls<br />
die munuelle." Ebd., S.12.<br />
104<br />
z.B. Hallräume in Tiefen und Größen erzeugt werden, die keinem realen Ge-<br />
bäude und keiner wirklichen akustischen Umgebung entsprechen. Während also<br />
<strong>der</strong> noch mit Magnetband und Schere arbeitende <strong>Musik</strong>er <strong>aus</strong> <strong>der</strong> "konkreten"<br />
Tradition gewisse Analogien zu Benjamins "Chirurgen" aufwies, <strong>der</strong> "die Ge-<br />
webe <strong>der</strong> Gegebenheit" schneidend und montierend bearbeitet, muß für die di-<br />
gitale <strong>Musik</strong>erzeugung erst ein Vergleich gefunden werden. Ob <strong>Musik</strong> akustisch<br />
real vor sich ging, ist nicht mehr von Bedeutung. Simulationen dessen sind so<br />
perfekt, dai3 <strong>der</strong> Hörer ohne das Wissen um den Entstehungsprozeß solche Kri-<br />
terien nicht mehr beurteilen kann. Der mit digitalem Material arbeitende <strong>Musik</strong>er<br />
verhält sich we<strong>der</strong> (um bei Benjamins Vergleich zu bleiben) distanziert wie ein<br />
Magier und respektiert die Totalität seines Behandelten, noch dringt er wie ein<br />
Chirurg operativ in den Körper <strong>der</strong> Realität ein. Er kann sich vielmehr seinen<br />
"musikalischen Golem" nach Belieben erschaffen. Das bisherige Benjaminsche<br />
Gegensatzpaar einer optischen (die des Malers) und einer taktilen Beziehung<br />
zum Objekt (die des Chirurgen)l= wandelt sich hier also gewissermaßen in das<br />
Verhältnis zu einer virtuellen Beschaffenheit. Eingriffe in das Darstellungsma-<br />
terial (vergleichbar dem Bearbeiten einer photographischen Emulsionsschicht)<br />
gibt es nicht mehr; die Materialität des digitalen Klanges ist "informationeller"<br />
Natur. Völlig unwichtig ist dabei, ob das Klangmaterial komplett synthetisch<br />
<strong>aus</strong> Minimalb<strong>aus</strong>teinen Stück für Stück zusammengesetzt wurde, o<strong>der</strong> ob es<br />
etwa die Reproduktion einer Reproduktion darstellt (Das Sample von einer Platte<br />
ist ja nur wie<strong>der</strong>um eine Kopie eines medial nachgebildeten <strong>Musik</strong>ereignisses).<br />
Da bei digitaler Vervielfaltigung auch bei <strong>der</strong> vielfachen Kopie kein Unterschied<br />
zur ursprünglichen Datei festzustellen ist, existiert vielleicht de facto ein Original<br />
(o<strong>der</strong> besser eine Quelle); eindeutig definiert werden kann es jedoch selbst von<br />
Fachleuten nicht.<br />
188 Siehe zur optisch-taktilen Qualität Stoessel 1983, S.30.<br />
105
2. Historische Etiketten eines Originals<br />
,,Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit <strong>aus</strong>. [...I<br />
Die Echtheit einer Sache ist <strong>der</strong> Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren,<br />
von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugen-<br />
~chaft."~*~ Beim Versuch einer Übertragung dieses von Benjamin geprägten Originalbegriffs,<br />
<strong>der</strong> eine Bindung des Werkes an ein materiales Raum-Zeit-Verhältnis<br />
thematisiert, stößt man bei <strong>der</strong> <strong>Musik</strong> auf gewisse Schwierigkeiten:<br />
An<strong>der</strong>s als traditionelle Produkte <strong>der</strong> bildenden Kunst ist diese in die Vergänglichkeit<br />
<strong>der</strong> Zeit eingespannt. Dem Bild gegenüber, das in seiner Totalität zu<br />
jedem Zeitpunkt seit seiner Entstehung vollständig existiert, zeichnet sich die<br />
<strong>Musik</strong> durch die Entwicklung in <strong>der</strong> Zeit <strong>aus</strong>. Ihre Zeit <strong>der</strong> Syntax ist gleich<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Semantik, aber ebenso fällt die Zeit ihrer Ausführung zusammen mit<br />
<strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Abnutzung, <strong>der</strong> jedes physische Objekt unterworfen ist.lW Zeitlich<br />
gesehen gibt es kein vollständiges und gleichzeitiges "Hier" <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>, die zum<br />
Zeitpunkt ihrer Vervollständigung - beim letzten Ton einer Aufführung - eben<br />
schon wie<strong>der</strong> Vergangenheit ist. Dementsprechende Schwierigkeiten sind beim<br />
Versuch einer Fixierung des musikalischen Originals feststellbar: Ausgehend<br />
von <strong>der</strong> Definition des musikalischen Werkbegriffs, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Erfaßbarkeit eines<br />
Originals vor<strong>aus</strong>zugehen hat, drehte sich die Frage in <strong>der</strong> Diskussion darum, ob<br />
das Werk <strong>der</strong> Notentext o<strong>der</strong> das erklingende <strong>Musik</strong>stück sei. So war die gängige<br />
Vorstellung vor <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> <strong>aus</strong>gedehnten technischen Reproduktionsmögiichkeiten,<br />
daß ,,das Absolute am Kunstwerk die Vorstellung [ist], die <strong>der</strong> Komponist<br />
von seinem Werk hat. r'191 Da <strong>der</strong> Komponist, bedingt durch die Ungenauigkeiten<br />
<strong>der</strong> Notenschrift hinsichtlich Klangfarbe und an<strong>der</strong>er akustischer Parameter, seine<br />
Vorstellung nur ansatzweise tradieren kann, tritt eine endgültige Manifestation<br />
des Werkes - so Erwin Stein - erst in <strong>der</strong> jeweils unterschiedlichen Interpretation<br />
dieses Notentextes zutage. Schon hier wird erkennbar, wie vielfältig<br />
und wi<strong>der</strong>sprüchlich <strong>der</strong> Versuch einer Fixierung des musikaiischen Originals<br />
ist: Ernst Krenek beispielsweise definiert die nie<strong>der</strong>geschriebene Partitur als musikalisches<br />
Original, die jede nachfolgende Interpretation als Kopie stempelt:<br />
,,Die erste Reproduktion des in seiner einmaligen Nie<strong>der</strong>schrift produzierten<br />
189 Benjamin 1963, S.12 & 13.<br />
190 Eco 1985, S.75.<br />
Der Dauerhaftigkeit traditioneller Kunst tritt die rasche Abnutzung <strong>der</strong> Popmusik, ab-<br />
lesbar an den Charh, allerdings beson<strong>der</strong>s eklatant gegenüber.<br />
191 Stein 1925, S.28f.<br />
106<br />
Werkes ist die Auffuhrung durch einen o<strong>der</strong> mehrere Interpreten auf Grund<br />
jener Nie<strong>der</strong>schrifi. 'r192 Adorno dagegen argumentiert bei <strong>der</strong> nur noch repro-<br />
duziert produzierbaren <strong>Musik</strong> für die Konvergenz von technikvermitteltem Pro-<br />
dukt und "Werk": , Werden die Werke zur eigenen Reproduktion, so ist abseh-<br />
bar, da8 die Reproduktionen zu den Werken werden. "lo3 Für die serielle <strong>Musik</strong><br />
mag Kreneks These noch weitgehend zutreffen: Die rein auf dem Papier arbei-<br />
tenden Komponisten schrieben zwar graphisch und logisch bestechende <strong>Musik</strong>-<br />
stücke; von <strong>der</strong>en Klang hatten sie jedoch häufig kaum eine klare Vorstellung.<br />
Diese Kompositionsmatrix, die als Vorläufer auf heutige Software verweist,<br />
führte in eine absurde Situation: „Die <strong>Musik</strong>er spielten, was sie wollten, und<br />
<strong>der</strong> Komponist konnte es nicht mehr kontrollieren. "lg4 Man muß sich vor Augen<br />
führen, daß in dieser typisch abendländischen Vorstellung, nach <strong>der</strong> musikali-<br />
sche Produktion auf dem Notenpapier ihre originärste Form findet (und man<br />
sich daher die Frage stellen muß, ob <strong>Musik</strong> überhaupt noch eine akustisch sich<br />
mitteilende Kunst sein kann), die Umkehrung betrieben wird eines jahrhun<strong>der</strong>te-<br />
lang praktizierten Verhältnisses: <strong>Musik</strong> wird eben gespielt; die Notierung ist das<br />
Memorandum. Der Notentext als Werk ist sicherlich als ein weiterer B<strong>aus</strong>tein<br />
<strong>der</strong> zunächst numerisch rationalisierenden Standardisierung (2.B. Notenwerten<br />
wie Viertel, Achtel, etc.) von musikalischen Äußerungen zu werten, die schließ-<br />
lich in <strong>der</strong> Binärauflösung <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>computer ihre Fortführung fand. Die Pop-<br />
musik, die sich <strong>aus</strong> <strong>der</strong> gestaltenden Improvisation entwickelt hat und so den<br />
Werkcharakter weitgehend ignorieren konnte, schien zumindest in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong><br />
<strong>aus</strong>ufernden Improvisationen <strong>der</strong> sechziger Jahre von ihrem Ansatz her interes-<br />
sante Alternativen zum beharrlichen Festschreiben des Originals zu bieten. Doch<br />
bleibt auch hier <strong>der</strong> Rückschluß auf Ursache und Wirkung problematisch:<br />
Schließlich ermöglichte erst die Langspielplatte die Vermarktbarkeit langer Im-<br />
provisationsfassungen und hat diese daher sicherlich mitprovoziert.<br />
Die Diskussion um den Charakter eines Werks ist folgerichtig erst seit <strong>der</strong><br />
Existenz einer Notenschrift entstanden. Wenngleich schon im antiken Griechen-<br />
land die Angabe <strong>der</strong> Tonhöhe durch Buchstaben definiert wurde, ist <strong>der</strong> Aus-<br />
gangspunkt <strong>der</strong> abendländischen Notenschrift in den Neumen gegen Ende des<br />
9. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu sehen. Da dort die Tonhöhe und -dauer noch nicht eindeutig<br />
fixierbar war, wird die Notation im Liniensystem durch Guido von Arezzo als<br />
Vorläufer <strong>der</strong> heute geläufigen Notierungsweise definiert."' Ursprünglich als<br />
192 Krenek 1973, 8.59.<br />
193 Adorno 1978, S.233.<br />
194 Vogt 1972, S.29.<br />
195 Für <strong>aus</strong>fiihrlichere Informationen siehe z.B. Kühn o.J., S.28-37.<br />
107
Gedächtnishilfe und zur Überlieferung von <strong>Musik</strong> entwickelt, bildet die Notation<br />
jedoch gleichzeitig die Vor<strong>aus</strong>setzung zur Verwertung von musikalischen Ab-<br />
läufen und provozierte damit die Postulation eines Werkes. Gemeinsam hat die<br />
Notation mit <strong>der</strong> MIDI-Norm die Tatsache einer Codierung, die also zwangs-<br />
läufig einen Informationsverlust mit sich bringt. Die Klage über die Unzuläng-<br />
lichkeiten <strong>der</strong> Notenschrift” und die dar<strong>aus</strong> resultierende Notwendigkeit einer<br />
Auslegung durch den Interpreten legen Zeugnis davon ab. Die für traditionelle<br />
akustische Instrumente <strong>der</strong> abendländischen <strong>Musik</strong>tradition entwickelte Notation<br />
wurde mit den neuen Möglichkeiten elektronischer Kianggestaltung in den sech-<br />
ziger Jahren hinfällig: Das symbolische Abbild des Werks war nicht mehr ab-<br />
bildungsfähig. Die Komponisten elektronischer <strong>Musik</strong> suchten mit den vielfäl-<br />
tigsten graphischen Anordnungen diese Abbildbarkeit zu erlangen; Ähnlichkeit<br />
mit dem Notensystem bestand häufig nur noch in dem Vorhandensein einer<br />
Zeitachse (siehe Abbildung 8).<br />
Abb. 8: Partitur<strong>aus</strong>schnitt <strong>aus</strong> ‘Stalks and Trees and Drops and Clou&” von H. Brün<br />
(Quelle: Batel, Kleinen & Salben 1987, S.58)<br />
Die Vorgänge, die sich in einer musikalischen Konzeption abspielten, waren zu<br />
komplex geworden, um sie noch <strong>der</strong> menschlichen Realisation zu überlassen -<br />
die Übergabe dieser Arbeit an steuernde <strong>Maschine</strong>n war die logische Konse-<br />
196 Durch jede existierende Notierung kann jeweils nur ein verschwindend geringer Teil <strong>der</strong><br />
auf <strong>der</strong> gesamten Erde praktizierten <strong>Musik</strong> fixiert werden. Durch<strong>aus</strong> verständlich ist in<br />
diesem Zusammenhang, daß <strong>Musik</strong>kulturen, die dem Nutzen, aber auch dem Zwang<br />
eines Notensystems nicht unterworfen waren, in den meisten Fällen größeres expressives<br />
<strong>Musik</strong>potential entwickeln konnten. Vgl. Blaukopf 1982, S.348ff.<br />
108<br />
quenz: ,,Die Quantelung <strong>der</strong> Zeit und die Koordinierung von unzähligen Pro-<br />
zessen, von denen eine Datenflut <strong>aus</strong>geht, führt zu einer Beschleunigung, die<br />
durch den Engpuß des kognitiven Systems Mensch hindurch mup. Will er noch<br />
Entscheidungen trefeen, muIJ er sich <strong>Maschine</strong>n schufieen, die mit <strong>der</strong> maschi-<br />
nellen Zeit Schritt halten können. “lg7 Abbildung 9, eine Werbung für CD-Spie-<br />
ler, illustriert diese Entwicklung: Die Notation als symbolisches System verlangt<br />
Abb. 9: Werbung <strong>der</strong> Firma Becker filr Auto-CD-Spieler<br />
197 Grassmuck 1988, S.184.<br />
109
den menschlichen Interpreten; die analoge Schallaufzeichnung des Magnetban-<br />
des übernimmt maschinell - jedoch ohne sinnbildliche Transformation - diese<br />
Aufgabe. Die zu Byte-Gruppen geglie<strong>der</strong>ten Zahlenfolgen schließlich entspre-<br />
chen einer <strong>aus</strong>schließlich automatisiert hergestellten Mischung <strong>aus</strong> beidem: Die<br />
musikalischen Informationen werden vom Computer in symbolische Binärent-<br />
Scheidungen codiert (die auf diese Weise einer Nachbearbeitung gefügiger sind)<br />
und zur Hörbarmachung ebenfalls wie<strong>der</strong> dem maschinellen Interpreten über-<br />
lassen.<br />
Das Original war also in <strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Notierung gegeben, wenn <strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />
die Musizierende spielte. Die Gebundenheit an Ort und Zeit war charakteristisch<br />
für die Aufführung vor einem Publikum, das sich gleichzeitig am gleichen Ort<br />
befinden mußte. Die <strong>Musik</strong> war <strong>der</strong> industriellen Verwertung noch kaum zu-<br />
gänglich und besaß den von Benjamin beschriebenen auratischen Charakter eines<br />
Kultwertes. Möglich wurde die kommerzielle Verwertung durch den symbo-<br />
lischen Code <strong>der</strong> Noten. Die Bemühungen zur Wahrung des Kultwertes, <strong>der</strong><br />
Aura, des Orignals - nach Benjamin alles begriffliche Symptome für eine Er-<br />
scheinung von Unnahbarkeit, Einzigartigkeit, traditionsgebundener Fundierung<br />
im Ritual - sind in <strong>der</strong> Fetischisierung von nicht unmittelbar zur <strong>Musik</strong> gehö-<br />
renden Objekten (dem originalen Blatt des Notenmanuskripts) nachvollziehbar.<br />
Durch die Möglichkeiten technischer Reproduktion mit analoger Magnet-<br />
bandaufzeichnung war die Bindung an den Ort und die Zeit gefallen: Das schein-<br />
bar kontinuierliche Ergebnis entsteht oft durch Segmente zeitlicher und räumli-<br />
cher Trennung - Aufnahmen einzelner Teile o<strong>der</strong> einzelner <strong>Musik</strong>er werden in<br />
monatlichen o<strong>der</strong> sogar jährlichen Abständen in auf <strong>der</strong> gesamten Erde verteilten<br />
Studios gemacht. Nichtsdestotrotz werden 2.B. <strong>der</strong> Aufnahme eines klassischen<br />
Stücks durch die Bindung an bestimmte Personen (Dirigenten, Solisten, etc.)<br />
trotzdem Elemente kultischer Verehrungsfahigkeit und Originalität mit auf den<br />
Weg gegeben. Entsprechend war dadurch eine Marktsättigung des Materials zu<br />
vermeiden - <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>liebhaber konnte die Realisation einer Komposition durch<br />
viele verschiedene Dirigenten erwerben; von Furtwängler bis Böhm vermittelte<br />
je<strong>der</strong> die Aura <strong>der</strong> Einzigartigkeit des aufgeführten Stücks. Das Sammeln von<br />
amerikanischen Importplatten ist ein weiterer Hinweis auf die vom Wahn ge-<br />
prägte Suche nach den scheinbar originalen Resten im technischen Artefakt. Das<br />
Label erfüllt für die Sammler die Funktion <strong>der</strong> Signatur des Malers auf seinen<br />
Gemälden. Das Benjaminsche Original ist hier nicht vorhanden: Es ist - sofern<br />
es auf die "Zeitkunst" <strong>Musik</strong> übertragbar ist - zur Zeit <strong>der</strong> Aufnahme im Studio<br />
zu definieren. Der massenhaften technischen Reproduktion dieses in <strong>der</strong> <strong>Musik</strong><br />
niemals tradierbaren Originals wurden zur Erhöhung des Kultwertes jedoch Eti-<br />
110<br />
ketten angeheftet, die es als "Originalaufnahme" anpreisen o<strong>der</strong> ihm durch das<br />
Autogramm des Interpreten auf <strong>der</strong> Plattenhülle Einzigartigkeit verleihen sollen.<br />
Die von Benjamin erhoffte Zerschlagung des Kult-, bzw. Ausstellungswertes<br />
eines Kunstwerkeslg8 und dessen Zurückführung auf seinen Gebrauciiswert er-<br />
wiesen sich also in <strong>der</strong> <strong>Musik</strong> als ebenso überwindbar wie in <strong>der</strong> Bildenden<br />
Kunst: Durch zahlenmäßige Limitierung und Signierung eines Drucks wird das<br />
Potential <strong>der</strong> technischen Kunstproduktion, sich <strong>der</strong> gewerblichen Verwertung<br />
auf dem Kunstmarkt zu entziehen, wie<strong>der</strong> entkräftet. Die z.B. durch die Avant-<br />
garde attackierte Werkkategorie ist immer wie<strong>der</strong>, um die Argumentation <strong>Peter</strong><br />
Bürgers aufzugreifen, restauriert worden.lW<br />
Historische "Einmaligkeit" ist Benjamins Klassifikation eines originalen<br />
Kunstwerkes, das im Sinne eines singulär hergestellten Objektes zu sehen ist,<br />
welches sein einmaliges Dasein im Hier und Jetzt durch die <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Produktion<br />
stammende Einzigartigkeit beweist. Mit begrifflichen Mustern wie diesem wird<br />
man sich <strong>der</strong> Computermusik allerdings kaum nähern können. Der entsprechen-<br />
de, von Benjamin übrigens nicht negativ bewertete Gegenpol <strong>der</strong> "Wie<strong>der</strong>hol-<br />
barkeit" wäre so in <strong>der</strong> Tat ein Charakteristikum, das in <strong>der</strong> Geschwindigkeit<br />
computererzeugter <strong>Musik</strong> ebenso auffällig hervortritt wie in seiner massenweisen<br />
Vervielfaltigung, die einer Exklusivität konträr gegenüber steht. Die digital syn-<br />
thetisierte Reproduktion hat keinerlei historisch individuelle Herkunft. Der Da-<br />
tenträger besitzt durch die verlustfreie Kopiermöglichkeit keine Aussagekraft<br />
über eine geschichtliche Fixierung <strong>der</strong> Dateien. "Quellendiskette" und "Ziel-<br />
diskette", um die in <strong>der</strong> EDV gängigen Benennungen zu benutzen, halten einem<br />
den Ursprung analysierenden Vergleich je<strong>der</strong>zeit stand. Das digitale Produkt,<br />
das durch sein Wesen auf die massenweise und verlustfreie Kopie angelegt ist,<br />
ist nun in die absurde Situation geraten, lediglich Reproduktion ohne Verweis<br />
auf ein Original zu sein; also <strong>aus</strong>schließlich Kopie zu sein, ohne ein Original<br />
als Ursprung zu besitzen. Der Verweis auf das "Master-Tape" analoger Studio-<br />
Vergangenheit hilft in keiner Weise weiter: Die mit einer guten <strong>Maschine</strong> ge-<br />
zogene Kopie ist dem "Master" gleichwertig; die meisten "Bootlegs" beweisen<br />
das. Raubpressungen hätten ohne die juristische Differenzierung und den dar<strong>aus</strong><br />
entstehenden Schutz für die Urheber-Plattenfirma denselben Stellenwert wie die<br />
"Original-Platte". Die auratische Verklärung des "Maste;-Tape" hat also nichts<br />
198 Adorno besetzt die Oppositionskategorien des Kult- und Ausstellungswertes in seinem,<br />
vermutlich von Benjamin beeinflußten Aufsatz über die Regression beim Hören mit den<br />
poliiökonomischen Aquivalenten des Gebrauchs- und T<strong>aus</strong>chwerts und klassifiziert so<br />
seinen Untersuchungsgegenstand viel eindeutiger als Ware. Vgi. Adorno 1956, S.9-45.<br />
199 Bürger 1974, S.78.<br />
111
mit den Eigenschaften eines Originals zu tun, son<strong>der</strong>n rührt <strong>aus</strong> einer Zeit her,<br />
in <strong>der</strong> eine Kopie klanglich auch als solche erkennbar war.<br />
3. Juristisches Original<br />
Wie wichtig die Notation gerade auch für das Postulat des (juristischen) Origi-<br />
nals gewesen ist, zeigt die Tatsache, daß eine erstmalig brillant vorgetragene<br />
Komposition nicht urheberrechtlich anerkannt wird. Die dürftige Transkription<br />
<strong>der</strong> Aufführung beispielsweise durch einen Hörer versetzt diesen in den Rang<br />
eines Komponisten und gewährleistet ihm die Beanspruchung <strong>der</strong> Schallplatten-<br />
rechte?00<br />
Gerhard Plumpe201 weist darauf hin, wie stark <strong>der</strong> interdiskursive Transfer<br />
zwischen juristischer und ästhetischer Bewertung den Begriff des Originals ge-<br />
prägt hat. Bedingt durch den Buchdruck hat sich ab dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t die<br />
Manifestation eines Individuellen durch die formierende Bearbeitung des Ge-<br />
meinguts durchgesetzt. Das heißt, daß universaler Ailgemeinbesitz von geistiger<br />
Gestalt nicht eigentumsfahig ist, son<strong>der</strong>n dies erst wird nach <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung<br />
durch , den explizierbaren, individuellen Form Willen seines Urhebers. rr2Q2 Das<br />
ledigliche Abbild des "Natur-Schönen" durch eine photographische Reproduk-<br />
tion - unbearbeitet im Sinne einer subjektiven Einflußnahme - ist also Gemeingut<br />
und hat nach juristischem Prinzip kein Aneignungsprivileg.<br />
Wahrend die durch Programmierer geschriebenen Computerprogramme - in<br />
Analogie zur literarischen Schöpfung - ihre Wertung als persönliches geistiges<br />
Eigentum durch das Urheberrechts-Gesetz im Jahre 1985 erhalten haben, liegt<br />
die Problematik im Falle von computererzeugten Produkten wie die durch Kom-<br />
positionssoftware entstandene <strong>Musik</strong> tiefer. Die durch Zufailsalgorithmen "kre-<br />
ierten" Artefakte weisen troiz aller Individualität kein Individuum als Urheber<br />
vor und sind aufgrund ihrer für Juristen offensichtlichen Sinnlosigkeit daher<br />
autorenlos. Obwohl maschinell und menschlich erzeugte Kunst in vielen Fällen<br />
200 Vgl. Danielou 1973, S.111.<br />
201 Plumpe 1988, S.330-345.<br />
202 Ebd., 5.336.<br />
112<br />
nicht mehr zu unterscheiden ist, wird von juristischer Seite - verständlich durch<br />
das jahrhun<strong>der</strong>tealte Fundament bisheriger Rechtsprechung - an die menschliche<br />
Autorenschafi eine Bedeutung gebunden: ,,Eine Interpretation [von Computer-<br />
lyrik, P.B.] kann bei aller Anspannung des Intellekts zu keinem Sinnerfolg füh-<br />
ren, da es keinen Verfusser gibt, <strong>der</strong> uns etwa ein Rätsel seiner künstlerischen<br />
Absichten aufgegeben haben könnte. "203 Da als gerichtliche Gutachter zumeist<br />
Kunsttheoretiker fungieren, werden Kategorien wie "Autor'' o<strong>der</strong> "Werk", die<br />
sowohl von ästhetischer wie juristischer Seite existentiell sind, vermutlich nicht<br />
zur Disposition gestellt werden. Vielleicht kann dieses durch die digitalen Syn-<br />
these- und Reproduktionsmaschinen erzwungen werden, denn die Copyright-Be-<br />
Stimmungen und <strong>der</strong>en rechtliche Auslegung liegen bekanntlich weniger im In-<br />
teresse des Produzenten denn des Inhabers <strong>der</strong> Produktionsmittel.2M<br />
Die Juristen haben große Probleme mit <strong>der</strong> Beurteilung von Plagiatsfallen,<br />
die sich auf digitale Kopien beziehen; <strong>der</strong> Schutz nicht nur des geistigen Eigen-<br />
tums, son<strong>der</strong>n beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> handwerklichen Ausführung ist in Zukunft mit<br />
Sicherheit nicht mehr in <strong>der</strong> bisherigen Form zu gewährleisten. In Kombination<br />
mit an<strong>der</strong>en Klängen kann <strong>der</strong> "Diebstahl" eines einzelnen Sounds kaum von<br />
Gutachtern nachgewiesen werden. Michael Münzing von "Snap", selbst ein mit<br />
zahlreichen Samples arbeiten<strong>der</strong> Mixer, erzählt, wie er den <strong>Musik</strong>programmie-<br />
rern, die sich des "Snap"-Materials bedient hatten, ihre Taten nachweisen konnte:<br />
,,Es ist wie bei einem Mord. Man muß es beweisen. Jemand hut <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Snap-LP<br />
einen Teil gesamplet, <strong>der</strong> alleine stand. Diesen Teil hat er alleine stehen lassen,<br />
unverän<strong>der</strong>t. Das ist ein Fingerabdruck. Hätte er irgendeinen Klang unterlegt,<br />
eine Fläche, wäre es viel schwieriger zu beweisen. Ein reines Gutachterpro-<br />
blem. "2"5 Die Hilflosigkeit <strong>der</strong> Juristen, mit einem hinfällig gewordenen Begriff<br />
wie dem "Original" und dem sich dar<strong>aus</strong> ableitenden Schutz geistigen Eigentums<br />
zu operieren, wird am Beispiel von "Snap" auffällig: Die beiden Frankfurter<br />
DJs verwendeten für ihren Hip-Hop-Mix "The Power" einige Fragmente des<br />
schwarzen Rap-Sängers "Chill Rob GI'. Ais dieser davon hörte, benutzte er wie-<br />
<strong>der</strong>um Samples des Stückes von Snap und verklagte - scheinheilig genug -<br />
gleichzeitig das Frankfurter Duo. Die rechtliche Nie<strong>der</strong>lage, die "Chill Rob GI'<br />
erleiden mußte, hatte sicherlich auch damit zu tun, daß er bei <strong>der</strong> kleinen US-<br />
Plattenfirma "Wild Pitch" unter Vertrag war, während Snap im Prozeß durch<br />
den multinationalen Konzern Bertelsmann unterstützt wurde.206<br />
203 Benvenuto Samson, zit. nach Plumpe 1988, S.340.<br />
204 Vgl. Brecht 1967b, S.139-209.<br />
205 Ehrenreich & Baumgardt 1990, S.28.<br />
206 Vgl. Schwerdt 1991, S.184.<br />
113
Von einer an<strong>der</strong>en Auseinan<strong>der</strong>setzung, die als erster groß angelegter Prozeß<br />
einen Präzedenzfall darstellt, berichtet <strong>der</strong> Anwalt Bill Krasilovsky. Er war von<br />
<strong>der</strong> "American Fe<strong>der</strong>ation of Musicians Local 802" beauftragt worden, sich für<br />
die Rechte des Perkussionisten David Earl Johnson einzusetzen, dessen Conga-<br />
Samples <strong>der</strong> Keyboar<strong>der</strong> Jan Hammer ungefragt für den Soundtrack "Miami<br />
Vice" benutzt hatte. Krasilovsky mußte jedoch feststellen: , Copyright-Gesetze<br />
betreffen nur die Tonfolgen einer Komposition, nicht die einzelnen, wirklichen<br />
Töne dieser Sequenzen. ' 1 2 ~ Klänge, die - nach juristischem Standpunkt - keine<br />
künstlerische Leistung im Sinne des Urheberrechts sind, sind also gesetzlich<br />
nicht schützbar, aber die Übernahme von mehrtaktigen Teilen o<strong>der</strong> ganzen Re-<br />
frains wäre sicherlich an<strong>der</strong>s zu bewertenJm Es leuchtet ein, daß die Grenzen<br />
dabei so fließend sind, daß eine eindeutige Auslegung anhand dieser Klassifi-<br />
kation unmöglich ist. Für die manuelle Kopie - das Zitat - hat <strong>der</strong> deutsche<br />
Bundesgerichtshof Richtlinien aufgestellt, in welchem Umfang zitiert werden<br />
darf. Das Sampling als die durch Apparate vorgenommene Kopie ist dagegen<br />
noch weitgehend unbewertet. Da einstweilige Verfügungen bei einer erfolg-<br />
reichen Single finanziell sehr schmerzhaft sein können, haben sich in Amerika<br />
bereits private Initiativen gebildet, die eine außergerichtliche Lösung anstreben:<br />
Sogenannte "Clearing Agents" sind beson<strong>der</strong>s im Hip-Hop-Bereich dafür zu-<br />
ständig, die Verwertungsrechte von verwendeten Samples mit dem Ursprungs-<br />
verlag zu klären.<br />
Die Copyright-Gesetzgebung und die Tantiemenzahlung, ursprünglich <strong>aus</strong><br />
dem Druckgewerbe herrührend, verlieren in <strong>der</strong> elektronischen Reproduktiori<br />
ihre Durchführbarkeit und daher ihre Berechtigung. Es nähert sich eine Vorge-<br />
hensweise, die zur Zeit <strong>der</strong> Mund-zu-Mund-Kommunikation praktiziert wurde:<br />
Der Schutz geistigen Eigentums ist nicht zu gewährleisten. <strong>Peter</strong> Weibel plädiert<br />
beispielsweise dafür, die veralteten Begriffe des "Autors" und des "Künstlers"<br />
aufzugeben: ,,Allein <strong>der</strong> Markt braucht das Original auf physischer Basis. Des-<br />
wegen hat er die kultische Verehrung des Originals erfinden. Die Menschheit<br />
braucht kein Original. Der genügt die Idee. Mir genügt die Schallplatte. Ich<br />
mup nicht irgendein Originalband haben. Die Leistung des Künstlers wird du-<br />
durch nicht reduziert. Im Gegenteil. Sie wird viel erkennbarer gerade im Ver-<br />
nachlässigen des Handwerklichen. 'I2@ Vielleicht kann in einer Zeit <strong>der</strong> elektro-<br />
nischen Kultur, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Fälscher eine emblematische Rolle spielt, die Kunst<br />
zu einem wirklich integralen Bestandteil <strong>der</strong> Gesellschaft werden. Diese Dimen-<br />
207 Bill Krasilovsky, zit. nach Brand 1990, S.247f.<br />
208 Vgi. Fuchs 1991, S.102-107.<br />
209 Riepe 1990, S.17.<br />
114<br />
sion des Benjaminschen Ansatzes hätte beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> digitalen Kunstproduk-<br />
tion auch heute noch Sprengkraft.<br />
4. Aura<br />
Das "einmalige Dasein" des Originals im Sinne einer empirischen Singularität<br />
ist eine <strong>der</strong> Lesarten des "Kunstwerk-Aufsatzes". ,,Solche Einmaligkeit, an <strong>der</strong>en<br />
eindeutiger Sicherung Benjamin so sehr gelegen ist, ist aber nichts an<strong>der</strong>es als<br />
die numerische Bestimmung eines materiellen Substrats. Es ist die buchstübliche<br />
Einmaligkeit im Akt des Abzühlens, die eine Stelle im (raum-)zeitlichen Kanti-<br />
nuum identifiziert. 'r210 Die Tatsache einer numerisch-quantitativen Einmaligkeit<br />
bringt daher, so könnten zumindest Benjamins Thesen gelesen werden, die Qua-<br />
lität einer ästhetisch ebenfalls einmaligen Wahrnehmung mit sich. Benjamin<br />
zieht jedoch die Aura; ohne sie näher zu definieren, als weiteres Wesensmerkmal<br />
des Originals heran und wird damit erheblich vieldeutiger und trotz seiner Ra-<br />
dikalität weniger greifbar?" Es können im folgenden daher nur einige Annä-<br />
herungsmöglichkeiten vorgeschlagen und erörtert werden. ,,Die Echtheit einer<br />
Sache ist <strong>der</strong> Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer<br />
materiellen Dauer bis zu ihrer geschiqhtlichen Zeugenschafi. [... J Man kann,<br />
was hier <strong>aus</strong>füllt, im Begriff <strong>der</strong> Aura zusammenfassen und sagen: Was im<br />
Zeitalter <strong>der</strong> technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, dus<br />
ist seine Aura. "212 Die Begriffe <strong>der</strong> "Aura" und des "Originals" - die sich nicht<br />
zuletzt durch ihre Anschaulichkeit zu einschlägigen Termini journalistischer o<strong>der</strong><br />
kunsttheoretischer Bewertung entwickelt haben - sollen daher im folgenden ge-<br />
meinsam und übergreifend diskutiert werden. Die auratische Dimension <strong>der</strong> Ge-<br />
schichtlichkeit wird durch die Reproduktion, je perfekter sie wird, außer Kraft<br />
gesetzt: Sie fixiert dann den Augenblick nicht mehr als unverrückbar. Das tech-<br />
nisch vermittelte Kunstwerk, dem <strong>der</strong> Rezipient sich nähert, muß seinen Abstand<br />
210 Recki 1988, S.18.<br />
21 1 Seine Kunsttheorie ist sogar als Hasch-Einfall interpretiert worden. VgI. Salzinger 1973,<br />
s.111.<br />
212 Benjamin 1963, S.13.<br />
115
preisgeben. Es wäre zu bedenken, inwieweit sich die Wahrung <strong>der</strong> Aura auf die<br />
geschichtliche Relativität von "High-Fidelity" übertragen Iäßt, die heutzutage<br />
nach an<strong>der</strong>en Maßstäben beurteilt werden muß, als zu Zeiten Benjamins. Diese<br />
Relativität <strong>der</strong> Aura, die nach Benjamin durch die massenweise Reproduktion<br />
verfällt und die Ferne durch ständige Verfügbarkeit in Nähe wandelt, wird heute<br />
an den Raritäten seltener Schellackplatten empfunden, obwohl diese technische<br />
Reproduktionen sind. Der prinzipielle Qualitätsverlust einer analogen Aufzeich-<br />
nung und einer Kopie gestattete es nie - die alten Aufnahmen von Caruso o<strong>der</strong><br />
Toscanini demonstrieren dies deutlich -, die <strong>Musik</strong> vollständig in das Wohn-<br />
zimmer zu holen. Die Entfernung, <strong>der</strong> "geheimnisvolle Zauber <strong>der</strong> Aura", garan-<br />
tierte stets einen gewissen Abstand. Die digitale Aufnahmetechnik, die schon<br />
bei <strong>der</strong> Aufnahme diese Distanz nicht einhält und z.B. durch Editorprogramme<br />
tief in das akustische Material eingreift, kann jedoch simulierend mit dieser<br />
Historizität spielen. Charles Dodges weiter oben beschriebene Verwendung <strong>der</strong><br />
Caruso-Aufnahme o<strong>der</strong> das Sampling beson<strong>der</strong>s verkratzter Platten zeigen die<br />
Bezugnahme auf historisches Allgemeingut. Zweifellos wird also durch die<br />
klangtechnische Perfektion <strong>der</strong> technischen Vermittlung von <strong>Musik</strong> eine Los-<br />
lösung von zeitlichen, örtlichen o<strong>der</strong> sozialen Zusammenhängen provoziert; es<br />
wird jedoch oftmals versucht, den auratischen Schein trotzdem zu bewahren.<br />
Auch von Adorno ist die Bedeutung <strong>der</strong> Aura als Erscheinung eines Kunst-<br />
werkes hervorgehoben worden. Das , Ferngerücktsein 6r213, <strong>der</strong> ,,Zauber "214 und<br />
die ,,Atmosphäre des das , Knistern"216, <strong>der</strong> ,,Hauch r'217 und<br />
etwas ,,Enteilendes, Flüchtiges"218 sind für ihn auratische Charaktermerkmale<br />
von ästhetischer Einmaligkeit, die er in <strong>der</strong> Ästhetischen Theorie mit Bezug-<br />
nahme auf den "Kunstwerk-Aufsatz" diskutiert. Sie dokumentieren jedoch eben-<br />
falls Adornos Schwierigkeiten mit <strong>der</strong> Faßbarkeit des Aura-Begriffs. Benjamin<br />
illustriert die Aura an einem Beispiel: „Es empfiehlt sich, den oben für ge-<br />
schichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begrifl <strong>der</strong> Aura an dem Begriff<br />
einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definie-<br />
ren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem<br />
Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont o<strong>der</strong> einem Zweig<br />
folgen, <strong>der</strong> seinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser<br />
213 Adorno 1970, S.409.<br />
214 Ebd., S.504.<br />
215 Ebd., S.408.<br />
216 Ebd., S.123.<br />
217 Ebd., S.160 & 318.<br />
218 Ebd., S.408.<br />
116<br />
I<br />
Berge, dieses Zweiges atmen. "219 Bemerkenswert ist die Unterscheidung zwi-<br />
schen <strong>der</strong> Aura natürlicher und geschichtlicher Gegenstände, wobei Benjamin<br />
das eine als analoge Metapher zur Beschreibung des an<strong>der</strong>en verwendet: Ein<br />
im Verfall begriffenes, geschichtliches Phänomen wird mit <strong>der</strong> Definition <strong>der</strong><br />
Aura an natürlichen Objekten - an denen allerdings kein Verfall festgestellt wird<br />
- einsichtig gemacht. Es wurde bereits in <strong>der</strong> Literatur darauf hingewisen, daß<br />
auch die auratische Natur-Erfahrung dem historischen Wandel unterworfen ist:<br />
Natur wird nicht mehr als ideal gestaltete Wirklichkeit verstanden, son<strong>der</strong>n ,,als<br />
'Natur-Schönes ', [das] als Landschaft kontemplativ-ästhetisch überhaupt genieß-<br />
bar wird"?2o Der Zweig in Benjamins Beispiel erhält seine Aura also nicht<br />
durch einen nur einmal existierenden Zweig, son<strong>der</strong>n durch den unwie<strong>der</strong>bring-<br />
lichen Augenblick im Leben des Betrachters. Benjamin wechselt also ständig<br />
zwischen <strong>der</strong> durch technologische Umwälzungen verän<strong>der</strong>ten ontologischen<br />
Beschaffenheit des Objekts und <strong>der</strong> Wahrnehmung auf <strong>der</strong> Seite des Subjekts,<br />
die schon häufig als "Erfahrung" beschrieben wurde?21 Diese Erfahrung, die<br />
bas Reservoir <strong>der</strong> Tradition vergrößert:22 steht in Opposition zur Information,<br />
wie sie in <strong>der</strong> Zusammenhangslosigkeit journalistischer Praxis (o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> wei-<br />
ter oben beschriebenen Reduktion durch digitale Speicherform) täglich verbreitet<br />
wird ,,Die Abdichtung <strong>der</strong> Information gegen die Erfuhrung hiingt weiter duran,<br />
daß die erstere nicht in die 'Tradition' eingeht. 0223 Man müßte streng genom-<br />
men also unterscheiden zwischen einem Verfall des Kunstprodukts und <strong>der</strong> Ver-<br />
än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wahrnehmung dieses Gegenstandes. Während die eben diskutierte<br />
Aura sich nur auf letzteres bezieht und eine für jeden in ihrer Einmaligkeit<br />
beson<strong>der</strong>e Situation als bekannt vor<strong>aus</strong>setzt, bietet Benjamin mit <strong>der</strong> Gleichset-<br />
zung von Aura und Kultwert allerdings noch eine These, die eher beim Produkt<br />
selbst ansetzt.<br />
So wird die Zertrümmerung <strong>der</strong> Aura eines technisch reproduzierten Kunst-<br />
werks als "Entschälung des Gegenstandes <strong>aus</strong> seiner Hülle" gewertet, als eine<br />
"Ablösung des Reproduzierten <strong>aus</strong> dem Bereich seiner Tradition". Der Kultwert,<br />
<strong>der</strong> ein "Be-Greifen" <strong>der</strong> Kunstwerke erschwere, äußere sich im Vorhandensein<br />
einer Kluft, die die Unnahbarkeit traditioneller Originale mit Begriffen räum-<br />
lichazeitlicher Dimensionen ähnlich dem "Hier und Jetzt" beschreibt. ,, Die De-<br />
219 Benjamin 1963, S.15.<br />
220 Stoessel 1983, S.26; siehe auch Wellershoff 1976.<br />
221 Siehe z.B. Stoessel 1983, S.45.<br />
222 <strong>Peter</strong> Bürger bezeichnet die Erfahrung als ,,verarbeitetes Bündel von Wahrnehmungen<br />
und Reflexionen, die wie<strong>der</strong> in Lebenspraxis zurückübersetzr werden können ". Bürger<br />
1974, S.43.<br />
223 Benjamin 1977, S.198.<br />
117
finition <strong>der</strong> Aura als 'einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag',<br />
stellt nichts an<strong>der</strong>es dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in<br />
Kategorien <strong>der</strong> raum-zeitlichen Wahrnehmung. Ferne ist das Gegenteil von Nä-<br />
he. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In <strong>der</strong> Tat ist Unnahbarkeit eine<br />
Hauptqualität des Kultbildes. "224 Diese Liquidierung des Traditionswertes, die<br />
von Benjamin als durch<strong>aus</strong> positive Befreiung vom Kultischen und Entweihung<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Kunst gesehen wurde, sollte nach den Thesen des Kunstwerk-<br />
aufsatzes zu einer Demokratisierung aller Kunst führen. Der Gebrauchswert wur-<br />
de jedoch kaum anstelle <strong>der</strong> Aura als Kriterium künstlerischer Qualität in An-<br />
spruch genommen. Die Politisierung <strong>der</strong> Kunst, die für Benjamin in dieser Hin-<br />
sicht eine denkbare Utopie gewesen ist, scheint heute mehr denn je abgehoben.<br />
Daß die Ästhetisierung <strong>der</strong> Politik ebenso wie die Politisierung von<br />
lediglich als beliebiges Vermarktungsmuster benutzt wird, zeigen Spektakel wie<br />
"Live Aid"?26<br />
224 Benjamin 1963, S.16.<br />
225 Ebd., S.42-44.<br />
226 Das 1984 von Bob Geldof initiierte "Benefiz"-<strong>Musik</strong>spektakel, an dem die bekanntesten<br />
Pop- und Rockgruppen teilnahmen, stellte mit seiner "Entertainisierung des Hungers"<br />
den Startpunkt dar für sozialkritisch angehauchte Massenfestivals wie "Artists against<br />
Apartheid", "Free Nelson Mandela", "One world, one voice", etc. Die an "Live Aid"<br />
beteiligten Sponsoren Pepsi, AT&T, Chevroiet und Eastmun Kodak setzten auf konsequente<br />
Produktvermarktung unter dem Deckmantel <strong>der</strong> Barmherzigkeit. Sozioökonomische<br />
Verhältnisse werden nur in oberflächlichen Phänomenen, nicht aber in ihren Ursachen<br />
angeprangert, da sich die Kulturindustrie verständlicheweise nicht ihren eigenen<br />
Nährboden entziehen will. Die Etablierung von "Politik als Entertainment" bedingt so<br />
eher eine Entpolitisierung <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
118<br />
5. Das Argument <strong>der</strong> Demokratisierung<br />
Die Apparatur als vermittelndes Medium könnte nach Benjamin eine objektive<br />
Kunst durch die Abschaffung des Spezialistentums und <strong>der</strong> traditionellen Tren-<br />
nung in Produzent und Konsument erzeugen. In <strong>der</strong> Tat hat <strong>der</strong> Ausrüstungs-<br />
Standard einfacher "Homerecording-Anlagen" ein Niveau an gerätetechnischer<br />
Perfektion erreicht, das das von den Beatles verwendete Equipment zur Zeit<br />
ihrer legendären Produktion "Abbey Road" bei weitem übertrifft. Wie unreali-<br />
stisch die Hoffnungen Benjamins jedoch waren, dürfte durch die Ausführungen<br />
im Zusammenhang um die "Preset-Synthesizer'' und <strong>der</strong>en digitaler Verschal-<br />
tungsstruktur deutlich geworden sein. So ist es mittlerweile gebräuchlich, Syn-<br />
thesizer und ähnliche <strong>Musik</strong>computer mit "Demo-Songs" <strong>aus</strong>zustatten. Diese<br />
<strong>Musik</strong>stücke, die sich auch in Geräten ohne Sequencer befinden (und hier also<br />
in ROM-B<strong>aus</strong>teinen abgelegt wurden), demonstrieren eher, was das Geriit kann,<br />
als das, was mit dem Gerät gemacht werden kann. Die Computertechnik, die<br />
immense Möglichkeiten des Musizierens bereitstellt und gleichzeitig die weit-<br />
gehende Abschottung dieser Chancen vor dem Zugriff des Benutzers praktiziert,<br />
führt daher zur Repräsentation von bereits vorhandener <strong>Musik</strong> und nicht zur<br />
Präsentation neuartiger Zusammenhänge.<br />
Ein häufig ins Feld geführtes Argument ist die Behauptung, <strong>der</strong> Umgang mit<br />
dem Computer könne Kreativität freisetzen, die den an den Anfor<strong>der</strong>ungen einer<br />
traditionellen <strong>Musik</strong><strong>aus</strong>bildung Scheiternden neue Wege eröffnen könnte. Unter<br />
Zugrundelegung eines erweiterten Kunstbegriffs - "Je<strong>der</strong> Mensch ist ein Künst-<br />
ler" - wird mit dem Potential einer musikalischen Demokratisierung von Kunst-<br />
Produktion argumentiert. Daß diese Hoffnungen nicht erst seit kurzem bestehen,<br />
zeigen die Ansätze von Benjamin, Brecht und - darauf aufbauend - Enzens-<br />
berger:27 die in <strong>der</strong> breiten Etablierung von Film und Radiophonie die Eman-<br />
zipationsmöglichkeiten des Volkes und <strong>der</strong>en Teilhabe am künstlerischen Pro-<br />
duktionsprozess hervorhoben. Auch in <strong>der</strong> grundlegenden Konzeption eines<br />
computerunterstützten Musizierens ist solches Potential zweifellos überreich vor-<br />
handen. Dementsprechend'frenetisch werden häufig die revolutionierenden Mög-<br />
lichkeiten gelobt: ,,Die musikalische Kultur wird hier ihres vorherrschenden<br />
elitären Gesellschajisbildes entkleidet und mehr und mehr demokratisiert, gemäß<br />
227 Brecht 1967a. Insbeson<strong>der</strong>e: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die<br />
Funktion des Rundfunks, S.127-134;<br />
En-Lensberger 1970. Diesen Ansatz korrigierende und größtenteils revidierende Thesen<br />
finden sich in: Enzensberger 1988, S.89-102.<br />
119
dem Motto, dap je<strong>der</strong> Mensch seine eigene Kunst (<strong>Musik</strong>) machen kann. 'r228<br />
Aus den bisherigen Ausführungen dürfte klar geworden sein, wie sehr sich sol-<br />
che Wünsche als Makulatur entpuppen. Wie weiter oben am Beispiel <strong>der</strong> Kom-<br />
positionssoftware erläutert, würde durch die Verfügbarmachung wirklich eigen-<br />
ständiger, künstlerischer Betätigung ein gewaltiger Bereich des musikindustriel-<br />
len Marktes verloren gehen. Nur die gegenwärtig praktizierte B<strong>aus</strong>teinstruktur<br />
garantiert eine Beständigkeit dieses Warenhandels: Sowohl auf <strong>der</strong> Hardware-<br />
seite des <strong>Musik</strong>instrumentariums wie auf <strong>der</strong> Softwareseite <strong>der</strong> musikalischen<br />
Partikel, Samplebibliotheken und Sounddatenbanken darf das jeweilige Fabrikat<br />
nur eine Zwischenform darstellen, das nach kurzer Zeit durch das Nachfolge-<br />
Produkt ersetzt werden muß. Ein Gang durch eine große <strong>Musik</strong>messe wie in<br />
Frankfurt zeigt, daß das demokratische Potential <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>-Mikroelektronik sich<br />
für den Musizierenden vor allem darin äußert, daß er beim Erwerb <strong>der</strong> "neuesten,<br />
nie gehörten Samples" für seinen Sample-Player, die ihm nun den entscheiden-<br />
den Kreativitätsschub versprechen, die Auswahl zwischen einer Vielzahl ver-<br />
schiedener Firmen hat.<br />
Benjamin hatte große Hoffnungen auf die Möglichkeiten maschinengestütz-<br />
ter, ästhetischer Produktion gesetzt; er sah in <strong>der</strong> massenhaften Verbreitung <strong>der</strong><br />
Apparate eine begrüßenswerte Entwicklung zur Verschmelzung von Produzent<br />
und Konsument: So , ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im<br />
Begriff; ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. [...I Der Lesende ist je-<br />
<strong>der</strong>zeit bereit, ein Schreiben<strong>der</strong> zu werden. ''229 In <strong>der</strong> Tat ist zur künstlerischen<br />
Produktion nicht mehr vielfältiges Spezialistentum notwendig, wie es etwa in<br />
<strong>der</strong> klassischen <strong>Musik</strong> gegeben war: Angefangen vom Komponisten, Noten-<br />
drucker und Arrangeur bis zum Dirigenten und dem vielköpfigen Orchester hatte<br />
je<strong>der</strong> ein festumrissenes Aufgabengebiet. Der heutige musikalische Heimar-<br />
beiter, <strong>aus</strong>gestattet mit multifunktionalem Computersystem, muß nicht diese<br />
breite Kenntnispalette besitzen. Spezialwissen ist höchstens noch auf dem Gebiet<br />
<strong>der</strong> EDV vonnöten, doch angesichts des Ideals eines "anwen<strong>der</strong>freundlichen Pro-<br />
gramms" geht die Softwareentwicklung den Weg zum einfach gestalteten und<br />
selbsterklärenden, aber wenig Auswahlmögiichkeiten gestattenden "Ailround-<br />
Programm": Bedienungskomfort zu Lasten <strong>der</strong> Komplexität. Tatsächlich wirkt<br />
auf den ersten Blick <strong>der</strong> Vorteil einer Demokratisierung durch Verbilligung <strong>der</strong><br />
Produktionsmittel und <strong>der</strong> Übertragung von spezialisierten Arbeitsaufgaben auf<br />
die <strong>Maschine</strong>n als gegeben. Doch wenn sich die musikalische Betätigung durch<br />
die von <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>alienindustrie geför<strong>der</strong>te B<strong>aus</strong>teinstruktur auf das Variieren<br />
228 Stange 1989, S.301.<br />
229 Benjamin 1963, S.29.<br />
120<br />
'<br />
von vorgegebenem Fremdmaterial und damit dem Ergötzen an "Presets" be-<br />
schränkt, erscheint die Situation des massenhaft reproduzierenden <strong>Musik</strong>opera-<br />
tors als die eines Gefangenen, <strong>der</strong> sich mit jedem Kauf eines neuen <strong>Musik</strong>com-<br />
Puters nicht dem vermeintlichen Weg in die Freiheit nähert, son<strong>der</strong>n die ihn<br />
umgebende Mauer mit einem Stein erhöht. Und wenn Benjamin das Umschlagen<br />
eines rückständigen Verhältnisses kultischen Kunstwerken gegenüber in das fort-<br />
schrittliche von technischen Reproduktionen begrüßt, so ist <strong>aus</strong> heutiger Sicht<br />
hinzuzufügen, daß das rückständige insofern progressiv war, als es überhaupt<br />
eine Art von Verhältnis war. Die gegenwärtige <strong>Musik</strong>industrie vereinnahmt ihre<br />
Konsumenten und potentiell <strong>Musik</strong><strong>aus</strong>übenden so vollständig, daß man kaum<br />
von einer selbstbestimmten Form des Musizierens sprechen kann.<br />
6. Konservierung des Aura-Scheins<br />
Der maschipeil erzeugten Popmusik schlicht durch die Tatsache ihrer compu -<br />
terisierten Produktion den Verlust einer Aura abzusprechen, wäre zu kurzsichtig.<br />
Schon 1967 sprach Adorno davon, daß die Kulturindustrie dadurch definiert ist,<br />
>, daß sie dem auratischen Prinzip nicht ein an<strong>der</strong>es strikt entgegensetzt, son<strong>der</strong>n<br />
die verwesende Aura konserviert, als vernebelten Dunstkreis. r'230<br />
Zum einen wird diese Bewahrung skelettartiger Aurareste auf <strong>der</strong> Produktseite<br />
deutlich: Das Sampling zerkratzter Platten und rudimentärer akustischer<br />
Partikel verblichener Rockheroen würde seine Wirkung ohne die Bezugnahme<br />
auf diese Mythen historischer Rockkultur einbüßen. Mit zur Produktseite ist<br />
ebenfalls <strong>der</strong> glorifizierende Starkult zu rechnen, <strong>der</strong> - wie am Beispiel Siegels<br />
- durch<strong>aus</strong> produktimmanent ist und nicht mehr viel mit <strong>der</strong> Produzentenseite<br />
zu tun hat. Die bemühte Konservierung des Scheins von traditionellen Produktionsbedingungen<br />
im Zusammenhang von auratisch besetzten Begriffen wie Genialität<br />
und Einzigartigkeit fallt etwa auf bei den Anstrengungen von Rob Pilatus<br />
und Fab Morvan, den beiden "Interpreten" von "Milli Vanilli", die in peinlichen<br />
Selbstdarstellungen zu beteuern versuchen, ihre Plattenaufnahmen seien doch<br />
von ihnen selbst gesungen worden. Die darauf erfolgte Entziehung des<br />
230 Adorno 1967, S.350.<br />
121
Grammy-Preises konnte <strong>der</strong> britische <strong>Musik</strong>er Sting folgerichtig nur mit <strong>der</strong><br />
Rückgabe seines Grammy und den Worten kommentieren, daß wohl je<strong>der</strong> gewußt<br />
habe, daß in <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>branche (und speziell bei Milli Vanilli) die Interpreten<br />
häufig nicht selbst musizieren.<br />
Zum an<strong>der</strong>en hat auch <strong>der</strong> Computer längst seine digitale <strong>Maschine</strong>rie und<br />
die dar<strong>aus</strong> entwickelten Entstehungsprozesse in Verhältnisse vielfaltigster Aura<br />
gehüllt. Ein Segment dieser Mystifizierung des Computers ist die Simulation<br />
eines Ansprechpartners durch personenspezifische Antworten: Der typische Hinweis<br />
des Computers beim Verlassen des Programms ohne vorherige Sicherung<br />
<strong>der</strong> Datei liest sich auf dem Bildschirm etwa so: "Ihr Text ist nicht gesichert!<br />
Wollen Sie speichern? (jh)". Nach <strong>der</strong> Eingabe von "j" erfolgt die Bestätigung:<br />
"Ich habe Ihre Datei gespeichert!" Ein geschichtlicher Vergleich <strong>der</strong> Benutzerführung<br />
durch Programme würde ergeben, daß die Vermenschlichung <strong>der</strong> Rechenmaschine<br />
immer mehr zugenommen hat. An den gegenwärtigen Forschungsobjekten<br />
<strong>der</strong> Computerindustrie zeigt sich auch, daß die Bestrebungen,<br />
dem "User" die maschinelle Herkunft weitgehend zu verschleiern und ihm stattdessen<br />
einen "Freund und Partner" zur Seite zu stellen, noch längst nicht abgeschlossen<br />
sind: Berührungssensitive Bildschirme, Spracherkennung und computeranimierte<br />
Personen sollen dazu dienen, die Simulation eines menschlichen<br />
Ansprechpartners und Führers durch die digitalen Verschaltungen noch realistischer<br />
zu gestalten. Nicht umsonst werden die Speicherb<strong>aus</strong>teine als "memory ",<br />
als Gedächtnis bezeichnet. ,,Neben dem Mikroprozessor wird gleichsam ein<br />
Mensch eingebaut. [...I Dieser Mensch hat nur eine einzige Funktion: Er mufi<br />
uns von seiner steten Anwesenheit überzeugen, um allein dadurch das technische<br />
Steuer- und Regelwerk zu denunzieren und als einen neuen Typ des Maelzelsehen<br />
Schachspielers darzustellen. rr231 Die ehemals sozialen Funktionen des<br />
Musizierens - Interaktion und Improvisation mit an<strong>der</strong>en <strong>Musik</strong>ern - werden so<br />
in <strong>der</strong> Gestaltung des "Interface", <strong>der</strong> "Schnittstelle" zur <strong>Maschine</strong>, zu kompensieren<br />
versucht. Eine Steigerung dieser Simulation menschlicher Intuition durch<br />
den Computer sind die gegenwärtigen Überlegungen <strong>der</strong> Programmierer, die<br />
menschlichen Gehirnströme direkt abzutasten und in MIDI-Signale umzuwandeln,<br />
also quasi "<strong>Musik</strong> zu denken".<br />
Im hier diskutierten Zusammenhang um den von Benjamin beklagten Verlust<br />
eines auratischen Originals im technisch reproduzierten bzw. produzierten<br />
Kunstwerk wird von verschiedener Seite immer wie<strong>der</strong> die These aufgestellt,<br />
daß durch eingeschobene Zufallsprozesse, die die Gleichförmigkeit einer Aufführung<br />
durchbrechen, <strong>der</strong> Charakter eines Originals wie<strong>der</strong> hergestellt wird.<br />
231 Hein 1990, S.10.<br />
122<br />
Durch <strong>der</strong>artige Zufallsgeneratoren bleibe <strong>der</strong> ,,singuläre Charakter auch des<br />
maschinell erzeugten ästhetischen Objektes bewahrt, es zeigt eine pseudoindi-<br />
viduelle o<strong>der</strong> pseudointuitive Note".u2 Es wird sogar von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung<br />
einer Aura gesprochen. Das Programm "Autobusk" gibt generierte Zufallszahlen<br />
an einen "Interpreter" weiter, <strong>der</strong> anhand von Parametern wie Pulslänge, Ereig-<br />
nisdichte, Ereignislänge, Dynamik, u.v.m., die durch einen menschlichen Ope-<br />
rator definiert wurden, die Werte verarbeitet. Georg Hajdu sieht hier - entspre-<br />
chend <strong>der</strong> Heisenbergschen Unschärferelation in <strong>der</strong> Quantenphysik - eine mu-<br />
sikalische Unscharfe, die durch die "Autobusk"-Software realisiert wird: „Nun<br />
scheint gerade <strong>der</strong> Computer ein ideales Werkzeug zur Herstellung einer unbe-<br />
grenzten Zahl absolut identischer Kopien einer gespeicherten Vorlage, auch<br />
eines Kunstwerks zu sein. Demgegenüber hebt das Computerprogrumm AUTO-<br />
BUSK die Polarität zwischen auratischem und reproduziertem Kunstwerk auf:<br />
Durch den Unschärfe-Eflekt weichen die Kompositionen, in denen AUTOBUSK<br />
als Echtzeitsystem eingesetzt wird, bei je<strong>der</strong> Aufführung voneinan<strong>der</strong> ab, obwohl<br />
auf semantischer Ebene die Illusion <strong>der</strong> Identität gewahrt bleibt; die Aujjhrung<br />
wird zum Einzelstück. a3<br />
Interessant ist also, daß selbst von experimenteller Seite eine Konservierung<br />
des Originals und seines auratischen Charakters angestrebt wird, obwohl inzwi-<br />
schen klar geworden sein dürfte, daß Dimensionen <strong>der</strong> Einzigartigkeit und <strong>der</strong><br />
Aura unbrauchbare Maßstäbe einer ästhetischen Bewertung geworden sind, die<br />
zumeist lediglich zur Etikettierung <strong>der</strong> musikalischen Waren benutzt werden. In<br />
<strong>der</strong> Popmusik wird häufig die Anwesenheit eines musikalischen Erzeugers vor-<br />
gespiegelt, da dieser immer noch für die Realisierung des T<strong>aus</strong>chwerts <strong>der</strong> Ware<br />
ein unverzichtbarer und entscheiden<strong>der</strong> Faktor zu sein scheint. Doch gerade im<br />
Zusammenhang des Samplings und <strong>der</strong> dadurch entstandenen Probleme im Ur-<br />
heberrecht zeigt sich, wie dieses traditionelle Etikett vollständig nutzlos gewor-<br />
den ist. Christoph Hein sieht eine Lösung dieses Spannungsverhältnisses in einer<br />
Kunst, die sich <strong>der</strong> Reproduktionsindustrie entzieht, indem sie von dieser als<br />
nicht verwertbar angesehen wird: , Unter diesen Verhältnissen wird <strong>der</strong> Elfen-<br />
beinturm ein frech-avantgardistisches und revolutionäres Bauwerk und das<br />
einzigurtige Talent mit seiner Aura von Geheimnis und Genialitüt zur sozial<br />
verantwortungsvollen Gegenposition. "234 Seine trotzig-regressive For<strong>der</strong>ung<br />
scheint zumindest eine passende Antwort auf die elitären Bemühungen <strong>der</strong> so-<br />
232 Max Bense, zit nach Nake 1974, S.47f.<br />
233 Hajdu 1990, S.ll.<br />
234 Hein 1990, S.29.<br />
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genannten "experimentellen ernsten <strong>Musik</strong>" zu sein, die an <strong>der</strong> Konservierung<br />
einer utopischen Aura festhält.<br />
Auch im Bereich <strong>der</strong> Popmusik wird von verschiedener Seite die Wie<strong>der</strong>einführung<br />
des Originals durch die Arbeitsweise des Computers postuliert: ,,Indem<br />
die Daten eines Werkes im Computer gespeichert sind, ergeben sie über die<br />
entsprechende Ausgabeeinheit - Drucker, Plotter, Synthesizer o<strong>der</strong> Lautsprecher<br />
- jeweils das Original des Kunstwerkes. Jedes Erklingen <strong>aus</strong> dem Lautsprecher,<br />
je<strong>der</strong> Ausdruck einer Grafik ist das Original, von dem es nicht mehr nur ein<br />
Unikat gibt. [.../Jedoch muß dabei unterschieden werden, daß die Vermarktung<br />
<strong>der</strong> Computermusik auf Schallplatte eine Verbreitung von Originalen darstellt,<br />
weil diese <strong>Musik</strong> nur auf Tontrfiger und auch nur über den Lautsprecher erfahrbar<br />
werden kann, während die traditionelle <strong>Musik</strong> auf Schallplatte eine Reproduktion<br />
des Originals darstellt. " ~ Die 3 ~ von Benjamin übernommene Argumentation<br />
Joachim Stanges, <strong>aus</strong>gehend von den digital gespeicherten, die <strong>Musik</strong><br />
repräsentierenden Codes als originärste Form von <strong>Musik</strong>existenz in <strong>der</strong> Computerproduktion,<br />
feiert die <strong>Musik</strong> <strong>aus</strong> dem Rechner als eine Möglichkeit, sich<br />
einem Markt zu entziehen, <strong>der</strong> auf die ,,elitär gehandhabte, hohe, reine Kunst,<br />
mit ihren ins preislich Unermeßliche gestiegenen und voller Verklärung betrachteten<br />
Unikaten abzielt. Auch Ernst Krenek, als Komponist natürlich an <strong>der</strong><br />
Liquidation <strong>der</strong> Interpretation interessiert, ersehnte 1938 die Möglichkeiten heutiger<br />
<strong>Musik</strong>computer: ,,Die Wie<strong>der</strong>gabe des <strong>Musik</strong>werkes von <strong>der</strong> Schallplatte<br />
o<strong>der</strong> einem ähnlichen Schallträger könnte zu einer Reproduktion ersten Grades<br />
werden, sobald die technischen Vor<strong>aus</strong>setzungen es dem Komponisten erlauben,<br />
sein Werk ohne die Benützung von Notenpapier direkt in die Platte zu gravieren<br />
o<strong>der</strong>, was technisch vermutlich einfacher wäre, auf einen Klangstreifen auf¿.zeichnen.<br />
In diesem Fall wäre Schrift- und Klangbild des Werkes identisch, sein<br />
"Original", heute im Manuskript <strong>der</strong> Partitur repräsentiert (Vgi. S.l06f., P.B.),<br />
würde mit dem Reproduktionsmittel zusammenfallen und <strong>der</strong> ganze Komplex <strong>der</strong><br />
"lnterpretation" des <strong>Musik</strong>werkes würde vollkommen verschwinden. 'r237 In <strong>der</strong><br />
Tat sind die Produkte <strong>der</strong> "Tape Music" etwa nur auf Magnetband existent.<br />
Ebenso wie in <strong>der</strong> computererzeugten Popmusik gibt es hier kein Musizieren<br />
durch den Akt <strong>der</strong> Realisation eines ideellen Werkes. Das durch das collageartige<br />
Zusammensetzen <strong>aus</strong> klanglichen Versatzstücken entstandene <strong>Musik</strong>stück läßt<br />
Rückschlüsse auf ein Original nicht mehr zu. Digital hergestellte Klänge als<br />
nicht mehr unter an<strong>der</strong>em, son<strong>der</strong>n als nur noch technisch pro- und reprodu-<br />
235 Stange 1989, S.240 & 243.<br />
236 Ebd., S.241.<br />
237 Krenek 1973, S.65.<br />
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zierbare <strong>Musik</strong> entstehen zumeist <strong>aus</strong>schließlich in <strong>der</strong> Form von Binär-Infor-<br />
mationen, die auf dem Weg ihrer Manipulierung zukünftig ihre digitale Existenz-<br />
form erst zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Wahrnehmung durch den Konsumenten verlassen<br />
werden. An<strong>der</strong>s als das analoge Speichermaterial <strong>der</strong> "Tape Music", das dem<br />
Verschleiß des Bandes und <strong>der</strong> Entmagnetisierung <strong>der</strong> Eisenpartikel <strong>aus</strong>geliefert<br />
ist, macht das Beharren auf dem Original einer erstmalig benutzten Diskette in<br />
<strong>der</strong> Computermusik keinen Sinn mehr. Gerade in dieser argumentatorischen<br />
Zwickmühle wird deutlich, wie fragwürdig die Differenzierung von <strong>Musik</strong> an-<br />
hand von Originalen (o<strong>der</strong> Kopien) geworden ist. Ob ein massenhaft und voll-<br />
kommen identisch existierendes Produkt als vielfaches Unikat o<strong>der</strong> als Kopie<br />
bezeichnet wird, kann zumindest nicht mehr eindeutig geklärt werden. Das<br />
schließt nicht <strong>aus</strong>, daß esGauthentische Quellen gibt, doch sind diese durch die<br />
Vermittlung des Computers nicht-mehr markierbar. Es zeigt sich hier lediglich,<br />
wie unbrauchbar und beliebig diese Bewertungskategorie bei digital existieren-<br />
den Waren ist. Die Ansage des Rundfunksprechers ("Sie hörten eben das Ita-<br />
lienische Konzert in F-Dur von Johann Sebastian Bach..."), die den <strong>der</strong> tradi-<br />
tionellen Aufführungspraxis verhafteten <strong>Musik</strong>wissenschaftler aufgrund <strong>der</strong> Dif-<br />
ferenz von <strong>Musik</strong>spiel und Reproduktion wi<strong>der</strong>sprechen 1äßt238, macht im<br />
Kontext <strong>der</strong> Popmusik durch<strong>aus</strong> Sinn: "Werk" und Reproduktion sind zu einem<br />
Erzeugnis verschmolzen.<br />
238 Wie 2.B. Michael Zimmermann: Gegenwärtige Tendenzen <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>ästhetik. In: Dahl-<br />
h<strong>aus</strong> 1981, S.40.<br />
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