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Kinderarmut in Nürtingen?!

Kinderarmut in Nürtingen?! - Manuela Pfann, Journalistin

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24.Mai 2008<br />

<strong>K<strong>in</strong>derarmut</strong> <strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen?!<br />

Zwischen Scham und Schulden: Auf der Suche nach den Folgen materieller Bedürftigkeit bei<br />

K<strong>in</strong>dern und ihren Familien <strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen<br />

„E<strong>in</strong>er Stadt wie Nürt<strong>in</strong>gen stände es gut an, hier endlich aktiv zu werden“. Klare Worte, wenn es um<br />

die Unterstützung für arme K<strong>in</strong>der und Familien <strong>in</strong> der Neckarstadt geht. Bei dieser Aussage s<strong>in</strong>d sich<br />

die Mitglieder des Lokalen Bündnisses für Familie zweifelsfrei e<strong>in</strong>ig. Und diesen Satz werden sie auch<br />

Ende Juni <strong>in</strong> der Sitzung des Geme<strong>in</strong>derates wiederholen und gleichzeitig die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es<br />

Sozialpasses für bedürftige Familien fordern; und da s<strong>in</strong>d sie nicht die ersten.<br />

E<strong>in</strong>e Stadt wie Nürt<strong>in</strong>gen: Stadt der Bildung und der Schulen, der Dichter und Denker, Heimat von<br />

Handwerk und Masch<strong>in</strong>enbau. Schöne Altstadt, großes Bürgerengagement, vielfältige<br />

Kulturveranstaltungen und Aktivitäten. Weder e<strong>in</strong>e Suppenküche noch bettelnde oder schmuddelige<br />

Straßenk<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d im Stadtbild auszumachen – e<strong>in</strong>e Vorstellung, die noch immer die meisten beim<br />

Thema <strong>K<strong>in</strong>derarmut</strong> vor Augen haben. Sucht man im Internet nach den Stichworten „<strong>K<strong>in</strong>derarmut</strong>“<br />

und „Nürt<strong>in</strong>gen“, dann führt der konkreteste Treffer lediglich zum CCF K<strong>in</strong>derhilfswerk mit Sitz <strong>in</strong><br />

Nürt<strong>in</strong>gen, das arme K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern unterstützt.<br />

Lokale <strong>K<strong>in</strong>derarmut</strong>, lokale Unterstützung? Zunächst Fehlanzeige – und dann doch e<strong>in</strong> versteckter<br />

H<strong>in</strong>weis, die Rede zum Haushalt der Nürt<strong>in</strong>ger Liste/Grüne der Jahre 2006 und 2007 ist im Netz zu<br />

f<strong>in</strong>den, beides Mal wird die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es Sozialpasses beantragt mit der Begründung, dass „die<br />

Lebenssituation vieler Menschen <strong>in</strong> unserer Stadt durch E<strong>in</strong>schnitte im sozialen Netz immer<br />

prekärer“ werde und man „durch Ermäßigungen bei städtischen Leistungen diesen Menschen e<strong>in</strong><br />

bisschen mehr Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermögliche“.<br />

Iris Ackermann nickt zustimmend, ja, dieser Antrag wurde nicht nur e<strong>in</strong>mal vertagt, das Thema<br />

Sozialpass sei bereits seit den 90er Jahren <strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> der Diskussion, ohne Erfolg. „Aber jetzt<br />

wird es ernst“, sagt die Sachgebietsleiter<strong>in</strong> Soziale Hilfen im Nürt<strong>in</strong>ger Ordnungsamt, denn „die<br />

Spirale dreht sich weiter und viele Familien s<strong>in</strong>d von diesen prekären E<strong>in</strong>kommensverhältnissen<br />

betroffen. Wir haben immer mehr arme K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Stadt“.<br />

Und dann legt Iris Ackermann die neuesten Zahlen auf den Tisch: In Nürt<strong>in</strong>gen gibt es aktuell mehr<br />

als 730 K<strong>in</strong>der unter 15 Jahren, die von Hartz IV leben. „Wir waren selbst erschrocken, als wir die<br />

Zahlen bekommen haben, damit hätten wir nicht gerechnet“. Und die Verwaltungsbeamt<strong>in</strong> ist sich<br />

sicher, dass es <strong>in</strong> Wirklichkeit noch weitaus mehr s<strong>in</strong>d. Wenn man die bis 18jährigen dazu zähle, dann<br />

seien es sicher an die Tausend K<strong>in</strong>der und Jugendliche im ALGII-Bezug schätzt sie. Dazu kämen<br />

außerdem zahlreiche Familien, die zwar rechnerisch ke<strong>in</strong>en Anspruch auf staatliche Unterstützung<br />

hätten, aber dennoch knapp bei Kasse seien. Und: „Es gibt e<strong>in</strong>e hohe Dunkelziffer. Die Menschen<br />

schämen sich sehr oft ihrer Situation“, sagt Ackermann, viele beantragten deshalb die ihnen<br />

zustehenden Leistungen nicht oder so spät, dass die Familie bereits verschuldet sei, bevor sie<br />

statistisch erfasst werde.<br />

Wie dieses Versteckspiel den ganz normalen Alltag e<strong>in</strong>er solchen Familie belastet, da kennt Renate<br />

Maier-Scheffler unzählige Beispiele: Die Leiter<strong>in</strong> der Diakonischen Bezirksstelle <strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen berichtet<br />

von e<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong> erziehenden Mutter, die mit aller Kraft versuche, ihre Situation vor dem K<strong>in</strong>d zu


verbergen, <strong>in</strong> der Stadt Pfandflaschen sammle, um e<strong>in</strong> paar Euro extra zu haben – zuletzt habe sie<br />

davon das Mitbr<strong>in</strong>gsel ihres Sohnes zu e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>dergeburtstag f<strong>in</strong>anziert. Denn solch e<strong>in</strong>e<br />

„Sonderausgabe“ ist im Regelsatz e<strong>in</strong>es „Hartz IV-K<strong>in</strong>des“ von 208 Euro im Monat nicht enthalten.<br />

Ebenso wenig sei es <strong>in</strong> dieser f<strong>in</strong>anziellen Lage für e<strong>in</strong>e Familie möglich, ihren K<strong>in</strong>dern Saisonkarten<br />

für das Freibad zu bezahlen, sagt sie. „Der Sommer steht vor der Tür und es s<strong>in</strong>d doch genau diese<br />

Leute, die nicht <strong>in</strong> den Urlaub fahren – diese K<strong>in</strong>der sitzen regelmäßig sechs Wochen zu Hause“,<br />

kommentiert sie e<strong>in</strong>e Situation, die schon lange ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfall mehr ist, denn es seien etliche Eltern,<br />

die hier jedes Jahr nach möglichen Zuschüssen fragen.<br />

Dass nicht nur Mütter versuchen, die Lage der Familie vor den K<strong>in</strong>dern zu verbergen, sondern vor<br />

allem junge Leute sich unter Ihresgleichen nicht „outen“ wollen, dass weiß Stefan Felder von Hahn<br />

nur zu gut. Der Jugendreferent der Stadt und Leiter des Jugendhauses am Bahnhof kennt den Druck,<br />

der auf vielen Jugendlichen lastet und me<strong>in</strong>t: „wenn alle arm wären, dann wäre das ke<strong>in</strong> Problem“.<br />

Aber so brauche jeder das neueste Handy, die Markenklamotten, und man habe immer Geld für<br />

McDonalds übrig. Auf die regelmäßig von Außenstehenden zitierten Vorwürfe wie „wenn die arm<br />

s<strong>in</strong>d, dann brauchen die doch ke<strong>in</strong>en großen Fernseher“ oder „die sollen lieber sparen anstatt den<br />

K<strong>in</strong>dern Gameboys zu kaufen“, reagiert er mit Kopfschütteln: Das sei oft ihre e<strong>in</strong>zige Möglichkeit zu<br />

behaupten: „Wir gehören dazu“, so Felder von Hahn. Dass nicht zuletzt durch dieses Verhalten die<br />

Gefahr der Verschuldung dramatisch steigt, sei hier nur angedeutet; die derzeitige Wartezeit bei der<br />

Schuldnerberatung des DRK <strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen beträgt etwa e<strong>in</strong> Jahr – e<strong>in</strong>e Zahl die für sich spricht.<br />

Bertram Veeser von der Nürt<strong>in</strong>ger psychologischen Beratungsstelle der Kirche kann die Erfahrung des<br />

Jugendreferenten nur bestätigen: „Der Wunsch, zugehörig zu se<strong>in</strong>, das ist e<strong>in</strong>er der zentralsten<br />

Wünsche, die wir bei K<strong>in</strong>dern feststellen“. Wenn die K<strong>in</strong>der allerd<strong>in</strong>gs merken würden, dass dem<br />

nicht so ist, dass sie Außenseiter seien, dann gleiten sie ab <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e eigene Welt, dann entstehe Frust<br />

und Hoffnungslosigkeit. Se<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> Carmen Trick, ehemals Schulleiter<strong>in</strong> und jetzt als katholische<br />

Schuldekan<strong>in</strong> im Landkreis Essl<strong>in</strong>gen tätig, zitiert dazu die Vision nicht nur e<strong>in</strong>es Schülers beim Thema<br />

„me<strong>in</strong>e Zukunft“, die sie vor kurzem <strong>in</strong> der sechsten Klasse e<strong>in</strong>er Hauptschule zu hören bekam: „Ich<br />

werde Hartz IV“. Und sie ergänzt: „Das me<strong>in</strong>en die K<strong>in</strong>der vollkommen ernst, sie sehen für sich ke<strong>in</strong>e<br />

reelle Chance, dieser Außenseiterrolle zu entkommen“.<br />

Ob der drei Monate alte Rob<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e „vererbte“ Außenseiterrolle überw<strong>in</strong>den kann und jemals am<br />

Alltagsleben se<strong>in</strong>er nicht-bedürftigen Altersgenossen <strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen teilnehmen wird, das wird vor<br />

allem von der Unterstützung für se<strong>in</strong>e Mutter abhängen. Die 20-jährige junge Frau aus sozial<br />

schwachem Elternhaus, wie man es wohl bezeichnen könnte, lebte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Nürt<strong>in</strong>ger<br />

Obdachlosenunterkunft. Als Teilnehmer<strong>in</strong> der Jugendwerkstatt auf dem Areal der Seegrassp<strong>in</strong>nerei –<br />

e<strong>in</strong> Projekt für arbeitslose Jugendliche, junge Erwachsene, Schulabbrecher oder andere sozial<br />

auffällige junge Leute, lernte sie dort Daniela Fraenkel kennen, die Gründer<strong>in</strong> des Nürt<strong>in</strong>ger Familienund<br />

Gesundheitszentrums „FuGe“. Regelmäßige Besuche Fraenkels <strong>in</strong> der Werkstatt und Gespräche<br />

mit den Teilnehmern über Themen wie Gesundheit, Sucht und Soziales brachten die beiden Frauen <strong>in</strong><br />

Kontakt. Daniela Fraenkel vertraute die junge Frau an, dass sie schwanger sei. „Sie wollte das K<strong>in</strong>d<br />

bekommen, das war für sie e<strong>in</strong>e Lebensperspektive“, so Fraenkel. Und das sei ganz und gar nicht<br />

untypisch für junge Frauen aus diesem Umfeld, sozial schwach und mit niedrigem Bildungsstand,<br />

ergänzt die Sozialpädagog<strong>in</strong>. „Sie glauben, die eigene emotionale Leere würde sich dadurch füllen“.<br />

Rob<strong>in</strong> ist geboren, die junge Mutter wurde und wird noch immer begleitet, e<strong>in</strong>e Hebamme aus dem<br />

Team der FuGe ist wichtige Ansprechpartner<strong>in</strong> für die 20jährige. Jemanden mit diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />

könne man nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en normalen Geburtsvorbereitungskurs beim Haus der Familie stecken, sagt<br />

Daniela Fraenkel. Sie würde sich dort weder wohl noch aufgehoben fühlen, es würde sie nicht


weiterbr<strong>in</strong>gen. Die 35jährige Mutter von drei K<strong>in</strong>dern hat vor zwei Jahren mit e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Team<br />

die Arbeit der FuGe begonnen <strong>in</strong> Ergänzung zu den anderen Beratungse<strong>in</strong>richtungen der Stadt. „Wir<br />

arbeiten auf e<strong>in</strong>er ganz niedrigen Schwelle der Kontaktaufnahme“. Wir haben e<strong>in</strong> Klientel, dem man<br />

nur mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>dividuellen Angebot weiterhelfen könne. Und noch etwas bestärkt sie, am Konzept<br />

festzuhalten: „In Schwangerschaft und Elternzeit besteht die höchste Bereitschaft der Menschen zur<br />

Veränderung“. Und sie ergänzt: „Früher können wir nicht anfangen, um e<strong>in</strong>e Chance für die K<strong>in</strong>der zu<br />

wahren, die von Anfang an benachteiligt s<strong>in</strong>d!“<br />

Beim Stichwort „Chancengleichheit“, da kann auch Annette Seeger nur müde lächeln. „Ne<strong>in</strong>, die gibt<br />

es def<strong>in</strong>itiv nicht“, sagt die Schulsozialarbeiter<strong>in</strong> der Mörikeschule. Bereits <strong>in</strong> der ersten Klasse<br />

könnten unsere Lehrer ziemlich genau voraussagen, welche K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>mal auf der Hauptschule<br />

bleiben würden - mehr müsse man dazu nicht sagen. Auf die Frage, ob denn e<strong>in</strong>e materielle Armut<br />

für diese Verhältnisse maßgebend sei, antwortet Annette Seeger differenziert: „<strong>K<strong>in</strong>derarmut</strong> äußert<br />

sich hier <strong>in</strong> vielen Facetten: da gibt es natürlich die f<strong>in</strong>anzielle Problematik – das sieht man<br />

beispielsweise ganz deutlich im W<strong>in</strong>ter, da kommen etliche K<strong>in</strong>der frierend <strong>in</strong> Stoffschuhen und<br />

dünnen Jacken“. Oder wenn K<strong>in</strong>der sich am Ausflugstag oder kurz vor dem Schullandheim „krank“<br />

meldeten, dann stecken da oft materielle Gründe dah<strong>in</strong>ter. Aber prekär werde die Lage vor allem<br />

dann, wenn andere Faktoren dazu kämen, sei es das Fehlen e<strong>in</strong>es sozialen Netzwerks oder e<strong>in</strong>e<br />

unzureichende Versorgung der K<strong>in</strong>der. Und damit spricht die erfahrene Sozialpädagog<strong>in</strong> auch die<br />

Tatsache an, dass regelmäßig K<strong>in</strong>der nach der zweiten Stunde zusammenbrechen. „Dann wissen wir,<br />

dass es zu Hause wieder ke<strong>in</strong> Frühstück gab – warum auch immer“. In diesem Punkt reagiert die<br />

Mörikeschule demnächst ganz konkret: wenn ab September die Umstellung zur Ganztagsschule<br />

erfolgt, dann wird es jeden Tag e<strong>in</strong>e halbe Stunde vor Unterrichtsbeg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> kostenloses Frühstück<br />

für alle geben – die F<strong>in</strong>anzierung dafür sei allerd<strong>in</strong>gs noch offen, so Annette Seeger, „aber das ist<br />

unser festes Ziel, das müssen wir schaffen!“ Mit E<strong>in</strong>führung der Ganztagsschule, so hofft Seeger,<br />

könne man e<strong>in</strong> stückweit auch das Problem der außerschulischen Freizeitgestaltung noch besser als<br />

bisher auffangen, denn: „kaum e<strong>in</strong>es unserer K<strong>in</strong>der kann es sich leisten, im Vere<strong>in</strong> Sport zu machen<br />

oder Musikunterricht zu nehmen, selbst bei e<strong>in</strong>er Gebührenermäßigung nicht“. Und das tue<br />

besonders weh wenn man sähe, welches Talent viele hätten. Me<strong>in</strong>e Vision wäre, dass beispielsweise<br />

die Musikschule zu uns <strong>in</strong> die Schule käme, sagt sie. Dass damit das Thema „soziales Netzwerk“ lange<br />

noch nicht gelöst ist, ist e<strong>in</strong>e andere Sache: „E<strong>in</strong> Großteil unserer Schüler kommt aus e<strong>in</strong>er Familie<br />

mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund“. E<strong>in</strong>e Freundschaft zu anderen, gleichaltrigen Nürt<strong>in</strong>gern gäbe es nur<br />

selten, die meisten blieben deshalb unter sich; da sei über die Jahre e<strong>in</strong>e eigene Parallelgesellschaft<br />

<strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen entstanden, sagt Annette Seeger. Für sie ist auch die „<strong>in</strong> Nürt<strong>in</strong>gen gescheiterte<br />

Integration“, wie sie es ganz offen sagt, e<strong>in</strong>e Ursache für die Ausgrenzung vieler K<strong>in</strong>der vom Alltag<br />

der anderen. Der Wunsch e<strong>in</strong>er türkischen Mutter steht da sicher beispielhaft: „Ich wünsche mir für<br />

me<strong>in</strong>en Sohn so sehr, dass er mal Besuch von e<strong>in</strong>em deutschen K<strong>in</strong>d bekommt“.<br />

Auf zwei Ebenen sei Handlungsbedarf nötig, sagt Renate Maier-Scheffler. Die Leiter<strong>in</strong> der<br />

Diakonischen Bezirksstelle ist e<strong>in</strong>e der Vertreter<strong>in</strong>nen aus Politik, Verwaltung, Organisationen und<br />

Eltern, die sich vor gut zwei Jahren im lokalen Bündnis für Familie zusammengeschlossen haben:<br />

„Wir brauchen e<strong>in</strong>erseits ganz konkrete Hilfeleistungen für Familien, denn die Gesetzeslage ist enger<br />

geworden, es bleibt kaum Spielraum“. Möglichkeiten, e<strong>in</strong>malige Hilfen zu beantragen, beispielsweise<br />

zur E<strong>in</strong>schulung oder für die Anschaffung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>derbettes, die gäbe es seit der E<strong>in</strong>führung von<br />

Hartz IV nicht mehr. Die Sensibilisierung von Politik und Gesellschaft sei das andere Feld, denn nach<br />

wie vor herrsche die weit verbreitete Me<strong>in</strong>ung, dass wer arm sei, daran selbst Schuld habe.<br />

Psychologe Bertram Veeser weiß dem aus se<strong>in</strong>er Beratungserfahrung e<strong>in</strong>deutig zu widersprechen:


„Es wird vielfach nicht gesehen, dass Rahmenbed<strong>in</strong>gungen heute nur noch selten lenkbar s<strong>in</strong>d“. Die<br />

Aussage, dass derjenige, der arbeiten wolle, auch Arbeit f<strong>in</strong>de, die gelte schon lange nicht mehr, sagt<br />

der Mitarbeiter der Familiendienste der Katholischen Kirche.<br />

Die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es Sozialpasses wäre e<strong>in</strong> Anfang, so sehen es die Beteiligten und er wäre beides<br />

zugleich, konkrete Hilfe und politisches Signal: Am 24. Juni wird das lokale Bündnis für Familie<br />

deshalb im Geme<strong>in</strong>derat für bedürftige Nürt<strong>in</strong>ger K<strong>in</strong>der die kostenlose Teilnahme am<br />

Sommerferienprogramm, e<strong>in</strong>e kostenlose Saisonkarte im Freibad und e<strong>in</strong>en Gutsche<strong>in</strong> für die<br />

Teilnahme an e<strong>in</strong>em Kurs aus dem Bereich Sport, Kunst oder Kultur beantragen. Und das wäre weiß<br />

Gott ke<strong>in</strong>e Besonderheit; Sozialpässe gibt es seit den 90er Jahren <strong>in</strong> vielen Städten und Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

Baden-Württemberg. Erst vor wenigen Wochen hat die Stadt Essl<strong>in</strong>gen ihr soziales Profil weiter<br />

geschärft und stellt nun weit über 200.000 Euro pro Jahr für Bedürftige bereit – und das nicht nur für<br />

Hartz IV-Empfänger sondern beispielsweise auch für e<strong>in</strong>e vierköpfige Familie mit e<strong>in</strong>em<br />

Nettoe<strong>in</strong>kommen bis 27.200 Euro. Da gibt es dann neuerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> der Kreisstadt am Neckar ab Herbst<br />

Beihilfen bei E<strong>in</strong>schulung und Schulwechsel, Weiterbildungsgutsche<strong>in</strong>e und die Möglichkeit, für e<strong>in</strong>en<br />

Euro <strong>in</strong> Mensa oder KiTa zu essen. Denn, so wird der Essl<strong>in</strong>ger Oberbürgermeister Jürgen Zieger<br />

zitiert: „Die Chancenungleichheit <strong>in</strong> unserer Gesellschaft soll nicht am Schulranzen erkennbar se<strong>in</strong>“.<br />

Foto: Pfann<br />

Bildtext:<br />

Welche Zukunft wartet auf den drei Monate alten Rob<strong>in</strong>? Noch kommt die Hebamme der FuGe, Anja<br />

Seyferle (rechts), regelmäßig <strong>in</strong>s Haus und unterstützt die junge Mutter nach e<strong>in</strong>er Frühgeburt. Von<br />

der Obdachlosenunterkunft konnte sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e städtische Wohnung umziehen; zusammen mit ihrem<br />

Freund ist sie auf ALG II angewiesen: „Es ist gut zu wissen, dass ich Anja jederzeit anrufen kann“, sagt<br />

die 20jährige.

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