DB_2016_01_38_41_SW_Partizipation_korr
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<strong>38</strong> SCHWERPUNKT<br />
Zuschauer als Mitspieler<br />
DIE DEUTSCHE BÜHNE 1/<strong>2<strong>01</strong>6</strong><br />
DIE DEUTSCHE BÜHNE 1/<strong>2<strong>01</strong>6</strong><br />
SCHWERPUNKT 39<br />
Zuschauer als Mitspieler<br />
„Jeden Abend<br />
etwas anderes“<br />
Für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg hat „Signa“ die Zuschauer<br />
zu Mitgliedern der sektenähnlichen Firma „Söhne & Söhne“ gemacht.<br />
Wie aber bereiten sich Regie und feste Mitspieler auf die Inszenierung vor?<br />
Text_Jens Fischer<br />
Amanda Babaei Vieira in<br />
„Söhne & Söhne“<br />
Foto: Arthur Köstler<br />
UUnweit der Außenalster flattert stolz die<br />
Flagge eines Familienunternehmens:<br />
„Söhne & Söhne“. Stets geschlossen sind<br />
die bürokratiegrauen Vorhänge und alle<br />
Türen verrammelt. Erstaunlich auch der<br />
schäbig kleine Blechbriefkasten mit dem<br />
ausgeblichenen Namenszug. Warum steht<br />
„Gewerbeschule der Bauhandwerker“ in<br />
Stein gemeißelt neben dem Eingangsportal?<br />
Wieso quellen Mülltonnen über mit<br />
Verpackungen original dänischen Starkbieres?<br />
Signa, das in Kopenhagen von Signa<br />
und Arthur Köstler verknotete Netzwerk<br />
für performative Installationen, hat<br />
für das Deutsche Schauspielhaus den leerstehenden<br />
Schulpalast gekapert, sich dort<br />
eingenistet, alles vergilbt (auf Malerdeutsch:<br />
Papyrus-Weiß) hergerichtet und<br />
mit verstorbenen Zimmerpflanzen garniert.<br />
Anmutung: Stasizentrale.<br />
Darin soll das imaginäre Firmenimperium<br />
als einnehmend unheimliches, hermetisches<br />
System kafkaeske Urständ feiern.<br />
Es gilt, die Grenzen von Vor- und<br />
Mitspielen zu verwischen. Dafür benötigt<br />
das darstellende Personal eine besondere<br />
Vorbereitung. Bei der Erfahrung hilft.<br />
Ein Großteil der 50 in Hamburg agierenden<br />
„Söhne & Söhne“ wird aus dem Veteranenpool<br />
rekrutiert, in dem etwa<br />
300 Künstler gelistet sind, die seit Jahren<br />
mit Signa arbeiten. Vor allem Schauspieler,<br />
aber auch Tänzer, Schriftsteller, Bühnenbildner<br />
und Musiker. 20 Arbeitsplätze<br />
werden vor Ort bei einem Casting vergeben.<br />
„Ich habe mir dafür extra das Buch<br />
,Spiele für Seminare und Workshops‘ gekauft“,<br />
erzählt Signa Köstler. Statt klassischem<br />
Vorsprechen gibt es also Kennlernund<br />
Improvisationsübungen.<br />
Acht Wochen vor der Premiere ziehen die<br />
Frischlinge und Veteranen am Spielort<br />
ein. Um 9 Uhr ist gemeinsames Frühstück<br />
angesetzt, ab 10 Uhr hält Köstler Vorträge<br />
über Körpersprache, Augenkontakt oder<br />
die Mythologie von „Söhne & Söhne“.<br />
In großer Runde wird über lodernde<br />
Probleme und schmerzende Reibereien<br />
diskutiert. Bis zur Nachtruhe dann:<br />
Gruppenarbeit. Vorbereitet ist die Rahmengeschichte<br />
des „Bestiariums des wahren<br />
Lebens“, wie Köstler den Abend<br />
nennt. Die Besucher sollen einen Probearbeitstag<br />
als Persönlichkeitstest bei „Söhne<br />
& Söhne“ absolvieren und dabei einen<br />
Parcours simulierter Lebensstationen<br />
durchlaufen – Kindheit, Liebe, Krankheit,<br />
Unglück sind so Überschriften aus dem<br />
Bestiarium-Entwurf. Ihnen werden Darsteller<br />
und je ein voll ausgestatteter Simulationsraum<br />
zugeordnet. „Jede Gruppe in<br />
jedem Zimmer muss autonom funktionieren“,<br />
erklärt die Chefin. Für finale Daseinsfragen<br />
ist beispielsweise so schäbig<br />
verranzt wie detailverliebt ein Krankenhauszimmer<br />
eingerichtet. Die Zuschauer<br />
sollen ihr eigenes Sterben spielen, Ärzte<br />
und Krankenschwestern fragen nach<br />
Ängsten, trösten, umarmen, kuscheln,<br />
weinen, trauern. Anschließend wird mit<br />
ernster Miene zum Gespräch über Tod<br />
und Sterbebegeleitung gebeten. Köstler:<br />
„Wir wollen das Publikum aus seiner<br />
Komfortzone holen, mit Gewalt, Tod, Sexualität,<br />
Schuld konfrontieren – als echtes<br />
Angebot, darüber zu reden.“ Damit die<br />
Mimen fachkompetent wirken, ist die<br />
Hälfte der achtwöchigen Probenzeit individuellen<br />
Recherchen vorbehalten.<br />
Alle Rollen sind biographisch skizziert.<br />
Köstler verteilt zusätzlich Fragebögen.<br />
Warum ist die Figur bei „Söhne & Söhne“<br />
eingestiegen, wie ist sie aufgestiegen,<br />
was treibt sie an? „Mit den Antworten<br />
bringen die Schauspieler das Fleisch ans<br />
Charakterskelett.“ Ab jetzt wird nichts<br />
mehr schriftlich fixiert. Die Darstellung<br />
soll – Stichwort: Einfühlungstheater – Eigenleben<br />
entwickeln, sich verselbstständigen.<br />
Improvisatorisch erweitern die<br />
Teams ihre Szenen, testen Varianten und<br />
spielen dabei wechselseitig Zuschauer<br />
füreinander. „Einige wollen nonstop<br />
spielen. Da müssen wir aufpassen, wir<br />
sind ja keine Sekte, die mit einer Hirnwäsche<br />
neue Identitäten verpasst, deswegen<br />
brauchen wir psychisch stabile Leute, die<br />
nach den sechsstündigen Aufführungen<br />
sofort aus ihrer Rolle aussteigen können“,<br />
betont Köstler.<br />
In der letzten Probephase werden externe<br />
Zuschauer als Probanden hinzugeholt –<br />
und mit ihnen die interaktiven Erfahrungen<br />
diskutiert. „Es ist ja eine unglaublich<br />
zerbrechliche Situation, wie sich das Publikum<br />
und die ihm ausgelieferten Darsteller<br />
gegenseitig beeinflussen, da muss man<br />
sein Handwerkszeug parat haben und<br />
vorbereitet sein. Denn ganz wichtig ist:<br />
Nie aus der Rolle gehen, egal, was die Besucher<br />
machen.“ Köstler hat deswegen für<br />
jede Station aufgelistet, was voraussichtlich<br />
gefragt, getan, verweigert wird. Das<br />
lässt sich prophezeien? „Ja, nach so vielen<br />
Jahren kennt man das Spektrum der verschiedenen<br />
Zuschauertypen.“<br />
Man staunt: Jeder Botengang, jedes Geflüster<br />
hinter vorgehaltener Hand, das<br />
ständige Kommen und Gehen – alles<br />
wirkt, als würde es sich zufällig ergeben.<br />
Und ist doch generalstabsmäßig geplant?<br />
„Es gibt einen flexibel auszulegenden<br />
Masterplan“, verrät Köstler, um jeden<br />
Abend 70 Zuschauer in ständig wechselnden<br />
Konstellationen durch maximal<br />
zwölf Stationen auf drei Etagen des Hauses<br />
zu leiten. Für jeden Besucher hat sie<br />
ein benummertes Papierplättchen gebastelt<br />
und diese so lange auf dem Parcoursplan<br />
herumgeschoben, bis der Publikumsfluss<br />
unfallfrei funktioniert.<br />
Übertragen in ein für Köstler entwickeltes<br />
Computerprogramm, kann sie den<br />
Ablauf ausdifferenzieren und mit dem
40 SCHWERPUNKT<br />
Zuschauer als Mitspieler<br />
DIE DEUTSCHE BÜHNE 1/<strong>2<strong>01</strong>6</strong><br />
DIE DEUTSCHE BÜHNE 1/<strong>2<strong>01</strong>6</strong><br />
SCHWERPUNKT <strong>41</strong><br />
Zuschauer als Mitspieler<br />
Einsatzplan der Darsteller <strong>korr</strong>elieren.<br />
Aber kein Inspizient überwacht eine sekundengenau<br />
getaktete Abfolge. Jeder<br />
hätte den Abend dermaßen verinnerlicht,<br />
so Köstler, dass er jederzeit wisse,<br />
wann er wo was machen müsse – und wie<br />
viel Freiraum es dabei gebe. Im Treppenhaus<br />
stehen, das Hin und Her, Rauf und<br />
Runter, Mit- und Gegeneinander überblicken<br />
– ist das Ihre Partitur, die ohne Dirigent<br />
zum Ereignis wird? Köstler: „Eher<br />
ein lebendiger Organismus, alles funktioniert<br />
wie von selbst und jeden Abend<br />
etwas anders. Sehr, sehr schön.“ Dass die<br />
Fiktion so hyperrealistisch triumphiert,<br />
Johannes Köhler in der Firma „Söhne & Söhne“<br />
mag an der Intimität des Ensemblealltags<br />
liegen. Lagerkollergefahr? „Im Gegenteil,<br />
neue Partnerschaften entstehen, aber<br />
Epidemien gibt es – wenn sich einer von<br />
uns einen Virus oder Läuse einfängt, haben<br />
das gleich alle.“ Was hält die große<br />
WG zusammen? „Die Intensität des kollektiven<br />
Lebens und Arbeitens, man verliert<br />
von Tag zu Tag mehr das Bedürfnis,<br />
nach draußen zu gehen. Einige zwingen<br />
sich daher ganz bewusst ins Fitnessstudio<br />
oder mal ins Kino.“<br />
So reich die Aufführung ist, so arm wirken<br />
die Arbeitsbedingungen. Wer hinter<br />
die Kulissen schaut, gewinnt einen Eindruck<br />
von prekärem Künstlertum. Klassenräume<br />
der Ex-Gewerbeschule sind<br />
mit Sperrmüll zu spartanischen Ein- bis<br />
Dreibettzimmern hergerichtet. Es gibt<br />
zwei Duschen für das 50-köpfige Team.<br />
Die Produktions- ist keine Hightechzentrale<br />
im Apfeldesign, sondern ein überquellendes<br />
Materiallager mit kaum<br />
noch freigeschaufelten Schreibtischmulden.<br />
In einem Raum hängen die Kostüme,<br />
in einem anderen gruppieren sich<br />
Schuhpaare zu einem Bodenmosaik.<br />
Selbstbedienung für alle, denn alle müssen<br />
auch mitspielen. Hinter der Bühnenillusion<br />
befindet sich während der<br />
Aufführung nur ein einziger Mitarbeiter<br />
– der Techniker für Notfälle. Muss er<br />
Requisiten ersetzen, hat er eine große<br />
Auswahl. Kiloweise Fotos, Bilder, Dutzende<br />
Lampen, Kerzenhalter, TV-Geräte,<br />
Feuerzeuge, Radios, reichlich Büroutensilien<br />
und Hotelinventar lagern im Keller<br />
– alles 60er-, 70er- oder 80er-Originale.<br />
Zu Haufen sortiert, auf dem Boden<br />
verteilt. Oder noch in mannshoch gestapelten<br />
Kartons schlummernd.<br />
Vieles hat Köstler in Hamburg gesammelt<br />
– auf Flohmärkten, bei Haushaltsauflösungen,<br />
mittels Kleinanzeigenmarkt.<br />
Der Großteil aber kam mit Lkws<br />
aus dem heimischen Archiv, das bei<br />
Köstlers auf Hunderten Quadratmetern<br />
in einem umgebauten Schweinestall,<br />
einer Scheune und diversen Containern<br />
Platz findet. Stichwort Telefon? „So 70<br />
habe ich wohl, bin ja seit 15 Jahren immer<br />
obsessiver am Sammeln“, sagt<br />
Köstler. Täglich fahre sie daheim die<br />
Müllablagestellen der umliegenden<br />
Hochhäuser ab. „80 Prozent von dem,<br />
was ich finde, schicke ich einem Kinderhilfswerk<br />
in Rumänien.“ Und was bekommen<br />
die Schauspieler? Grenzerfahrungen.<br />
„Alle Beteiligten engagieren<br />
sich über ein übliches Maß hinaus –<br />
sonst würde es hier auch gar nicht funktionieren“,<br />
erklärt Köstler. Viele wollen<br />
ihr flugs nach Wien folgen. Signa ist für<br />
die Festwochen <strong>2<strong>01</strong>6</strong> gebucht.<br />
Foto: Arthur Köstler<br />
Mut zum<br />
laufenlassen<br />
Wie am Staatstheater Oldenburg Mitspieltheater organisatorisch bewältigt wird<br />
Das Ende naht. Das Staatstheater Oldenburg hilft –<br />
und bittet Studenten, schnell mal Rettung versprechende<br />
Visionen neuer Wirtschaftsordnungen zu<br />
recherchieren. Eine freie Theatergruppe soll mit<br />
den Ergebnissen den „Utopoly“-Spieleabend generieren: Zuschauern<br />
also alternative Gesellschaftsformen vermitteln und<br />
an Casinotischen um die Zukunft der Welt zocken lassen. Eines<br />
dieser interaktiven Performanceformate, die seit Jahren das<br />
Backstageteam herausfordern. Auch weil Schauspieldramaturg<br />
Marc-Oliver Krampe damit ans Theater den Anspruch formuliert,<br />
„uns verändern zu lassen“.<br />
Kürzlich wurde ein multikulturelles Hochzeitsfest als Speeddating-Möglichkeit<br />
für Besucher in einem leerstehenden Innenstadtgeschäft<br />
organisiert. Publikumshit ist das Repair-<br />
Café, bei dem Elektrofrickler nicht nur Toaster, sondern<br />
Schauspieler auch Seelen reparieren. „Postkollaps – gemeinsam<br />
weniger erreichen“ lautet das Motto. Dass damit die Kooperation<br />
von künstlerischem und nichtkünstlerischem Bereich<br />
beschrieben ist, verneint der technische Direktor Günter<br />
Riebl. Und erklärt: Während<br />
Opern spätestens sieben Monate<br />
vor der Premiere komplett durchgeplant,<br />
damit auch die Arbeitszeiten<br />
der Gewerke in größerem<br />
Umfang verplant seien, beginne<br />
die Konzeptionierung einer Performance<br />
erst mit Probenbeginn.<br />
„Da wir die Anforderungen des<br />
Bühnenbilds, die Zuschauerzahl<br />
und Notwendigkeit einer Tribüne<br />
nicht kennen“, sagt Riebl, „können<br />
wir auch nicht vorab Materialien<br />
bestellen, schon mal lospinseln<br />
und den Spielort sicherheitstechnisch<br />
vorbereiten. Wir<br />
müssen auf Zuruf liefern.“<br />
Text_Jens Fischer<br />
Dafür war das Haus nicht gut aufgestellt. Daher wurde die Abteilung<br />
Veranstaltungstechnik eingerichtet. Während hinter<br />
den Kulissen der Opern- und Schauspielbühne die Spezialisten<br />
arbeiten – beispielsweise Toningenieure, Beleuchter, Schlosser,<br />
Maler, Tischler –, sind für die Experimentalbühne, im Spielraum,<br />
Foyer und an allen Außenspielstätten die Veranstaltungstechniker<br />
zuständig: sechs Männer und eine Frau – allesamt<br />
handwerkliche Allrounder. Sie begleiten die Projekte von Anfang<br />
bis Ende. Arbeitszeitprobleme sind möglich. „Uns reichen<br />
selten vier bis sechs Probewochen, da wir Rechercheblöcke einschieben,<br />
vieles lässt sich dann nur mit Charmeoffensiven und<br />
Stalking im Haus ermöglichen“, schmunzelt Krampe.<br />
„Es gilt, ein Gleichgewicht zu finden zwischen gegenseitigem<br />
Her antasten und Laufenlassen“, so Riebl. Meist sei eine Mitspielproduktion<br />
in bühnentechnischer Hinsicht trivialer als der<br />
Staatstheaterstandard, der Ausstattungsaufwand aber höher. Und<br />
der Betreuungsbedarf ein anderer. Als technischer Direktor habe<br />
er vor allem zu vermitteln, wie die Staatstheatermaschinerie zu<br />
bedienen ist. „Alle am Haus sind bei solchen Projekten sehr gefordert“,<br />
sagt Riebl. Wenn im Stadtraum<br />
gespielt wird, komme es auch zu<br />
Überforderungen. Muss doch jeder<br />
Nagel dort hingetragen werden. Wobei<br />
die freien Gruppen heute auch<br />
Multifunktionskünstler seien. „Die<br />
können Licht, Ton, Budgetverwaltung<br />
und Produktionsplanung, haben viel<br />
praktische Erfahrung, das hilft natürlich.“<br />
Aber noch treffen zwei Welten<br />
aufeinander. Kürzlich fragte eine Inspizientin,<br />
wann sie ein bestimmtes<br />
Objekt auf die Bühne hieven lassen<br />
soll – und erhielt zur Antwort, dass sie<br />
das nicht an der Uhrzeit oder einem<br />
Stichwort festmachen, sondern in sich<br />
spüren müsse …