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Das Aufblühen<br />
etner neuen Kultur<br />
Dr Severin Gorsten<br />
Das Mittelalter hat nicht an einem Tage begonnen. Weder die Absetzung<br />
des Romulus Augustulus durch Odowaker im Jahre 476, noch der<br />
Sieg Chlodwigs über Syagrius von 486 hesebliessen die Antike. Diese<br />
Ereignisse sind zwar Marksteine am Wege des römischen Reiches durch<br />
die Geschichte. Das Gesicht ihrer Zeit haben sie aber keineswegs so verändert,<br />
wie wir es vielleiebt aus unserer Schulzeit her in Erinnerung<br />
haben. Diese Daten als Epochengrenzen zwischen Antike und Mittelalter<br />
sind Kinder der überwundenen Katastrophentheorie, derzufolge aus dem<br />
Grauen eines grandim:en Zusammenbruchs eine völlig neue Welt wie<br />
ein Phönix aus der Asche erstanden sein soll. So ist es also nicht gemeint,<br />
wenn hier vom Aufblühen einer neuen Kultur die Rede sein soll.<br />
Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass die junge Pflanze<br />
dieser Kultur ihre Wurzeln weit in das Erdreich der römischen Vergangenheit<br />
hinabgesenkt und daraus die wertvolls.ten Kräfte zu ihrer<br />
Blüte aufgenommen hat. Antike, Germanenturn und Christenturn haben<br />
schon seit Konstantin dem Grossen die westliche Welt geprägt. Au eh<br />
die politischen Verhältnisse haben sich nicht schlagartig und von heute<br />
auf morgen geändert.<br />
Seit der Mitte des 3. J ahrhunderts tauchen die Franken in den antiken<br />
QueUen auf. Der Name "Franci" bezeichnete einen weiträumigen Bund,<br />
der eine grosse Zahl älterer Völkerschaften locker zusammenfasste.<br />
Oestlich der römischen Rheingrenze sind die Amsivarier, Chamaven,<br />
Brukterer und Chattuarier Teile dieses Bundes gewesen. Es gab keinen<br />
gemeinsamen Herscher, die Stämme und Völkerschaften oder auch<br />
Teile von ihnen blieben unter der Führung von Fürsten, die von den<br />
antiken Schriftstellern reguli oder duces genannt werden. Es gab daher<br />
auch keine grösseren gemeinsamen Unternehmungen gegen die römischen<br />
Grenzen. Den Saliern, einer solchen fränkischen Völkerschaft,<br />
gelang urn die Mitte des 4. J ahrhunderts ·der U ebertritt auf römischen<br />
Reichsgebiet. Sie verheerten die civitas Batavorum am unteren Niederrhein<br />
und wurden 357 als Foederati in Toxandrien, dem heutigen Brabant,<br />
angesiedelt. Etwas später machten andere Stämme, geführt von<br />
ihren Häuptlingen Gennobaud, Marcorner und Sunno, einen Beutezug,<br />
der sie bis in den Kohlenwald im heutigen Belgien führte. Damals<br />
(388) waren die Römer noch einmal im Stande, die Eindringlinge<br />
zurückzuschlagen und eine Strafexpedition in die Gegenden jenseits des<br />
Rheines zu unternehmen. Aber schon wenige J ahre später schloss die<br />
Reichsregierung mit den rechtsrheinischen Franken einen Vertrag, den<br />
Stilicho, der Reichsverweser des Westens, bei seinem Amtsantri.tt im<br />
J ahre 395 erneuerte. Da zwang die Bedrohung Italiens durch die West-<br />
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