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Rotary Magazin 11/2021

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Rotary Magazin 11/2021

ROTARY INTERNATIONAL –

ROTARY INTERNATIONAL – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – NOVEMBRE 2021 AUF UNGEWÖHNLICHEN WEGEN Den nächsten Morgen beginne ich mit einem Flat White von Minuti Coffee, bevor ich wieder in die Stadtbahn steige. Mein Ziel ist heute der Museum District. In diesem grünen Wohnviertel, das sich wunderbar für einen Spaziergang eignet, befinden sich 19 Museen – von zeitgenössischer Kunst über Medizingeschichte und tschechische Kultur bis hin zur analytischen Psychologie des Schweizer Psychologen Carl Jung sind die Themen breit gefächert. Es ist ein dichtes Labyrinth aus Museen, Wohnungen und Parks. Die Entwicklung des Viertels wurde von einer Grassroots-Bewegung mitgestaltet, die bis in die 1970er-Jahre zurückreicht. Bewohner des nahe gelegenen Viertels Montrose (auch diesem Viertel werde ich später einen Besuch abstatten) gründeten eine Organisation, die sich um den Bau neuer Wohnungen sowie neuer und sicherer Gehwege bemühte. Heute kann Das Museum liegt zwischen dem Muse­ ins Leben gerufen, die die baufälligen man alle Museen fussläufig erreichen. Das um District und einem der Stadtteile Häuser in Orte für Kunst und Kreativität Viertel wurde 1989 offiziell von der Stadt Houstons mit einem historisch hohen umgestaltet haben. Das Projekt beweist, 48 anerkannt. Ich starte im Holocaust Museum Houston. Siegi Izakson, ein Überlebender des Holocaust und Bürger Houstons, be­ afroamerikanischen Bevölkerungsanteil: dem Third Ward. Wenn Sie hier in der Mittagszeit unterwegs sind, dann lohnt sich der Weg ins «Turkey Leg Hut», dessen dass Kunst ein Motor für sozialen Wandel sein kann. Die Galerien sind nicht die einzige Innovation. Andere Reihenhäuser sind jungen, alleinerziehenden Müttern schaffte mit anderen Mitstreitern Mittel Gründer Lynn und Nakia Price geräucher­ vorbehalten, die ihre Kinder in einem un­ für den Bau eines Museums, in dem die te Truthahnkeulen, gefüllt mit Gewürzreis terstützenden, kreativen Umfeld grosszie­ Geschichten der Überlebenden des Ho­ anbieten. Dazu gibt es leckere Saucen und hen möchten. Die älteren Häuser stehen locaust für kommende Generationen be­ Beilagen, zum Beispiel Langustenmakka­ inmitten moderner Doppelhaushälften wahrt werden soll. Als ich bei einem däni­ roni. Um 11.30 Uhr hat sich bereits eine der Schwestergesellschaft Row House schen Rettungsboot angekommen bin, in lange Schlange um den Block gebildet. CDC, in denen die Leute aus dem Viertel dem wahrscheinlich Juden nach Schwe­ Davon lasse ich mich jedoch nicht abhal­ erschwinglichen Wohnraum finden. den in Sicherheit gebracht wurden, spricht ten. Ich möchte die Kreationen der Prices Im Besucherzentrum des Project Row mich eine junge Frau an. Sie heisst Gloria unbedingt probieren. Die saftige, in Hen­ Houses treffe ich eine ehemalige Bewoh­ und arbeitet ehrenamtlich im Museum. Sie nessy eingelegte Keule rechtfertigt die nerin. Trinity Williams, Mixed-Me­ kennt sich mit den Exponaten im Museum 45-minütige Wartezeit. dia-Künstlerin, ist aus dem Nordosten bestens aus. Kaum hat sie mich angespro­ Gesättigt fahre ich mit einem Lyft zu­ nach Houston gezogen und hat ihre drei chen und sich vorgestellt, sind wir mitten rück zum Hotel und erkunde den Third Jungs in einer Doppelhaushälfte grossge­ in einem Gespräch über ihre Familie, die in Ward in meinem Mietwagen etwas ge­ zogen. «Ein ganzes Dorf ist notwendig, den späten 1920er-Jahren aus der dama­ nauer. Mein Ziel ist eine Reihe schlichter um ein Kind grosszuziehen. Und das hier ligen Tschechoslowakei in die USA gekom­ weisser Reihenhäuser. Was man von der ist ein Dorf», sagt sie, während wir in den men ist. Strasse aus nicht erkennt: In einigen dieser gut gefüllten Gemeinschaftskühlschrank Für mich geht es anschliessend einige Häuser befinden sich Galerien, die in blicken, der seit diesem Sommer in einem Häuserblocks nach Norden. Ich stehe vor wechselnden Ausstellungen Werke von der Reihenhäuser steht. Williams hat für einem alten Backsteingebäude, das mich einheimischen oder ausländischen Künst­ das Project Row Houses als Dozentin ge­ an eine High School erinnert. Das Buffalo lern zeigen. Hier sieht man einen Dschun­ arbeitet und dabei sowohl Künstler unter­ Soldiers National Museum widmet sich gel aus Zimmerpflanzen, der eine Couch richtet als auch Interessierten das Projekt der Geschichte der afroamerikanischen und einen Fernseher aus den 1960er-Jah­ nähergebracht. 2018, die Söhne schon Soldaten, die nach dem Bürgerkrieg im ren zu verschlingen scheint. Man entdeckt erwachsen und ausgezogen, wurde bei Militär gedient haben, und wie sich daraus goldene Kugeln, die grossflächige Fotos Williams Multiple Sklerose diagnostiziert. neue Generationen afroamerikanischer von Ölraffinerien überlagern. Es handelt Seither widmet sie sich ganz ihrer Kunst. Marineoffiziere, Piloten und Astronauten sich um das Project Row Houses, von «Das gibt mir Kraft», erklärt sie. Ihre Ar­ entwickelt haben. Künstlern und Stadträten der Third Ward beiten, darunter Mixed Media auf Lein­

ROTARY INTERNATIONAL – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – NOVEMBRE 2021 wand, Fotografien sowie Upcycling-Skulp­ 250 000 mexikanische Bulldoggfleder­ nen 48 Stunden die natürliche Schönheit turen, wurden bereits auf Ausstellungen mäuse, die bei Sonnenuntergang die Brü­ sowie Werke aus Menschenhand gesehen, in Houston gezeigt und verkauft. cke verlassen und auf Insektenjagd gehen. die diese Stadt einzigartig machen. Ich Mir fällt auf, dass wenn ich mich in der Ich habe zwar einen Tisch im Mastrantos habe gesehen, was passiert, wenn Men­ Stadt bewege und mit ihren Bürgern ins reserviert, in dem sich die venezolanische, schen aus der ganzen Welt in einer Metro­ Gespräch komme, schon bald auch Le­ italienische und spanische Küche vereinen pole an der Golfküste zusammenkommen bensgeschichten oder Telefonnummern und von dessen Chorizo Carbonara ich und diese gemeinsam gestalten. Durch ausgetauscht werden. Diese riesige und bereits vor meiner Reise nur Gutes gehört diese Vielfalt entsteht Kreativität, entsteht vielfältige Stadt ist sehr gesellig. Das ma­ habe – dieses ungewöhnliche Spektakel Neues, wie beispielsweise in der Kunst, der nifestiert sich in spontanen Gesprächen, will ich mir jedoch nicht entgehen lassen. Freizeitgestaltung und beim Essen. aber auch in sozialen Projekten in den ein­ Also bleibe ich. Von der Brücke höre ich Nach dem Besuch der Rothko-Kapel­ zelnen Stadtvierteln von Houston. bereits vielversprechendes Quietschen. le zieht es mich in das vietnamesisch-ame­ Ganz im Osten des Third Ward finde Und um 20.13 Uhr schwärmen die Fleder­ rikanische Bistro Kâu Ba mit überdachter ich ein weiteres Gruppenprojekt: Der mäuse aus. Eine riesige Wolke zieht minu­ Terrasse. Es gibt neben dem traditionel­ Smither Park wäre eine unscheinbare Flä­ tenlang an uns vorbei. Ich frage mich, len Brunch auch ungewöhnlich klingen­ che mit Rasenstücken, gäbe es nicht die wohin ihr Weg führt. de Gerichte. Ich bestelle «Grandma’s unglaublich schön glänzenden Mosaike, mit denen Künstler Wege, Mauern und DIE ZUKUNFT Subsidy». Köchin Nikki Tran möchte mit diesem Gericht an ihre Grossmutter erin­ Unterstände verziert haben. Aus bunten Diese Fledermäuse, die einem mir unbe­ nern, die den Fall von Saigon 1975 über­ Glasscherben, Küchen- und Elektrogerä­ kannten Ziel entgegenfliegen, erfüllen lebte und aus den bunten Resten in der ten sind Tiger, Engel, Fische und Fantasie­ mich mit Demut und Faszination. Ich Speisekammer nahrhafte Mahlzeiten wesen entstanden. Als ich gerade den schwelge noch am nächsten Morgen in zauberte. Es sieht einfach aus, schmeckt Park betreten will, steigt eine junge Frau den Erinnerungen an ihren Flug. Allerdings aber köstlich. aus einem blauen Camaro, in der einen bin ich bereits in westlicher Richtung un­ In einer Stunde muss ich am George Hand eine Kamera, in der anderen einen terwegs nach Montrose. Montrose ist ei­ Bush Intercontinental Airport sein. Ich bin Eiskaffee. «Ganz schön heiss heute, nes der vielschichtigsten Viertel Houstons. weniger über meinen Abschied ent­ was?», ruft sie. Es ist wirklich schwül. Aber trotzdem sind wir hierher gekommen. Im Sommer gehen die Bewohner Houstons meist nur frühmorgens oder Hier findet sich ein Potpourri aus Häusern im Kolonialstil und modernen Eigentumswohnungen, Gärten, Bistros, Bars und Kunstgalerien. Das Viertel ist vergleichbar täuscht, sondern freue mich eher für jene, die diese wunderbare Stadt noch entdecken werden. Von Houston möchte man seinen Bekannten erzählen. 49 spätabends ins Freie, wenn die Sonne mit Downtown, jedoch deutlich ruhiger. Ich möchte dieses Stadtporträt von nicht ganz so heftig vom Himmel knallt. Gestärkt durch ein grün gestreiftes Pista­ Houston abschliessen mit etwas, dass Bei Sonnenuntergang gehe ich im Buffalo zien-Croissant aus der Common Bond Bis­ ich bisher ausgelassen habe, mit einem Bayou Park joggen. Der knapp 65 Hektar tro & Bakery, mache ich mich auf den Weg Ort, den ich bei meinem nächsten Be­ grosse Grünstreifen beherbergt Zypres­ zur Rothko-Kapelle, einem konfessionslo­ such genauer erkunden werde. Ich fahre sen, Pappeln und glasklare Bäche – die sen Gotteshaus und Kunstwerk. An den also nicht direkt zum Flughafen, sondern Reste des Feuchtgebiets, auf dem Hous­ Wänden hängen tiefschwarze Obsidi­ nach Südwesten, aus dem «Loop» he­ ton einst erbaut wurde. Auf einem Hügel an-Gemälde von Mark Rothko, durch die raus nach Chinatown (oder Asiatown). versammeln sich Menschen. Die Blicke sich schwache lila und goldfarbene Linien Hier, am Stadtrand von Houston, sind die sind auf eine unscheinbare Brücke gerich­ ziehen. Ein Oberlicht erhellt den Raum. Besitzer des Blood Bros. BBQ aufge­ tet, die über den zentralen Bach des Parks Wofür die Menschen in dieser Kapelle wachsen. führt. Ich möchte wissen, was los ist, und beten? Ganz einfach: soziale Gerechtig­ Ich fahre vorbei an Wohnhäusern und bleibe stehen. Eine Familie, die sich gross­ keit. In der Rothko-Kapelle kommen regel­ Einkaufszentren, bis ich schliesslich am zügig aus ihren Chipstüten bedient, klärt mässig Bürgerrechtsaktivisten und spiritu­ Teo-Chew-Tempel ankomme. Gewölbte mich auf. Die Waugh Bridge beherbergt elle Führer zusammen, die sich für das Ziegeldächer, eine Statue von Quan Am, Gemeinwohl engagieren. In der Göttin der Barmherzigkeit, und un­ der Kapelle wird alle zwei Jah­ zählige aufgeschnürte Lampions aus Pa­ re der Óscar-Romero-Preis an pier bilden zusammen mit dem süssen Personen verliehen, die sich Duft von Räucherstäbchen die Kulisse. In für Menschenrechte einset­ einem Hof rechts vom Eingang trainieren zen. Der Preis ist benannt nach Jugendliche Kampfkunst. dem ermordeten salvadoriani­ Das Klappern der Stöcke hallt durch schen Bischof, der 2018 von den Tempel. Ich werde von buddhisti­ Papst Franziskus heiliggespro­ schen Gottheiten in Form von Gemälden chen wurde. Ich bin nicht und Skulpturen begrüsst. «Wir werden überrascht, einen solchen Ort uns wiedersehen», scheinen sie zu im Herzen von Houston zu finden. Ich habe in den vergange­ sagen … K Miles Howard | A Al Argueta

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