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Rotary Magazin 11/2021

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Rotary Magazin 11/2021

THÈME DU MOIS –

THÈME DU MOIS – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – NOVEMBRE 2021 MENSCHEN IM FOKUS «DIESEN SCHALTER KANNST D 24 «Wo sind deine Perspektiven, wo ist deine Lebensqualität geblieben?», fragte sich der damals 20-jährige Heinz Frei im Spitalbett. Irgendeinmal habe er konstatiert, er sei besser beraten, wenn er sein Schicksal akzeptiere, erklärt der «Schweizer Parasportler der letzten 70 Jahre» heute. Sein Beispiel zeigt, wie man Veränderungen als Chancen wahrnehmen kann. «Herr Frei, Sie sind querschnittgelähmt.» Diese Diagnose nach der ersten Untersuchung im Paraplegiker-Zentrum von Dr. Guido Zäch in Basel habe seinen Schockzustand noch vertieft, erinnert sich Heinz Frei. «Ein Lebenstraum ist zerstört, alle Hoffnungen und Sehnsüchte sind auf einen Schlag vernichtet worden.» Der damals 20-jährige Bursche haderte mit seinem Los. Wochen zuvor konnte er seine Lehre als Vermessungszeichner erfolgreich abschliessen. Seine Abende und Wochenenden waren ausgefüllt. Der ambitionierte Ausdauerathlet durfte an den Schweizer Langlauf-Meisterschaften 1978 bei den Junioren starten, wollte auch im Sommer auf mittleren und längeren Laufdistanzen in die Elite vorstossen. Die Reise ans kantonal-bernische J+S-Leichtathletiklager in Tenero absolvierte er mit dem Rennvelo – vom Oberaargau durchs Mittelland, die Innerschweiz, über den Gott­ hard, durch die Leventina. Am 9. Juli 1978 sollte Heinz als Bergläufer das Team des UOV Wiedlisbach an der Stafette am Seelisberg verstärken. An jenem Sonntag wollte er vor dem Start die Laufstrecke besichtigen. Auf einer Alpweide unterhalb von Oberbauen glitt er auf feuchtem Gras aus, rutschte das Bord hinunter und wurde über einen Abhang geschleudert. Blieb liegen, versuchte reflexartig, wieder aufzustehen. «Nichts mehr hat funktioniert, ich spürte meine Beine nicht mehr.» Rasch wurde ihm bewusst, dass da etwas Schlimmes passiert war. «WAS SICH ZWISCHEN DEN OHREN BEFINDET, IST VON EINER QUERSCHNITTLÄH- MUNG NICHT BETROFFEN» «Wo sind deine Perspektiven, deine Lebensqualität geblieben?» Im Spitalbett plagten den Patienten Fragen und Ängste, Heinz Frei ist eine Legende – als Pionier des Rollstuhlsports, Mann mit immenser Willenskraft, Vorbild, Motivator. Er sagt: «Wenn du nichts probierst, hast du schon verloren, erhältst du auch keine Antworten» «es war zum Verzweifeln». Heinz Frei führte einen Kampf gegen sich und seine Gefühle. Das Pflegepersonal versuchte alles, um ihn aufzumuntern: «Heinz, du wirst dieses und jenes wieder unternehmen können.» Erst mit der Zeit entstand wieder Ordnung in seinen Gedanken. Die positive Dynamik verdankte er auch den Besuchen seiner Kameraden aus dem Turnverein. «Ihre Solidarität hat mir geholfen», bekennt Heinz, «und nebst mir hat auch mein Umfeld erfahren, wie man mit meiner neuen Situation umgehen kann.» Doktor Zäch habe ihm und seinen Weggefährten immer wieder gesagt: «Denkt daran, was sich zwischen den Ohren befindet, ist von einer Querschnittlähmung nicht betroffen. Umso mehr gilt es, den Kopf einzusetzen.» Der im Sternzeichen des Wassermanns Geborene blickt zurück: «Irgendeinmal habe ich konstatiert, diesen Schalter kannst du nicht zurückdrehen. Also bin ich besser beraten, wenn ich mein Schicksal akzeptiere und meine Startrampe neu definiere, meine Werte festlege. Sodass ich mir auch nach 50, 60 Jahren im Rollstuhl sagen kann: Heinz, du hattest ein gutes Leben. Ich habe nicht 50 Jahre auf etwas Realitätsfremdes gewartet.» Das wurde seine Philosophie, sein Weg. Heute ist Heinz Frei eine Legende – als Pionier des Rollstuhlsports, Mann mit immenser Willenskraft, Vorbild, Motivator. An Paralympischen Spielen hat er 35 Medaillen gewonnen, fünfzehnmal Gold, neunmal Silber, elfmal Bronze. Als 63-Jähriger verblüffte er am 1. September 2021 in Tokio die Sportwelt durch seinen zweiten Rang im Handbike-Strassenrennen. Vierzehnmal wurde er Weltmeister. 112 Marathonsiege, davon 20 in Berlin, zieren sein Palmarès. Noch immer hält er den Weltrekord über die Distanz von 42.2 Kilometern, den er 1999 in Oita in einer Zeit von 1:20:14 herausgefahren hat. Seither wird er in der japanischen Industriestadt als Ehrenbürger willkommen geheissen. Heinz Frei wurde zehnmal als «Schweizer Parasportler des Jahres» ausgezeichnet, im De­

THÈME DU MOIS – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – NOVEMBRE 2021 U NICHT ZURÜCKDREHEN» zember 2020 sogar als «Schweizer Parasportler der letzten 70 Jahre». «DER ROLLSTUHL, DAS IST MEINE INKLUSION.» Zurück zu den Anfängen. «Ja, zuerst musste ich den Rollstuhl als Schreckgespenst eliminieren. Der Rollstuhl, das ist meine Inklusion.» Während der Rehabilitation habe man ihn aufgefordert, etwas zu tun. Tischtennis spielen, Bogenschiessen. Auch mal einen Muskelkater spüren. «Ich habe gesehen, wie locker sich Mitpatienten im Rollstuhl bewegt haben. Ihre Beispiele haben mir Mut gemacht.» 1980 trat Heinz in den Rollstuhl-Club Kriens ein. Er machte Bekanntschaft mit einem Kollegen, der begonnen hatte, Langlaufschlitten und Rennstühle zu entwickeln. Er habe ihm anerboten, als Konstrukteur mitzuarbeiten. Gemeinsam habe man Organisatoren gefragt, ob man an ihren Wettkämpfen teilnehmen dürfe. «Die damalige Schweizer Rollstuhlsportszene habe ich schnell eingeholt und überholt, vielleicht, weil ich etwas mehr trainiert habe als andere.» 1980 erhielt Heinz Frei die Gelegenheit, am Eishockey-Canada-Cup als Zuschauer dabei zu sein. Aus dem Hotelfenster sah er, wie am Montreal-Marathon auch Renn-Rollstuhlfahrer beteiligt waren. Er sagte sich: «Das ist mein Ding. Ich gehe nach Hause, intensiviere mein Training.» 1987 kehrte er nach Montreal zurück und liess die gesamte Weltelite hinter sich. An diesem Tag begann seine beispielhafte internationale Karriere als Parasportler. «Tokio 2021» war für Heinz Frei das letzte Rennen auf der Weltbühne des Sports. Jedoch von einem Tag auf den andern inaktiv werden geht nicht. «Ich will dank sportlicher Tugenden fit bleiben, mich weiter bewegen, solange ich das kann, ohne meinen Körper zu überfordern», prophezeit er. Ihm schwebt vor, künftig vielleicht als eine Art rollender Coach unterwegs zu sein, renntaktische Erkenntnisse zu vermitteln. Heinz Frei ist verheiratet, Vater von Jan (31) und Tamara (28). Seine Ehefrau Rita und seine Tochter sind im Gesundheitsbereich tätig, sein Sohn im Sportartikelhandel. Er war nie Berufssportler. Seit 1999 zeichnet er in einem Teilpensum in Nottwil für den Nachwuchssport verantwortlich. 2003 wurde er in den Stiftungsrat der Schweizerischen Paraplegiker-Stiftung gewählt, später als Präsident der Gönnerorganisation. «Mit meiner Erfahrung kann ich dieser Vereinigung ein Gesicht verleihen», begründet er sein Engagement für diese Institutionen. ZUM HEUTIGEN TAG BEMERKENSWERTES GELEISTET UND TROTZ VIEL RUHM BESCHEIDEN GEBLIEBEN Ein Engagement, das auch von Rot. Heidi Hanselmann (RC Fürstenland), der Präsidentin des Stiftungsrats, geschätzt wird. «Heinz Frei habe ich als einen besonderen Menschen kennenlernen dürfen. Als Jahrhundertsportler wird er geehrt und verehrt. Als zielorientierte Person mit einem grossen Erfahrungsrucksack ist er bei Jung und Alt beliebt.» Heinz habe bis zum heutigen Tag Bemerkenswertes geleistet und sei trotz viel Ruhm bescheiden geblieben, erkennt die ehemalige Regierungsrätin des Kantons St. Gallen an und betont: «Ob bei der Arbeit oder beim Plaudern und Lachen, jedes Treffen mit diesem bemerkenswerten Rollstuhlfahrer ist eine Bereicherung.» Heinz Frei begegnet vielen Menschen, die das Schicksal hart getroffen hat. Er versucht, ihnen zuzuhören, auf Augenhöhe mit ihnen zu reden, ihre Talente zu erspüren und sie zu motivieren, ihr Potenzial auszuschöpfen. «Das muss nicht nur im Sport sein. Das ist auch in der Politik möglich, du bist wählbar. Oder in einer beruflichen Betätigung, in einem kulturellen Umfeld, als Künstler, als Musiker. Die Welt ist offen für dich.» Was meint er zur Metapher «Jede Veränderung birgt auch eine Chance»? Ja, sie treffe absolut zu, antwortet er. Auch wenn Veränderungen mit Risiken verknüpft seien. «Wenn du nichts Als Parasportler wurde Heinz Frei 14 Mal Weltmeister, siegte an 112 Marathons und gewann 35 Medaillen bei Paralympischen Spielen, letztmals Silber im Handbike-Strassenrennen in Tokio probierst, hast du schon verloren, erhältst du auch keine Antworten.» Er fordert auf, Antworten zu suchen und zu finden. Heinz Frei wirkt heute auch als Referent zu Themen wie «Chancen sehen» oder «Stress versus Resilienz». Bei seinen Auftritten vor Publikum könne er Denkanstösse vermitteln. Er stellt fest: «Viele Gespräche helfen, dass man den Boden unter den Füssen oder – in meinem Fall – den Boden unter den Rädern wieder findet. Manchmal braucht es eine andere Sichtweise, auch etwas Gelassenheit.» K PDG Paul Meier | A zvg, pm 25

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