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DB_2016_08_Bremen_Blumenthal

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82 AUFFÜHRUNGEN<br />

Kritik<br />

DIE DEUTSCHE BÜHNE 8/<strong>2016</strong><br />

DIE DEUTSCHE BÜHNE 8/<strong>2016</strong><br />

AUFFÜHRUNGEN 83<br />

Kritik<br />

Ewige Sperrstunde: Die meisten<br />

Kneipen in <strong>Blumenthal</strong> wurden<br />

längst dichtgemacht<br />

Rechts: Mitwirkende und Zuschauer<br />

beim „Fleurovalley“<br />

Wachgeküsst<br />

Können ein paar Aufführungen ein verwaistes Viertel wieder zum Leben<br />

erwecken? Mit dem Projekt „Auswärtsspiel“ versucht das Theater <strong>Bremen</strong><br />

den Stadtteil <strong>Blumenthal</strong> wieder an das urbane Leben anzubinden<br />

Text_Jens Fischer<br />

Fotos: Jörg Landsberg<br />

Krieg in den Banlieues. Am<br />

Rande der Großstadt beginnt<br />

der Dschungel. Ist<br />

das an der Weser genauso<br />

wie an der Seine? Blicken<br />

wir nach <strong>Blumenthal</strong>.<br />

Am Eingang der 1939 von <strong>Bremen</strong> vereinnahmten<br />

Gemeinde ist eine Safari-<br />

Lounge geöffnet. Der Warnhinweis neben<br />

der Tür macht deutlich, dass Gewalttätigkeiten<br />

nur in der freien Wildbahn des<br />

Stadtteils, nicht in diesem Schutzraum<br />

erlaubt sind. Dort gibt es für einen Euro<br />

den Korn zum Mut machenden<br />

„Rattenkiller“-Likör. Genossen wird auf<br />

Barhockern, die mit Zebrafell bezogen<br />

sind. Afrikanische Masken zieren Wände,<br />

Tarnnetz und ausgestopftes Krokodil die<br />

Decke, Plastikpalmen die Nischen. Gemälde<br />

zeigen röhrende Elefanten. Aber<br />

kein Mottopartyausstatter hat sich hier<br />

ausgetobt, das Mix-it ist <strong>Blumenthal</strong>er<br />

Rea lität. Eine Kneipenlegende. Stammgäste<br />

erscheinen bereits nachmittags, haben<br />

freien Eintritt, lassen sich in der von<br />

„Simone“ beherrschten „Zickenzone“ an<br />

der Bar bedienen. Theaterfans müssen<br />

zuvor ein Ticket erwerben.<br />

Geboten wird Kunst im Alltag, Politik im<br />

Zigarettenrauch. Mit der dramatisierten<br />

„Nationalstraße“ des Autors Jaroslav<br />

Rudiš. Hauptfigur ist ein geschasster Polizist<br />

aus dem Prager Norden, der von der<br />

Wildnis erzählt, die gleich hinter der<br />

Großstadt beginnt. Im Bremer Norden<br />

wirkt er wie ein Kerl von nebenan. Aus<br />

dem osteuropäischen Wende- wird ein<br />

<strong>Blumenthal</strong>er Moderneverlierer – hasserfüllt<br />

blickend auf den wirtschaftlichen<br />

Niedergang, die sozialen Verwerfungen<br />

und urwaldigen Zuwucherungen des ehemaligen<br />

Tals der Blumen. Unterm Prollkostüm<br />

trägt er Römerrüstung, sieht sich<br />

als einzig überlebenden Legionär des Gemetzels<br />

im Teutoburger Wald: als letzten<br />

Verteidiger der Kultur. Nennt sich aber<br />

Vandam – nach seinem Lieblingssuperhelden<br />

Jean-Claude Van Damme, belgischer<br />

Prügelfilmheld mit Body-Bildung<br />

und Killerreflexen. Schauspieler Alexander<br />

Swoboda fixiert in dieser Rolle immer<br />

wieder die schwarz-rot-goldene Flaggenparade<br />

am Kneipenhimmel – und<br />

changiert virtuos zwischen endzeitlichem<br />

Monolog und neuzeitlich improvisierten<br />

Dialogen mit den Trinkerkollegen. Zerbeißt<br />

Biergläser, zerdeppert Flaschen, verschafft<br />

sich so, ängstigend, Respekt. Entwirft<br />

die erschreckende Kurzbiographie<br />

eines lebensprallen Aggressionsmonsters.<br />

Eine Kopfnuss zu verteilen ist die größte<br />

ihm mögliche Zärtlichkeit. Denn draußen<br />

sei Krieg, das Leben eine Schlacht, die<br />

Welt voll feindlicher Eindringlinge. Ständig<br />

müsse man bereit sein, sich mit Gewalt<br />

zu behaupten. Aber Nazi sei er nicht.<br />

Vandam gibt den Frauenversteher, und<br />

Flüchtlinge findet er auch okay – solange<br />

sie kein Remmidemmi machen oder seine<br />

Atemluft nicht mit Tütensuppengestank<br />

verpesten. Dann muss er halt fäustlings<br />

für Ordnung sorgen.<br />

Das Mix-it ist ein idealer Ort für diese<br />

präzise Skizze einer Soziopathologie der<br />

Ausgegrenzten, Marginalisierten, nicht<br />

Integrierten. „Nationalstraße“ ist künst-


84 AUFFÜHRUNGEN<br />

Kritik<br />

DIE DEUTSCHE BÜHNE 8/<strong>2016</strong> AUFFÜHRUNGEN 85<br />

Kritik<br />

nehmer bekommen eine Wundertüte<br />

überreicht – voller Reiseziele für eine<br />

etwa zweieinhalbstündige Tour. Künstler,<br />

aber auch Anwohner und Akteure<br />

des Stadtteils verhandeln Themen und<br />

Geschichten ihres multikulturellen<br />

Plätzchens Heimat. Ein schriftstellernder<br />

Historiker führt beispielsweise zur zentralen<br />

Grünanlage Bahrsplate und erzählt:<br />

„Hier war früher ein Außenlager<br />

des KZ Neuengamme, Zwangsarbeiter<br />

wohnten in Baracken.“ Nach dem Krieg<br />

wurde dort der Weser- zum Badestrand.<br />

„Richtig schön war es hier.“ Und warum<br />

ist das nicht mehr so? „Die Vulkan-Werft<br />

hatte hier mal 6500 Arbeitsplätze, machte<br />

1997 dicht, auf dem Industriegelände<br />

gab es bis zur Jahrtausendwende noch<br />

etwa 1000 Jobs, und bei der Wollkämmelerischer<br />

Höhepunkt des 1. Auswärtsspiels<br />

des Theaters <strong>Bremen</strong>. Mit dem Etat<br />

einer Schauspielproduktion und der Tatkraft<br />

von 200 Mitarbeitern aller Theaterabteilungen<br />

durfte Natalie Driemeyer<br />

sechs Tage der offenen Türen in <strong>Blumenthal</strong><br />

inszenieren. City-Bremer wurden<br />

geladen, ein vernachlässigtes Quartier<br />

kennenzulernen. Als Lockmittel für<br />

den Stadtteiltourismus fungierten Spielplanhits<br />

als Gastspiele im gediegenen<br />

Industriebrachen-Ambiente der ehemaligen<br />

Wollkämmerei. Ein Geschenk auch<br />

an die Nord-Bremer.<br />

Viel wichtiger aber: das Theater als Wachküsser.<br />

Oder Wachstreichler. Ohne das<br />

Wachpieksen zu vergessen. Und Wachkaffee<br />

wird auch serviert. „Dass hier mal wieder<br />

was passiert und so das Selbstbewusstsein<br />

der <strong>Blumenthal</strong>er steigt“, erhoffte<br />

sich auch Ortsamtsleiter Peter Nowack<br />

vom Festival. Denn <strong>Blumenthal</strong> liegt im<br />

Koma. So die Eindrücke auf der ehemaligen<br />

Flaniermeile Mühlenstraße. Von der<br />

Botanik zurückeroberte Parkplätze gibt es<br />

dort, Ingos Treff, aber auch City Back, Lederund<br />

Papierwarengeschäfte sowie der türkische<br />

Gemüsehändler, alle haben aufgegeben.<br />

Stephans Kramseck ist trotz „Qualität<br />

zu Monsterpreisen“ geschlossen. Post, Kiosk:<br />

sorry, closed. Drogerie- und Lebensmitteldiscounter:<br />

leer. Sogar eine Spielhalle:<br />

dicht. Ganze Wohnblöcke: unbewohnt.<br />

Wie ein Filmset zum Thema sterbende<br />

Provinz. Nur Dönerimbiss, Friseur, Optiker,<br />

Sportwettenanbieter und ein Thirdhandladen<br />

sind noch geöffnet. Am Marktplatz<br />

gibt es lediglich zwei gepflegte<br />

Geschäftshäuser mit entsprechender Innenarchitektur:<br />

eine Billigheimerkette<br />

und die Schuldnerberatung. So viel Leerstand,<br />

so viel siechender Stillstand, so viele<br />

Fehlentwicklungen – „ein so dystopisch<br />

anmutender Ort bietet so viele inspirierende<br />

Anlässe für künstlerische Visionen<br />

und so viele Möglichkeiten für Begegnungen“,<br />

betonte Driemeyer. Und nutzt sie.<br />

Bester Einstieg, dem Ort näherzukommen,<br />

sind die <strong>Blumenthal</strong>-Walks. Teil-<br />

Vorher trist, nachher belebt: eine geschlossene<br />

Bäckerei (o.), Suppe auf dem Marktplatz, Szenen<br />

aus „Nationalstraße“ (Mitte r.) und „Robin Hood“<br />

Ideengeberin: Natalie Driemeyer leitete das<br />

„Auswärtsspiel“ in <strong>Blumenthal</strong><br />

rei arbeiteten mal 5000 Leute, die machte<br />

2009 endgültig dicht.“<br />

Wer Arbeit brauchte, zog weg. „Die Rentner<br />

und die wenig Qualifizierten blieben“,<br />

ergänzt der Ortsamtsleiter. Hinzu<br />

kamen 7000 Flüchtlinge. „Früher war das<br />

herrlich hier, eine lebendige kleine Stadt,<br />

der Einzelhandel hatte alles, was man<br />

brauchte, sogar hochwertige Textilien im<br />

Kaufhaus Nordenholz“, erinnert sich Brigitte<br />

Luttkus, die bei den Walks ein Nähprojekt<br />

für Geflüchtete vorstellt. Im gegenüberliegenden<br />

Festivalbüro, einer<br />

ehemaligen Konditorei, hat es sich<br />

Schauspielerin Karin Enzler mit Literatur<br />

und Musik im Appenzeller Schwyzerdütsch<br />

gemütlich gemacht. Heilsingen<br />

wird im Wasserturm praktiziert, in der<br />

Fotos: Jörg Landsberg<br />

Ex-Bankfiliale wartet eine 35-Meter-Carrera-Bahn<br />

auf Rennsportfreunde. Ein<br />

Sommerschloss im Tudorgotik-Stil ist in<br />

einem zugewucherten Park zu entdecken.<br />

Geflüchtete einer Notunterkunft<br />

lehren kurdische Tänze. Und „Simone“<br />

aus dem Mix-it spricht über ihr Engagement<br />

zur Rettung rumänischer Straßenhunde.<br />

Kleinteilig ist das Programm. Weil die<br />

Zufahrt zur Romasiedlung den <strong>Blumenthal</strong>ern<br />

als gefährlich, also zu meiden<br />

gilt, erklären die Theatermacher diese<br />

einfach zur Kulturstraße, organisieren<br />

Kinderspielangebote und gestalten<br />

Schmuddelwände farblich neu. Auf dem<br />

Dach eines Altenheims schauen die Senioren<br />

mit den Zugereisten einer „Robin<br />

Hood“-Inszenierung beim Moralisieren<br />

zu. Der Theaterjugendclub nutzt die verlassenen<br />

Geschäfts- als Spielräume für<br />

utopische Phantasien. Auch alle 39 Räume<br />

des Rathauses stehen leer, nachdem<br />

die Mitarbeiter für öffentliche Dienstleistungen<br />

entfernt wurden und auch das<br />

Jobcenter ausgezogen ist. Nicht einmal<br />

das scheint sich in <strong>Blumenthal</strong> zu lohnen.<br />

Den denkmalgeschützten, jetzt vil-<br />

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lakunterbunt geschmückten Prachtbau<br />

nutzen nun lokale Künstler als Galerie<br />

sowie Kindern und Jugendliche als Theater.<br />

Wissenschaftler treffen sich zu Diskursen<br />

übers Festivalthema: Wie wollen<br />

wir arbeiten, wohnen, essen, leben, lieben?<br />

Und der sonst menschenleere<br />

Marktplatz wird zum Anti-Vandam-Entwurf:<br />

zusammenrücken statt abgrenzen.<br />

Musikanten und Köche sorgen fürs Stadtfestambiente.<br />

Schicker ausgedrückt könnte<br />

man auch vom Werden einer sozialen<br />

Skulptur sprechen. Immer wieder ist von<br />

<strong>Blumenthal</strong>ern zu hören, dass sie hier<br />

seit Langem mal wieder mit <strong>Blumenthal</strong>ern<br />

ins Gespräch kommen.<br />

Und was bleibt, wenn die Kommunikationsanimateure<br />

abgereist, die Leerstände<br />

wiederhergestellt sind? Der Mietvertrag<br />

fürs Festivalcafé läuft ein Jahr, es darf<br />

also als Treffpunkt und Veranstaltungsort<br />

weitermachen. Und aus der Festivalwährung<br />

soll ein allgemeines Zahlungsmittel<br />

werden – damit gemeinnütziger, auch<br />

künstlerischer Arbeit ein monetärer Wert<br />

zugewiesen wird. Ist jemand diesbezüglich<br />

15 Minuten bei einem der 40 Festivalpartner<br />

tätig – stellt Bänke auf, räumt<br />

Müll weg, lässt Eintöpfe brodeln, singt<br />

Lieder, hilft in der Altenpflegestation<br />

aus –, wird das mit einem Gutschein über<br />

500 „Blumentaler“ honoriert. In der Blumenbank,<br />

einer ehemaligen Bäckerei,<br />

werden sie in Scheinen ausbezahlt. Für<br />

1000 „Blumentaler“ bekommt man derzeit<br />

im Eiscafé zwei Kugeln auf die Waffel.<br />

Für 3000 „Blumentaler“ ist ein Theaterticket<br />

zu erwerben. Derzeit akzeptieren<br />

acht Geschäfte die Währung. Der Ortsamtsleiter<br />

versucht, auch im Einkaufszentrum<br />

der Region einen Wechselkurs zu<br />

organisieren. 225000 „Blumentaler“ sind<br />

dank des Festivals bereits im Umlauf. Das<br />

bedeutet auch: „Viele Menschen wurden<br />

für Stadtteilaktivitäten dazugewonnen“,<br />

wie die Quartiersmanagerin feststellt.<br />

Zwischen den Theater- und <strong>Blumenthal</strong>-<br />

Machern hat’s nachhaltig gefunkt. „Eigentlich<br />

wollten wir jedes Jahr in einen<br />

anderen Stadtteil zum Auswärtsspiel einziehen,<br />

aufgrund der entstandenen<br />

Freundschaften werden wir aber in den<br />

Bremer Norden zurückkehren“, verspricht<br />

Driemeyer. Das Theater hat als<br />

Stadtentwickler am Rande des urbanen<br />

Raums ein Lebenszeichen entflammt.<br />

Klingt jetzt pathetisch. Ist aber so.

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