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NK 10_2019

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20 TITELINTERVIEW ganz

20 TITELINTERVIEW ganz viel wieder geradebiegen kann. Nicht selten braucht man aber auch den Psychiater, denn dieser ist der Einzige, der eventuell benötigte Medikamente verschreiben kann. Und auch, wenn diese mit Vorsicht angewendet werden sollten, ist es doch so, dass diese Medikamente in der Therapie häufig eine wichtige Rolle spielen, da sie dabei unterstützen können, das falsch erlernte Muster einiger Patienten einfacher zu durchbrechen. Aber am Ende ist eigentlich das Zusammenspiel aus Psychiater, Psychologe und Neuropsychologe die Traumvorstellung, die man als Patient haben könnte. In der Realität sieht es leider oft anders aus, da ist unser Gesundheitssystem völlig überhitzt. NK: Als Psychologe beschäftigen © Rene Golz ist eine Melange, die unglaub lich viel Sprengkraft Sie sich intensiv mit der Hirn- forschung. Den Menschen gibt es in sich birgt, weil eben so unpassende Systeme aufeinandertreffen. seit 300.000 Jahren. Wie hat sich in dieser Zeit sein Hirn entwickelt? Leon Windscheid: Die einfache Antwort hierauf ist: überhaupt nicht! Seit 300.000 Jahren wurde in unserem Kopf nicht mehr renoviert. Denn damit sich körperlich oder organseitig, und da gehört das Hirn eben mit dazu, etwas verändert, braucht es viel länger, oft sogar Millionen Jahre, damit sich da irgendetwas umstellt. Das heißt für uns im Alltag, wir laufen heute mit dem gleichen Hirn herum wie schon Ötzi und selbst dessen Vorfahren es taten. Das ist nicht immer ganz einfach, weil diese 300.000 Jahre alte Hardware in unserem Kopf nicht dafür gemacht wurde, in einer schnellen, digitalen und effizienten Welt zu funktionieren. Also die größte Herausforderung, die meiner Meinung nach die Menschheit derzeit beschäftigt, ist, dass wir ein Steinzeithirn haben, von Institutionen geleitet werden, die eher so aus dem Mittelalter stammen und dabei gleichzeitig auf hochentwickelte Technologien treffen. Das NK: Das heutige Tempo lässt immer mehr das Gefühl aufkommen, dass wir uns in einem Hamsterrad befinden, aus dem es kein Entrinnen gibt. Werden die Psychologen künftig noch mehr zu tun haben, damit wir mit diesem Druck fertig werden? Wie kann er bei totaler Überbelastung helfen? Leon Windscheid: Ich bin der festen Überzeugung, dass Psychologie insofern ein sehr sinnvolles Studienfach ist, weil man garantiert in den nächsten Jahrzehnten immer einen Job bekommen wird. Das ist einerseits ein glücklicher Umstand für die Psychologen, andererseits aus gesellschaftlicher Sicht fast schon traurig. Das ist auch eines der Probleme, denn die psychische Belastung für den Einzelnen wird sicherlich auch in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. Heute sind fast doppelt so viele Schüler psychisch krank als noch vor zehn Jahren, das heißt, wir haben in der Schule im Prinzip mehr Burn-out als Pickel. 10.2019 Das ist eine Entwicklung, die mir Sorgen macht. Dieses Mithalten-Wollen ist, glaube ich, eine Krankheit unserer Gesellschaft. Ich habe oft das Gefühl, dass das zum Beispiel auch von den neuen Technologien und vor allem von der Angst vor künstlicher Intelligenz ausgelöst wird. Künstliche Intelligenz ist mittlerweile schon fast so ein nerviges Modewort geworden. Überall hört man es und keiner kann einem so genau sagen, wann es diese geben wird und niemand kann einschätzen, wie intelligent diese Maschinen letzten Endes wirklich sein werden. Ich finde deshalb auch viel spannender, wie wir als Gesellschaft allein auf die Vorstellung reagieren, dass wir von Maschinen überholt werden könnten. Meine Wahrnehmung ist, dass wir uns da sehr unbewusst in so eine Art Wettkampfs-Modus begeben haben. Dieses Aufschaukeln in eine Konkurrenz mit der Maschine, mit etwas, das wir niemals erreichen werden, führt dazu, dass dieses Hamsterrad-Gefühl aufkommt. Man muss immer schneller, man muss immer besser, man muss immer effizienter, immer rationaler sein und dafür wurde unser Hirn nicht gemacht. NK: Mit ein paar bunten Pillen, die uns in die rosarote Wolke schicken, ist es also nicht getan? Leon Windscheid: Nein, auf keinen Fall, es zählt immer die Kombination, wenn Psychopharmaka eingesetzt werden müssen, sage ich zwar „Lieber wenig als zu großzügig.“, dann sollte das immer auch unbedingt in Kombination mit Verhaltenstherapie geschehen. Der Fachausdruck ist kognitive Verhaltenstherapie, also Beispiel erst kopfseitig lernen, wie das wieder zusammenzubringen, was diese Angst entsteht und dass diese Angst unbegründet ist und dann im Kopf stattfindet und das, was wir tun. Das ist die Kunst, auf die es ankommt. Angstpatienten müssen zum umgehen können, um dann ihr vor allem, wie sie mit dieser Angst Ver- VITA Dr. Leon Windscheid Leon Windscheid studierte Psychologie an der Universität Münster und schloss das Studium 2014 mit dem Master ab. Von 2015 bis 2017 promovierte Windscheid an der Universität Witten/Herdecke im Bereich Wirtschaftswissenschaften. Bereits 2007 machte er sich als Eventmanager selbstständig. Große mediale Aufmerksamkeit erreichte Windscheid, als er 2015 als elfter Kandidat bei „Wer wird Millionär?“ den Hauptgewinn von einer Million Euro gewann. Er hatte dazu an drei Folgen der Sendung teilgenommen. Windscheid beschrieb dem Moderator Günther Jauch, wie er sich mit den Methoden der Psychologie auf die Aufregung im Studio vorbereitet habe. In der zweiten Folge gab Windscheid Jauch das Versprechen, mit dem Gewinn ein Schiff zu kaufen, und nach dem Moderator zu benennen. Jauch sagte daraufhin zu, als Pate die Schiffstaufe zu übernehmen. 2016 löste Jauch sein Versprechen ein, seitdem betreibt Windscheid die „MS Günther“ als Event- und Kulturlocation. In seinem ersten Buch „Das Geheimnis der Psyche – Wie man bei Günther Jauch eine Million gewinnt und andere Wege, die Nerven zu behalten“ beschreibt Windscheid alltagspsychologische Phänomene und seine Vorbereitung auf die Fernsehsendung. Windscheid ist erster Botschafter des jungen Mittelstandes des Bundesverband mittelständische Wirtschaft. Als Keynote-Speaker hält er regelmäßig Vorträge über wissenschaftliche und psychologische Themen in Unternehmen, Universitäten und Schulen. Im Herbst 2018 startete Windscheids erstes Bühnenprogramm „Altes Hirn, neue Welt – Psychologie live“. www.kinderneurologiehilfe-muenster.de Bild: © Daniel Witte

TITELINTERVIEW 21 © Rene Golz halten anzupassen. So eine Verhaltenstherapie ist sehr aufwendig und braucht Zeit und auch die Mitarbeit des Patienten, aber dafür ist sie auch mit Abstand die langfristig effektivste Methode. NK: Unsere Wirtschaftswelt zielt auf maximale Perfektion und Effizienz ab. Haben nur solche Köpfe eine Chance, die verstehen, wie sie und die Menschen in ihrem Umfeld denken? Kann man diese Fähigkeit erlernen? Leon Windscheid: Das Urvolk der Luo in Kenia zum Beispiel unterscheidet vier Arten von Intelligenz. Ich fange mal mit der ersten an, da ich glaube, dass wir auf diese einen viel zu großen Fokus legen. Da gibt es eine Art von Intelligenz, da geht es darum effizient zu sein, rational und geradeaus zu denken, keine Fehler zu machen und sehr strukturiert an Probleme ranzugehen. Diese Art von Intelligenz nennen die Luo „Rieko“. Wenn man sich anguckt, wo unser Bildungssystem draufsetzt, ist das eben genau diese Intelligenz. Es geht darum Zahlen, Daten, Fakten auswendig zu können, Informationen abrufen zu können, mit großen Datenmengen umzugehen. Das Problem ist, dass genau diese Art von Intelligenz von Maschinen schon heute besser beherrscht wird, als wir das jemals könnten. Eine Maschine kann ja im Prinzip alles Wissen der Welt abrufen. Das alles ist etwas, das unser Hirn nicht leisten kann und deswegen finde ich es kritisch, dass wir in unserer Gesellschaft völlig übersehen, dass es da noch mehr Arten von Intelligenz gibt. Die Luo haben dafür drei wei- © MTSGmbH tere Wörter und zwar „Luro“, „Winjo“ und „Paro“. Damit beschreiben sie Kompetenzen, wie „Respekt haben“, „sich für andere einsetzen“ und die Bereitschaft zu teilen. Ich glaube, dass diese Arten von Intelligenz bei uns mehr in den Vordergrund rücken müssten. Kinder, die vorbereitet sein sollen auf eine Zukunft 2030, müssen die Arten von Intelligenz beherrschen, die Maschinen niemals nachahmen werden können. Dazu gehört alles Künstlerische, Handwerkliche und auch alles Körperliche. Denn das sind eben Erfahrungen, die die Maschinen nicht nachmachen werden können. Es gibt zwar heute schon Maschinen in Japan, die alte Menschen in Seniorenheimen wickeln können. Aber ein Roboter wird mich niemals darin ersetzen können, meinen Opa zum Abschied auf die Glatze zu küssen. Und genau darum geht es. NK: Die künstliche Intelligenz rast unaufhaltsam auf die Menschen zu. Werden uns die Maschinen überholen und als Erfinder, Ideengeber und Arbeitskräfte irgendwann überflüssig machen? Leon Windscheid: Ich hoffe eher, dass sie zu einer Verschiebung der Werte dessen, was wir mit Arbeit verbinden, führen. Vor allem, wenn wir uns anschauen, welche Jobs wie bezahlt werden, dann sind es vor allem Jobs, die Maschinen niemals übernehmen werden können, die wir sehr lausig bezahlen. Ich hoffe, dass die künstliche Intelligenz in unseren Köpfen vielleicht endlich zu einem Umdenken führt. Wir müssen erkennen, dass diese Berufe, bei denen die Menschlichkeit ganz zentral im Vordergrund steht und in denen die Maschinen uns eben keine Konkurrenz machen werden können, die wertvollsten sind, die wir als Menschen eigentlich haben. NK: Sie sagten neulich in einem Ihrer Unternehmervorträge: „Seit der Antike belohnt unsere Gesellschaft Intelligenz. Wer viel weiß und fehlerfrei denkt, hat die Nase vorn in Schule und Beruf. Doch genau darin werden uns Computer schlagen. Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Mit der Digitalisierung fällt der Startschuss eines neuen Wettrennens um die Krone der Schöpfung: Mensch gegen Maschine. Hirn gegen Computer. Wenn wir dabei nicht den Kürzeren ziehen wollen, müssen wir radikal umdenken“. Wie sieht dieses Umdenken aus? Leon Windscheid: Ein Bereich, der extrem kontrovers diskutiert wird, von dem ich aber glaube, dass er essenziell ist, ist das bedingungslose Grundeinkommen. Wenn man dieses bedingungslose Grundeinkommen in Deutschland diskutiert, gibt es immer zwei Fragen, die direkt gestellt werden: erstens: „Wer soll das bezahlen?“ und zweitens: „Fangen die Leute dann nicht alle an, faul rumzuhängen und nur noch von diesem bedingungslosen Grundeinkommen zu leben?“. Die erste Frage ist längst beantwortet, da gibt es Ökonomen, die ausgerechnet haben, dass wir das mit einer anderen Umgangsweise mit unseren Steuern in den Griff bekommen könnten. Wir müssten anfangen, Dinge zu besteuern, die der Welt tatsächlich schaden und nicht die Dinge, die wir brauchen. Wir könnten das Geld weit fairer eintreiben und dann über ein bedingungsloses Grundeinkommen anders verteilen. Jetzt kann man sich die zweite Frage stellen, ob dies dazu führen wird, dass die Leute nicht mehr arbeiten wollen. Dazu gibt es ganz klare Einsichten, etwa dass Lohn kein wirklicher Motivator dafür ist, dass Leute anfangen zu arbeiten, da geht es den Menschen um ganz andere Dinge. Das sagt sich jetzt so leicht, aber das ist keine Erfindung von mir, sondern die großen Umfragen zeigen, dass die Leute nicht für das Geld morgens aus dem Bett steigen. Klar, der Lohn muss stimmen, wenn es zu wenig ist, wird es haarig. Aber vom Grundsatz her kommt es Leuten bei der Arbeit darauf an, dass sie Struktur gibt, dass sie das Gefühl vermittelt, etwas erreichen oder bewegen zu können und vor allem, dass sie sozialen Zusammenhalt gibt. Und diese drei Eigenschaften kann man auch aus Dingen ziehen, die bisher in unserer Gesellschaft mit Lohn versehen sind. Das ist etwas, wobei uns die Revolution durch denkende Maschinen auch helfen kann. Das ist eine Chance, die wir nur ergreifen müssen, diese Chance war noch nie so groß, wie sie jetzt gerade ist. NK: Wie sich jeder für einen guten Autofahrer hält, dürfte auch die Frage beantwortet werden, ob wir alle noch richtig ticken. Gibt es bestimmte Selbsttests oder Anzeichen anhand jeder im stillen Kämmerlein für sich feststellen kann, wie er tickt und ob alles noch in normalen Bahnen verläuft? Leon Windscheid: Darauf muss ich direkt kritisch zurückfragen: „Was ist normal?“ Für eine Krankenkasse muss zum Beispiel festgelegt werden, ob jemand eine Depression hat, sprich liegt diese Person außerhalb des Normbereichs oder hat er das nicht und liegt damit noch innerhalb dessen, was man als „normal“ bezeichnen würde. So haben die Menschen, glaube ich, viel zu schnell ein Schwarz-Weiß-Verständnis davon, was psychisch krank, was also nicht normal und was normal sein soll. In Wirklichkeit bewegt sich das immer in Graustufen, in Nuancen. Das heißt, die meisten psychischen Störungen kennt jeder Mensch in dem Bereich, der vielleicht kurz vor diesem Grenzwert liegt. Bei vielen ist es auch so, dass man vielleicht schonmal alle Kriterien für eine psychische Störung erfüllt hat und es gar nicht wusste. Man muss mit diesem Begriff „normal“ ganz vorsichtig umgehen. Denn häufig ist Andersartigkeit etwas, das überhaupt nicht schlimm oder gar krank ist, sondern etwas, das sogar ganz großartig sein kann. Sich im stillen Kämmerlein hinzusetzen und zu fragen „Bin ich abnormal? Habe ich eine Störung?“, halte ich für gefährlich, weil man dann sehr schnell in dieses Grübeln reinkommen kann, das oft bei psychischen Störungen der Fall ist. Eventuell verschlimmert sich so etwas, das unter Umständen erstmal gar nichts Schlimmes sein muss. NK: Könnten Sie einen solchen Selbsttest für unsere Leserinnen und Leser zur Verfügung stellen oder Hinweise auf bestimmte Verhaltensweisen geben, die Anzeichen dafür sind, dass wir einen Blick auf unser Hirn und unsere Psyche werfen lassen sollten? Leon Windscheid: Ich empfehle auf alle Fälle vorsichtig zu sein, was solche Selbstdiagnosen angeht. Wenn jemand wirklich Zweifel hat: Profis fragen und nicht versuchen, das mit irgendwelchen Selbstgedankenexperimenten zu lösen. Was aber tatsächlich im ersten Schritt hilfreich sein kann, ist sich im eigenen Umfeld umzuhören. Was sagen die anderen, wie man sich in der letzten Zeit verändert hat und vor allem, halten diese Änderungen, die man spürt, an? Mal ein schlechten Tag oder eine schlechte Woche zu haben, ist völlig normal. NK: Das von Ihnen in diesem Interview vermittelte Wissen, was sich im eigenen Kopf abspielt, stellt für unsere Leserinnen und Leser sicher einen Wert dar, den wir gerne mit einem Spendenaufruf für die von Ihnen unterstützte Aktion „Kindsköpfe“ ausgleichen wollen. Sie engagieren sich für die Kinderneurologie-Hilfe Münster. Der gemeinnützige Verein hat das Ziel, die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen mit erworbenen Hirnschädigungen sowie mit Erkrankungen des zentralen Nervensystems zu verbessern und langfristig zu sichern. Dabei geht es vor allem darum, Defizite bei der Nachsorge von Kindern und Jugendlichen nach erworbenen Hirnschädigungen zu vermeiden. Vielfach beklagen sich die Eltern dieser Kinder und Jugendlichen, dass geeignete und zugängliche Anlaufstellen fehlen oder zumindest nicht bekannt sind. BUCHTIPP: HEY HIRN! Alltagspsychologie unterhaltsam und zum Staunen lehrreich. Verlag: Heyne 288 Seiten · 9,99 Euro ISBN-13: 978-3453604919 Dies gilt für die Abklärung auffallender Spätfolgen eines Unfalls und für die gesamte Integration bzw. Reintegration. Häufig fühlen sich Eltern allein gelassen in der Sorge um ihr Kind und bei der Suche nach passenden Nachsorgeangeboten. Ziel der Kinderneurologie-Hilfe Münster ist der Aufbau einer bundesweit operierenden Stiftung um so flächendeckend zu helfen. Jede auch noch so kleine Spende hilft helfen. Mehr zum Projekt ist hier zu erfahren:

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