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Koproduktion Urbaner Resilienz

ISBN 978-3-86859-641-0

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Michael Ziehl<br />

KOPRODUKTION URBANER RESILIENZ<br />

Das Gängeviertel in Hamburg als Reallabor für eine<br />

zukunftsfähige Stadtentwicklung mittels Kooperation<br />

von Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung


Abbildung 1: Das Gängeviertel in der Hamburger Innenstadt, 2019.


INHALTSVERZEICHNIS<br />

1 Einleitung ................................................................................................... 8<br />

1.1 Aufbau der Arbeit ............................................................................................... 13<br />

2 Die <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> als Teil einer<br />

zukunftsfähigen Stadtentwicklung ........................................................... 16<br />

2.1 Urbane <strong>Resilienz</strong> und nachhaltige Transformation von Städten ....................... 17<br />

2.2 Beiträge von Bürger*innenorganisationen zur <strong>Resilienz</strong> von Städten ..............27<br />

2.2.1 Redunanz und Modularität ............................................................................... 29<br />

2.2.2 Diversität ...........................................................................................................31<br />

2.2.3 Vernetzung ....................................................................................................... 32<br />

2.2.4 Mehrfunktionalität ........................................................................................... 34<br />

2.2.5 Innovation ......................................................................................................... 35<br />

2.2.6 Selbstorganisation ............................................................................................37<br />

2.3 Kooperationen zur <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> im Rahmen<br />

von Governance-Netzwerken ........................................................................... 39<br />

2.3.1 Sechs-Ebenen-Transformation zur Stärkung der<br />

<strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> ....................................................................... 46<br />

2.4 <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> als kooperative Entwicklung<br />

von Stadträumen .............................................................................................. 49<br />

2.4.1 Raumtheoretische Analysegrundlagen ............................................................. 51<br />

3 Transdisziplinäre Realexperimente und das Reallabor Gängeviertel ........ 56<br />

3.1 Reallabore und Realexperimente zum Erforschen <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> ...............57<br />

3.2 Das Gängeviertel als Reallabor ........................................................................ 62<br />

3.2.1 Forschungsdesign ............................................................................................ 64<br />

3.2.2 Erstes Realexperiment: Bausymposium .......................................................... 69<br />

3.2.3 Zweites Realexperiment: Laborbericht .............................................................75<br />

3.3 Reflexion der Realexperimente und künstlerischen Praktiken<br />

im Reallabor Gängeviertel ................................................................................ 82<br />

3.3.1 Aktiver und Forschender – die eigenen Rollen im Reallabor ............................ 86<br />

3.3.2 Beiträge und Potenziale der Forschungsmethode zur<br />

<strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> ....................................................................... 90<br />

4 <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> im Prozess der kooperativen<br />

Entwicklung des Gängeviertels ................................................................ 94<br />

4.1 Vorgeschichte und Hintergrund ....................................................................... 95<br />

4.1.1 Politische und räumliche Entwicklungen in Hamburg<br />

seit den 1980er Jahren .....................................................................................100


4.1.2 Ursachen für die Kooperation zur Sanierung und Entwicklung<br />

des Gängeviertels ............................................................................................104<br />

4.2 Erste Kooperationsphase: vom Rückkauf bis zur Kooperationsvereinbarung...108<br />

4.2.1 Akteur*innen des Governance-Netzwerks .......................................................113<br />

4.2.2 <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> durch die Aneignung des Gängeviertels ...... 120<br />

4.3 Zweite Kooperationsphase: von der Kooperationsvereinbarung<br />

bis zum Planungsstopp ................................................................................... 130<br />

4.3.1 Konflikte im Kooperationsprozess .................................................................. 133<br />

4.3.2 <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> während der Sanierung ................................ 139<br />

4.4 Dritte Kooperationsphase: vom Planungsstopp bis zur Einigung ....................145<br />

4.4.1 Maßnahmen zur Anpassung der Kooperation und Ursachen der Einigung ......151<br />

4.4.2 <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> während des Planungsstopps ...................... 159<br />

4.5 Transformation in Sicht? Zur <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> in Hamburg .... 162<br />

5 Handlungsanregungen zur <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong><br />

durch die kooperative Entwicklung von Stadträumen .............................. 170<br />

5.1 Vertrauen herstellen und bewahren ................................................................ 172<br />

5.2 Entscheidungs- und Handlungsmacht ausgewogen aufteilen ....................... 173<br />

5.3 Besitzrechte langfristig regeln ....................................................................... 174<br />

5.4 Übergeordnete Koordinationsgremien schaffen ............................................. 175<br />

5.5 Führungsstarke Vertreter*innen mandatieren ............................................... 176<br />

5.6 Intermediäre und Expert*innen einbinden ...................................................... 177<br />

5.7 Organisationsstrukturen anpassen ................................................................. 178<br />

5.8 Mit Zeit und Geld Konflikten entgegenwirken ................................................. 179<br />

5.9 Förderungen flexibel gestalten .......................................................................180<br />

5.10 Ehrenamtlich Engagierte finanziell unterstützen ............................................181<br />

5.11 Privilegien demokratisch legitimieren ............................................................ 182<br />

5.12 Netzwerke nutzen und Öffentlichkeit einbeziehen ......................................... 183<br />

5.13 Übergeordnete Ziele definieren .......................................................................184<br />

5.14 Reallabore initiieren und Kooperationsmodelle entwickeln ........................... 186<br />

6 Handlungsanregungen als Beitrag zu einer zukunftsfähigen<br />

Stadtentwicklung .................................................................................... 188<br />

Quellenverzeichnis ..........................................................................................194


1. EINLEITUNG<br />

„Kooperation agierte während der<br />

gesamten Evolutionsgeschichte<br />

als die Architektin der Kreativität, die<br />

immer neue Geschöpfe hervorbrachte,<br />

von Einzellern über mehrzellige<br />

Organismen und Ameisenhügel bis<br />

hin zu den Menschen, die Dörfer<br />

und Städte errichteten.“<br />

(Nowak/Highfield 2013: 15)


Die Entwicklung von Städten wird weltweit zunehmend durch<br />

ökologische, ökonomische und soziale Krisen beeinträchtigt.<br />

Dazu zählen neben den Folgen des Klimawandels auch Folgen<br />

von Finanzkrisen und wachsende soziale Disparitäten. Die Auswirkungen<br />

der jüngsten globalen Krise, die durch das Virus SARS-<br />

CoV-2 ausgelöst wurde, sind bei Veröffentlichung dieses Buches<br />

noch nicht absehbar. Allerdings scheint die Krise eine zentrale<br />

These dieser Publikation zu bestätigen: Für eine nachhaltige<br />

Entwicklung ist eine grundlegende Transformation der Steuerung<br />

sozio-ökologischer Systeme notwendig (vgl. Leopoldina<br />

2020: 4ff.). Das gilt auch in Bezug auf die Stadtentwicklung, wie<br />

ich in diesem Buch zeige. Dabei orientiere ich mich maßgeblich<br />

an Konzepten der Urbanen <strong>Resilienz</strong>, denn diese haben in internationalen<br />

Fachdebatten während der vergangenen Jahre stark<br />

an Bedeutung gewonnen, wenn es darum geht, Städte nachhaltig<br />

zu entwickeln und die Lebensqualität ihrer Bewohner*innen<br />

zu verbessern.<br />

Urbane <strong>Resilienz</strong> bedeutet, einfach ausgedrückt, dass Städte<br />

schnell und ohne allzu große Störungen an innere und äußere<br />

Krisen angepasst werden können. Um dies zu ermöglichen,<br />

sollten urbane Teilsysteme auf lange Sicht so anpassungs- und<br />

transformationsfähig gestaltet werden, dass sie notwendige<br />

Veränderungen weitgehend aus sich selbst heraus bewältigen<br />

können. Dass eine reine Anpassung an Krisen und ihre Folgen<br />

nicht ausreicht, sondern auch grundlegende Transformationen<br />

urbaner Teilsysteme notwendig sind, liegt daran, dass die Art<br />

und Weise, wie Städte heute entwickelt werden, selbst maßgeblich<br />

zu Störungen und Krisen beitragen kann. Insbesondere<br />

das rasante Wachstum vieler Städte zerstört lokale Ökosysteme,<br />

beschleunigt den globalen Klimawandel und verursacht soziale<br />

Verdrängungsprozesse (vgl. WBGU 2016: 73ff., vgl. Kegler<br />

2014: 28ff.). Vor diesem Hintergrund erfordert eine zukunftsfähige<br />

Stadtentwicklung 1 , dass die Herstellung <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong><br />

an nachhaltige Transformationsprozesse gekoppelt wird. Deren<br />

Ziel sollte es sein, dass die Entwicklung von Städten nicht länger<br />

Krisen vorantreibt, die eine nachhaltige Entwicklung stören und<br />

die Lebensqualität von Stadtbewohner*innen beeinträchtigen.<br />

Um dies zu erreichen, sind aus Sicht der <strong>Resilienz</strong>-Forschung<br />

unter anderem neue Akteur*innenkonstellationen notwendig,<br />

sowie neue Formen der Zusammenarbeit und Wissensproduktion<br />

(vgl. Folke 2016: 23, vgl. Beckmann 2013: 13). Aus meiner<br />

1) Ich verwende die Bezeichnung<br />

zukunftsfähige Stadtentwicklung<br />

in Abgrenzung zum Leitbild einer<br />

nachhaltigen Stadtentwicklung,<br />

denn letztere wird in der Regel nicht<br />

damit verbunden, der Abhängigkeit<br />

urbaner Entwicklungen von<br />

wirtschaftlichem Wachstumszwang<br />

entgegenzuwirken. Im Gegenteil<br />

versuchen Politiker*innen<br />

parteiübergreifend Klima- und Umweltschutz<br />

unter dem Schlagwort<br />

„grünes Wachstum“ in wachstumsorientierte<br />

Politikprogramme zu integrieren,<br />

obwohl „der Wachstumszwang<br />

des ökonomischen Systems<br />

(…) als eine der Hauptursachen von<br />

Klimawandel, Umweltzerstörung<br />

und Ressourcenübernutzung gelten<br />

[muss]“ (Loske 2015: 35) (siehe dazu<br />

auch Eckardt/Brokow-Loga 2020).<br />

9


2. DIE KOPRODUKTION<br />

URBANER RESILIENZ<br />

ALS TEIL EINER<br />

ZUKUNFTSFÄHIGEN<br />

STADTENTWICKLUNG<br />

„Wenn die Veränderungsbereitschaft einer<br />

Stadt oder Region gering ist und das System<br />

inflexibel, kann die Krise ein Treiber auch<br />

für drastische Veränderungen sein, die zuvor<br />

nicht durchsetzbar gewesen wären.“<br />

(Kopatz 2018: 285)


In diesem Kapitel lege ich die konzeptionellen und theoretischen<br />

Grundlagen für die Analyse der Kooperation zur Entwicklung des<br />

Gängeviertels und zur Interpretation der Untersuchungsergebnisse<br />

dar. Zunächst erläutere ich anhand von Literatur aus der<br />

<strong>Resilienz</strong>- und Nachhaltigkeitsforschung, inwiefern Urbane <strong>Resilienz</strong><br />

als planerisches und politisches Handlungskonzept geeignet<br />

ist, um aktuellen Krisen im ökologischen, ökonomischen und<br />

sozialen Bereich zu begegnen. Ergänzt um wachstumskritische<br />

Texte vor allem aus der Humangeografie und Politikwissenschaft<br />

leite ich eine Definition von zukunftsfähiger Stadtentwicklung ab,<br />

die mir im Weiteren als argumentativer Bezugsrahmen dient. Im<br />

nächsten Teil des Kapitels führe ich aus, wie Bürger*innenorganisationen<br />

zur Urbanen <strong>Resilienz</strong> beitragen können und auf welchen<br />

gesellschaftlichen Ebenen meines Erachtens eine Transformation<br />

notwendig ist, um <strong>Resilienz</strong>-Beiträge von Bürger*innen<br />

angesichts aktueller Krisen im ökologischen, ökonomischen und<br />

sozialen Bereich angemessen in die Stadtentwicklungspraxis öffentlicher<br />

und zivilgesellschaftlicher Akteur*innen zu integrieren.<br />

Dafür erweitere ich das Literaturspektrum dieser Arbeit um Texte<br />

zu Governance und Planung. Am Ende des Kapitels erläutere ich<br />

die theoretischen Grundlagen, mit denen ich im weiteren Verlauf<br />

für den Fall des Gängeviertels darstelle, wie die Handlungsrationalitäten<br />

der Beteiligten und die Machtbeziehungen zwischen<br />

ihnen die <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> als sozialen und physisch-materiellen<br />

Prozess beeinflussen.<br />

2.1 URBANE RESILIENZ UND<br />

NACHHALTIGE TRANSFORMATION<br />

VON STÄDTEN<br />

Seit den 2000er Jahren gewinnt <strong>Resilienz</strong> als Begriff in vielen wissenschaftlichen<br />

Disziplinen stark an Bedeutung, wie unzählige<br />

Publikationen zeigen. Der ursprünglich aus der Psychologie stammende<br />

Begriff ist heute in den Natur- und Sozialwissenschaften<br />

vor allem im englischen Sprachraum weitverbreitet. Einen frühen<br />

Anstoß zu seiner Popularität hat der Ökologe Crawford S. Holling<br />

gegeben, indem er den <strong>Resilienz</strong>-Begriff auf Ökosysteme anwen-<br />

17


Entwicklung auf lokaler und globaler Maßstabsebene. Um eine<br />

solche Entwicklung zu ermöglichen, ist eine nachhaltige Transformation<br />

wachstumsorientierter Stadtentwicklung notwendig –<br />

einschließlich der Planungs- und Steuerungsstrukturen öffentlicher<br />

Akteur*innen (vgl. McPhearson et al. 2017: 33ff., vgl. Kegler<br />

2014: 59f.) (siehe Abbildung 3). Eine solche nachhaltige Transformation<br />

bedeutet einen tief gehenden Wandel urbaner Systeme<br />

und der Art und Weise, wie Städte derzeit entwickelt werden (vgl.<br />

Opielka 2017: 72f., vgl. McCormick et al. 2013: 4). Das schließt aus<br />

meiner Sicht mit ein, dass Politiker*innen und Planer*innen unabhängiger<br />

von renditeorientierten Unternehmen und dem Kapital<br />

von Investor*innen agieren können. Öffentliche Akteur*innen sind<br />

dafür auf eine deutlich engere Zusammenarbeit mit Bürger*innen<br />

angewiesen, als es derzeit üblich ist. Denn durch Kooperationen<br />

von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen können<br />

Städte unabhängiger von privatwirtschaftlichen Unternehmen<br />

und dem Kapital von Investor*innen entwickelt werden, wenn es<br />

gelingt, die Beiträge von Bürger*innen zur <strong>Resilienz</strong> und Nachhaltigkeit<br />

von Städten zu stärken (vgl. Loske 2015: 30f.).<br />

Wie Kooperationen zwischen öffentlichen und zivilgesellschaftlichen<br />

Akteur*innen gestaltet sein sollten, damit sie gemeinsam<br />

die <strong>Resilienz</strong> von Städten erhöhen können, steht im<br />

Mittelpunkt dieser Arbeit. Um diese Frage mit Aspekten der Nachhaltigkeit,<br />

der Wachstumsorientierung und des Gemeinwohls in<br />

der Stadtentwicklung zu kontextualisieren, nutze ich das zuvor<br />

dargestellte Verständnis einer zukunftsfähigen Stadtentwicklung<br />

als Bezugsrahmen. Den darin enthaltenen Implikationen für die<br />

WACHSTUMS-<br />

ORIENTIERTE<br />

STADTENTWICKLUNG<br />

NACHHALTIGE<br />

TRANSFORMATION<br />

KOPRODUKTION<br />

URBANER RESILIENZ<br />

ZUKUNFTSFÄHIGE<br />

STADTENTWICKLUNG<br />

NACHHALTIGE<br />

ENTWICKLUNG<br />

KOPRODUKTION<br />

URBANER RESILIENZ<br />

Abbildung 3: Schematische Darstellung einer nachhaltigen Transformation als Voraussetzung für eine<br />

nachhaltige Entwicklung bei fortlaufender <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong>.<br />

26


Stadtplanung und Stadtentwicklungspolitik gehe ich allerdings<br />

nicht umfassend nach, denn die Beziehungen zwischen den Einzelaspekten<br />

Nachhaltigkeit, <strong>Resilienz</strong>, Gemeinwohlorientierung,<br />

Wachstumsüberwindung, Stadtplanung und -entwicklung sind<br />

zu vielfältig und zu komplex, um sie im Rahmen dieser Arbeit in<br />

vollem Umfang zu behandeln. Stattdessen habe ich die Fragestellung<br />

auf die <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> durch öffentliche<br />

und zivilgesellschaftliche Akteur*innen eingegrenzt. Bevor ich in<br />

Kapitel 2.3 genauer erläutere, was ich unter der <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong><br />

<strong>Resilienz</strong> verstehe, zeige ich zunächst auf, wie zivilgesellschaftliche<br />

Akteur*innen zur Urbanen <strong>Resilienz</strong> beitragen können.<br />

Dabei nehme ich vor allem Bürger*innenorganisationen in den<br />

Blick, denn sie eignen sich aufgrund ihres Organisationsgrades<br />

im Vergleich zu losen Gruppen und Initiativen eher als strategische<br />

Partnerinnen für Politik und Verwaltung, um zusammen eine<br />

zukunftsfähige Stadtentwicklung umzusetzen.<br />

2.2 BEITRÄGE VON<br />

BÜRGER*INNENORGANISATIONEN<br />

ZUR RESILIENZ VON STÄDTEN<br />

In den vergangenen Jahren sind in der westlichen Welt viele Bürger*innenorganisationen<br />

entstanden, deren Mitglieder durch ihre<br />

Tätigkeiten eine nachhaltige Transformation von Städten unterstützen<br />

und sie resilienter machen, indem sie die Anpassungsfähigkeit<br />

urbaner Teilsysteme an soziale, ökonomische und ökologische<br />

Krisen erhöhen (vgl. Frantzeskaki et al. 2016a: IV). Unter<br />

Bürger*innenorganisationen verstehe ich Organisationen, die von<br />

Stadtbewohner*innen gegründet wurden, um aktiv an der Entwicklung<br />

von Städten mitwirken zu können – oder genauer: um<br />

ihre Teilhabe an der Entwicklung von Städten selbst zu organisieren<br />

und Teilhaberechte einzufordern, wenn es dafür notwendig<br />

ist. Bürger*innenorganisationen im Bereich der Stadtentwicklung<br />

können etwa Wohngruppen, Sozialunternehmen, Kultur- und<br />

Bildungseinrichtungen, kleine Genossenschaften oder Urban-<br />

Gardening-Vereine sein. Ihre Organisationsformen und Tätigkeitsbereiche<br />

sind vielfältig und überlappen sich mitunter. Auch die<br />

27


20) Viele Sozialwissenschaftler*innen<br />

kritisieren am <strong>Resilienz</strong>-Begriff,<br />

dass er aufgrund der positiven<br />

Konnotation gemeinschaftlicher<br />

Selbstorganisation von Politiker*innen<br />

genutzt wird, um im Zuge<br />

neoliberaler Politikprogramme den<br />

Rückzug des Staates aus sozialen<br />

Dienstleistungen zu rechtfertigen.<br />

Dabei wird der <strong>Resilienz</strong>-Begriff<br />

vielfach herangezogen, um die<br />

Verantwortung zur Bewältigung von<br />

Krisen und ihren Folgen verbal auf<br />

Bürger*innen zu übertragen, da<br />

diese in der Lage seien, sich selbst<br />

zu helfen (vgl. Pratt 2015: 62, vgl.<br />

Davoudi 2012: 305). Gleichzeitig wird<br />

der Begriff von Wissenschaftler*innen<br />

und Aktivist*innen auf selbstorganisierte<br />

Gruppen angewendet, die<br />

sich gegen neoliberale Politikprogramme<br />

einsetzen, weil sie aus<br />

ihrer Sicht einer sozial gerechteren<br />

Gesellschaft entgegenstehen (vgl.<br />

Kagan 2016, vgl. Petrescu et al.<br />

2016, vgl. Exner 2013: o.S., vgl. Hopkins<br />

2011: 15). Daran zeigt sich die<br />

Unbestimmtheit des <strong>Resilienz</strong>-Begriffs<br />

in öffentlichen und fachlichen<br />

Diskursen über soziale Sicherungssysteme<br />

und die Selbstorganisation<br />

von Bürger*innen.<br />

21) Commons sind Formen der<br />

selbstorganisierten und gemeinschaftlichen<br />

Produktion, Nutzung<br />

und Verteilung von Ressourcen,<br />

wobei keine marktwirtschaftlichen<br />

und staatlichen Regulierungsmechanismen<br />

angewendet werden. „In<br />

ihrer emanzipatorischen Idealform<br />

verwirklichen Commons die Überwindung<br />

von Privateigentum, Knappheit,<br />

Lohnarbeit, Wettbewerb und Markt.“<br />

(Exner/Kratzwald 2012: 23)<br />

Finanzkrise ab 2007 (vgl. Kopatz 2018: 331, vgl. Vaiou/Kalandides<br />

2016: 63ff.). 20 Aber nicht nur bei akuten Störungen oder in Krisenzeiten<br />

kann die Selbstorganisation von Bürger*innen die <strong>Resilienz</strong><br />

in einer Stadt erhöhen. Indem sie sich im Alltag selbst organisieren,<br />

schaffen Bürger*innen Alternativen zu staatlichen und<br />

privatwirtschaftlichen Organisationsstrukturen und können auf<br />

dieser Grundlage ihre Selbstversorgung mit Gütern und Leistungen<br />

weitgehend frei vom Markt und von staatlichen Institutionen<br />

selbst regeln, etwa in Form von Commons 21 oder einer solidarischen<br />

Ökonomie (vgl. Exner/Kratzwald 2012: 23ff.). Zum Beispiel<br />

erzeugen selbstorganisierte Wohnprojekte in vielen Städten neuen<br />

Wohnraum, den sie gemeinsam verwalten. Dabei schaffen<br />

sie gemeinschaftliche Wohnformen, die sich vom bestehenden<br />

Wohnraumangebot unterscheiden, und erhöhen so die Diversität<br />

der Wohnraumversorgung in einer Stadt. Außerdem können sie zu<br />

einer nachhaltigen Transformation von Städten beitragen, etwa<br />

indem sie mit nachhaltigen Bauweisen experimentieren, Ressourcen<br />

einsparen und den Flächenverbrauch reduzieren, wenn<br />

sie Räume gemeinschaftlich nutzen (vgl. Görgen 2018: 131f., vgl.<br />

Id22 2012: 16). Auch im Gängeviertel haben sich die Nutzer*innen<br />

selbst organisiert. Die Aktiven betreiben das Gängeviertel weitgehend<br />

gemeinschaftlich, arbeiten größtenteils ehrenamtlich und<br />

organisieren sich in offenen und basisdemokratischen Strukturen<br />

(Verein, Genossenschaft, Vollversammlungen etc.).<br />

Des Weiteren ist die Selbstorganisation von Governance-Netzwerken<br />

ein relevanter Faktor, damit urbane Teilsysteme anpassungsfähig<br />

sind, wie ich im folgenden Kapitel ausführe. Darin erläutere<br />

ich, inwiefern die vielfältigen Beiträge von Bürger*innen<br />

zur Urbanen <strong>Resilienz</strong> und zu einer nachhaltigen Transformation<br />

von Städten durch Kooperationen von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen<br />

Akteur*innen im Rahmen von Governance-Netzwerken<br />

gestärkt werden können. Dabei ziehe ich theoretische<br />

und praxisbezogene Texte zu <strong>Resilienz</strong>, Governance, Planung und<br />

Stadtentwicklungspolitik heran, um mit Blick auf eine zukunftsfähige<br />

Stadtentwicklung auch auf Chancen und Probleme solcher<br />

Netzwerke einzugehen.<br />

38


2.3 KOOPERATIONEN ZUR<br />

KOPRODUKTION URBANER<br />

RESILIENZ IM RAHMEN VON<br />

GOVERNANCE-NETZWERKEN<br />

Meines Erachtens erfordert eine zukunftsfähige Stadtentwicklung,<br />

dass die Beiträge von Bürger*innen zur Urbanen <strong>Resilienz</strong><br />

und zu einer nachhaltigen Transformation von Städten, wie sie<br />

im vorherigen Kapitel exemplarisch dargestellt wurden, gestärkt<br />

werden. Demnach müssen Politikbetrieb und Verwaltungsapparate<br />

die Handlungsfähigkeit und Eigeninitiative von Bürger*innen<br />

fördern, damit diese Ressourcen und soziales Kapital besser in<br />

die Stadtentwicklung einbringen können (vgl. Hahne 2018: 50,<br />

vgl. Petrescu et al. 2016: 720, vgl. Bovaird/Loeffler 2016: 160ff.).<br />

Zentral ist dabei aus meiner Sicht die <strong>Koproduktion</strong> von Räumen<br />

und Produkten (einschließlich materieller Güter und nicht materieller<br />

Leistungen) durch öffentliche und zivilgesellschaftliche<br />

Akteur*innen. Der Begriff <strong>Koproduktion</strong> wurde maßgeblich von<br />

der Wirtschaftswissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor<br />

Ostrom geprägt. Er steht für Prozesse, in deren Verlauf Güter und<br />

Leistungen durch Beiträge von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen<br />

Akteur*innen unterschiedlicher Organisationen hergestellt<br />

werden. Dieses Zusammenwirken erfordert laut Ostrom nicht unbedingt,<br />

dass sich die Beteiligten auf gemeinsame Ziele verständigen<br />

und untereinander abstimmen, es kann auch indirekt und<br />

unkoordiniert erfolgen. In jedem Fall aber bringen die Beteiligten<br />

eigene Ressourcen ein und kontrollieren Teilbereiche des <strong>Koproduktion</strong>sprozesses<br />

weitgehend unabhängig voneinander (vgl.<br />

Ostrom 1996: 1073ff.). Dementsprechend verstehe ich unter der<br />

<strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> ein mehr oder weniger koordiniertes<br />

Zusammenwirken von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen<br />

Akteur*innen, wodurch Räume und Produkte entstehen, die die<br />

<strong>Resilienz</strong> von urbanen Teilsystemen erhöhen und zu einer nachhaltigen<br />

Transformation von Städten beitragen.<br />

Laut Klaus Selle, Planungstheoretiker und Professor für Raumund<br />

Stadtplanung, sind Bürger*innen per se Koproduzent*innen<br />

in der Stadtentwicklung, indem sie Räume in den Städten nutzen,<br />

Güter und Leistungen produzieren und so die Entwicklung<br />

39


50<br />

schaften entwickelt, um Wechselwirkungen von sozialen und<br />

physisch-materiellen Aspekten zu fassen. Einige davon beschäftigen<br />

sich explizit mit urbanen Prozessen und weisen deutliche<br />

Parallelen zum Verständnis von Städten in der <strong>Resilienz</strong>-Theorie<br />

auf, wonach Städte aus anpassungs- und transformationsfähigen<br />

Teilsystemen bestehen, die unter sozialen, ökologischen und<br />

technischen Aspekten zu betrachten sind (vgl. Davoudi 2012: 304).<br />

Solche Raumkonzepte eignen sich meines Erachtens in besonderem<br />

Maße, um Handlungsanregungen für öffentliche und zivilgesellschaftliche<br />

Akteur*innen zur <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong><br />

zu erarbeiten, denn Stadtentwicklung wird maßgeblich über die<br />

Entwicklung von bestimmten Stadträumen organisiert, praktiziert<br />

und imaginiert: Sowohl Bürger*innen wie auch Akteur*innen in<br />

Verwaltung und Politik handeln und planen zumeist in Bezug auf<br />

Quartiere, Entwicklungsgebiete, Innenstädte, Brachflächen etc.<br />

(vgl. Levin-Keitel et al. 2018: 8). Aus dieser Sicht hängt die <strong>Koproduktion</strong><br />

<strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> vor allem von der kooperativen Entwicklung<br />

von Räumen ab, die die <strong>Resilienz</strong> von Städten erhöhen.<br />

Dazu müssen Stadträume entsprechend der <strong>Resilienz</strong>-Merkmale<br />

so entwickelt werden, dass die Redundanz, Modularität, Diversität,<br />

Vernetzung, Mehrfunktionalität, Innovation und Selbstorganisation<br />

der sozio-ökologisch-technischen Teilsysteme von Städten<br />

erhöht werden. Dabei ist zu beachten, dass sich in konkreten<br />

Stadträumen bestimmte Teilsysteme überlagern oder verbinden<br />

können (siehe Abbildung 5). Zum Beispiel wirken in einem Stadtquartier<br />

das Verkehrssystem, der Gebäudebestand, die Energieversorgung<br />

sowie das Wohnungssystem direkt zusammen. Deren<br />

Wechselwirkungen können genutzt werden, um die <strong>Resilienz</strong> einer<br />

Stadt zu erhöhen – etwa indem die Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft<br />

beschließen (Selbstorganisation), ein BHKW zur<br />

Energie- und Wärmeversorgung zu bauen (Modularität), dessen<br />

überschüssiger Strom (Redundanz) zum Aufladen von Elektroautos<br />

angeboten wird – so, wie es seitens der Aktiven für das<br />

Gängeviertel angedacht ist. Abnehmer*in könnte im Fall des Gängeviertels<br />

neben den Aktiven selbst unter anderem ein benachbartes<br />

Schnellrestaurant sein, das mehrere Elektrofahrzeuge zur<br />

Essensauslieferung betreibt. Die Stadtverwaltung müsste die entsprechenden<br />

Genehmigungen erteilen sowie geeignete Stellplätze<br />

einrichten, wo Elektroautos aufgeladen werden können.


STADTRAUM<br />

SOZIO-ÖKOLOGISCH-<br />

TECHNISCHE TEILSYSTEME<br />

ÜBERLAGERUNGSPUNKTE<br />

VON SETS<br />

Abbildung 5: Schematische Darstellung von sozio-ökologisch-technischen Teilsystemen im Stadtraum.<br />

2.4.1 RAUMTHEORETISCHE<br />

ANALYSEGRUNDLAGEN<br />

Angesichts der multiplen Krise und ihrer Folgen im ökologischen,<br />

ökonomischen und sozialen Bereich eignen sich meines Erachtens<br />

vor allem Raumkonzeptionen des historisch-geografischen Materialismus<br />

als theoretische Grundlage, um Handlungsanregungen zur<br />

<strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> im Rahmen einer zukunftsfähigen<br />

Stadtentwicklung zu erarbeiten. Vertreter*innen des historisch-geografischen<br />

Materialismus widmen sich insbesondere der Analyse urbaner<br />

Entwicklungen im Kapitalismus und der damit verbundenen<br />

51


3. TRANSDISZIPLINÄRE<br />

REALEXPERIMENTE<br />

UND DAS REALLABOR<br />

GÄNGEVIERTEL<br />

„Verändern werden sich unsere<br />

Gesellschaften vor dem Hintergrund<br />

ihres nicht-nachhaltigen Stoffwechsels<br />

mit der außermenschlichen Natur<br />

auf jeden Fall; die Frage ist nur,<br />

ob by design or by disaster.“<br />

(Sommer/Welzer 2014: 26)


In diesem Kapitel beschreibe und reflektiere ich das transdisziplinäre<br />

Forschungsdesign meiner Arbeit. Ich zeige auf, wie ich das<br />

Gängeviertel als Reallabor genutzt habe und welches Wissen ich<br />

dadurch gewinnen konnte. Dabei gehe ich auch darauf ein, inwiefern<br />

ich im Rahmen des Reallabors zur Anpassung der Kooperation<br />

an Konflikte bei der Zusammenarbeit beitragen konnte. Weil<br />

es sich bei Reallaboren um eine recht junge Forschungsmethode<br />

handelt, erläutere ich sie eingangs anhand von Fachliteratur<br />

zu transformativer und experimenteller Forschung in Bezug zur<br />

<strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong>. Besonderes Augenmerk liegt auf<br />

den von mir umgesetzten transdisziplinären Realexperimenten<br />

einschließlich der dabei angewendeten künstlerischen Praktiken,<br />

denn diese sind von besonderer Bedeutung für das Forschungsdesign.<br />

Außerdem reflektiere ich meine Rollen als Forschender<br />

und Aktiver des Gängeviertels. Abschließend diskutiere ich, welche<br />

Beiträge durch meine Arbeit im Reallabor Gängeviertel zur<br />

<strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> geleistet werden konnten und<br />

welche Potenziale die Methode meines Erachtens dafür über den<br />

konkreten Fall des Gängeviertels hinaus bietet.<br />

3.1 REALLABORE UND<br />

REALEXPERIMENTE ZUM<br />

ERFORSCHEN URBANER RESILIENZ<br />

Wie Kooperationen zwischen zivilgesellschaftlichen und öffentlichen<br />

Akteur*innen in der Stadtentwicklung gestaltet werden<br />

müssen, um ihre Potenziale zur <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong><br />

zu nutzen, ist derzeit noch eine Forschungslücke (vgl. Petrescu<br />

et al. 2016: 719). Zwar rücken soziale Aspekte und deren Einfluss<br />

auf das Handeln von Akteur*innen in der Stadtentwicklung zunehmend<br />

in den Fokus der Stadtforschung. Bei solchen Untersuchungen<br />

interessiert die Forschenden allerdings eher die Frage,<br />

welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Planungsund<br />

Governance-Prozessen zu Konflikten führen, etwa im Fall von<br />

des Protests gegen das Projekt „Stuttgart 21“ oder der „Recht auf<br />

Stadt“-Initiativen in Hamburg – wozu auch das Gängeviertel zählt<br />

(vgl. Othengrafen/Sondermann 2015: 7ff.). Wenig erforscht sind<br />

57


31) Bereits vor dem Workshop<br />

fand eine Online-Befragung der<br />

Teilnehmenden statt. Moderiert<br />

wurde der Workshop von Christoph<br />

Hinske. Unter seiner Anleitung<br />

wurde gemeinsam ein Behavior<br />

over Time Graph (BoTG) erstellt.<br />

BoTGs dienen zur Darstellung<br />

von langfristigen Veränderungen<br />

und einzelnen Ereignissen mit<br />

Einfluss auf die Entwicklung eines<br />

sozialen Systems. Dabei sollen die<br />

Beteiligten erkennen, inwiefern<br />

ihre Handlungen in Bezug auf das<br />

Erreichen eines gemeinsamen<br />

Ziels voneinander abhängen (vgl.<br />

Spann/Ritchie-Dunham 2008). Die<br />

Ergebnisse der Befragung und des<br />

Workshops wurden vom Moderator<br />

ausgewertet und sind in meine<br />

Analyse des Kooperationsprozesses<br />

mit eingeflossen.<br />

bleme und Potenziale in Bezug auf die Sanierungsmaßnahmen<br />

und die Bausubstanz informiert (siehe Abbildung 9). In der bereits<br />

sanierten Fabrique fand ein moderierter Workshop statt, bei dem<br />

die Teilnehmenden den bisherigen Kooperations- und Sanierungsverlauf<br />

sowie mögliche zukünftige Entwicklungen gemeinsam<br />

reflektierten („Werkstatt für gemeinsame Zukünfte“) (siehe<br />

Abbildung 10). 31 Zuletzt fand im selben Gebäude eine öffentliche<br />

Veranstaltung mit Vorträgen und einer Podiumsdiskussion statt<br />

(siehe Abbildung 11). Eine ausführlichere Prozessbeschreibung<br />

des Bausymposiums, der Workshop-Methode und ihrer Ergebnisse<br />

findet sich im anschließend veröffentlichten „Laborbericht“<br />

(siehe Kapitel 3.2.3).<br />

Die drei Teile des Bausymposiums waren „inszeniert“ (Seel<br />

2011: 353ff.) mit der Absicht, dass die Teilnehmer*innen einen<br />

unmittelbaren Eindruck von den Selbstverwaltungspraktiken der<br />

Nutzer*innen des Gängeviertels, der Ästhetik des Ortes und seiner<br />

Geschichte bekommen. Des Weiteren sollte die Empathie der<br />

Teilnehmenden und ihr Bezug zum Gängeviertel gefördert werden,<br />

um unterschiedliche Wertvorstellungen, die sie daran knüpfen,<br />

verhandeln zu können. So sollten gemeinsame Ziele für die<br />

Abbildung 9: Rundgang im Rahmen des vierten Gängeviertel-Bausymposiums, 2016.<br />

70


Abbildung 10: „Werkstatt für gemeinsame Zukünfte“ im Seminarraum des Gängeviertels, 2016.<br />

Abbildung 11: Podiumsdiskussion zum Bausymposium im MOM Art Space im Gängeviertel, 2016.<br />

71


76<br />

Abbildung 12: Präsentation des Laborberichts in der HafenCity Universität Hamburg, 2017.


77


3.3.2 BEITRÄGE UND POTENZIALE<br />

DER FORSCHUNGSMETHODE<br />

ZUR KOPRODUKTION URBANER<br />

RESILIENZ<br />

Indem ich die beiden Realexperimente durchgeführt und im Rahmen<br />

des Reallabors Zwischenergebnisse meiner Forschung in<br />

den Kooperations- bzw. Verhandlungsprozess eingespeist habe,<br />

wurde die Anpassung des Kooperationsverfahrens unterstützt.<br />

Durch diese Anpassung haben die Beteiligten auf der Verfahrensebene<br />

(2) eine Grundlage geschaffen, um die <strong>Resilienz</strong>-Beiträge<br />

des Gängeviertels zu sichern und auszuweiten. Dazu zählt der von<br />

mir angeregte Koordinierungskreis. Dieser erhöht das Potenzial<br />

des Kooperationsverfahrens zur <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong>,<br />

indem dadurch die Anpassung des Verfahrens an sich verändernde<br />

Rahmenbedingungen und Konflikte dauerhaft erleichtert wird.<br />

Dabei muss festgehalten werden, dass sich mehrere der Beteiligten<br />

während meiner Forschung zwar für Urbane <strong>Resilienz</strong> als<br />

Konzept zur Stadtentwicklung interessierten, es aber keine gemeinsame<br />

Grundlage für ihr Handeln darstellte. Es ging ihnen<br />

nicht darum, Hamburg resilienter zu machen. Dennoch stiegen<br />

aus meiner Sicht durch die Anpassung des Verfahrens die Chancen,<br />

dass es den Beteiligten gelingt, die Sanierung des Gängeviertels<br />

unter Federführung der Stadt Hamburg und der steg als<br />

Sanierungsträgerin bei gleichzeitiger Selbstverwaltung des Gängeviertels<br />

durch die Genossenschaft umzusetzen. Wie ich bereits<br />

dargestellt habe, ist dies aus meiner Sicht zentral, um die <strong>Koproduktion</strong><br />

<strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> durch die Stadt Hamburg und das Gängeviertels<br />

zu verstetigen und zu intensivieren (siehe Kapitel 3.2).<br />

Bei mir selbst hat im Zuge meiner Forschung auf subjektiver<br />

Ebene (1) ein Bewusstseinswandel stattgefunden, in dessen Folge<br />

ich mich von meiner Rolle als Aktivist des Gängeviertels gelöst<br />

und verstärkt als Vermittler im Verhandlungsprozess eingebracht<br />

habe. Vor allem aufseiten des Gängeviertels habe ich für<br />

das Fortführen der Kooperation geworben, wenn sie so angepasst<br />

wird, dass die Selbstverwaltung des Gängeviertels durch die Genossenschaft<br />

langfristig gesichert wird. Dementsprechend habe<br />

ich mich während des Forschungszeitraums auf struktureller<br />

Ebene (3) in den Gremien des Gängeviertels für eine Ausrichtung<br />

90


der Genossenschaft eingesetzt, die eine intensivere Kooperation<br />

mit der Stadt Hamburg und die professionelle Selbstverwaltung<br />

der sanierten Gebäude ermöglicht. Zu diesem Zweck wurde ein<br />

Vorstandsmitglied der Genossenschaft fortgebildet und als Prokuristin<br />

angestellt. Des Weiteren wurde eine externe Firma (P<br />

99) mit der Mieter*innenverwaltung und Unterstützung bei der<br />

Buchführung beauftragt. Diese Maßnahmen waren zwar seitens<br />

der Genossenschaft schon vor dem Forschungszeitraum anvisiert<br />

worden, aber sie waren unter den Aktiven des Gängeviertels<br />

umstritten. Kritiker*innen sahen darin eine zu weitgehende<br />

Professionalisierung, wodurch laufende Mehrkosten entstehen,<br />

Wissenshierarchien gebildet und einzelne Personen besser gestellt<br />

würden. Dennoch wurden in den folgenden Jahren auch<br />

in anderen Bereichen bezahlte Stellen geschaffen. Das kann als<br />

eine Anpassung der Strukturen des Gängeviertels verstanden<br />

werden, mit der die Aktiven das Ziel verfolgen, ein höheres Maß<br />

an Verlässlichkeit zu gewährleisten – auch gegenüber der Stadt<br />

Hamburg und der steg. Die Stadt Hamburg dagegen setzte keine<br />

Anpassungen auf struktureller Ebene (3) oder der Gesetzesebene<br />

(4) in Bezug auf die Anforderungen des Gängeviertels um. Allerdings<br />

initiierten Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen<br />

in den Verwaltungen mehrere Ausnahmeregelungen auf politischer<br />

Ebene (5), um das Kooperationsverfahren an die Konflikte<br />

anzupassen und eine Einigung mit dem Gängeviertel zu ermöglichen<br />

(siehe Kapitel 4.4.1). Dementsprechend verstand die Stadt<br />

Hamburg die Kooperation zur Sanierung des Gängeviertels insgesamt<br />

als ein Ausnahmeverfahren und zeigte kein Interesse daran,<br />

es als Grundlage für weitere Kooperationen mit Bürger*innenorganisationen<br />

heranzuziehen. 39 Im Gegenteil fürchtete sie meines<br />

Erachtens, einen Präzedenzfall zu schaffen, auf den sich weitere<br />

Bürger*innenorganisationen beziehen könnten, um dieselben Regelungen<br />

einzufordern. Die Aktiven dagegen verstanden das Gängeviertel<br />

von Beginn an als ein Modellprojekt, um auch anderswo<br />

die Vielfalt von Städten im sozialen und kulturellen Bereich zu fördern<br />

und die Position von Bürger*innen in der Stadtentwicklung zu<br />

stärken (vgl. VG 2010a: o.S.).<br />

Nicht nur in Bezug auf das Gängeviertel liegt ein wesentliches<br />

Potenzial von Reallaboren zur <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong><br />

meines Erachtens darin, dass Ausnahmeregelungen, die von öffentlichen<br />

und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen ausgehandelt<br />

wurden, genutzt werden, um neue Kooperationsverfahren zu<br />

39) Mehrere Vertreter*innen der<br />

Stadt Hamburg wiederholten diese<br />

Aussage mir gegenüber in verschiedenen<br />

Gesprächen. Der damals amtierende<br />

Bürgermeister Olaf Scholz<br />

machte seine ablehnende Haltung<br />

gegenüber dem Gängeviertel auch<br />

öffentlich deutlich (vgl. Scholz in<br />

Iken et al.: 2017).<br />

91


Abbildung 15: Gebäude im Gängeviertel an der Speckstraße mit der sanierten Fabrique (Bildmitte), 2018.<br />

Abbildung 16: Die noch nicht sanierte Schierspassage im Gängeviertel, 2018.<br />

96


Choleraepidemie zum öffentlichen Problem. Der Hamburger Senat<br />

verfolgte daraufhin den allmählichen Abriss der Gängeviertel.<br />

Damit begann eine Entwicklung, in deren Zuge diese Quartiere<br />

über verschiedene Phasen des Stadtumbaus hinweg und durch<br />

Kriegszerstörungen bis Mitte der 1960er Jahre fast vollständig<br />

beseitigt wurden (vgl. Dahms/Rednak 2013: 201ff.). Die noch erhaltenen<br />

Gebäude des heute als Gängeviertel bekannten Ensembles<br />

wurden vom Ende der 1980er Jahre an schrittweise unter<br />

Denkmalschutz gestellt. Parallel dazu suchte die Freie und Hansestadt<br />

Hamburg (FHH) als Eigentümerin nach einem Weg, um<br />

sie zu sanieren. Zu diesem Zweck entmietete sie die seit dem<br />

Zweiten Weltkrieg stark vernachlässigten Gebäude. Dies führte<br />

zu jahrelangem Leerstand und weitgehendem Verfall, da Bemühungen<br />

zur Sanierung durch die FHH selbst wie auch durch einen<br />

Projektentwickler an Finanzierungsproblemen scheiterten.<br />

Schließlich verkaufte die Stadt Hamburg das Gängeviertel im Jahr<br />

2008 an den meistbietenden Investor im Höchstgebotsverfahren:<br />

das niederländische Unternehmen Hanzevast. Dessen Plan<br />

sah vor, dass für rund 50 Millionen Euro Investitionsvolumen an<br />

selber Stelle Wohnungen, Büros und Gewerbeflächen entstehen<br />

Abbildung 17: Sanierte Gebäude im Gängeviertel an der Caffamacherreihe, 2018.<br />

97


4.2 ERSTE KOOPERATIONSPHASE:<br />

VOM RÜCKKAUF BIS ZUR<br />

KOOPERATIONSVEREINBARUNG<br />

46) Als einheitliche Bezeichnung für<br />

BSW und BSU verwende ich im<br />

Folgenden Stadtentwicklungsbehörde.<br />

Als Einheitliche Bezeichnung<br />

für BKSM und BKM verwende ich im<br />

Folgenden Kulturbehörde.<br />

Nachdem der Kaufvertrag mit Hanzevast Ende 2009 rückabgewickelt<br />

war, übernahm die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt<br />

(BSU, ab Juli 2015 Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen<br />

– BSW) die Verhandlungen mit den Aktiven von der bis dahin<br />

federführenden Behörde für Kultur, Sport und Medien (BKSM, ab<br />

Oktober 2010 Behörde für Kultur und Medien – BKM). 46 Erstere beauftragte<br />

nach Gesprächen mit den Aktiven über die Zukunft des<br />

Gängeviertels die Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft<br />

Hamburg (steg) mit der Entwicklung eines integrierten<br />

Entwicklungskonzepts (IEK). Das Konzept wurde im September<br />

2010 in Zusammenarbeit mit der FHH und den Aktiven fertiggestellt<br />

und bildet seitdem die Grundlage für die Sanierung. Es sieht<br />

vor, dass das Gängeviertel als Sanierungsgebiet nach Baugesetzbuch<br />

(BauGB) festgelegt wird, um Fördermittel des Bundes in Anspruch<br />

zu nehmen. Für ca. 19,4 Millionen Euro sollten die zwölf<br />

Gebäude bis 2019 saniert und rund 7500 Quadratmeter Fläche für<br />

verschiedene Nutzungen hergerichtet werden (siehe Abbildung 21).<br />

Dabei sollten folgende Ziele erreicht werden (BSU 2010: 95ff.):<br />

1. „Erhalt der historischen Bausubstanz“<br />

2. „Schaffung von bezahlbarem Mietwohnraum“<br />

3. „Schaffung von günstigen Gewerbeflächen und gewerblicher<br />

Vielfalt im Viertel“<br />

4. „Schaffung von günstigen Atelier- und Werkstattflächen für<br />

Gängeviertel e.V. und andere“<br />

5. „Durchführung einer effizienten Sanierung“<br />

6. „Schaffung eines Zentrums für Kunst, Kultur und Soziales in<br />

der ‚Fabrik‘ [sic!]“<br />

7. „Übertragung eines Höchstmaßes an Eigenverantwortung und<br />

Autonomie an Gängeviertel e.V. bei der Nutzung der gewerblichen<br />

Flächen“<br />

8. „Gestalterische Aufwertung der vorhandenen Freiflächen und<br />

Erhöhung der Nutzbarkeit“<br />

9. „Ausschöpfung aller Finanzierungsmöglichkeiten“<br />

10. „Erhalt und langfristige Sicherung von preisgünstigen Wohnund<br />

Gewerbeflächen“<br />

108


Obwohl die Aktiven in die Erarbeitung des IEK eingebunden waren<br />

und ihre Anliegen berücksichtigt wurden, blieb es im Gängeviertel<br />

umstritten, weil keine verbindlichen Regelungen zur Beteiligung<br />

im Sanierungsprozess und zur späteren Selbstverwaltung der sanierten<br />

Gebäude festgeschrieben wurden. Beides waren allerdings<br />

zentrale Anliegen der Aktiven. Dadurch wollten sie verhindern,<br />

Valentinskamp<br />

Durchgang<br />

Durchgang<br />

IV<br />

IV IV V<br />

V<br />

V<br />

V<br />

III<br />

V<br />

Caffamacherreihe<br />

I<br />

III<br />

IV<br />

V<br />

IV<br />

IV<br />

ÜBERWIEGEND WOHNEN<br />

ÜBERWIEGEND GEWERBE<br />

GEMEINBEDARF<br />

UMGEBENDE BEBAUUNG<br />

SANIERUNGSGEBIET<br />

GRUNDSTÜCKSGRENZEN IM SANIERUNGSGEBIET<br />

STOCKWERKE DER GEBÄUDE<br />

Abbildung 21: Sanierungsgebiet Gängeviertel (Darstellung nach Bezirk Mitte 2019a).<br />

109


118<br />

ihren Einzelinteressen und Handlungsrationalitäten ressortübergreifend<br />

aushandeln. Das teils widerstreitende Handeln der<br />

Stadt Hamburg zeigte sich zum Beispiel an der Genehmigung<br />

zur Nutzung der unsanierten Gebäude: Während die Stadtentwicklungsbehörde<br />

bemüht war, deren weitgehende Nutzung für<br />

kulturelle Zwecke zu ermöglichen, sperrte die Bauprüfabteilung<br />

des Bezirksamts zwei der Gebäude aufgrund baulicher Mängel<br />

(vgl. Gabriel et al. 2012: 94). Außerdem kostete es Zeit, dass<br />

während der Regierungsbildung die Verwaltung aufgrund der<br />

hierarchischen Strukturen nur eingeschränkt handlungsfähig war.<br />

Seitens des Gängeviertels erforderten vor allem die weitgehend<br />

offenen und selbstorganisierten Strukturen langwierige Entscheidungsprozesse.<br />

Das galt insbesondere während der Anfangszeit<br />

der Kooperation für die VV. Darin versammelten sich Menschen<br />

mit sehr unterschiedlichen Meinungen, ohne dass klare Entscheidungsstrukturen<br />

bestanden. Dies führte vor allem zu Beginn<br />

der Kooperation zu weitgehend ungeregelten Aushandlungsprozessen,<br />

wodurch die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit<br />

der Aktiven gegenüber der Stadt Hamburg vermindert wurde.<br />

Darüber hinaus resultierte die Abstimmung von Beschlüssen der<br />

VV und den offiziell gewählten Vorständen des Vereins und der<br />

Genossenschaft wiederholt in Konflikten. Grund dafür waren vor<br />

allem ungeklärte Verantwortlichkeiten bei der Umsetzung dieser<br />

Beschlüsse, was die Zusammenarbeit innerhalb der Selbstorganisationsstrukturen<br />

erschwerten (vgl. Kowalski/Weiß 2012: 124ff.).<br />

Neben der Stadt Hamburg und dem Gängeviertel tragen im Governance-Netzwerk<br />

mit der steg und dem Architekturbüro auch<br />

privatwirtschaftliche Akteur*innen wichtige Funktionen. Der steg<br />

kommt dabei trotz des separaten Architekturbüros eine Schlüsselfunktion<br />

und zentrale Machtposition im Governance-Netzwerk<br />

zu, weil sie viele entscheidende Aufgaben und Rollen übernimmt<br />

(treuhändische Eigentümerin, Bauherrin, Verwaltung der Gebäude<br />

und Grundstücke, Abrechnung der Kosten). Mit Blick auf die<br />

Interdependenzen im Governance-Netzwerk wird allerdings deutlich,<br />

dass die vorrangige Machtposition von der Stadt Hamburg<br />

eingenommen wird. Sie beauftragt die steg, verfügt letztendlich<br />

über das Eigentum am Gängeviertel, finanziert die Sanierung, erteilt<br />

die Baugenehmigungen und gestaltet die Rahmenbedingungen<br />

auf Landesebene, etwa zur Vergabe von Fördermitteln. Zwar<br />

sind diese Aufgaben und Funktionen auf mehrere Behörden verteilt,<br />

insgesamt bilden die beteiligten Behörden in Form der Stadt


Hamburg aber eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Deren<br />

Machtposition im Governance-Netzwerk wird durch die Kooperationsvereinbarung<br />

nicht eingegrenzt, obwohl darin vereinbart ist,<br />

dass die Aktiven bei Entscheidungen einbezogen werden und die<br />

Genossenschaft das Gängeviertel langfristig verwalten soll. Die<br />

Vereinbarung sichert den Aktiven aber keinen Rechtsanspruch<br />

zu und kann aufgekündigt werden. Insofern besteht auch keine<br />

Augenhöhe zwischen den Kooperationspartner*innen im Sinne<br />

eines ausgewogenen Machtverhältnisses. Zu dieser Analyse der<br />

Interdependenzen im Governance-Netzwerk passt es, dass laut<br />

einer internen Stellungsnahme der Stadt Hamburg die Umsetzung<br />

der Kooperationsvereinbarung zum Großteil vom „gegenseitigen<br />

Vertrauen“ (FHH 2011: 2) und dem „guten Willen“ (ebd.) der Beteiligten<br />

abhängt.<br />

Bevor ich auf den weiteren Verlauf der Kooperation eingehe,<br />

stelle ich zunächst dar, inwiefern während der ersten Kooperationsphase<br />

Urbane <strong>Resilienz</strong> von den Aktiven und der Stadt Hamburg<br />

koproduziert wurde. Dafür nutze ich – wie auch für die zweite<br />

und dritte Kooperationsphase (siehe Kapitel 4.3.2 und 4.4.2)<br />

– verschiedene stadtplanerische Merkmale für die <strong>Resilienz</strong> von<br />

sozio-ökologisch-technischen Teilsystemen wie Diversität, Vernetzung,<br />

Selbstorganisation etc. (im Folgenden kursiv dargestellt).<br />

Dabei beleuchte ich gemäß meinem Verständnis von einer<br />

zukunftsfähigen Stadtentwicklung auch Nachhaltigkeitsaspekte,<br />

denn Beiträge zur Nachhaltigkeit und zur <strong>Resilienz</strong> von Städten<br />

hängen eng zusammen, wie ich in Kapitel 2 erläutere. Demnach<br />

kann eine nachhaltige Transformation, bei der die derzeit dominierende<br />

Wachstumsorientierung in der Stadtentwicklung überwunden<br />

wird, maßgeblich dazu beitragen, dass Krisen und Störungen<br />

unwahrscheinlicher werden, die derzeit Maßnahmen zur<br />

Erhöhung der <strong>Resilienz</strong> von Städten erforderlich machen. Gleichzeitig<br />

lässt sich durch solche <strong>Resilienz</strong>-Maßnahmen auch eine<br />

nachhaltige Stadtentwicklung vorantreiben, wenn diese dementsprechend<br />

konzipiert und umgesetzt werden (siehe Kapitel 2.1).<br />

Aus Sicht der <strong>Resilienz</strong>-Theorie ist dabei vor allem der ökologische<br />

Bereich relevant, weshalb ich insbesondere darauf eingehe<br />

(vgl. Folke 2016: 1ff.).<br />

119


50) In einem Vermerk vom<br />

02.02.2015 argumentierte das<br />

Referat für Rechtsfragen der<br />

Städtebauförderung in der Stadtentwicklungsbehörde,<br />

dass die<br />

Finanzierung der Sanierung bereits<br />

geregelt sei und daher kein Kapital<br />

der Genossenschaft benötigt werde.<br />

Demnach wäre es im Falle des<br />

Gängeviertels zu einer unzulässigen<br />

Koppelung der Vermietung<br />

öffentlich geförderter Wohnungen<br />

mit anderen von den Mieter*innen<br />

zu erbringenden Leistungen gekommen.<br />

Gemäß dieser Rechtsauslegung<br />

hatten die steg und die<br />

IfB bereits einen Modernisierungsvertrag<br />

über Fördermittel für die<br />

Sanierung des Gebäudes geschlossen,<br />

allerdings ohne die Inhalte mit<br />

dem Gängeviertel abzustimmen.<br />

Der Vertrag wurde als Begründung<br />

angeführt, um die von den Aktiven<br />

geforderte Genossenschaftsbindung<br />

abzulehnen, weshalb diese<br />

sich hintergangen fühlten.<br />

Eigentümerin war die steg zum Vermieten und Verwalten der Wohnungen<br />

berechtigt und hatte sich aufgrund der schleppenden Verhandlungen<br />

über die Selbstverwaltung bereits darauf eingestellt.<br />

Die Unterzeichnung dieser Verträge war unter den Aktiven allerdings<br />

äußerst umstritten, denn zur Finanzierung der Selbstverwaltung<br />

war es für das Gängeviertel zentral, dass die Mieter*innen<br />

auch Mitglieder in der Genossenschaft wurden und zur Bildung<br />

von Eigenkapital beitrugen, indem sie anteilig pro Mietfläche Genossenschaftsanteile<br />

zeichneten (vgl. VG 2015a). Laut dem damaligen<br />

Standpunkt der Stadtentwicklungsbehörde war eine solche<br />

durchaus übliche „Genossenschaftsanbindung“ im speziellen Fall<br />

des Gängeviertels aufgrund von Förderrichtlinien der Stadt Hamburg<br />

rechtlich nicht zulässig. 50 Bereits im Vorfeld waren Versuche<br />

der Aktiven gescheitert, die Behörde durch ein Gespräch mit den<br />

für das Gängeviertel zuständigen Senator*innen zum Einlenken<br />

zu bewegen, da insbesondere die Stadtentwicklungssenatorin<br />

zu einem solchen Gespräch nicht bereit war. Die Aktiven sperrten<br />

daher im Februar 2015 die Baustellen im Gängeviertel, um ein<br />

klärendes Gespräch mit politischen Vertreter*innen zu erwirken.<br />

Abbildung 29: Protest der Aktiven anlässlich der Bauschildenthüllung des ersten Bauabschnitts, 2013.<br />

132


Darin drohten sie, die Kooperation aufzukündigen, und einigten<br />

sich mit der Stadt Hamburg auf einen vorläufigen Planungsstopp.<br />

Dadurch wollten die Kooperationspartner*innen Zeit gewinnen,<br />

um die aus Sicht der Aktiven drängendsten Probleme im Sanierungs-<br />

und Kooperationsprozess zu lösen, bevor die Planungen<br />

für weitere Bauabschnitte begannen. Um ihre Kritik am bisherigen<br />

Sanierungs- und Kooperationsverfahren öffentlichkeitswirksam<br />

zu unterstreichen, traten wenige Tage nach dem vereinbarten<br />

Planungsstopp die drei Vertreter*innen des Gängeviertels vom<br />

Vorstand des Sanierungsbeirats zurück (vgl. San.Beirat GV 2015: 2).<br />

Im Folgenden gehe ich genauer auf die Konflikte in der zweiten<br />

Kooperationsphase ein, denn wie sich aus der chronologischen<br />

Betrachtung ergibt, drohte die Kooperation daran zu scheitern,<br />

wodurch die damit verbundene <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong><br />

erheblich beeinträchtigt worden wäre (siehe Kapitel 4.3.2).<br />

4.3.1 KONFLIKTE IM<br />

KOOPERATIONSPROZESS<br />

Die zweite Kooperationsphase war von Konflikten geprägt, die<br />

sich zwei Problemkomplexen zuordnen lassen: die Sanierungsmaßnahmen<br />

einschließlich der Entscheidungsfindung darüber<br />

und die Selbstverwaltung der Gebäude durch das Gängeviertel<br />

einschließlich der Konditionen dafür. Bezüglich des ersten Problemkomplexes<br />

um die Sanierungsmaßnahmen führten vor allem<br />

Veränderungen der Wohnungsgrundrisse, der Abriss historischer<br />

Bauteile und die an den Gebäuden angebrachte Dämmung zu<br />

Konflikten zwischen der steg, dem beauftragten Architektenbüro<br />

(Plan-R) und dem Gängeviertel (siehe Abbildungen 30 bis<br />

32). In diesem Zusammenhang kam es zu anhaltendem Streit<br />

über Baukosten, bauphysikalische Notwendigkeiten und Fördervorschriften<br />

zur energetischen Sanierung und für den öffentlich<br />

geförderten Wohnungsbau. Die Aktiven forderten wiederholt, dass<br />

Förderrichtlinien von der IfB so angepasst werden, dass sie ihren<br />

Vorstellungen einer denkmalgerechten Sanierung entsprachen,<br />

oder dass nach anderen Fördermöglichkeiten gesucht wird. Dagegen<br />

war der steg vor allem an einem effizienten Einsatz der<br />

vorhandenen Mittel und greifbaren Förderungen zur zügigen<br />

133


Abbildung 30: Gedämmte Gebäuderückseite kurz vor Fertigstellung der<br />

öffentlich geförderten Sanierungsarbeiten, 2015.<br />

Umsetzung der Baumaßnahmen gelegen. Der leitende Architekt<br />

konnte zwar viele Positionen der Aktiven nachvollziehen, zeigte<br />

sich aber angesichts der bestehenden Fördervorschriften und des<br />

Kostenrahmens, in dem er agieren musste, in den meisten Fällen<br />

kompromissbereiter gegenüber der steg. In Bezug auf Maßnahmen<br />

zur energetischen Sanierung befürwortete er von vornherein<br />

die äußere Dämmung von Gebäudeteilen und vertrat damit<br />

eine andere Position als das Gängeviertel (vgl. VG 2013b: 51ff.). Die<br />

134


Abbildung 31: Leer geräumter Wohnraum kurz vor Beginn der Sanierung, 2013.<br />

Abbildung 32: Öffentlich geförderter Wohnraum kurz nach Fertigstellung der Sanierungsarbeiten, 2015.<br />

135


Abbildung 35: Carsten Brosda (Senator für Kultur und Medien), Dorothee Stapelfeldt (Senatorin für<br />

Stadtentwicklung und Wohnen), Christine Ebeling (Pressesprecherin des Gängeviertels) und Till Haupt<br />

(Vorstand Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG) (v.l.n.r.) bei der Pressekonferenz in der Fabrique im<br />

Gängeviertel anlässlich des Senatsbeschlusses zum Erbbaurechtsvertrag, 2019.<br />

55) Dementsprechend beauftragte<br />

die steg im November 2019 das Büro<br />

BWS (Bosse, Westphal, Schäffer). Es<br />

wurde von der Baukommission des<br />

Gängeviertels vorgeschlagen und<br />

von den Kooperationspartner*innen<br />

akzeptiert.<br />

weil die neu ausgehandelten Maßnahmen die ursprünglichen Vereinbarungen<br />

in diesen Dokumenten berührten oder erweiterten<br />

(siehe Kapitel 4.4.1). Im Zuge dieser Abstimmungsprozesse wurde<br />

auch der Planungsstopp einvernehmlich aufgehoben, sodass die<br />

steg in Zusammenarbeit mit dem Gängeviertel mit der Planung<br />

des nächsten Bauabschnittes beginnen konnte. Außerdem einigten<br />

sich das Gängeviertel und die steg in Absprache mit dem Bezirksamt<br />

Hamburg-Mitte darauf, dass ein anderes Architekturbüro<br />

mit der Planung und Leitung des nächsten Sanierungsabschnittes<br />

beauftragt werden sollte. 55 Im Folgenden stelle ich dar, worauf<br />

sich die Kooperationspartner*innen im Wesentlichen verständigten<br />

und welche Faktoren zur Einigung beigetragen haben.<br />

150


4.4.1 MASSNAHMEN ZUR<br />

ANPASSUNG DER KOOPERATION<br />

UND URSACHEN DER EINIGUNG<br />

Die von den Kooperationspartner*innen vereinbarten Maßnahmen<br />

verstehe ich als eine Anpassung des Verfahrens an Konflikte im<br />

Kooperationsprozess und veränderte Rahmenbedingungen, denn<br />

sie haben damit Vereinbarungen über ihre Rechte und Pflichten<br />

in Bezug auf die kooperative Entwicklung aktualisiert (Kooperationsvereinbarung<br />

und IEK) sowie erweitert (Erbbaurechtsvertrag),<br />

um die Kooperation produktiver fortführen zu können. Dafür verständigten<br />

sie sich im Wesentlichen auf folgende Festlegungen<br />

im Erbbaurechtsvertrag (vgl. FHH/GG 2019):<br />

• Die FHH verpflichtet sich, weiterhin für die Kosten zur Sanierung<br />

der noch nicht sanierten Gebäude aufzukommen und<br />

diese von der steg sanieren zu lassen.<br />

• Die Gängeviertel Genossenschaft übernimmt die Grundstücke<br />

und Gebäude des Gängeviertels für 75 Jahre in Erbbaurecht.<br />

Dieses beginnt für die bereits sanierten Gebäude schnellstmöglich<br />

nach dem Vertragsabschluss. Noch zu sanierende<br />

Gebäude kommen nach Abnahme der Baumaßnahmen durch<br />

die steg und die Genossenschaft hinzu. Über eine Verlängerung<br />

des Erbbaurechts sollen bereits nach 35 Jahren erneut<br />

Gespräche geführt werden.<br />

• Der Erbbauzins beträgt 2 Prozent auf den Bodenwert der<br />

Grundstücke von rund 15,2 Millionen Euro laut Verkehrswertgutachten.<br />

Wenn die Genossenschaft alle Grundstücke und<br />

Gebäude übernommen hat, zahlt sie jährlich ca. 303.000 Euro<br />

an die FHH. Sollte sich die finanzielle Situation der Genossenschaft<br />

erheblich verbessern (z.B. durch Spenden oder zusätzliche<br />

Einnahmen), kann der Erbbauzins erhöht werden.<br />

• Die Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG muss für die mit<br />

dem Erbbaurecht verbundenen Steuern, Gebühren, Abgaben,<br />

Entsorgungs- und Versicherungskosten aufkommen. Sie übernimmt<br />

des Weiteren die Verkehrssicherungs- und die Instandhaltungspflicht<br />

unter Achtung der Denkmalschutzauflagen.<br />

Außerdem verpflichtet sie sich, die Gebäude rund 30 Jahre<br />

nach Fertigstellung der Sanierung erneut zu sanieren und dafür<br />

finanziell vorzusorgen.<br />

151


66) Mehrere Vertreter*innen der<br />

Stadt Hamburg trafen diese Aussage<br />

bei verschiedenen Gesprächen,<br />

an denen ich teilgenommen habe.<br />

67) Aktuelle Veröffentlichungen der<br />

FHH zeigen, dass <strong>Resilienz</strong>-Konzepte<br />

bisher nur einen untergeordneten<br />

Bezugspunkt für ihr Handeln<br />

darstellen. Zum Beispiel kommt in<br />

der Mitteilung des Senats an die<br />

Bürgerschaft zur Umsetzung der<br />

Nachhaltigkeitsziele der Vereinten<br />

Nationen in Hamburg (FHH 2017b)<br />

der Begriff <strong>Resilienz</strong> nicht vor,<br />

obwohl er laut der UN dabei insbesondere<br />

im Bereich der Stadtentwicklung<br />

zentral ist. Zwar wird im<br />

Hamburger Klimaplan <strong>Resilienz</strong> als<br />

Konzept zur Anpassung der Stadt<br />

an Folgen des Klimas thematisiert,<br />

die Kooperation mit Bürger*innen<br />

spielt dabei allerdings keine<br />

wesentliche Rolle. Im Fokus stehen<br />

stattdessen Kooperationen mit<br />

privatwirtschaftlichen Akteur*innen<br />

und technische Maßnahmen (vgl.<br />

FHH 2019f, vgl. FHH 2015). Auch<br />

Bürger*innenorgansiationen thematisieren<br />

Urbane <strong>Resilienz</strong> bisher<br />

kaum, wenn es um die Kooperation<br />

mit der Stadt Hamburg geht, obwohl<br />

dies aus meiner Sicht ein zentrales<br />

Argument sein könnte, um mehr<br />

Unterstützung durch die öffentliche<br />

Hand bei der Selbstorganisation von<br />

Bürger*innen einzufordern.<br />

einmalige Ausnahme bleiben soll, da die Kosten und der Arbeitsaufwand<br />

für die öffentliche Hand sehr hoch seien. 66 Aus meiner<br />

Sicht ließe sich der Arbeitsaufwand für weitere Kooperationen allerdings<br />

deutlich reduzieren und deren Kosten ließen sich besser<br />

kalkulieren, wenn die langwierig ausgehandelte Einigung im Falle<br />

des Gängeviertels als Grundlage genutzt wird.<br />

Viele Bürger*innenorganisationen in Hamburg und die genannten<br />

intermediären Organisationen haben während der vergangenen<br />

Jahre zu einer Verschiebung auf diskursiver Ebene (6)<br />

beigetragen, indem sie durch Öffentlichkeitsarbeit auf ihre Beiträge<br />

für die Stadtentwicklung hingewiesen und durch konkrete<br />

Projekte veranschaulicht haben, dass Bürger*innen Stadträume<br />

selbstorganisiert mitgestalten möchten und können. Das gilt insbesondere<br />

für mehrere Gruppen aus dem Hamburger „Recht auf<br />

Stadt“-Netzwerk, wozu auch das Gängeviertel zählt, sowie die von<br />

ihnen organisierten Proteste und Projekte (vgl. Rinn 2016: 257ff.,<br />

vgl. Füllner/Templin 2011: 95f.). Parallel dazu sind mehrere Fachbücher<br />

und -artikel erschienen, die die Selbstorganisation von<br />

Bürger*innen und Kooperationen mit Politik und Verwaltung als<br />

treibende Kraft für eine nachhaltige Stadtentwicklung thematisieren<br />

(vgl. u.a. Ferguson/Make_Shift 2019, Gunßer 2018, Ferguson<br />

2014, Rauterberg 2013a). Auch von mehreren, teilweise führenden<br />

Medien in Deutschland wurde das Thema aufgegriffen (vgl.<br />

u.a. Klöck 2018, Rauterberg 2013b). Ich werte dies als Anzeichen<br />

für eine allmähliche Diskursverschiebung, die dazu führen kann,<br />

dass Bürger*innen, Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen<br />

in den Verwaltungen auch auf subjektiver Ebene (1) der kooperativen<br />

Entwicklung von Stadträumen eine zunehmende Bedeutung<br />

zumessen, um Städte zukunftsfähig zu entwickeln. Im<br />

Zuge dieser Verschiebungen auf den sechs Ebenen kann auch die<br />

<strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> vorangetrieben werden, denn in<br />

vielen Fällen wird <strong>Resilienz</strong> koproduziert, wenn öffentliche und<br />

zivilgesellschaftliche Akteur*innen in der Stadtentwicklung kooperieren<br />

(siehe Kapitel 2.3). Allerdings wird der Zusammenhang<br />

zwischen solchen Kooperationen und <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> bisher<br />

von Bürger*innenorganisationen und der Stadt Hamburg kaum<br />

thematisiert oder strategisch für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung<br />

genutzt. 67<br />

Seitens der Stadt Hamburg ist weiterhin das Leitbild der<br />

„wachsenden Stadt“ dominant. Gemäß der Geschichte Hamburgs<br />

zielen Politik und Planung primär auf „Wachstum und Beschäfti-<br />

166


gung als Grundlage für wirtschaftlichen Wohlstand“ (FHH 2017b: 1).<br />

Eine nachhaltige Transformation in der Stadtentwicklung, die sie<br />

unabhängiger vom wirtschaftlichen Wachstum werden lässt, wird<br />

demnach nicht angestrebt. Das zeigen auch aktuelle Äußerungen<br />

führender Politiker*innen in Hamburg, die sich parteiübergreifend<br />

positiv auf das Wachstum der Stadt beziehen (vgl. Tschentscher<br />

in Drieschner/Widmann 2018, vgl. Kienscherf/Tjarks in Dey/Meyer<br />

2018). Daher finden Instrumente und Konzepte einer nachhaltigen<br />

Stadtentwicklung nur dann Anwendung in der Hamburger Stadtpolitik<br />

und -planung, wenn sie in dieses Leitbild integriert werden<br />

können (vgl. Loske 2015: 32ff., vgl. Bauriedl 2014: 172f.). Die Integration<br />

von Kooperationen mit Bürger*innen in eine wachstumsorientierte<br />

Stadtentwicklung ist allerdings widersinnig, wenn Urbane<br />

<strong>Resilienz</strong> koproduziert werden soll, denn Folgen des Wachstums<br />

laufen in der Regel der <strong>Koproduktion</strong> <strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> zuwider.<br />

Dass zeigt sich am prägnantesten an der auf den Hafen ausgerichteten<br />

Wirtschaftspolitik und der Wohnungsbaupolitik in Hamburg:<br />

Die Hafenwirtschaft gilt immer noch als wichtigster Wirtschaftszweig<br />

und Wachstumsmotor für die Stadt, obwohl sie ihre zentrale<br />

Funktion für den Arbeitsmarkt längst verloren hat (vgl. Breckner<br />

2013: 194). Dennoch lässt der Senat die Elbe vertiefen, damit größere<br />

Containerschiffe in den Hafen einlaufen können. So sollen<br />

der Warenumschlag und das Wachstum der Hafenwirtschaft gefördert<br />

werden. Um die Hinterlandanbindung für den Warentransport<br />

zu verbessern, lässt er des Weiteren neue Straßen und Brücken<br />

für den hafenbedingten Lkw-Verkehr bauen. Damit treibt der<br />

Senat eine Entwicklung voran, die zu Krisen in lokalem und globalem<br />

Maßstab beiträgt. Das gilt in erster Linie für den ökologischen<br />

Bereich, denn durch den Transport von Waren sowie den Ausbau<br />

entsprechender Infrastrukturen für Schiffe und Lkw werden große<br />

Mengen an CO 2<br />

ausgestoßen, fossile Ressourcen verbraucht und<br />

Grünflächen versiegelt. Hinzu kommt, dass durch die Elbvertiefung<br />

das Ökosystem des Flusses beeinträchtigt wird (vgl. BUND<br />

Hamburg et al. 2010: 214ff.). Gleichzeitig wird eine flächensparende<br />

Innenentwicklung der Stadt blockiert, da der Senat große<br />

Flächen für den Hafen und damit verbundene Wirtschaftsbetriebe<br />

vorbehält (vgl. Lieber 2017: 116ff.). Die auf wirtschaftliches Wachstum<br />

fokussierte Politik des Senats trägt außerdem zum Anstieg<br />

der Bevölkerung in Hamburg bei, mit der Folge, dass Wohnraum<br />

zunehmend nachgefragt wird, Mietpreise in vielen Quartieren<br />

steigen und Gentrifizierung in innerstädtischen Quartieren voran-<br />

167


Herausforderungen in der Stadtentwicklung<br />

wie den Folgen von Klimawandel,<br />

Finanzkrisen und demografischem Wandel<br />

begegnen zu können (siehe Kapitel 2.1).<br />

Daher erfordert eine zukunftsfähige Stadtentwicklung,<br />

dass öffentliche und zivilgesellschaftliche<br />

Akteur*innen voneinander<br />

lernen, wie sie produktiv zusammenarbeiten<br />

und Urbane <strong>Resilienz</strong> effizient koproduzieren<br />

können. Die folgenden Handlungsempfehlungen<br />

sollen ihnen dabei in Bezug<br />

auf die kooperative Entwicklung von Stadträumen<br />

helfen.<br />

5.1 VERTRAUEN<br />

HERSTELLEN<br />

UND BEWAHREN<br />

Bei Kooperation von so heterogenen Akteur*innen<br />

wie Bürger*innen, Politiker*innen<br />

und Entscheidungsträger*innen in den<br />

Verwaltungen ist Vertrauen unter ihnen eine<br />

zentrale Voraussetzung, damit sie langfristig<br />

produktiv zusammenarbeiten können,<br />

wie verschiedene Forschungen zeigen<br />

(siehe Kapitel 2.3). Wenn Kooperationspartner*innen<br />

sich vertrauen –, wenn sie also<br />

davon ausgehen, dass ihr Gegenüber nicht<br />

versucht, sie zu übervorteilen – gehen sie<br />

eher Kompromisse ein und können Konflikte<br />

schneller lösen. Bei einer vertrauensvollen<br />

Zusammenarbeit sind sie daher in einer<br />

besseren Ausgangslage, um Kooperationsverfahren<br />

an Konflikte untereinander und<br />

veränderte Rahmenbedingungen anzupassen,<br />

denn dazu kann es erforderlich sein,<br />

dass die Art und Weise der Zusammenarbeit<br />

sowie die verfolgten Ziele zumindest teilweise<br />

neu ausgehandelt werden. Das ist bei<br />

einer höheren Bereitschaft zu Kompromissen<br />

und einvernehmlicher Konfliktlösung<br />

deutlich einfacher. Neben der Anpassung<br />

einzelner Kooperationsverfahren können<br />

sie darüber hinaus auch soziale Innovationen<br />

anstoßen, wenn sie dabei zu neuartigen<br />

Lösungen für Probleme gelangen, die<br />

sich in der Stadtentwicklungspraxis etablieren<br />

(siehe Kapitel 2.2.5).<br />

Was für komplexe Konflikte dagegen<br />

entstehen können, wenn sich Kooperationspartner*innen<br />

nicht ausreichend vertrauen,<br />

hat die Kooperation zur Sanierung<br />

des Gängeviertels gezeigt: Weil sie nicht<br />

in der Lage waren, Probleme in Bezug auf<br />

die Sanierungsmaßnahmen und die Selbstverwaltung<br />

der Aktiven des Gängeviertels<br />

einvernehmlich zu lösen, eskalierten Konflikte<br />

zwischen den Beteiligten. Das führte<br />

zu einem mehr als vier Jahre andauernden<br />

Planungsstopp und bedrohte die von den<br />

Kooperationspartner*innen koproduzierten<br />

Beiträge zur <strong>Resilienz</strong> in Hamburg, da diese<br />

weitgehend von ihrer Zusammenarbeit bei<br />

der Sanierung und Nutzung des Gängeviertels<br />

abhingen (siehe Kapitel 4.3.2). Die Konflikte<br />

und der Planungsstopp konnten erst<br />

überwunden werden, nachdem sie mehrere<br />

Maßnahmen vereinbart hatten, um das<br />

Kooperationsverfahren so anzupassen,<br />

dass die weitere Sanierung und langfristige<br />

Selbstverwaltung gesichert waren (siehe<br />

Kapitel 4.4.1).<br />

Daraus schließe ich, dass Kooperationspartner*innen<br />

solchen Eskalationen und<br />

Blockaden entgegenwirken können, wenn<br />

sie vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen,<br />

sobald Konflikte eine vertrauensvolle<br />

Zusammenarbeit zu belasten drohen. Hilf-<br />

172


eich dabei ist es, wenn sie ihre jeweiligen<br />

Interessen, Handlungsrationalitäten und<br />

Wertvorstellungen in Bezug auf die ursächlichen<br />

Probleme und mögliche Lösungen<br />

offen und ehrlich darlegen. Dadurch können<br />

sie Verständnis füreinander entwickeln<br />

und ein belastbares Vertrauensverhältnis<br />

aufrecht erhalten – oder gegebenenfalls<br />

aufbauen, wie sich aus meinen Realexperimenten<br />

ergeben hat (siehe Kapitel<br />

3.2.2 und 3.2.3). Zentral ist außerdem der<br />

transparente Umgang mit Informationen,<br />

die für die Zusammenarbeit relevant sind.<br />

Diese sollten unter den Kooperationspartner*innen<br />

bereitwillig ausgetauscht<br />

werden, auch wenn es sich um interne Dokumente<br />

einer der beteiligten Organisationen<br />

handelt. Solche vertrauensbildenden Maßnahmen<br />

bieten Kooperationspartner*innen<br />

eine erfolgversprechende Grundlage, um<br />

Interessenskonflikte besser zu bewältigen<br />

und auch unter problematischen und sich<br />

verändernden Rahmenbedingungen kooperativ<br />

zu handeln.<br />

5.2 ENTSCHEIDUNGS-<br />

UND HANDLUNGS-<br />

MACHT AUSGEWOGEN<br />

AUFTEILEN<br />

Wenn Bürger*innen, Politiker*innen und<br />

Entscheidungsträger*innen in der Verwaltung<br />

kooperieren, um Stadträume zu<br />

entwickeln, sind die öffentlichen Akteur*innen<br />

oft in einer mächtigeren Position. Sie<br />

verfügen in der Regel über mehr Entscheidungs-<br />

und Handlungsmacht, denn sie<br />

haben die kommunale Planungshoheit<br />

inne und entscheiden in vielen Fällen auch<br />

über die Bereitstellung von Ressourcen<br />

– etwa in Form von Geld, Gebäuden und<br />

Grundstücken. Aus dieser Position heraus<br />

handeln Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen<br />

in den Verwaltungen<br />

mitunter paternalistisch und beachten die<br />

Belange ihrer Kooperationspartner*innen<br />

nicht in dem Maße, wie diese es einfordern<br />

(siehe Kapitel 2.3). Bürger*innen können<br />

dagegen eher vorübergehend ihre Machtposition<br />

ausbauen, insbesondere durch<br />

öffentlichkeitswirksame Handlungen, die<br />

Politiker*innen unter Druck setzen.<br />

Im Fall des Gängeviertels erreichten die<br />

Aktiven durch die Besetzung und öffentlichkeitswirksame<br />

Aktionen, dass die Stadt<br />

Hamburg das Gängeviertel vom Investor zurückkaufte,<br />

dem sie bereits den weitgehenden<br />

Abriss genehmigt hatte, und dass sie<br />

stattdessen in Kooperation mit den Aktiven<br />

die Gebäude sanieren ließ (siehe Kapitel 4.1).<br />

Jedoch können unausgewogenen Machtverhältnisse<br />

für die kooperative Entwicklung<br />

von Stadträumen langfristig zum Problem<br />

werden, wie sich am Kooperationsprozess<br />

und besonders am Planungsstopp gezeigt<br />

hat (siehe Kapitel 4.4.1). Denn falls Kooperationspartner*innen<br />

in Konfliktsituationen<br />

ihre Machtpositionen nutzen, um Druck<br />

aufzubauen und Zugeständnisse zu erwirken,<br />

schadet das dem gegenseitigen Vertrauen<br />

und damit auch der <strong>Koproduktion</strong><br />

<strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong>, wenn in Folge wie im Fall<br />

des Planungsstopps Maßnahmen blockiert<br />

werden, die zur <strong>Resilienz</strong> einer Stadt beitragen<br />

würden.<br />

Im Gängeviertel gelang es, den Planungsstopp<br />

und damit die Blockade der<br />

operativen Maßnahmen zu beheben, indem<br />

173


6. HANDLUNGS-<br />

ANREGUNGEN ALS<br />

BEITRAG ZU EINER<br />

ZUKUNFTSFÄHIGEN<br />

STADTENTWICKLUNG<br />

„Was Kommunen also brauchen, um<br />

zukunftsfähig zu sein, wäre eine andere,<br />

eine für die Entfaltung der in ihren Bürgern<br />

angelegten Potenziale und der in der Kommune<br />

vorhandenen Möglichkeiten günstigere<br />

Beziehungskultur.”<br />

(Hüther 2013: 9)


Im Folgenden beziehe ich die Handlungsanregungen des fünften<br />

Kapitels auf den argumentativen Bezugsrahmen der vorliegenden<br />

Arbeit: eine zukunftsfähige Stadtentwicklung. Diese setzt meines<br />

Erachtens voraus, dass die Art und Weise, wie Städte üblicherweise<br />

entwickelt werden, nachhaltig transformiert wird. Transformation<br />

steht dabei gemäß der <strong>Resilienz</strong>-Theorie für eine neue<br />

Entwicklungsrichtung, die eingeschlagen wird, weil die heutige<br />

Stadtentwicklung aus ökologischen, ökonomischen und sozialen<br />

Gründen nicht länger vertretbar ist (siehe Kapitel 2.1). Dazu<br />

muss aus meiner Sicht der aktuell dominante Wachstumszwang<br />

in der Stadtentwicklung überwunden werden, weil das rasante<br />

Wachstum vieler Städte Krisen verursacht, die ihrer <strong>Resilienz</strong> zuwiderlaufen.<br />

Dazu zählen die Zerstörung lokaler Ökosysteme, die<br />

Beschleunigung des globalen Klimawandels, Finanzkrisen und<br />

soziale Verdrängungsprozesse. Die von mir erarbeiteten Handlungsanregungen<br />

können für Bürger*innen, Politiker*innen und<br />

Entscheidungsträger*innen in der Verwaltung eine Hilfe sein, um<br />

solchen Krisen durch die kooperative Entwicklung von Stadträumen<br />

entgegenzuwirken und durch produktive Zusammenarbeit<br />

die <strong>Resilienz</strong> ihrer Städte zu stärken. In vielen Fällen tragen Koproduzent*innen<br />

<strong>Urbaner</strong> <strong>Resilienz</strong> dabei auch zu einer nachhaltigen<br />

Transformation bei (siehe Kapitel 2.2). Insofern sind die von<br />

mir vorgeschlagenen Anpassungen ihrer Handlungen, Verfahrensweisen<br />

und Organisationsformen an veränderte Rahmenbedingungen<br />

und Konflikte (siehe Kapitel 5) integraler Bestandteil<br />

einer nachhaltigen Transformation in der Stadtentwicklung.<br />

Mit Blick auf die sechs Ebenen zur strategischen Einbindung der<br />

<strong>Resilienz</strong>-Beiträge von Bürger*innen – Subjekte (1), Verfahren (2),<br />

Strukturen (3), Gesetze (4), Politik (5) und Diskurse (6) (siehe Kapitel<br />

2.3.1) – wird deutlich, dass sich die meisten der von mir erarbeiteten<br />

Handlungsanregungen auf die Verfahrensebene (2) beziehen.<br />

Sie betreffen also die Gestaltung von Kooperationsverfahren<br />

und die Art und Weise, wie Kooperationspartner*innen dabei miteinander<br />

umgehen sollten (siehe Kapitel 5.1 bis 5.6, 5.8 bis 5.10,<br />

5.12 bis 5.14). Eng verbunden ist damit die subjektive Ebene (1),<br />

also die Gefühls- und Gedankenwelt der beteiligten Personen. Das<br />

zeigt sich vor allem an der Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens<br />

sowie der jeweiligen Eigeninteressen, Handlungsrationalitäten<br />

und Wertvorstellungen für effiziente Kooperationsverfahren<br />

(siehe Kapitel 5.1, 5.2, 5.4 bis 5.8, 5.12 bis 5.14). Ohne vertrauensvolle<br />

Nahbeziehungen zwischen Kooperationspartner*innen und<br />

189


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