City Life Collage
ISBN 978-3-86859-599-4
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CITYLIFE<br />
COLLAGE<br />
Klaus Theo Brenner<br />
Jan Büchsenschuß<br />
Davide Mulas<br />
Dirk Biermann
2
» Man sollte denken, die Baukunst<br />
als schöne Kunst arbeite allein fürs<br />
Auge; allein sie soll vorzüglich, und<br />
worauf man am wenigsten achthat,<br />
für den Sinn der mechanischen<br />
Bewegung des menschlichen<br />
Körpers arbeiten; wir fühlen eine<br />
angenehme Empfindung, wenn<br />
wir uns im Tanze nach gewissen<br />
Gesetzen bewegen; eine ähnliche<br />
Empfindung sollten wir bei jemand<br />
erregen können, den wir mit verbundenen<br />
Augen durch ein wohlgebautes<br />
Haus hindurchführen.«<br />
»It might well be thought that, as a fine art, architecture works for the eye alone, but it<br />
ought primarily – and very little attention is paid to this – to work for the sense of movement<br />
in the human body. When, in dancing, we move according to certain rules, we feel<br />
a pleasant sensation, and we ought to be able to arouse similar sensations in a person<br />
whom we lead blindfolded through a well-built house.« Johann Wolfgang von Goethe<br />
3
Das Wesen des<br />
architektonischen<br />
Raumes –<br />
Flatland und Aleph<br />
The essence of<br />
architectural space –<br />
Flatland and Aleph<br />
Jan Büchsenschuß<br />
Klaus Theo Brenners Metier ist die Gestaltung<br />
des architektonischen Raumes, und<br />
seine <strong>Collage</strong>n sind der eigenwillige Spiegel<br />
dieser Beschäftigung: komplexe Kompositionen<br />
aus fragmentarischen Versatzstücken<br />
unserer Alltagskultur, maßstabsprengende<br />
architektonische Symbiosen, farblich entfremdete<br />
Kulissen urbaner Räume, hyperperspektivische<br />
Fassaden – stets das Fremde<br />
im Gewöhnlichen und das Gewohnte im<br />
Befremdlichen suchend. Beim Betrachten<br />
der surrealen, oft in liebevoller Handarbeit<br />
gefertigten Kompositionen mit ihrer zuweilen<br />
verschobenen Verschneidung von Alltag<br />
und Kunst stellt sich unwillkürlich die Frage<br />
nach dem Wesen des architektonischen<br />
Raumes. Was meinen wir, wenn wir von<br />
Raum sprechen? Was gestalten wir, wenn<br />
wir Raum gestalten?<br />
Geben wir es zu – die Macht der Gewohnheit<br />
lässt uns zuweilen nachlässig<br />
werden. Wir hören einen Gemeinplatz und<br />
nicken im stummen Einverständnis. Architektur<br />
und Städtebau sind Raumkünste.<br />
Natürlich. Architektonische Elemente sind<br />
Klaus Theo Brenner’s calling was to shape<br />
architectural space, and his collages reflect<br />
that preoccupation in a highly original way,<br />
as complex compositions made up of fragmentary<br />
set pieces from our everyday culture,<br />
architectural symbioses that demolish<br />
conventional standards, urban backdrops<br />
with alienating color effects and façades<br />
seen in multi-perspective views, in a constant<br />
quest for the strange in the familiar<br />
and the familiar in the outlandish. When<br />
looking at these surreal, often lovingly handcrafted,<br />
compositions with their sometimes<br />
slightly skewed intersecting of everyday life<br />
and art, questions invariably arise as to the<br />
essence of the architectural space. What do<br />
we mean when we talk about space? And<br />
what are we doing when we design space?<br />
Let’s face it – force of habit sometimes<br />
makes us careless. We hear a truism and<br />
nod in mute agreement. Architecture and<br />
urban development are forms of spatial<br />
art; that goes without saying. Architectural<br />
elements are three-dimensional spatial<br />
signs that provide our temporal and<br />
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dreidimensionale Raumzeichen, die unsere<br />
zeitliche wie räumliche Wahrnehmung<br />
strukturieren. Sicher. Doch was bedeutet<br />
räumliche Wahrnehmung? Was unterscheidet<br />
die räumliche Orientierung im<br />
Alltag vom ästhetischen Genuss?<br />
Johann Wolfgang von Goethe hat es bereits<br />
vor über zweihundert Jahren beschrieben:<br />
»Man sollte denken, die Baukunst als<br />
schöne Kunst arbeite allein fürs Auge; allein<br />
sie soll vorzüglich, und worauf man am wenigsten<br />
achthat, für den Sinn der mechanischen<br />
Bewegung des menschlichen Körpers<br />
arbeiten; wir fühlen eine angenehme<br />
Empfindung, wenn wir uns im Tanze nach<br />
gewissen Gesetzen bewegen; eine ähnliche<br />
Empfindung sollten wir bei jemand<br />
erregen können, den wir mit verbundenen<br />
Augen durch ein wohlgebautes Haus hindurchführen.«<br />
1<br />
Folgen wir an dieser Stelle Goethe, existieren<br />
– je nachdem wie ich sensorisch agiere<br />
– zwei Räume in einem. Den ersten Raum<br />
erleben wir sehend, weil wir ihn wie ein<br />
Werkzeug benutzen. Sehen und Nutzen gehen<br />
im Alltag eine Symbiose ein. Durch die<br />
visuelle Wahrnehmung wird mir die zeichenhafte<br />
Bedeutung der Gebrauchsobjekte offenbart,<br />
ohne dass ich sie verwenden muss.<br />
Es ist diese semiotische Erkenntnis aus der<br />
Distanz, die den Alltag erleichtert. Ich sehe<br />
eine Treppe, und ich verstehe, wozu ich sie<br />
gebrauchen kann, und benutze sie. Wenn<br />
ich in einem Buch etwas lesen will, gehe ich<br />
an die Stelle des Arbeitszimmers mit den<br />
dafür besten Lichtverhältnissen. Die Architektur<br />
in diesem Raum ist utilitaristisch. Sie<br />
spiegelt unseren Alltag wider.<br />
spatial perception with its structure. Of<br />
course they are. But what does spatial perception<br />
actually mean? What distinguishes<br />
spatial orientation in day-to-day life from<br />
aesthetic enjoyment?<br />
Johann Wolfgang von Goethe made the<br />
distinction over two hundred years ago: »It<br />
might well be thought that, as a fine art,<br />
architecture works for the eye alone, but it<br />
ought primarily – and very little attention is<br />
paid to this – to work for the sense of movement<br />
in the human body. When, in dancing,<br />
we move according to certain rules, we<br />
feel a pleasant sensation, and we ought to<br />
be able to arouse similar sensations in a<br />
person whom we lead blindfolded through<br />
a well-built house.« 1<br />
If we pursue Goethe’s line of thought,<br />
there are two spaces in one, depending<br />
on our sensory behavior. We experience<br />
the first space with our sight, using it as a<br />
tool. Seeing and using have a symbiotic<br />
relationship in everyday life. Visual perception<br />
reveals the symbolic meaning of utilitarian<br />
objects to us, without us having to<br />
actually use them. This semiotic knowledge<br />
from afar makes day-to-day life somewhat<br />
eas ier. I see a stairway and I understand<br />
what I might need it for, and how to use it. If<br />
I want to read something in a book, I go to<br />
the corner of my study that offers the best<br />
light. In this space, the architecture is utilitarian.<br />
It reflects our everyday lives.<br />
By contrast, if we close our eyes and<br />
thus block out the purpose of the space,<br />
we instead experience the artificial space<br />
in the same spot. The symbolic meaning is<br />
still there, but we can no longer understand<br />
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durch die Meta-Projektion der <strong>Collage</strong>, wo<br />
Raum und Zeit anderen Gesetzen folgen.<br />
In Brenners <strong>Collage</strong>n erleben wir den<br />
städtischen Raum durch das surreale Okular<br />
des Alephs in seiner ganzen Komplexität,<br />
Fragmentierung und Widersprüchlichkeit.<br />
Die Macht der Konvention wird für einen Augenblick<br />
gebrochen. In Anlehnung an die<br />
Prinzipien der Moderne wird nicht irgendein<br />
Raum, sondern das Wesen des Raumes<br />
selbst in Reflektion sichtbar. Denn was wir<br />
sehen, sind keine pseudo-artifiziellen Fantasielandschaften,<br />
sondern aneinander gereihte<br />
Ausschnitte aus dem Aleph, die uns<br />
Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit, Leben<br />
und Stadttheater, Alltag und Architektur zeigen.<br />
Architekturästhetik ist ein eminent intellektueller<br />
Prozess, der nur vermittelnd<br />
medial angestoßen werden kann. Wie einst<br />
Magellan müssen wir, all unser Wissen über<br />
den pseudo-artifiziellen Raum beziehungsweise<br />
artifiziellen Pseudo-Raum über Bord<br />
werfend, in das Unbekannte der <strong>Collage</strong>n<br />
vordringen und die verschiedenen Facetten<br />
des Raumes neu kartieren, um Goethes<br />
Menschen endlich von seinen sinnlichen<br />
Fesseln befreien zu können.<br />
juxtaposed extracts from the Aleph, revealing<br />
simultaneity and co-location, life and<br />
urban theater, architecture and the everyday.<br />
Architectural aesthetics constitutes<br />
an eminently intellectual process that can<br />
only be conducted and imparted through<br />
media. Like Magellan, we have to cast all of<br />
our knowledge about the pseudo-artificial<br />
space and artificial pseudo-space overboard,<br />
plunge into the unknown territory of<br />
the collages, and map the different aspects<br />
of the space entirely from scratch, so that<br />
we can at last free Goethe’s people from<br />
their sensory bindings.<br />
1 Goethe, Johann Wolfgang von: »Baukunst«, in: Werke.<br />
Hamburger Ausgabe, Band 12, dtv, München 1998, S. 36<br />
2 Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst,<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991<br />
3 Abbott, Edwin A.: Flächenland, Franzbecker KG, Hildesheim 1982<br />
4 Borges, Jorge Luis: »The Aleph«, in: The Aleph and Other Stories,<br />
Penguin Books, London 2004<br />
1 Goethe, Johann Wolfgang von: »Architecture«, in: Goethe on Art,<br />
selected, edited, and translated by John Gage, University of California<br />
Press, Berkeley and Los Angeles 1980, p. 196<br />
2 Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst,<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991<br />
3 Abbott, Edwin A.: Flächenland, Franzbecker KG, Hildesheim 1982<br />
4 Borges, Jorge Luis: »The Aleph«, in: The Aleph and Other Stories,<br />
Penguin Books, London 2004<br />
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Klaus Theo Brenner Stadtarchitektur, Brenner Krohm und Partner Architekten<br />
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Stadtfoto Im frühen 20. Jahrhundert<br />
gab es eine fotografische<br />
Postkartenkultur von repräsentativer,<br />
geradezu bestechender<br />
Stadtraum-Betrachtung im<br />
internationalen Kontext (Amerika,<br />
Europa, Afrika). Diese Bilder lassen<br />
uns träumen von der Stadt als<br />
einem ebenso betörenden wie<br />
zeitlosen Raumphänomen. Wir<br />
profitieren in unseren Stadtprojekten<br />
von diesen Bildern. Die<br />
<strong>Collage</strong> hat eine verfremdende<br />
Funktion und verhindert den Fall<br />
in eine historisierende Nostalgie.<br />
Die Stadtfoto-<strong>Collage</strong>n stellen eine am Computer gescannte und<br />
komponierte Zusammenschau von Raum und Objekt in einer scheinbar<br />
zufälligen und austauschbaren seriellen Bildrealität dar.<br />
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<strong>City</strong> photograph Photographic<br />
postcards showing distinctive and<br />
utterly captivating urban scenes<br />
from all over the world (USA,<br />
Europe, Africa) were particularly<br />
popular in the early 20th century.<br />
These images encourage us to<br />
imagine the city as a beguiling,<br />
yet timeless, spatial phenomenon.<br />
Our urban development projects<br />
draw upon the legacy of such images.<br />
The collage has an alienating<br />
effect and prevents us from<br />
descending into historicizing<br />
nostalgia.<br />
The urban photograph collages represent an overall view of space<br />
and object scanned and composed on a computer to create apparently<br />
random and interchangeable serial imagery.<br />
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Kontorhaus Friedrichstraße · Berlin<br />
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Gartenstadt · Berlin<br />
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Landleben Diese <strong>Collage</strong>n<br />
sind historische Postkarten aus<br />
Amerika. Sie sollen uns eine<br />
Vorstellung vom Landleben –<br />
im Gegensatz zum Stadtleben –<br />
vermitteln, wo die freie Landschaft,<br />
die Bahn, die Menschen und die<br />
Früchte, die geradezu absurd<br />
monumentalisiert wurden, unser<br />
Leben bestimmen. Der ironische<br />
Charakter, der in diesen Bildern<br />
steckt, vermittelt uns ein Gefühl<br />
von Freiheit, die wir im Kontrast<br />
zur Stadt auf dem Lande genießen<br />
können.<br />
Historische Postkarten<br />
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Country life These collages are<br />
made up of historical postcards<br />
from America. They are intended<br />
to give us an impression of life in<br />
the country – as opposed to life in<br />
the city –, with open landscapes,<br />
railways, people, and fruit, monumentalized<br />
to an almost absurd<br />
degree, shaping our experience.<br />
The ironic nature of these images<br />
imbues us with a sense of the<br />
freedom that might be enjoyed in<br />
the country, in contrast to the city.<br />
Historical postcards<br />
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Klaus Theo Brenner<br />
ist mit seinen Partnern Dominik Krohm,<br />
Jens Thränhardt und Konstantin Linnartz<br />
Leiter des Büros Klaus Theo Brenner Stadtarchitektur.<br />
Das Büro plant und realisiert<br />
Stadthäuser und Stadtquartiere in allen Dimensionen<br />
und Typologien in enger Zusammenarbeit<br />
mit städtischen Institutionen<br />
und privaten sowie öffentlichen Bauherren.<br />
Das Thema der Stadtarchitektur repräsentiert<br />
auf der einen Seite die enge Beziehung<br />
Brenners zur Tradition der Berliner Rationalisten;<br />
andererseits zeigt sich darin eine starke<br />
Verbindung mit Italien und der italienischen<br />
Stadtbaukultur.<br />
Zahlreiche Bücher dokumentieren, wie<br />
zuletzt auch die Ausstellungen in Italien<br />
(Padova, Neapel) und in den Niederlanden<br />
(Eindhoven, Maastricht), die theoretische,<br />
praktische und künstlerische Tätigkeit von<br />
Klaus Theo Brenner. Er lehrte an der Universität<br />
der Künste in Berlin, an der Potsdam<br />
School of Architecture und am Politecnico<br />
in Mailand.<br />
Seine hier versammelten <strong>Collage</strong>n sind<br />
in dem Zeitraum von 1990 bis 2019 entstanden<br />
– in einem mehr oder weniger engen<br />
Projektbezug oder in Beziehung zu spezifischen<br />
konzeptionellen Fragestellungen zur<br />
Stadtarchitektur. Ein besonderer Dank in<br />
Bezug auf die Zusammenarbeit an den <strong>Collage</strong>n<br />
gilt: Christian Sauer, Enrico Spimpolo,<br />
Guerino Coppola, Lara Pietschmann, Lukasz<br />
Piszczek und Lorenzo Sacco.<br />
is the director of the architectural office<br />
Klaus Theo Brenner Stadtarchitektur. His<br />
partners at the studio are Dominik Krohm,<br />
Jens Thränhardt, and Konstantin Linnartz.<br />
The office plans and creates residential<br />
buildings and urban neighborhoods of all<br />
scales and typologies in close collaboration<br />
with municipal institutions and private and<br />
public building contractors. While the focus<br />
on urban architecture reflects Brenner’s<br />
close association with the tradition of the<br />
Berlin Rationalists, it also evinces a close<br />
connection with Italy and the Italian<br />
approach to urban planning.<br />
Countless books document Brenner’s<br />
theoretical, practical, and artistic work, as<br />
do recent exhibitions in Italy (Padua,<br />
Naples) and the Netherlands (Eindhoven,<br />
Maastricht). He has taught at the Universität<br />
der Künste in Berlin, the Potsdam<br />
School of Architecture, and the Politecnico<br />
in Milan.<br />
The collages that have been brought<br />
together here were created between 1990<br />
and 2019 – often, to a certain extent, within<br />
the context of a project, or in relation to<br />
specific conceptual issues of urban architecture.<br />
Special thanks are due to Christian<br />
Sauer, Enrico Spimpolo, Guerino Coppola,<br />
Lara Pietschmann, Lukasz Piszczek, and<br />
Lorenzo Sacco for their work on the collages.<br />
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Klaus Theo Brenner Stadtarchitektur, Brenner Krohm und Partner Architekten
Napoli<br />
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