Geschichte in Zeitzeugnissen - AR · AI 500
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<strong>Geschichte</strong> <strong>in</strong> <strong>Zeitzeugnissen</strong><br />
im jahr 2013 feiern appenzell ausser- und <strong>in</strong>nerrhoden<br />
<strong>500</strong> jahre zugehörigkeit zur eidgenossenschaft. das jubiläums-<br />
projekt zeit zeugnisse arbeitet anhand kultur historischer<br />
objekte und dokumente die appenzeller geschichte auf, gibt<br />
aber auch e<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> viele persönliche er<strong>in</strong>nerungen.<br />
texte: christ<strong>in</strong>e könig ■ bilder: mart<strong>in</strong>a basista<br />
10 thema thema 11
«… wenn ich nur zu Hause b<strong>in</strong> und gesund b<strong>in</strong>»<br />
❙ zeitzeugnisse: letzter brief von friedrich langenauer,<br />
orden des belgischen königreichs, rasiermesser<br />
❙ aufbewahrt von: brigitta und kurt langenauer, urnäsch<br />
Den letzten Brief fanden Brigitta<br />
und Kurt Langenauer <strong>in</strong> der Schublade<br />
e<strong>in</strong>es Nachttischle<strong>in</strong>s im Stickerhöckli,<br />
das sie <strong>in</strong> der Buechen<br />
<strong>in</strong> Urnäsch bewohnen. «Irgendwer<br />
hat ihn wohl immer wieder gelesen»,<br />
vermuten sie.<br />
Am 22. Juli 1915 schrieb Friedrich<br />
Langenauer, der Stiefonkel von<br />
Kurt Langenauer, <strong>in</strong> enger Schnürlischrift<br />
auf Papier, dessen Kopf<br />
e<strong>in</strong> mächtiges Schiff ziert: «Lieber<br />
Vater, ich teile dir kurz mit, dass<br />
ich wahrsche<strong>in</strong>lich nach 14 Tagen<br />
oder drei Wochen nach Hause<br />
komme, denn ich b<strong>in</strong> jetzt weg<br />
vom Schiff, aber ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> Swansea<br />
<strong>in</strong> England.» Von Rheuma geplagt,<br />
sehnte er sich nach der Heimat.<br />
«Ich kann dir sagen, dass mich diese<br />
Reise Geld kostet, aber das ist<br />
gleich, wenn ich nur e<strong>in</strong>mal zu<br />
Hause b<strong>in</strong> und gesund b<strong>in</strong>. Nun<br />
will ich schliessen, <strong>in</strong> der Hoffnung,<br />
wir sehen uns bald. Grüsst<br />
Euch freundlich, Fritz.»<br />
Friedrich Langenauer, genannt<br />
Fritz, kam 1887 als jüngstes von<br />
drei K<strong>in</strong>dern von Sticker Johann<br />
Jakob Langenauer (1859–1939)<br />
und Anna Barbara Tardy <strong>in</strong> Urnäsch<br />
zur Welt. Als er zwei Jahre<br />
alt war, starb die Mutter. Der Vater<br />
heiratete e<strong>in</strong> zweites Mal, Fritz<br />
bekam 15 Stiefgeschwister. Als<br />
25-Jähriger heuerte er als Heizer<br />
und Masch<strong>in</strong>ist auf dem belgischen<br />
Frachtschiff «Koophandel»<br />
an und reiste weit herum. Se<strong>in</strong>er<br />
Familie schickte er unter anderem<br />
Postkarten aus Italien, Belgien,<br />
Amerika, Russland und Portugal.<br />
Besonders angetan hatte es ihm<br />
New York. Nach Hause schrieb er:<br />
«Wenn ich diese Reise glücklich<br />
ankomme, so gehe ich dann wie-<br />
12 thema<br />
der nach Amerika und bleibe<br />
dort.» Es kam anders.<br />
Am 30. Juli schiffte sich Fritz Langenauer<br />
auf der «Koophandel» e<strong>in</strong>.<br />
Das Schiff sollte von Swansea nach<br />
Savona <strong>in</strong> Italien fahren. Am<br />
1. August wurde es <strong>in</strong> der Nähe von<br />
Brest vom deutschen Unterseeboot<br />
U28 torpediert und versenkt; der<br />
Erste Weltkrieg befand sich im<br />
zweiten Jahr. Fritz konnte sich mit<br />
der Schiffsmannschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Boot<br />
retten. Unterwegs zu e<strong>in</strong>em Hafen<br />
verliessen ihn aber se<strong>in</strong>e Kräfte. Er<br />
starb am 2. August 1915, erschöpft,<br />
vielleicht auch verwundet. Se<strong>in</strong>e<br />
Kameraden versenkten se<strong>in</strong>en Kör -<br />
per im Meer. Er h<strong>in</strong>terliess se<strong>in</strong>e<br />
Familie und se<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> Berta<br />
Benz aus Waldstatt. Se<strong>in</strong> Tod war<br />
Dorfgespräch, und am 5. September<br />
1915 fand e<strong>in</strong>e Abdankung<br />
statt. Noch als 1939 der Vater von<br />
Fritz starb, war der spektakuläre<br />
Tod se<strong>in</strong>es Sohnes Thema <strong>in</strong> der<br />
Grabrede.<br />
Es verg<strong>in</strong>gen mehr als zehn Jahre,<br />
dann erhielten die H<strong>in</strong>terbliebenen<br />
ungewöhnliche Post. 1926<br />
traf e<strong>in</strong> Paket e<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>em Orden<br />
an e<strong>in</strong>em farbigen Band und zwei<br />
gekreuzten Ankern darauf. In der<br />
Urkunde erklärte das Königreich<br />
Belgien, Fritz Langenauer posthum<br />
die Kriegsseefahrtsmedaille<br />
3. Klasse zu verleihen, e<strong>in</strong>e Anerkennung<br />
für Seeleute, die sich im<br />
Verlaufe des Kriegs besonders um<br />
Belgien verdient gemacht hatten.<br />
All diese Belege von Fritz Langenauers<br />
Leben haben Brigitta und<br />
Kurt Langenauer vor zwanzig Jahren<br />
auf dem Dachboden ihres<br />
Hauses gefunden, fe<strong>in</strong> säuberlich<br />
versorgt <strong>in</strong> Schachteln, wohl aufgehoben<br />
von der Familie <strong>in</strong> liebe-<br />
voller Er<strong>in</strong>nerung an Fritz Langenauer.<br />
Brigitta und Kurt Langenauer haben<br />
die Familiengeschichte rekonstruiert<br />
und sie festgehalten <strong>in</strong><br />
mehreren Ordnern. Entstanden ist<br />
e<strong>in</strong>e umfassende Chronik, die mit<br />
Johann Jakob Langenauer (1833–<br />
1899) beg<strong>in</strong>nt, Polizeidiener <strong>in</strong><br />
Urnäsch, Grossvater von Fritz<br />
Langen auer, Urgrossvater von<br />
Kurt Langenauer. 1870 kaufte besagter<br />
Johann Jakob Langenauer<br />
das Haus <strong>in</strong> der Buechen. Vier Generationen<br />
Langenauers beherbergte<br />
es, die Bewohner erlebten<br />
zwei Weltkriege, die Stickerkrise<br />
und mehrere Wirtschaftskrisen.<br />
Geblieben von Fritz Langenauer<br />
ist e<strong>in</strong> Rasiermesser, das er wohl<br />
vergessen hat e<strong>in</strong>zupacken. Geblieben<br />
s<strong>in</strong>d das Taufbüchle<strong>in</strong><br />
und das reichverzierte Couvert für<br />
den Göttibatzen. Geblieben s<strong>in</strong>d<br />
e<strong>in</strong> Schulheft aus der sechsten<br />
Klasse und die Konfirmationsurkunde.<br />
Geblieben s<strong>in</strong>d Fotos, die<br />
ihn als L<strong>in</strong>ienarbeiter der Bahn<br />
zeigen, Fotos, auf denen er vor<br />
e<strong>in</strong>em grossen Schiff posiert. Geblieben<br />
ist e<strong>in</strong> Bild, das se<strong>in</strong>e<br />
Mitkonfirmanden der Familie zu<br />
se<strong>in</strong>em Gedenken schenkten. Geblieben<br />
s<strong>in</strong>d die Schiffchen aus<br />
Metall, Watte und Papier, die Fritz<br />
Langenauer nach Hause schickte,<br />
um damit den Christbaum zu<br />
schmücken.<br />
Geblieben ist e<strong>in</strong>e ungewöhnliche<br />
<strong>Geschichte</strong>. Geblieben ist der<br />
Stolz. Genau wie se<strong>in</strong>e Vorfahren<br />
ist Kurt Langenauer heute stolz auf<br />
Fritz Langenauer und se<strong>in</strong>e Auszeichnung.<br />
«Er ist wohl e<strong>in</strong>er der<br />
wenigen Urnäscher, der so etwas<br />
erlebt hat.»<br />
Seiten 10/11:<br />
Zeitzeugnisse im<br />
Uhrzeigers<strong>in</strong>n,<br />
angefangen beim<br />
Foto von Freifrau<br />
Sel<strong>in</strong>e Benko<br />
von Bo<strong>in</strong>ik geb.<br />
Leuch aus Heiden,<br />
1903; Poesiealbum<br />
von Ella<br />
Stricker, 1929;<br />
Handwerkertafel<br />
Speicher/Trogen,<br />
1828; Wachs halbporträt<br />
Dr. Landis,Schönengrund,<br />
1842;<br />
Ausserrhoder<br />
Richtschwert,<br />
1733; ältestes<br />
Jahrzeitbuch von<br />
Appenzell, 1566;<br />
Trauungssche<strong>in</strong><br />
Bruderer-Bruderer<br />
<strong>in</strong> St. Petersburg,<br />
1857; Synodalsiegel,<br />
1618.
Die Welt, die vor ihm liegt<br />
❙ zeitzeugnisse: briefmarken des 20. und 21. jahrhunderts<br />
aus aller welt<br />
❙ werden bearbeitet von: bruder walbert boschung, appenzell<br />
Auf dem Tisch stehen drei Schachteln.<br />
Dar<strong>in</strong> liegt die Welt. Die<br />
Welt des angebrochenen Jahrhunderts<br />
und die Welt des vergangenen<br />
Jahrhunderts. Die Welt geklebt<br />
auf Postkarten und Briefe.<br />
Die Welt der Menschen, die Marken<br />
gekauft und verwendet haben.<br />
Die Welt der Orte, die die<br />
Briefmarken bereist haben. Die<br />
Welt <strong>in</strong> Schnipseln. Sie zurechtschneiden<br />
und sortieren, zehnfach,<br />
hundertfach, tausendfach,<br />
das ist Bruder Walbert Boschungs<br />
Aufgabe. Jede e<strong>in</strong>zelne Marke<br />
würdigt er mit e<strong>in</strong>em Blick, dem<br />
Blick des Kenners, mit dem Blick<br />
desjenigen, der sich bewusst ist,<br />
was er <strong>in</strong> den Händen hält: Zeugnisse<br />
von Zeit und menschlichen<br />
Dase<strong>in</strong>s.<br />
Bruder Walbert Boschung, 72jährig,<br />
ist seit 53 Jahren Kapuz<strong>in</strong>er.<br />
Er wohnte <strong>in</strong> verschiedenen Klöstern,<br />
jedes für sich Zeuge mehrerer<br />
Jahrhunderte, vieler Generationen<br />
Dar<strong>in</strong>lebender. Se<strong>in</strong>e Stationen<br />
waren Stans, Luzern, Arth,<br />
Solothurn, Näfels. Ausser Luzern<br />
wurde mittlerweile allen Klöstern<br />
e<strong>in</strong>e andere Bestimmung zugesprochen.<br />
Seit 38 Jahren lebt er <strong>in</strong><br />
Appenzell. Das Zimmer, das er bewohnt,<br />
das Pförtnerzimmer, hat<br />
sich <strong>in</strong> all den Jahren kaum verändert<br />
– das Kloster, der ideale<br />
Ort, um etwas zu bewahren.<br />
Noch immer nimmt der grosse<br />
Pult <strong>in</strong> der Mitte viel Raum e<strong>in</strong>,<br />
noch immer bef<strong>in</strong>det sich das Telefon<br />
auf der Kommode <strong>in</strong> der<br />
l<strong>in</strong>ken Ecke, daneben steht auf<br />
e<strong>in</strong>em niedrigen Tischchen die<br />
Nähmasch<strong>in</strong>e, die ihm seit<br />
45 Jahren beim Schneidern und<br />
Flicken der Kutten gute Dienste<br />
leistet. In das Regal gegenüber<br />
versorgt Bruder Walbert Boschung<br />
die Wäsche se<strong>in</strong>er acht<br />
Mitbrüder. Als Pförtner gehört<br />
auch das zu se<strong>in</strong>en Aufgaben. In<br />
diesem Zimmer, nur wenige Quadratmeter<br />
gross, arbeitet und lebt<br />
er. H<strong>in</strong>ter dem Vorhang als Raumtrenner<br />
schläft er. «Ich habe nicht<br />
viel Platz, aber ich schlafe gut.»<br />
Doch die Tage <strong>in</strong> Appenzell s<strong>in</strong>d<br />
gezählt; das Kloster schliesst im<br />
August und wird damit zum<br />
Denkmal e<strong>in</strong>er Ära: Seit 1587<br />
führten die Kapuz<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Appenzell<br />
e<strong>in</strong> Kloster. Bruder Walbert<br />
Boschung wird <strong>in</strong> Brig e<strong>in</strong> neues<br />
Zuhause f<strong>in</strong>den. Auch dort wird<br />
er für die Aufbereitung der Marken<br />
zuständig se<strong>in</strong>.<br />
Die Missionsprokura der Schweizer<br />
Kapuz<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Olten, die «Heimbasis»<br />
der Missionen, nimmt ausgeschnittene<br />
Briefmarken, schöne<br />
Ansichtskarten und Couverts,<br />
aber auch ganze Briefmarkensammlungen<br />
entgegen. Sie kommen<br />
meistens <strong>in</strong> Schnipseln. Die<br />
Masse ist gewaltig: Ungefähr hundert<br />
Kilogramm s<strong>in</strong>d es jährlich.<br />
Bruder Walbert Boschung ist der<br />
e<strong>in</strong>zige Kapuz<strong>in</strong>er <strong>in</strong> der Schweiz,<br />
der die Marken aufbereitet, seit<br />
15 Jahren macht er das schon. Er<br />
trennt die verletzten von den ganzen,<br />
separiert Sonderbriefmarken,<br />
Viererblöcke und Ersttags-Couverts,<br />
achtet darauf, ob der Poststempel<br />
ganz oder nur teilweise zu<br />
sehen ist. Se<strong>in</strong>e Hände greifen bei<br />
dieser Tätigkeit nach <strong>Geschichte</strong>:<br />
nach Briefmarken aus dem Vatikan,<br />
von der Mondlandung, nach<br />
Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer,<br />
Henry Dunant oder Roger<br />
Federer. Se<strong>in</strong>e Hände greifen nach<br />
den Ländern dieser Welt: nach<br />
Marken aus dem Oman, aus Jordanien,<br />
aus Deutschland, aus den<br />
USA, aus England, aus Ch<strong>in</strong>a… «Es<br />
hat so viele schöne darunter», sagt<br />
er.<br />
Es s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e «Basler Dybli» oder<br />
«Blaue Mauritius», die Bruder Walbert<br />
Boschung sortiert. Es s<strong>in</strong>d<br />
Briefmarken, wie sie Herr und Frau<br />
Schweizer oder Herr und Frau Indonesier<br />
oder Herr und Frau Amerikaner<br />
für ihre Postsendungen<br />
verwenden. Vier Jahrzehnte müssen<br />
vergehen, bevor e<strong>in</strong>e gewöhnliche<br />
Marke an Wert gew<strong>in</strong>nt. Kiloweise<br />
legt sie Bruder Walbert<br />
Boschung, nachdem er sie gesichtet<br />
hat, <strong>in</strong> Schachteln, schaut, dass<br />
<strong>in</strong> jeder viele verschiedene dabei<br />
s<strong>in</strong>d. Dann schickt er sie zurück an<br />
die Missionsprokura. 40 Franken<br />
pro Kilo erhält diese, der Erlös<br />
kommt ihren Projekten <strong>in</strong> der ganzen<br />
Welt zugute. Wertvollere<br />
Briefmarken verpackt Bruder Walbert<br />
Boschung separat, sie können<br />
für e<strong>in</strong>en höheren Preis an Sammler<br />
verkauft werden.<br />
Sobald er se<strong>in</strong>e Aufgaben zum<br />
Wohle der Klostergeme<strong>in</strong>schaft<br />
verrichtet hat, sitzt Bruder Walbert<br />
Boschung auf den Stuhl <strong>in</strong> der<br />
Pförtnerstube und sortiert Marken.<br />
Fast täglich, stundenlang. Es<br />
sei e<strong>in</strong>e kurzweilige Aufgabe, sagt<br />
er, bei der es viel zu entdecken gebe.<br />
Meistens hört er Musik dazu:<br />
Mozart, Händel oder e<strong>in</strong>e schöne<br />
Messe. Er schneidet die Schnipsel<br />
zurecht, die von den Couverts und<br />
Postkarten übriggeblieben s<strong>in</strong>d,<br />
zehnfach, hundertfach, tausendfach,<br />
und er vers<strong>in</strong>kt <strong>in</strong> der Welt,<br />
die vor ihm liegt.<br />
thema 15
Zeitzeugnisse aus fünf Jahrhunderten Im vierten Anlauf zur Eidgenossenschaft<br />
«Appenzeller <strong>Geschichte</strong> <strong>in</strong> <strong>Zeitzeugnissen</strong>»<br />
ist e<strong>in</strong> Teilprojekt im<br />
Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten<br />
zur <strong>500</strong>jährigen Mitgliedschaft<br />
beider Appenzell <strong>in</strong> der Eidgenossenschaft.<br />
Appenzell Ausserrhoden<br />
und Appenzell Innerrhoden<br />
begehen das Jubiläum<br />
«<strong>AR</strong> <strong>AI</strong> <strong>500</strong>» geme<strong>in</strong>sam.<br />
«Appenzeller <strong>Geschichte</strong> <strong>in</strong> <strong>Zeitzeugnissen</strong>»<br />
gibt anhand vielfältiger<br />
Er<strong>in</strong>nerungsstücke E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong><br />
die <strong>Geschichte</strong> der vergangenen<br />
<strong>500</strong> Jahre und zeigt die Vernetzung<br />
des Appenzellerlands <strong>in</strong> der<br />
Schweiz und mit der ganzen Welt<br />
auf. In den Archiven, Bibliotheken<br />
und Museen beider Appenzell bef<strong>in</strong>den<br />
sich viele solcher kulturgeschichtlicher<br />
Dokumente und Objekte.<br />
«Doch das Projekt lebt von<br />
den Er<strong>in</strong>nerungsstücken und <strong>Geschichte</strong>n,<br />
die uns Privatpersonen<br />
zur Verfügung stellen», sagt Peter<br />
Witschi, Ausserrhoder Staatsarchivar<br />
und Projektleiter. Deshalb hat<br />
die Arbeitsgruppe bereits letztes<br />
Jahr zu Mitmachtagen e<strong>in</strong>geladen,<br />
an denen Private ihre geschichtsträchtigen<br />
Sammlungsstücke vor-<br />
Silbernes Landbuch von Appenzell, 1585. Sammlung der<br />
wichtigsten Rechtsgrundlagen.<br />
beibr<strong>in</strong>gen konnten. Demnächst<br />
f<strong>in</strong>den wieder solche Tage statt.<br />
Die Projektverantwortlichen s<strong>in</strong>d<br />
zufrieden: Sie haben viele Er<strong>in</strong>nerungsstücke<br />
vor allem aus dem<br />
19. und 20. Jahrhundert erhalten,<br />
es handelt sich vorwiegend um<br />
Dokumente, Fotografien, Schallplatten<br />
oder Gegenstände. Interessanterweise<br />
haben sich viele<br />
Heimweh-Appenzeller am Projekt<br />
beteiligt. Das zeigt, wie eng sie mit<br />
ihrer Heimat verbunden s<strong>in</strong>d.<br />
Ziel ist es, 250 Zeitzeugnisse zu beschreiben<br />
sowie ihre <strong>Geschichte</strong><br />
und den historischen Kontext dazu<br />
zu recherchieren. Dafür s<strong>in</strong>d<br />
die Mitglieder der Arbeitsgruppe<br />
zuständig. Unter Mithilfe von Studierenden<br />
werden ausgewählte<br />
Zeitzeugnisse laufend auf der Internetseite<br />
aufgeschaltet. Danach<br />
soll unter Mitwirkung vieler Autor<strong>in</strong>nen<br />
und Autoren e<strong>in</strong> Buch entstehen.<br />
Es porträtiert 125 Zeitzeugnisse<br />
und wird e<strong>in</strong>e neuartige<br />
Sicht auf <strong>500</strong> Jahre Appenzeller<br />
<strong>Geschichte</strong> bieten.<br />
Nebst dem Geschichtsprojekt gibt<br />
es weitere Schwerpunkte im Jubilä-<br />
umsjahr 2013: Die Gedenkfeierlichkeiten<br />
umfassen Eröffnungs-,<br />
Volks- und Jubiläumsfeier. Das Musikfestspiel<br />
wird auf dem Landsgeme<strong>in</strong>deplatz<br />
<strong>in</strong> Hundwil, auf halber<br />
Strecke zwischen Heris au und<br />
Appenzell, aufgeführt. Das Kulturprojekt<br />
schickt <strong>in</strong> den Sommermonaten<br />
e<strong>in</strong>e Wanderbühne durch die<br />
Geme<strong>in</strong>den und Bezirke. Unter E<strong>in</strong>bezug<br />
von Vere<strong>in</strong>en und Gruppen<br />
werden das aktuelle Kulturleben <strong>in</strong><br />
beiden Kantonen und Fragen nach<br />
der Zukunft <strong>in</strong>s Zentrum gestellt.<br />
www.zeitzeugnisse.ch<br />
www.arai<strong>500</strong>.ch<br />
Mitmachtage Projekt Zeitzeugnisse<br />
Für das Projekt «Appenzeller <strong>Geschichte</strong> <strong>in</strong> Zeit-<br />
zeugnissen» werden Er<strong>in</strong>nerungsstücke und die damit<br />
verbundenen Ge schichte(n) gesucht. Interessierte<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>geladen, private Zeitzeugnisse zur Ver-<br />
fügung zu stellen. Dazu gehören Fotos, Sammlungs-<br />
objekte, Schmalfilme oder andere Er<strong>in</strong>nerungsstücke.<br />
Urnäsch: Samstag, 12. März, 10 bis 14 Uhr,<br />
Appenzeller Brauchtumsmuseum<br />
Heiden: Samstag, 19. März, 10 bis 14 Uhr,<br />
Historisches Museum Heiden<br />
Appenzell: Freitag, 25. März, 17 bis 20 Uhr,<br />
Museum Appenzell<br />
Schelllackplatte, 1911. «Hochalp Stubete» mit Urnäscher<br />
Streichmusik und Jodel-Quartett.<br />
Der Appenzeller Bundesbrief (Bild<br />
auf der Titelseite) ist e<strong>in</strong>e schlichte,<br />
aber geschichtsträchtige Urkunde.<br />
Es handelt sich um e<strong>in</strong>en<br />
grossen Bogen Pergament, <strong>in</strong> enger<br />
Schrift beschrieben, aufbewahrt<br />
<strong>in</strong> Appenzell im geme<strong>in</strong>samen<br />
Archiv der beiden Kantone.<br />
Mit farbigen Kordeln s<strong>in</strong>d am unteren<br />
Rand des Schriftstücks Kreuze<br />
als Verankerung gestickt. An<br />
den Kordeln hängen 13 Wachssiegel:<br />
von Zürich, Bern, Luzern, Uri,<br />
Schwyz, Unterwalden, Zug, Glarus,<br />
Basel, Freiburg, Solothurn,<br />
Schaffhausen und, das kle<strong>in</strong>ste<br />
Siegel, – von Appenzell.<br />
Der Bundesbrief besiegelt den Beitritt<br />
des damals noch ungeteilten<br />
Landes Appenzell zur Eidgenossenschaft.<br />
Der Weg dah<strong>in</strong> war<br />
lang. In den Jahren 1501, 1510<br />
und 1512 wurden Gesuche abgelehnt<br />
– obwohl die Appenzeller<br />
mit Truppen im Schwaben- bzw.<br />
Schweizerkrieg von 1499/1<strong>500</strong> an<br />
der Seite der Eidgenossen standen.<br />
Erst im vierten Anlauf wurde<br />
Appenzell als 13. Mitglied <strong>in</strong> den<br />
Bund der Eidgenossen aufgenom-<br />
Truhe der Wildkirchli-Stiftung, 1679. Massives Behältnis<br />
für Wertsachen und Urkunden.<br />
men. Frankreich spielte dabei e<strong>in</strong>e<br />
nicht unwesentliche Rolle. Die<br />
Appenzeller beteiligten sich im<br />
Jahr des Beitritts mit anderen eidgenössischen<br />
Orten an e<strong>in</strong>em<br />
Feldzug gegen den französischen<br />
König. Frankreich machte den<br />
Appenzellern, als diese <strong>in</strong> Dijon<br />
angekommen waren, grosse f<strong>in</strong>anzielle<br />
Versprechungen, um sie<br />
anschliessend aber h<strong>in</strong>zuhalten.<br />
Dies wiederum stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl<br />
unter den<br />
Eidgenossen – sie öffneten den<br />
Appenzellern die Tür zu ihrem<br />
Staatenbund.<br />
Am 17. Dezember 1513 stellte die<br />
Eidgenossenschaft den Bundesvertrag<br />
aus. Die Bestimmungen<br />
waren ausführlich. Sie betrafen<br />
unter anderem die gegenseitige<br />
Hilfe <strong>in</strong> Kriegsfällen, die gütliche<br />
Beilegung von Zwistigkeiten unter<br />
den Bundesgliedern, die Gewährung<br />
gegenseitiger Handelsfreiheit,<br />
die Verpflichtung der<br />
Appenzeller, ke<strong>in</strong>e neuen Bündnisse<br />
e<strong>in</strong>zugehen und ke<strong>in</strong>en<br />
Krieg anzufangen ohne Zustimmung<br />
der Eidgenossen sowie die<br />
neutrale Haltung bei Streitigkeiten<br />
unter e<strong>in</strong> ander. Im Gegenzug<br />
erhielt Appenzell Sitz und Stimme<br />
an der Tagsatzung sowie e<strong>in</strong>en<br />
Anteil an den eidgenössischen<br />
Jahrgeldern, Pensionen, Z<strong>in</strong>sen<br />
und Zöllen. Die Urkunde konnte<br />
nach Bedarf der Vertragsparteien<br />
abgeändert werden und sollte von<br />
den Landleuten aller Orte regelmässig<br />
wieder beschworen werden.<br />
1597 teilte sich das Land Appenzell<br />
<strong>in</strong>folge konfessioneller Konflikte<br />
und unterschiedlicher politischer<br />
Ausrichtung <strong>in</strong> das katholische<br />
Appenzell Innerrhoden und<br />
das reformierte Appenzell Ausserrhoden.<br />
Sechs Schiedsrichter,<br />
von der eidgenössischen Tagsatzung<br />
gewählt, führten die Verhandlungen<br />
mit den Parteien und<br />
legten am 8. September 1597 den<br />
Landteilungsbrief vor. Innerrhoden<br />
und Ausserrhoden galten fortan<br />
als Halbstände und nahmen <strong>in</strong><br />
Kauf, dass ihr E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong> der Eidgenossenschaft<br />
wegen ihres konfessionellen<br />
Gegensatzes geschwächt<br />
wurde.<br />
Button «Frauenstimmrecht», 1989. Kreation des Trogner<br />
Künstlers H.R. Fricker.<br />
16 thema thema 17
E<strong>in</strong> besonderer Name h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er besonderen Tür<br />
❙ zeitzeugnis: türe mit helvetia-figur<br />
❙ dah<strong>in</strong>ter wohnt: erich zölper, walzenhausen<br />
Die Haustüre ist e<strong>in</strong>e besondere.<br />
Unzählige Male schon hat sie<br />
Erich Zölper aufgeschlossen und<br />
zugesperrt. Mal achtsam, im Wissen<br />
um das Symbol, das sie trägt,<br />
mal gedankenlos, <strong>in</strong> Erwartung<br />
se<strong>in</strong>es Zuhauses im ersten Stock.<br />
Die Türe zum Haus Nummer 226<br />
am Platz <strong>in</strong> Walzenhausen ist e<strong>in</strong>e<br />
massive Holztüre. Im Kopfteil<br />
steht die Jahrzahl 1905, <strong>in</strong> die<br />
Hauptfüllung ist die Helvetia-<br />
Figur geschnitzt. Es ist e<strong>in</strong> repräsentativer<br />
Hause<strong>in</strong>gang, das erkennt<br />
man auf den ersten Blick.<br />
Hier muss e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong>e angesehene<br />
Familie gelebt haben. Im schmiedeisernen<br />
Lichtgitter und im<br />
Schlussste<strong>in</strong> des Türgewändes s<strong>in</strong>d<br />
die Initialen des Bauherrn und<br />
langjährigen Hauseigentümers zu<br />
erkennen: Textilfabrikant Johann<br />
August Künzler (1871–1933), der<br />
das Haus 1904 gebaut hatte. Es ist<br />
nicht das e<strong>in</strong>zige dieser Art am<br />
Platz. Zu Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhunderts<br />
entstanden <strong>in</strong> der Nachbarschaft<br />
etliche weitere Neubauten<br />
<strong>in</strong> ähnlichem Stil. Viele gehörten<br />
Textilfabrikanten und weisen<br />
handwerklich ebenso sorgfältig<br />
geschaffene E<strong>in</strong>gangstüren auf. Es<br />
sei auf e<strong>in</strong> Haus im Güetli h<strong>in</strong>gewiesen,<br />
an dessen Türe der Schweizer<br />
Nationalheld prangt: Wilhelm<br />
Tell mit se<strong>in</strong>em Sohn Walter, datiert<br />
von 1903. Vorbild für die Darstellung<br />
war das 1895 von Alfred<br />
Kissl<strong>in</strong>g geschaffene Nationaldenkmal<br />
<strong>in</strong> Altdorf.<br />
Der Erschaffer beider Türen ist unbekannt.<br />
Beide könnten charakteristischer<br />
für jene Zeit aber nicht<br />
se<strong>in</strong>: Sie demonstrieren die Verbundenheit<br />
der damaligen Hauseigentümer<br />
mit populären schweizerischen<br />
Symbolfiguren. Sie s<strong>in</strong>d<br />
S<strong>in</strong>nbild für Patriotismus und<br />
Heimatverbundenheit. Diese Symbolkraft<br />
ist für Erich Zölper von<br />
ger<strong>in</strong>ger Bedeutung. Er erkennt<br />
noch e<strong>in</strong>en anderen Aspekt des<br />
damaligen Zeitgeistes: Die Bedeutung<br />
der Handwerkskunst. «Solid<br />
und schön. Wer das geschaffen<br />
hat, hat sich e<strong>in</strong> Stück weit selbst<br />
e<strong>in</strong> Denkmal gesetzt.» Da zeige<br />
sich die Liebe, mit der handwerklich<br />
gearbeitet wurde. Heute habe<br />
man für solche Arbeiten ja gar<br />
ke<strong>in</strong>e Zeit mehr. Das ganze Haus<br />
Nummer 226 ist handwerklich<br />
aufwendig gearbeitet, davon zeugen<br />
zum Beispiel auch die Ornamente<br />
an den Hausecken.<br />
Johann August Künzler hat mit<br />
dem Auftrag zur Erstellung der<br />
Helvetia-Türe e<strong>in</strong>en Teil e<strong>in</strong>er vergangenen<br />
Zeit für die Nachwelt<br />
festgehalten. Der Mann, der jetzt<br />
h<strong>in</strong>ter der Türe lebt, trägt e<strong>in</strong><br />
Stückchen <strong>Geschichte</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
besonderen Namen. Erich Zölper<br />
ist vor fünfzig Jahren <strong>in</strong> Herisau<br />
geboren. Das Wappen der Familie<br />
hängt im E<strong>in</strong>wohnerratssaal des<br />
Ausserrhoder Hauptorts, die Zölpers<br />
s<strong>in</strong>d seit 1328 <strong>in</strong> Herisau beheimatet.<br />
Im Telefonbuch s<strong>in</strong>d<br />
heute nur noch e<strong>in</strong>e Handvoll Personen<br />
mit diesem Namen zu f<strong>in</strong>den,<br />
«die meisten s<strong>in</strong>d mit mir<br />
verwandt», sagt Erich Zölper. Vor<br />
e<strong>in</strong>iger Zeit hat er begonnen, die<br />
Familiengeschichte zu rekonstru-<br />
ieren, dann die Nachforschungen<br />
wieder e<strong>in</strong>gestellt. Schon davor<br />
aber stiess er immer wieder auf<br />
Zeugnisse se<strong>in</strong>er Vorfahren, unerwartet<br />
und zufällig. Etwa als er <strong>in</strong><br />
dem alten Bauernhaus, das er e<strong>in</strong>st<br />
<strong>in</strong> Teufen bewohnte, die Tapete abkratzte<br />
und darunter auf e<strong>in</strong>e Zeitung<br />
von 1876 mit e<strong>in</strong>em Inserat<br />
der Mercerie Zölper stiess. Oder als<br />
ihm jemand e<strong>in</strong> schwarzes, längliches<br />
Kästchen überreichte – e<strong>in</strong><br />
Schmuckschächtelchen der Bijouterie<br />
August Zölper <strong>in</strong> Herisau.<br />
Oder als er im Appenzeller Kalender<br />
von 1951 entdeckte, dass e<strong>in</strong> –<br />
zwar angeheirateter – Zölper, nämlich<br />
Johann Mart<strong>in</strong> Steiger-Zölper<br />
(1829–1899), Kunstmaler war.<br />
«Gerät man aus heiterem Himmel<br />
an solche Sachen, fragt man sich<br />
schon: Was hat das zu bedeuten?»,<br />
sagt Erich Zölper. Er sieht sie als<br />
Zeichen der Existenz se<strong>in</strong>er Ahnen,<br />
aber auch se<strong>in</strong>er eigenen<br />
Existenz. Denn: «Ich b<strong>in</strong> nur e<strong>in</strong><br />
Glied <strong>in</strong> der Kette. Mich gibt es<br />
nur, weil es sie gab.» Und er fragt<br />
die Besucher<strong>in</strong>: «Weshalb s<strong>in</strong>d Sie<br />
hier?» Die Antwort ist gleichzeitig<br />
e<strong>in</strong>fach und doch vielschichtig:<br />
Wegen der besonderen Türe mit<br />
der Gestalt der Helvetia. Der Zufall<br />
wollte es, dass dah<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong> Mann<br />
mit e<strong>in</strong>em seltenen Namen lebt. Er<br />
glaube nicht an Zufälle, sagt dieser<br />
Mann. Vielleicht sei diese Begegnung,<br />
diese Unterhaltung, die als<br />
Gespräch über e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige<br />
Türe begann, Anstoss, die eigene<br />
Familiengeschichte e<strong>in</strong> zweites<br />
Mal aufzuarbeiten.<br />
thema 19
Das Leben e<strong>in</strong>er bürgerlichen Familie<br />
❙ zeitzeugnisse: haushaltsbuch, foto des damenschneiderateliers<br />
von elisabeth gmür, wehranleihe<br />
❙ aufbewahrt von: theo etter, appenzell<br />
Der erste E<strong>in</strong>trag ist von 1918. Das<br />
Vermögen ist fe<strong>in</strong> säuberlich aufgelistet:<br />
Mobiliar, Lebensversicherung,<br />
Sparheft, Wertschriften,<br />
zwei Zeddel, total 15 000 Franken.<br />
Dies steht im Haushaltsbuch von<br />
Eduard (1891–1969) und Elisabeth<br />
Etter (1891–1975), die Ende des Ersten<br />
Weltkrieges heirateten und <strong>in</strong><br />
den Jahren darauf neun K<strong>in</strong>der bekamen.<br />
Der Vater, Kassier und Direktor-Stellvertreter<br />
der Kantonalbank,<br />
notierte alle E<strong>in</strong>nahmen<br />
und Ausgaben <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er schwungvollen<br />
Schrift. Se<strong>in</strong> Monatslohn<br />
zum Beispiel betrug 1918 265<br />
Franken, 1920 455 Franken, 1927<br />
480 Franken. Se<strong>in</strong>e gewissenhaften<br />
Notizen geben E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
bürgerlichen Haushalt Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts. 1927 endet<br />
das Buch. «Wahrsche<strong>in</strong>lich hat<br />
me<strong>in</strong>e Mutter damals aufgehört<br />
für Dritte zu arbeiten», vermutet<br />
Theo Etter, drittletztes K<strong>in</strong>d von<br />
Eduard und Elisabeth Etter, geboren<br />
1928. Wenn er das Haushaltsbuch<br />
se<strong>in</strong>er Eltern durchblättert,<br />
denkt er: «Jeden Fünfer hat der Vater<br />
notiert.»<br />
Die Arbeit der Mutter mag e<strong>in</strong><br />
Grund gewesen se<strong>in</strong>, weshalb der<br />
Vater Buch über die F<strong>in</strong>anzen<br />
führte. Elisabeth Etter, geborene<br />
Gmür, kam als junge Frau aus Vättis<br />
nach Appenzell. Sie fand e<strong>in</strong>e<br />
Anstellung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bäckerei vis-àvis<br />
e<strong>in</strong>er Bank, der Vorgänger<strong>in</strong><br />
der Kantonalbank, <strong>in</strong> der ihr späterer<br />
Ehemann arbeitete. 1908 durfte<br />
Elisabeth Gmür e<strong>in</strong>e zweijährige<br />
Ausbildung als Damenschneider<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> Häggenschwil antreten, damals<br />
fast die e<strong>in</strong>zige Berufslehre, die für<br />
Mädchen gesellschaftlich akzep-<br />
20 thema<br />
tiert war. Zurück <strong>in</strong> Appenzell<br />
richtete sie <strong>in</strong> der «Sonnenau» am<br />
R<strong>in</strong>kenbach e<strong>in</strong> Atelier für Damenschneiderei<br />
e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Foto zeigt<br />
Elisabeth Gmür als junge Berufsfrau.<br />
Sie steht <strong>in</strong> der Mitte und arbeitet<br />
an der Büste. L<strong>in</strong>ks sitzt ihre<br />
Schwester Madlen (1897–1962) an<br />
der Nähmasch<strong>in</strong>e und rechts ihre<br />
Freund<strong>in</strong> Sophie Knechtle (1896–<br />
1969), die spätere Frau Bischof, genannt<br />
«Falke Sophie».<br />
Theo Etter hat das Foto von e<strong>in</strong>er<br />
Cous<strong>in</strong>e, e<strong>in</strong>er Tochter von Madlen<br />
Gmür, erhalten. Er hat es vergrössern<br />
und rahmen lassen, daheim<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Haus <strong>in</strong> Meistersrüte<br />
hängt es im Wohnzimmer.<br />
«Me<strong>in</strong>e Mutter gefällt mir auf diesem<br />
Foto. Sie war doch e<strong>in</strong>e schöne<br />
Frau, oder nicht? Und überdies<br />
war sie e<strong>in</strong>e gute Mutter.»<br />
Die Eltern von Theo Etter erlebten<br />
zwei Weltkriege, er selbst war beim<br />
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />
e<strong>in</strong> Schuljunge. 1936, es war zwar<br />
noch nicht Krieg, aber man sah<br />
ihn kommen, zeichneten die vier<br />
Etter-Brüder mit dem Geld von<br />
ihren Sparheften und ihren Göttibatzen<br />
Obligationen der Wehranleihe<br />
des Bundes. Ihnen taten es<br />
viele Bürger gleich: Die Wehranleihe,<br />
die der Bundesrat vom<br />
21. September bis zum 15. Oktober<br />
1936 auflegte, wurde bei weitem<br />
überzeichnet. 235 Mio. Franken<br />
sollte das ausserordent liche Rüstungsprogramm<br />
angesichts der<br />
militärischen Bedrohung durch<br />
das nationalsozialistische Deutsch -<br />
land kosten, über 100 Mio. Franken<br />
mehr kamen zusammen. E<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>trag <strong>in</strong>s eidgenössische Schuldbuch<br />
und kurzfristige Rückzah-<br />
lungskonditionen gewährten den<br />
kle<strong>in</strong>en Leuten Sicherheit und animierten<br />
sie zur Zeichnung.<br />
Es folgten schwierige Jahre, Jahre<br />
des Kriegs. Theo Etter er<strong>in</strong>nert<br />
sich daran, wie er als Pfadf<strong>in</strong>der<br />
als Meldeläufer für die Brückenbewachungsdetachementee<strong>in</strong>gesetzt<br />
wurde, wie er dem Vater,<br />
Chef e<strong>in</strong>es Meldepostens für die<br />
Flugraumüberwachung, nach e<strong>in</strong>er<br />
Verstärkung des Armeeaufgebots<br />
das Gewehr vom Gäbris<br />
auf den Hohen Kasten br<strong>in</strong>gen<br />
musste, wie er während des Kriegs<br />
Schokolade kennenlernte: «Wir<br />
hatten zu Hause nie Schokolade.<br />
Während des Kriegs aber gab es<br />
Schoggimärkli. Die haben wir<br />
e<strong>in</strong>gelöst.»<br />
Nun werden die Etter-Buben im<br />
Alter von 3 bis 14 Jahren wohl<br />
nicht selbst entschieden haben,<br />
Schuldsche<strong>in</strong>e der Wehranleihe<br />
zu zeichnen. Theo Etter unterstützt<br />
den patriotischen Akt des<br />
Vaters im Namen se<strong>in</strong>er Söhne<br />
auch heute. Die Dankesurkunde<br />
des Bundesrats, die die jungen Obligationäre<br />
erhielten, stellt für ihn<br />
– wie das Haushaltsbuch und das<br />
Foto se<strong>in</strong>er Mutter – e<strong>in</strong>e Gedankenstütze<br />
dar. Sie helfen ihm, die<br />
Er<strong>in</strong>nerungen wach zu halten. Die<br />
eigenen Eltern oder Krieg wird<br />
man zwar e<strong>in</strong> Leben lang nicht<br />
vergessen. Doch habe er nicht<br />
ständig alle Er<strong>in</strong>nerungen präsent,<br />
sagt Theo Etter. E<strong>in</strong> Gegenstand<br />
von früher, e<strong>in</strong> Zeugnis der Zeit,<br />
die man vielleicht selbst erlebt hat,<br />
vielleicht aber auch nicht, baut e<strong>in</strong>e<br />
Brücke zwischen der Vergangenheit<br />
und der Gegenwart – und<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Zukunft.