Marianna Salzmann über Muttermale Fenster blau - Badisches ...
Marianna Salzmann über Muttermale Fenster blau - Badisches ...
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Neue DraMaTIK MARIANNA SALZMANN<br />
Da KoMMT eINe Neue welT<br />
auF uNs zu<br />
<strong>Marianna</strong> salzmann spricht <strong>über</strong> ihr stück MuTTerMale<br />
FeNsTer Blau, für das sie mit dem renommierten Kleist-Förderpreis<br />
für junge Dramatiker 2012 ausgezeichnet wird. am<br />
20.5. wird das stück bei den ruhrfestspielen recklinghausen<br />
seine uraufführung erleben – ab dem 26.5. läuft die Inszenierung<br />
von carina riedl dann im sTuDIo.<br />
Bei meinem ersten abendfüllenden Theaterstück weißbrotmusik<br />
gab es während einer Vorstellung eine Prügelei. Wütende Zuschauer<br />
attackierten die Schauspieler oder meinten, ihnen zu<br />
helfen – das war in dem Pulk nicht auseinanderzuhalten. Fast<br />
nach jeder Vorstellung gab es Streit unter den Besuchern, weil<br />
sie sich nicht mehr sicher waren, auf welcher Seite sie standen.<br />
Für diese Momente schreibe ich – das Hinterfragen der eigenen<br />
Position. Niemand wird angeklagt, niemand wird verschont. Ich<br />
nehme mich selbst nicht aus.<br />
weißbrotmusik behandelt den authentischen Fall von zwei Jugendlichen<br />
mit so genanntem Migrationshintergrund – türkischem<br />
und griechischem –, die einen deutschen Rentner fast zu<br />
Tode prügelten, und machte den Griechen zum Juden. Nicht der<br />
Fall als solcher war das Zentrum, mich interessierte die Debatte<br />
danach, in der man von einer genetischen Disposition zur Kriminalität<br />
bei Ausländern sprach. Sogar von Tests auf „kriminelle<br />
Gene“ war die Rede. Ich fragte mich: Würden die Deutschen<br />
auch so reden, wenn einer von den Tätern ein Jude gewesen<br />
wäre?<br />
Mich interessiert das Tabu. Mich interessiert, warum es existiert.<br />
Mich interessiert, dass wir gewohnt sind, es hinzunehmen,<br />
bevor wir ans eigenständige Denken gehen.<br />
Bei <strong>Muttermale</strong> <strong>Fenster</strong> <strong>blau</strong> ging es mir um meine eigenen<br />
Grenzen. Um Dinge, die ich nicht begreifen oder nicht beantworten<br />
konnte. Ich recherchierte zu der Entstehung der Familie<br />
bzw. zu der Entstehung der familiären Zugehörigkeits-<br />
gefühle, von denen uns suggeriert wird, sie seien so alt wie die<br />
Menschheit selbst. Aber weder die Fokussierung der Mutter<br />
auf das Kind noch Vater-Tochter Beziehungen sind naturgegeben<br />
einem Schema der Selbstaufgabe und biologistischen Regeln<br />
unterworfen. Hinter jedem uns vermittelten Pflichtgefühl<br />
offenbart sich eine für die Gemeinschaft nützliche Strategie.<br />
Meine Moralvorstellungen kämpfen in diesem Stück mit dem<br />
30<br />
Ekel vor einer Gesellschaft, die das Individuum nicht zu schützen<br />
vermag, wohl aber zu verurteilen und auszustoßen, sobald<br />
es ihren ökonomischen Interessen schädlich ist – eine Gesellschaft,<br />
die für mich moralische Tabus schafft, bevor ich die<br />
Möglichkeit habe, selbst zu verstehen, was meine Moral ist. Ich<br />
schrieb aus der Perspektive von Ljöscha, einem jungen Menschen,<br />
der verstehen möchte, was das denn sein soll: ein Vater,<br />
ein Mann, ein Mensch zu sein.<br />
Ich habe keine Kategorien für meine Themen – sie kommen zu<br />
mir in Form von Fragen, die ich zuerst an mich selbst stelle und<br />
dann an die anderen. Wir alle sind uns einig, dass das Theater<br />
nicht dazu da ist, Fragen zu beantworten, sondern welche aufzuwerfen.<br />
Ich finde aber, eine starke Behauptung, das Riskieren<br />
einer Aussage mit allen Konsequenzen des Scheiterns, zwingt<br />
viel mehr zu Reflexion als das modische Schwimmen im Reich<br />
der Beliebigkeiten. Eine kontroverse Aussage ist eine starke<br />
Frage und zwingt zu Positionierung.<br />
Das Theater ist meistens eine bourgeoise Veranstaltung, muss<br />
es aber nicht sein. Es muss nicht um sich selbst kreisen und,<br />
sich selbst kommentierend, dar<strong>über</strong> verzweifeln, dass alles<br />
schon gesagt wurde – das ist schlechthin nicht wahr. Da kommt<br />
eine neue Welt auf uns zu, und wir verstecken uns in der Behauptung,<br />
das kenne man schon. Wenn es etwas Langweiliges<br />
gibt, dann sind es die müden, satten Theatermacher und ihr Publikum.<br />
Theater ist ein Ort, an dem man etwas sagen will. Ich<br />
glaube daran, dass das geht.<br />
Dass ich mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet werde – vor<br />
allem für dieses sperrige, lyrische Familienstück – bedeutet,<br />
dass meine Versuche, das Unaussprechliche zu formulieren,<br />
nicht nur für mich interessant sind. Das ist viel.<br />
<strong>Marianna</strong> salzmann, geboren 1985 in Wolgograd, wuchs in Moskau<br />
auf und <strong>über</strong>siedelte 1995 nach Deutschland. Sie studierte an der Universität<br />
Hildesheim Literatur/Theater/Medien. 2008–12 nahm sie am<br />
Lehrgang „Szenisches Schreiben“ der Universität der Künste in Berlin<br />
teil. Ihr erstes Stück weißbrotmusik wurde 2010 bei den Wiener<br />
Wortstaetten uraufgeführt, 2011 dann satt am Bayerischen Staatsschauspiel.<br />
2012 erhält sie den Kleist-Förderpreis, außerdem arbeitet<br />
sie an einem Auftragswerk für das Berliner Ballhaus Naunynstraße.