der Wellensittich
Eine Novelle
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Der <strong>Wellensittich</strong><br />
Helga Delarue genoss die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Beschwingt lief sie mit dem Vogelkäfig die<br />
Stufen zu ihrer eleganten Stadtwohnung hinauf. Sie hatte Glück gehabt, <strong>der</strong> Zufall wollte es, dass nicht<br />
weit von ihrem Quartier eine Dame verstarb und <strong>der</strong> <strong>Wellensittich</strong> weg musste. So holte sie Yellow, wie<br />
<strong>der</strong> 2-jährige <strong>Wellensittich</strong> hiess, zu sich. Der Sohn <strong>der</strong> verstorbenen Dame meinte noch, dass sie sich<br />
wahrscheinlich einen an<strong>der</strong>en kaufen sollte, Kanarienvögel seien nicht gerne alleine. Yellow's Kamerad<br />
wäre vor einem Monat altershalber gestorben und seine Besitzerin hätte nicht mehr die Kraft gehabt,<br />
ihn zu ersetzen.<br />
Zuhause liess Helga ihn in seinen neuen Käfig. Sein fröhliches Gezwitscher erfüllte den Raum und sie<br />
war zufrieden. Sie hatte sich schon lange einen <strong>Wellensittich</strong> gewünscht. Aber jedesmal, wenn sie<br />
darauf zu sprechen kam, tat ihr Mann ihren Wunsch mit einem Kopfschütteln ab.<br />
Helga liebte ihr neues Leben. Mit 48 Jahren war sie zwar nicht mehr die jüngste und ihrem Körper<br />
fehlte die Straffheit von früher, doch besass sie ein hübsches Gesicht mit lebhaften Augen, die immer<br />
noch eine gewisse Jugendlichkeit versprühte.<br />
Seit fast 30 Jahren lebte sie nun in Frankreich. Als sie als junges Au-Pair ihren Mann kennenlernte und<br />
1949 Deutschland verliess, hätte sie nie gedacht, dass die französischen Nachbarn sie so verzaubern<br />
würde. Es war alles so an<strong>der</strong>s als in ihrem kleinen Dorf östlich von Leipzig. Gerne liess sie sich von<br />
dem savoir-vivre <strong>der</strong> Franzosen anstecken: Ihre selbstgenähten Klei<strong>der</strong> wurden durch weite Röcke mit<br />
schmalen Taillen ersetzt und anstatt Kartoffeln ass sie mit Vorlieben Croissants. Ihr Mann, dessen<br />
Familie zur Oberschicht von Paris gehörte zeigte ihr eine an<strong>der</strong>e Welt und als er ihr unter dem l'Arc de<br />
Triomphe “je t'aime” ins Ohr flüsterte, war es um sie geschehen. Später weinte sie bittere Tränen, als er<br />
für die französische Armée nach Vietnam ging und versprach, auf ihn zu warten. Als er zurückkam,<br />
reifer und ernster, heirateten sie und zogen nach Versailles. Das Geld von seinen Eltern ermöglichte<br />
ihnen eine solide Basis und sein gewiefter Geschäftssinn versprach eine rentable Zukunft.<br />
Doch mit dem Lauf <strong>der</strong> Jahre lebte sich das Ehepaar Delarue auseinan<strong>der</strong>. Oft hatte sie sich überlegt ob<br />
es an den fehlenden Kin<strong>der</strong>n lag. Obwohl sie alles mögliche versuchten blieb ihre Ehe kin<strong>der</strong>los und<br />
dies war vorallem für ihren Mann eine grosse Enttäuschung. So fest hatte er sich einen Sohn<br />
gewünscht. Als Helga die 40 überschritten hatte und klar wurde, dass es keine Nachkommen mehr gab,<br />
begann er, sich abzuson<strong>der</strong>n. Immer öfters blieb er bis tief in die Nacht im Büro, immer häufiger war er<br />
auf Geschäftsreisen. Zu Hause wurde er mürrisch und schweigsam.<br />
Helga litt unter <strong>der</strong> Kälte ihres Mannes. Sie sehnte sich nach Wärme und Geborgenheit. Gespräche<br />
halfen nichts, anstatt ihr zuzuhören fing er an, sie zu kritisieren und als schlechte Ehefrau zu<br />
beschimpfen. Obwohl er es nie aussprach, wusste sie, dass er ihr die Schuld am fehlenden Nachwuchs<br />
zuschob. In seinen Augen erkannte sie seine Verachtung. Manchmal lag sie grübelnd im Bett und malte<br />
sich aus, wie<strong>der</strong> begehrt zu werden. Wahrscheinlich hätte ein Flirt mit einem an<strong>der</strong>en Mann geholfen,<br />
doch sie getraute sich nicht, ihre Träume in die Tat umzusetzen. Die unerfüllten Wünsche resultierten in<br />
Frust, und Frust in Resignation. Sie hörte auf zu arbeiten, kapselte sich ab und schloss sich zu Hause<br />
ein. Wie oft hatte sie in den letzten Jahren überlegt, dem ganzen ein Ende zu bereiten.<br />
Doch diese Entscheidung nahm er ihr vor einem halben Jahr während seiner Geschäftsreise ab. Die<br />
Nachricht kam wie ein Schock: Über dem Atlantik, kurz nach <strong>der</strong> Küste Portugals, abgestürzt. Drei<br />
Wochen dauerte die Suche nach Überlebenden und die Hoffnung war praktisch aussichtslos. Seine<br />
Leiche fand man nicht. Die polizeilichen Ermittlungen wurden abgeschlossen und ihr Mann bekam ein<br />
grosses Begräbnis auf dem Cimetière de Belleville in <strong>der</strong> Familiengruft in Paris. Auch wenn sie ihn in<br />
jungen Jahren geliebt hatte erkannte sie bald, dass von dieser Liebe schon lange nichts mehr übrig<br />
gewesen war. Aus Anstand und Pflichtgefühl mimte sie eine Zeitlang die trauernde Witwe, doch bald
darauf begann sie ihr Leben umzukrempeln. Der erste Schritt dazu war Yellow, ihr kleiner, gefie<strong>der</strong>ter<br />
Freund.<br />
Der zweite Schritt war die neue Stelle in <strong>der</strong> bibliothèque centrale municipale. Sie sah die Anzeige in<br />
<strong>der</strong> Nouvelles und bewarb sich sofort. Für Literatur hätte sie sich schon immer interessiert und <strong>der</strong><br />
Kundenkontakt mache ihr Spass. Das Bewerbungsgespräch verlief trotz ihrer Nervosität entsprechend<br />
gut. Als sie den Job bekam, freute sie sich umso mehr.<br />
Sie mochte die abwechslungsreiche Arbeit und nach kürzester Zeit machte sie viele neuen<br />
Bekanntschaften. Auch ihr Äusseres begann sich zu verän<strong>der</strong>n: Sie färbte die Haare, schminkte sich<br />
und nahm wie<strong>der</strong> am gesellschaftlichen Leben teil. Die neue Stelle gab ihr Selbstbewusstsein, das ihr<br />
nach all den Jahren Selbstzweifel gut tat. Sie blühte richtiggehend auf. Vier Monate nach dem<br />
Verschwinden ihres Mannes hatte sich Helga's Leben so stark gewandelt, dass sie sich praktisch nicht<br />
mehr an die Zeit davor erinnern konnte.<br />
Jeden Morgen stand sie um sechs auf. Sie machte sich Kaffe, versorgte Yellow und las die<br />
Tageszeitung. Um halb acht verliess sie jeweils ihre Wohnung und fuhr zur Arbeit. Es war Ende März.<br />
Langsam hielt <strong>der</strong> Frühling Einzug. Sie lächelte: Dieser Frühling sollte etwas beson<strong>der</strong>es werden, es<br />
war <strong>der</strong> erste in ihrem neuen Leben.<br />
Die Tage wurden länger. Bei schönem Wetter unternahm sie einen Spaziergang am Grand Canal o<strong>der</strong><br />
war mit ihren neuen Kolleginnen unterwegs.<br />
So kam es, dass sie immer weniger zu Hause war. Die langen Gespräche, die sie mit dem<br />
Kanarienvogel in den ersten Wochen geführt hatte, wurden kürzer und blieben bald ganz aus. Aber <strong>der</strong><br />
Vogel reagierte: Immer seltener erfüllte sein fröhliches Gezwitscher die Wohnung. Als er anfing, sich<br />
tiefe, kahle Flecken ins Gefie<strong>der</strong> zu rupfen, begann Helga sich Sorgen zu machen und ging zum<br />
Tierarzt.<br />
Nach eingehen<strong>der</strong> Untersuchung meinte dieser, dass dem Vogel eigentlich nichts fehle, es aber sein<br />
könnte, dass das Tier einsam sei. Ob sie sich vielleicht einen zweiten besorgen wolle? Mit schlechtem<br />
Gewissen nahm sie sich fest vor, sich wie<strong>der</strong> mehr um ihn zu kümmern.<br />
Eine Woche später, es war <strong>der</strong> 4. Monat bei ihrer neuen Stelle, geschah jedoch etwas, das sie sich nicht<br />
mal in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hätte. Ihr Chef nahm sie zu Seite: Er wäre überaus zufrieden<br />
mit ihr und könnte sich gut vorstellen, sie in Zukunft als seine rechte Hand einzusetzen. Um ihr<br />
organisatorisches Talent noch mehr unter Beweis zu stellen, sollte sie ihm doch helfen, die kommende<br />
Lesung mit dem berühmten Autor Emmanuel Lévinas zu organisieren. Die französische Neuauflage<br />
des Sammelbands Le Choix, le Monde, l´Existence war soeben erschienen und versprach, ein voller<br />
Erfolg zu werden. Bis zur Lesung gäbe es noch viel zu tun, man erwarte einige Besucher. Freudig sagte<br />
Helga zu. Sie stürzte sich in ihre neue Aufgabe, plante, organisierte und besprach ihre Ideen mit dem<br />
Chef. Nach Feierabend sass sie noch lange an ihrem kleinen Arbeitstisch. Wenn sie heimkam schaute<br />
sie nur noch kurz ins Vogelkäfig, bevor sie müde ins Bett sank. Eines Abends, drei Tage vor dem<br />
grossen Tag, erschrak Helga, als sie Yellow erblickte: Er hatte einiges seiner einstmaligen Fe<strong>der</strong>pracht<br />
verloren und es schien ihm schlechter zu gehen. Traurig schaute er sie aus seinem Gefängnis an. Helga<br />
hatte Mitleid und versprach dem Tier, nach dem Event in die nächste Zoohandlung zu fahren und ihm<br />
einen Kameraden zu besorgen. Dann würde sie ihnen beiden eine grosse Voliere kaufen mit allem<br />
darin, was das Herz eines <strong>Wellensittich</strong>s begehrte. Mit diesen tröstenden Gedanken, die ihr Gewissen<br />
ein wenig lin<strong>der</strong>ten, ging sie schliesslich ins Bett.<br />
Am Freitagnachmittag war es endlich soweit: Die Lesung war gut besucht und die Bibliothek brechend<br />
voll. Helga hatte keine freie Minute, sie kümmerte sich um die Besucher, schenkte Getränke aus,<br />
versorgte den Autor, scherzte und schüttelte hun<strong>der</strong>te von Händen. Die Stunden flogen nur so dahin
und am Abend, als endlich alle gegangen waren, wusste sie gar nicht mehr, wo ihr <strong>der</strong> Kopf stand.<br />
Doch <strong>der</strong> Aufwand hatte sich gelohnt. Dank ihrer ausführlichen Planung hatte alles reibungslos<br />
geklappt. Auch ihr Chef war zufrieden und lobte sie sogar vor den an<strong>der</strong>en Mitarbeitern.<br />
Spät abends auf dem Heimweg konnte sie ihr Glück kaum fassen: Sie hatte es geschafft und war innert<br />
kürzester Zeit von <strong>der</strong> depressiven Hausfrau zur rechten Hand ihres Chefs, dem Leiter <strong>der</strong> Bibliothek<br />
Versailles, geworden.<br />
Zuhause hatte sie gerade noch die Energie, kurz nach Yellow zu schauen- dem Vogel schien den<br />
Umständen entsprechend gut zu gehen- und dann ging sie aber auch schon ins Bett. Morgen nach <strong>der</strong><br />
Arbeit würde sie in die Zoohandlung fahren und sich einen zweiten Kanarienvogel besorgen. Dann<br />
würde es Yellow sicher bald besser gehen. Unvorstellbar wie sich ihr Leben zu ihren Gunsten verän<strong>der</strong>t<br />
hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie kurz darauf ein.<br />
Am nächsten Morgen stand Helga wie gewohnt auf. Noch ein bisschen müde schlurfte sie in die Küche<br />
und bereitete ihren Kaffee vor. Währenddessen sie so dastand stutzte sie. Irgend etwas stimmte nicht. In<br />
<strong>der</strong> Wohnung war es ungewöhnlich ruhig. Sie runzelte die Stirn. Normalerweise hörte sie um diese Zeit<br />
das Gezwitscher. Sie eilte zum Käfig und schaute nach. Yellow lag tot am Boden. Fassungslos starrte<br />
sie den toten kleinen Körper an. Der Anblick zerriss ihr das Herz. Hätte sie sich doch früher um ihren<br />
Freund gekümmert. Traurig nahm sie den Kadaver heraus und begrub ihn im Garten. Danach machte<br />
sie sich auf den Weg zur Arbeit. Der Samstag verging langsam und schleppend. Betrübt dachte sie an<br />
ihre stille Wohnung.<br />
Die Stunden zogen sich dahin, und als es endlich Feierabend wurde, war sie froh. Unterwegs kaufte sie<br />
das Nötigste ein. Als sie endlich bei ihrer Haustür angekommen war stutze sie. Den dunkelroten Alpine<br />
A310 hatte sie noch nie gesehen. Sie schloss die Haupttür auf und stieg die Treppen zu Ihrer Wohnung<br />
hoch. Als sie eintrat, liess sie vor Schreck ihre Einkaufstüten fallen.<br />
Nein, die Gestalt war kein Gespenst son<strong>der</strong>n real. Auf dem Sessel am Fenster sass ihr Mann und sagt<br />
lächelnd zu ihr: “Salut ma chérie, freust Du Dich, mich zu sehen?”