DdB_Sonderheft_Bremen_Fransz
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DIE DEUTSCHE BÜHNE 2016<br />
ZUKUNFTSLABOR 17<br />
Statements<br />
Links: Benjamin Nowitzky, Lina<br />
Hoppe, Meret Mundwiler und Christoph<br />
Vetter (v. l.) in „Wunderbrut“<br />
Rechts: Anna-Lena Doll, Philipp<br />
Michael Börner und Lisa Marie Fix<br />
(v. l. n. r.) in „Sophie schläft“<br />
Wenn uns Zeiten von sozialen Unruhen,<br />
Krisen und Kriegen mit unserer Unfähigkeit<br />
konfrontieren, mit diesen Themen<br />
umzugehen oder sie zu kontrollieren,<br />
scheint es, dass wir es bevorzugen, uns den<br />
Dingen zuzuwenden, die wir kennen und<br />
die tröstlich und beruhigend für uns sind.<br />
Wir mögen es nicht, mit unseren Ängsten<br />
und alltäglichen Sorgen konfrontiert zu<br />
werden. Stattdessen flüchten wir uns in<br />
Dinge, die für uns beruhigend sind und<br />
uns dessen vergewissern, dass alles immer<br />
gut ausgehen wird. Wie in den wohlbekannten<br />
Märchen: „Und sie lebten glücklich<br />
bis ans Ende ihrer Tage.“<br />
Die Frage „Geht es nicht auch ein bisschen<br />
braver?“ in Bezug auf das Theater hat mit<br />
diesen Ängsten zu tun, schätze ich. Ängste,<br />
vor denen wir uns und unsere Liebsten<br />
schützen wollen, weil sie störende Gedanken<br />
und unwohlige Gefühle erzeugen<br />
könnten. Weil sie uns von den Füßen hauen<br />
könnten, welche wir so verzweifelt auf<br />
dem Grund behalten wollen. Aber statt<br />
geerdet zu bleiben und uns an die Illusion<br />
zu klammern, alles wäre gut, erscheint es<br />
mir viel interessanter und mutiger, den<br />
Dämonen unserer Zeit zu begegnen und<br />
ins Gesicht zu schauen.<br />
Glücklicherweise arbeiten Helden im Theater.<br />
Männer und Frauen, die versuchen,<br />
herauszufinden, woraus unsere Ängste<br />
gemacht sind. Warum wir Angst haben,<br />
uns ihnen zu stellen. Was bedeuten sie?<br />
Diese Theatermacher stellen sich Fragen,<br />
die zwar nicht so bequem sind, die uns<br />
Den Dämonen unserer Zeit ins Gesicht schauen<br />
EIN THEATERSTÜCK MIT EINLEITUNGSESSAY VON THEO FRANSZ<br />
aber auf die eine oder andere Art und Weise<br />
zu verstehen helfen oder zumindest mit<br />
Fragen konfrontieren, die wir uns nicht<br />
selber stellen wollen, weil wir denken, dass<br />
sie uns schaden könnten. Diese Helden<br />
sind die Innovatoren, die neugierigen<br />
Wahrheitsfinder, die mit Form, Sprache<br />
und verschiedenen Wegen der Kommunikation<br />
suchen und experimentieren. Sie<br />
dekonstruieren soziale Mechanismen, um<br />
neue Panoramen aufzudecken, neue Einsichten<br />
und neue Arten, Theater zu machen.<br />
Sie haben sich dem verpflichtet, was<br />
im Jetzt und Hier passiert, und haben ihre<br />
Finger am Handgelenk der Gesellschaft,<br />
um sich, ihre Aktionen und Geschichten<br />
auf der Bühne vom Puls der Zeit inspirieren<br />
zu lassen. Nicht, indem sie nach Antworten<br />
suchen, sondern, viel wichtiger,<br />
durch Fragestellungen, die uns uns selbst<br />
mit Empathie und einem besseren Verständnis<br />
anschauen lassen.<br />
Diese Theatermacher, diese mutigen Frauen<br />
und Männer, möchten ihre Öffentlichkeit<br />
nicht beruhigt in den Schlaf wiegen,<br />
indem sie tun, was schon im Theater der<br />
Vergangenheit getan wurde. Sie möchten<br />
uns alarmiert und lebendig machen und<br />
uns für neue Erfahrungen und Geschichten<br />
öffnen, indem sie alte Geschichten<br />
adaptieren und sie in neue verwandeln,<br />
die die Fragen des Hier und Jetzt verhandeln,<br />
oder ganz neue entwickeln, die sich<br />
auf unsere Zeit beziehen. Wir brauchen<br />
diese Theatermacher, die von Neugier getrieben<br />
und mutig genug sind, um es zu<br />
wagen, über Zäune zu schauen und zu<br />
klettern oder Löcher in unseren festen<br />
Grund zu graben. Sie müssen frei experimentieren<br />
können, um uns zu inspirieren,<br />
aufzurütteln und zu begeistern. Und, noch<br />
wichtiger: Wir brauchen sie, um das Theater<br />
lebendig zu halten.<br />
Große Worte, ich weiß, aber wie bringt<br />
man diese Worte in eine konkrete und<br />
simple Erzählung? Vielleicht hilft diese<br />
kleine Geschichte über zwei Landstreicher,<br />
einen Schäfer und ein Schaf. Ich hoffe<br />
von ganzem Herzen, dass sie Euch und<br />
Ihnen gefallen wird!<br />
(aus dem Englischen übersetzt von Ulf<br />
Brunzlow)<br />
Hirte & Schaf<br />
Ein hoher Bretterzaun. Vor dem Zaun steht<br />
Hirte. Er träumt vor sich hin und räumt irgendwas<br />
hin und her. Um den Hals trägt er<br />
mindestens sieben Schals. Schaf sitzt neben<br />
ihm auf einem Feldsitz. Es trägt eine Mütze<br />
mit langen Ohrenklappen, die seine Ohren<br />
schön warm halten. Auch Schaf trägt sieben<br />
Schals um den Hals. Neben ihm stehen ein<br />
Körbchen mit dicker weißer Wolle und eine<br />
Flasche Wodka in einer braunen Papiertüte.<br />
Schaf strickt emsig, aber mit der Ruhe eines<br />
Zen-Buddhisten, einen sehr langen, zwei Hand<br />
breiten Schal, der diesen Winter noch fertig<br />
werden muss. Dabei beobachtet es ab und zu<br />
die Passanten … Stille … Hinter dem Zaun<br />
erklingt plötzlich das Kreischen eines frisch<br />
geborenen Kindes.<br />
Fotos: Jörg Landsberg, Annelies Joosse (Porträt Theo <strong>Fransz</strong>)<br />
Hirte: Schaf, Schaf? … Schaf!!<br />
Schaf: (blickt stur auf sein Strickzeug) Ich<br />
weiß, was du sagen willst.<br />
Hirte: Was denn … Schaf?!<br />
Schaf: Hast du das gehört?<br />
Hirte: Was sagst du?!<br />
Schaf: Das wolltest du sagen.<br />
Hirte: Oh … Ja … aber, Schaf?<br />
Schaf: Was hat das zu bedeuten?<br />
Hirte: Ich wollte dich gerade fragen. Was das<br />
zu bedeuten hat?<br />
Schaf: Was?<br />
Hirte: Der Krach.<br />
Das Kreischen ebbt weg.<br />
Schaf: Oh, das?<br />
Hirte: Ja. Der Krach, ja. Was hat der Krach<br />
zu bedeuten?<br />
Schaf: Kann sein, dass in diesem Augenblick<br />
hinter dem Zaun etwas geschieht …<br />
Hirte: Ja?<br />
Schaf: Oder … vielleicht schon geschehen<br />
ist …<br />
Hirte: Ja?<br />
Schaf: Oder … noch geschehen soll.<br />
Hirte: Aha! Sollte ich dann nicht mal schnell<br />
nachschauen?<br />
Schaf: Warum?<br />
Hirte: Warum nicht?<br />
Schaf: Hirte …<br />
Hirte: Nenn mich ruhig Hir.<br />
Schaf: Hirte! … Mal angenommen, du gehst<br />
nachschauen, und du siehst etwas …<br />
Hirte: … Ist das nicht der Zweck des<br />
Nachschauens?<br />
Schaf: Ein alltägliches Ereignis.<br />
Hirte: Ja?<br />
Schaf: Eine Geburt zum Beispiel.<br />
Hirte: Is’ doch schön, oder?<br />
Schaf: Aber mal angenommen, diese Geburt<br />
bewegt mich.<br />
Hirte: Darüber kann ich nichts sagen, weil<br />
ich muss ja noch nachschauen gehen.<br />
Schaf: Mal angenommen …!<br />
Hirte: Oh, mal angenommen, ja … angenommen.<br />
Schaf: Stell dir vor, dass es etwas sehr<br />
Schlimmes ist.<br />
Hirte: Ein alltägliches Ereignis schlimm?<br />
Schaf: Ein schlimmes alltägliches Ereignis.<br />
Hirte: Was könnte denn das wohl sein?<br />
Schaf: Ein Kindchen …<br />
Hirte: Und was soll daran so schlimm sein?<br />
Schaf: Mal angenommen, dass das Kind …<br />
Hirte: Nun mach aber mal halblang. Ich<br />
weiß schon, was du sagen willst.<br />
Schaf: Was denn?<br />
Hirte: Mal angenommen, dass das Kind<br />
einen ganz langen Schwanz hat.<br />
Schaf: … Einen ganz langen Schwanz?<br />
Hirte: Ja, so ein oder zwei Meter lang. Nein,<br />
zwei Meter fünf.<br />
Schaf: Zwei Meter fünf? Wieso?<br />
Hirte: Das ist alltäglich und auch wieder<br />
nicht.<br />
Schaf: Ein Kind mit einem zwei Meter fünf<br />
langen Schwanz?!<br />
Hirte: Das ist sehr schlimm, du.<br />
Schaf: Hirte!!!<br />
Hirte: Ja, Schaf?<br />
Schaf: Wenn ich sage, ein schlimmes<br />
alltägliches Ereignis, rede ich nicht über ein<br />
Kind mit einem Schwanz von zwei Metern!!!<br />
Hirte: … Fünf.<br />
Schaf: Hirte!!!<br />
Hirte: Ja, Schaf.<br />
Schaf: Mit schlimm meine ich, dass ein<br />
frisch geborenes Kind … Hoffnung schenkt!<br />
Hirte: Ein frisch geborenes Kind?<br />
Schaf: Jedes frisch geborene Kind.<br />
Hirte: Hoffnung? Wem?<br />
Schaf: Den Menschen, die Hoffnung<br />
sammeln …<br />
Hirte: Was ist denn nun so schlimm daran?<br />
Schaf: Hoffnung, mein lieber Hirte, ist so<br />
heimtückisch wie ein Morast. Glitschig wie<br />
Wasser. Hoffnung ist der trügerische, süße<br />
Rausch des Träumers! Hoffnung ist eine<br />
hinterlistige Fata Morgana, die den Durstigen<br />
ewig dürsten lässt.<br />
Hoffnung ist die Ausrede dafür, nichts mehr<br />
zu tun. Aufzuschieben. Abzuwarten. Die Zeit<br />
totzuschlagen. Zu warten auf …<br />
Hirte: … was?<br />
Schaf: Auf noch mehr Hoffnung! Und da<br />
kommt nichts! Nichts! Hirte, das Schlimme<br />
an jedem frisch geborenen Kind ist, dass das,<br />
was wir davon erwarten, sich niemals erfüllt.<br />
Es geht immer schief. Als ich geboren wurde,<br />
dachten sie, ich würde ein Hirte werden.<br />
Das hatten sie erwartet. Und was bin ich<br />
geworden? Ein …<br />
Hirte: … Schaf? … Alles in Ordnung?<br />
Schaf: Geh nicht nachschauen, Hirte, sonst<br />
wirst du selbst ein Schaf.<br />
Hirte: Das will ich doch nicht hoffen. Und<br />
wenn …<br />
Schaf: Wenn …?<br />
Hirte: Habe ich die Hoffnung, dass der neue<br />
Hirte genau so hirtet wie ich.<br />
Schaf: Hoffnung?<br />
Hirte: Ja, Schaf, was kann ich sonst tun?<br />
Schaf: Nicht nachschauen. Hirte, bitte, bitte.<br />
Bleib bei mir. Wir haben es jetzt doch gut?<br />
Sorgen wir dafür, dass es so bleibt. Ich stricke<br />
einen Schal für dich. Sieh nur!<br />
Er ist schon fast fertig. Lass mich nicht allein,<br />
Hirte. Lass mich nicht allein?<br />
Hirte: Und wenn ich doch nachschauen<br />
gehe, Schaf? Was dann?<br />
Was machst du dann?<br />
Schaf: Dann, dann … stricke ich diesen<br />
Schal für mich selbst fertig. Wickle ihn mir<br />
um den Hals und dann …<br />
Hirte: Was dann, Schaf?<br />
Schaf: Dann hängt da ein Schaf im Baum …<br />
Stille. Das Kreischen erklingt wieder … Stille.<br />
Hirte: Schaf, du bist ein hoffnungsloser Fall!<br />
Das Kind wird doch nie im Leben begreifen<br />
können, warum da ein Schaf im Baum<br />
hängt!? Komm, lass uns zusammen nachschauen.<br />
Und sollte dieses Kind uns unverhofft<br />
Hoffnung schenken, dann bist du<br />
auf jeden Fall nicht mehr allein.<br />
Schaf: Du?<br />
Hirte: Dann sind wir beide Schafe.<br />
Schaf steht mit dem gerade fertig gewordenen<br />
Schal auf und nimmt Hirte beim Arm.<br />
Schaf: Hirte, wir haben nichts bei uns.<br />
Hirte: Wir bringen gemeinsam einen Schal<br />
mit.<br />
E N D E<br />
Theo <strong>Fransz</strong> ist seit 2001 als freier Regisseur tätig. Er<br />
inszenierte mehrfach für das „Moks“ und war in der<br />
Titelrolle in „Othello“ als Schauspieler auf der Bühne<br />
des Theaters <strong>Bremen</strong> zu sehen. Sein Stück „Hirte und<br />
Schaf“ wurde 1994 am Theater Sonne vanck in Enschede<br />
uraufgeführt.