30 JAHRE RICHTIG GUTE BÜCHER - ameis Buchecke
30 JAHRE RICHTIG GUTE BÜCHER - ameis Buchecke
30 JAHRE RICHTIG GUTE BÜCHER - ameis Buchecke
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L E S E<br />
N MAC<br />
H T G L<br />
U E C K<br />
L I C H !<br />
<strong>30</strong> <strong>JAHRE</strong> <strong>RICHTIG</strong> <strong>GUTE</strong> <strong>BÜCHER</strong><br />
Unsere persönlichen Buchempfehlungen zum Fest 2007<br />
<strong>ameis</strong><br />
BUCHECKE<br />
www.<strong>ameis</strong>buchecke.de I <strong>ameis</strong>buchecke@t-online.de<br />
1
Liebe<br />
Kundinnen<br />
und<br />
Kunden<br />
2<br />
„Lesen macht glücklich - <strong>30</strong> Jahre richtig gute Bücher“ unter<br />
diesem Motto möchten wir mit Ihnen und Euch am 16.Juni 2007<br />
von 11 bis 18Uhr unser <strong>30</strong>-jähriges Bestehen mit einem großen,<br />
kulturellen Straßenfest feiern.<br />
Richtig gute Bücher für unsere Kunden, dies gilt nun schon seit<br />
1977.In diesem Jahr als politischer Buchladen gegründet, war<br />
Ameis <strong>Buchecke</strong> zunächst ein Ein-Frau-Betrieb mit zahlreichen<br />
freiwilligen und engagierten Helferinnen und Helfern. Im Laufe<br />
der vergangenen Jahre, zur Zeit sind wir 9 fest Angestellte<br />
und 1 Aushilfe, hat sich das Prinzip der gemeinsamen<br />
Entscheidungsfindung behauptet und prägt auch heute noch<br />
unsere tägliche Arbeit.<br />
Neben unseren wichtigsten Schwerpunkten wie Pädagogik,<br />
Psychologie, Geisteswissenschaften, Belletristik, Kinderbuch<br />
und Esoterik liegt unser besonderes Augenmerk auch auf<br />
Büchern kleiner, ausgesuchter und unabhängiger Verlage mit<br />
anspruchsvollem Programm.<br />
Um die Vielzahl unserer eigenen Lesegewohnheiten, -interessen<br />
und -vorlieben zu dokumentieren stellen wir in diesem Heft nicht<br />
nur unsere derzeitigen Lieblingsbücher vor, sondern haben auch<br />
ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um einen solchen<br />
Beitrag gebeten.<br />
Feiern Sie und feiert Ihr mit uns am 16.Juni 2007 unser Motto<br />
„Lesen macht glücklich - <strong>30</strong> Jahre richtig gute Bücher”. Wir laden<br />
Sie und Euch herzlich ein und freuen uns Ihnen und Euch ein<br />
tolles Programm präsentieren zu dürfen:<br />
11:00 Uhr Beginn des Festes mit feierlicher Eröffnung<br />
12:00 Uhr Die Runkelrüben aus Heersum stellen sich vor<br />
13:<strong>30</strong> Uhr Paul Brodowsky liest aus seinem neuen Buch<br />
“Die blinde Fotografin”<br />
14:00 Uhr Geschichtenerzähler Andreas Bollmann erzählt<br />
für Kinder von 4 bis 10Jahren<br />
15:<strong>30</strong> Uhr Salsaband Sonsoncito<br />
Durch das Programm führt Arndt Heuwinkel, bekannt als<br />
Schauspieler des Stadttheaters und Hauptdarsteller der<br />
Heersumer Festspiele, viele Infostände laden ein zu interessanten<br />
Mitmachaktionen, das Stadttheater schminkt unsere kleinen<br />
Gäste und außerdem gibt es natürlich Kaffee und Kuchen, einen<br />
Grillstand, andere kulinarische Köstlichkeiten und Getränke.<br />
Ihr und Euer Team von Ameis <strong>Buchecke</strong>
Das Team<br />
Wilfried Kemper l Marianne Marheineke l Anja Krauß<br />
Eveline Borrmann l Helga Schuppan l Niels Voges<br />
Dirk Lütge l Christine Rusch-Walter l Susanne Mündel<br />
3
4<br />
Olaf Korek<br />
Vorwort<br />
Wenn ich über mein Lesen nachdenke erinnere ich sofort die<br />
Zeiten in denen ich aus Prinzip kein Buch angefasst habe. Das<br />
Leben aus erster Hand erleben lässt eben kaum Raum für anderes.<br />
Davor lagen natürlich die ersten Lesejahre mit Tom Sawyer und<br />
Winnetou, natürlich als Geschenke von den Großeltern zum<br />
Geburtstag. Bald danach als Taschenbuch vom mühsam Ersparten<br />
“Ansichten eines Clowns” und “Örtlich betäubt”. Und dann<br />
drehte sich die Welt auch schon wieder einmal schneller. Rote<br />
Punkt Aktion, die APO, überall wurde jede Menge Marx und Co.<br />
gelesen und diskutiert. Ich war viel mehr von den sprechenden,<br />
den rebellischen, den uneinsichtigen Akteuren, wie Rudi<br />
Dutschke, fasziniert. Zu Hause und in der Nachbarschaft konnte<br />
ich niemanden mit den mir so wichtigen Thesen überzeugen.<br />
Wenn allerdings die Rede auf Dutschke, die Kommunarden, die<br />
RAF, die Hippies und die “Negermusik” kam, wurden alle sofort<br />
lebendig. Natürlich um diese unmöglichen Gedanken irgendwie<br />
wegzudrängen. Vielleicht hat sich der Widerspruchsgeist gerade<br />
daraufhin so dauerhaft und stark entwickelt? Selbstverständlich<br />
möchte ich diese Auseinandersetzungen niemals missen<br />
– auch so etwas können Bücher nicht ersetzen, ganz klar. Und<br />
dann wurde auf einmal wieder alles anders. Manche Stimme<br />
verschwand in diesen Jahren – manche für immer. Jetzt<br />
mussten wieder Bücher her. Aber wie und vor allem womit<br />
anfangen? Denn eins war klar, ich wollte so wenig wie möglich<br />
ausschließlich Novitäten-Leser sein. Auch hier nicht von<br />
irgendeiner Produktion gelenkt werden, Selbstbestimmer bleiben,<br />
meinen eigenen Leseplan entwickeln. Ich habe schließlich mit<br />
meinem Geburtsjahr 1956 als Erscheinungsjahr begonnen, und<br />
auf diesem Weg so nach und nach viele Türen in meinem Lese-<br />
Labyrinth geöffnet. Sozusagen von Buch zu Buch. Es ist eine<br />
Sammlung entstanden, ein Abbild des Eigensinns der bisherigen<br />
Leseauswahl. Vielleicht zu vergleichen mit der Bilderauswahl<br />
eines Sammlers. Gleiches gilt natürlich auch für die Musik, den<br />
Film, das Theater. Denn auch hier bin ich inzwischen längst zum<br />
Sammler im gleichen Sinne geworden. In all den Jahren habe<br />
ich viele Buchhandlungen und Antiquariate besucht und einige<br />
wenige sind inzwischen unwiderruflich mit meiner Leselust<br />
verbunden. Die wichtigste ist und bleibt Ameis <strong>Buchecke</strong>. Ohne<br />
die großartige Unterstützung in allen Bücherfragen und vor allem<br />
die Freundschaft über die letzten 20 Jahre wäre manches sicher<br />
ganz anders gelaufen...<br />
Mit allerbesten Wünschen für die vor uns liegenden Jahre<br />
Olaf
Der letzte<br />
Bissen<br />
Leo P. Ard,<br />
Der letzte Bissen<br />
Grafit 9,50 EUR<br />
Susanne Mündel<br />
Fachgebiete: Krimis; Frauen;<br />
Psychologie; Postkarten;<br />
zuständig für die Büchergilde<br />
Sie diskutieren noch über die Nichtraucherfrage<br />
in Speiserestaurants? Dann stellen Sie sich mal<br />
das vor: Deutschland in der Fleisch-Prohibition!<br />
In allen europäischen Ländern ist Fleischkonsum<br />
und -verkauf gesetzlich verboten und wird<br />
mit harten Gefängnisstrafen geahndet. Wie in<br />
allen Prohibitionen gibt es einen blühenden<br />
Schwarzmarkt und eine Mafia, die ihn kontrolliert.<br />
Zwei rivalisierende Fleischpaten führen Krieg<br />
gegeneinander - und um einen Film, der die<br />
Regierung stürzen könnte.<br />
Der rasante und durchaus blutige Krimi besticht<br />
durch ein sehr durchdachtes Szenario, bis ins<br />
Detail glaubwürdig, und streckenweise absurd und<br />
komisch, wie z.B. die Löwenfütterung im Zoo, die<br />
zur Wallfahrtsstätte der Fleisch-Junkies wird...<br />
Die überzeugte Vegetarierin Sarah Kutah und<br />
der Schwarzmarktgänger Bastian Bennecke, zwei<br />
durch üble Intrigen zur Streife in Gemüse-Burger-<br />
Buden degradierte Kommissare, bilden das in jeder<br />
Hinsicht unfreiwillige Ermittungsteam, das, wie wir,<br />
bis zum Schluß nicht weiß, wer gut und wer böse<br />
ist und an welchen Fäden warum gezogen wird.<br />
5
6<br />
Alle sterben,<br />
auch die<br />
Löffelstöre<br />
Anja Krauß<br />
Fachgebiete: Kinder- und<br />
Jugendbücher; Belletristik<br />
Skarlet und Jean-Paul sind nicht nur durch seltsam<br />
klingenden Vornamen verbunden. Seit gemeinsam<br />
verbrachten Kindergartentagen in DDR-Zeiten<br />
unter einer despotischen Kindergartentante,<br />
sind sie vereint in tiefer Freundschaft und<br />
Geistesverwandtschaft. Nun ist Paul, so nennt<br />
ihn Skarlet der Einfachheit halber, nach langer<br />
schwerer Krankheit gestorben und hinterlässt eine<br />
junge Ehefrau und ein kleines Kind.<br />
Sein letzter Wunsch an die Kindergartenfreundin<br />
Skarlet ist, ihm die Grabrede zu halten.<br />
Sie beginnt über ihren und Pauls Werdegang<br />
gründlich nachzudenken und erzählt rückblickend<br />
von ihrer gemeinsamen Zeit, denn ihre<br />
Lebensentwürfe waren sehr unterschiedlich: Als<br />
sie sich bereits von dem Thema der glücklichen<br />
Kleinfamilie verabschiedet hatte, findet er endlich<br />
seine große Liebe. Sie geht mehr oder weniger<br />
freudig dem Beruf einer Pressesprecherin im Zoo<br />
nach, in dem die Attraktion die sehr seltenen<br />
Löffelstörzucht ist, während er ein abbruchreifes<br />
Kino wieder eröffnet.<br />
Dieses Buch erzählt nicht nur gelebten Alltag<br />
in der DDR, sondern auch in komischer<br />
und gleichzeitig trauriger Weise von einer<br />
wunderbaren, seltsamen Freundschaft.<br />
Kathrin Aehnlich<br />
Alle sterben,<br />
auch die Löffelstöre<br />
Arche Verlag<br />
19,00 EUR
Lea<br />
Christine Rusch-Walter<br />
Fachgebiete: Kinder- und<br />
Jugendbücher; Belletristik<br />
Am Anfang des Romans “Lea” von Pascal Mercier<br />
begegnen sich zwei Fremde in einem Cafe in Saint-Remy.<br />
Spontan beschließen Martijn van Vliet und Adrian Herzog<br />
die gemeinsame Rückreise in ihre Heimatstadt. Eine<br />
Zufallsbekanntschaft, die zu einer gemeinsamen Fahrt durch<br />
die Provonce bis nach Bern führt, auf der van Vliet die<br />
tragische Geschichte seiner Tochter Lea erzählt, deretwegen<br />
er nach Saint-Remy gereist war.<br />
Lea verliert mit acht Jahren ihre Mutter und erstarrt in<br />
Trauer. Erst durch den Zufall, dass sie einer Straßenmusikerin<br />
beim Geigenspiel zusehen kann, erwacht in ihr der Wunsch,<br />
auch Geigenspielerin zu werden. Zunächst scheint ihr<br />
leidenschaftlicher Wunsch in Erfüllung zu gehen, Vater und<br />
Tochter setzen alles daran, ihre Fähigkeiten zu fördern.<br />
Doch letztlich werden sie beide an ihrer Begabung und ihrem<br />
Erfolg über die Jahre zerbrechen. Seine väterliche Liebe zu Lea<br />
endet für ihn in Verbrechen und Einsamkeit, Lea erleidet nach<br />
dramatischen Wendungen ein unglückliches Ende.<br />
Die Geschichte erhält eine solche Eigendynamik, dass der<br />
Zuhörer Adrian Herzog, der als Erzähler dieser Geschichte<br />
fungiert, mit seinem Leben nicht einfach<br />
fortfahren kann wie zuvor. Er beginnt zu<br />
schreiben: “ Es gibt Unglücke von einer Größe,<br />
dass es ohne Worte nicht zu ertragen ist.<br />
Und so begann ich in der Morgendämmerung<br />
aufzuschreiben, was ich erfahren hatte seit jenem<br />
hellen, windigen Morgen in der Provence.” So<br />
endet der Roman.<br />
Mir hat der Roman (trotz oder wegen seiner Nähe<br />
zum Kitsch) so viel Leselust bereitet, dass ich<br />
manche Passagen immer wieder lesen kann.<br />
Pascal Mercier<br />
Lea<br />
Hanser Verlag<br />
19,90 EUR<br />
7
8<br />
Der<br />
Fliegenfänger<br />
Björn Taranczew<br />
Mitarbeiter bei<br />
<strong>ameis</strong> <strong>Buchecke</strong><br />
Wenn ich nach meinem Lieblingsbuch gefragt<br />
werde, fallen mir natürlich unglaublich<br />
viele Bücher ein, die ganz nah dran sind und<br />
natürlich auch zu meinen Lieblingen gehören<br />
und für die es mir ein bisschen leid tut, dass<br />
ich sie dennoch hier nicht anpreisen kann.<br />
Eine Eigenschaft, die ich meinem Sohn Pavel<br />
wohl auch mitgegeben habe, dem ebenso<br />
alle Dinge unendlich leid tun, die in den<br />
Müll kommen. Selbst vollständig entleerte<br />
Apfelsafttetrapacks muss ich ihm manchmal<br />
unter Tränen entreißen (“...das können wir doch<br />
noch gebrauchen...”).<br />
Nichtsdestotrotz, und unter tränenreichem<br />
Verzicht auf Ballfieber von Nick Hornby und<br />
fast alles von Ingvar Ambjörnsen, habe ich mich<br />
dann doch für Der Fliegenfänger von Willy<br />
Russell entschieden.<br />
Dieses wirklich großartige Buch erzählt die<br />
Geschichte von Raymond James Marks. Seine<br />
Kindheit und Jugend im Norden Englands,<br />
vom Autor vortrefflich geschildert, gleicht<br />
einem aberwitzigen Auf und Ab, welches<br />
normalerweise für mehrere biographische<br />
Werke ausgereicht hätte.<br />
In Form von Briefen an Morrissey, den Sänger<br />
der melancholischen Band The Smiths,<br />
berichtet Raymond über all die wunderbaren,
lustigen und tragischen Geschehnisse auf dem<br />
Weg zum Erwachsenen. Mal abgrundtief lustig,<br />
mal himmelhoch traurig, aber immer optimistisch<br />
und den Glauben an sich selbst nicht verlierend,<br />
stapft Ray in das nächste sich ihm bereit stellende<br />
Fettnäpfchen.<br />
Glücklicherweise begleitet ihn auf diesem Weg<br />
seine fantastische Oma, die ihm mit Sinnsprüchen<br />
wie “Mit Selbstmitleid, Raymond, hat noch keiner<br />
eine Kartoffel geschält gekriegt” den nötigen Halt<br />
vermittelt. Dagegen scheint der Rest der Familie,<br />
sein Vater ist schon lange weg, seiner Mutter fehlt<br />
das Vertrauen – über Drecksonkel Jason und die<br />
fiese Restverwandtschaft ließe sich auch noch<br />
eine Menge erzählen – eher bestrebt zu sein,<br />
Raymond zum Außenseiter zu stempeln.<br />
Was dieses Buch neben seiner tollen Geschichte<br />
zu bieten hat, ist eine Vielzahl an hinreißenden,<br />
wortwitzigen Dialogen, mit denen Ray es schafft,<br />
jeden Leser und jede Leserin auf seine Seite zu<br />
ziehen und mit ihm zu fühlen.<br />
Trotz vieler trauriger Momente erinnere ich mich<br />
vor allem an die Häufigkeit, mit der ich beim<br />
Lesen mit dem Lachen herausplatzen musste<br />
und mir ist immer noch ein Rätsel, warum dieses<br />
wunderbare Buch so weitgehend unbekannt<br />
geblieben ist.<br />
Ich kenne jedenfalls schon einige, denen ich es<br />
geschenkt habe, die, wenn sie gefragt worden<br />
wären, über ihr Lieblingsbuch zu<br />
schreiben, eben dieses gewählt<br />
hätten. Ach ja, wie der Roman<br />
zu seinem Titel kommt, hat<br />
nichts mit schlechten Torhütern<br />
zu tun, sondern ist noch einmal<br />
eine ganz eigene Geschichte.<br />
Eigentlich saukomisch....<br />
Willy Russell<br />
Der Fliegenfänger<br />
Heyne Verlag<br />
8,95 EUR<br />
9
10<br />
Die Straße<br />
Dirk Lütge<br />
Fachgebiete: Pädagogik,<br />
Politik;<br />
zuständig für den<br />
SeitenWechsel<br />
Wer liest schon gern einen Roman über den<br />
Weltuntergang. Das Buch ist tatsächlich schwer<br />
verdaulich und wohl kaum als Lesevergnügen zu<br />
bezeichnen. Und dennoch ist es ein großartiges Buch.<br />
Die USA, wahrscheinlich die ganze Welt, wurden von<br />
einer nicht näher definierten Katastrophe heimgesucht,<br />
nahezu alles Leben wurde ausgelöscht, das ganze Land<br />
ist mit einer Ascheschicht bedeckt und die Luft ist<br />
kaum noch zum Atmen geeignet. Als einer der wenigen<br />
Überlebenden versucht ein Vater sich mit seinem Sohn<br />
über hunderte Kilometer zur Küste durchzuschlagen,<br />
in der vagen Hoffnung auf eine Überlebenschance.<br />
Alle gesellschaftlichen Bindungen sind zerstört,<br />
Niemandem ist zu trauen und im Überlebenskampf<br />
scheint Mitmenschlichkeit ein unmöglicher Luxus zu<br />
sein.<br />
In knappen, aber eindringlichen Dialogen zwischen<br />
Vater und Sohn kreist McCarthy immer wieder um<br />
die großen Menschheitsfragen von Gut und Böse und<br />
den Grenzen bedingungsloser Liebe und Vertrauens.<br />
Einfache Antworten gibt es bei ihm nicht, wohl<br />
auch kaum so etwas wie Hoffnung, dafür aber umso<br />
mehr tiefschürfende Reflexionen über Leben, Tod,<br />
Nächstenliebe und all die anderen großen Fragen.<br />
Cormac McCarthy<br />
Die Straße<br />
Rowohlt Verlag<br />
19,90 EUR
Kamtschatka<br />
Als 1976 in Argentinien die Militärdiktatur ausgerufen<br />
wird, bleibt dem Anwalt und seiner Familie aufgrund<br />
ihrer Gegnerschaft zum Regime keine andere<br />
Möglichkeit, als von der Bildfläche zu verschwinden.<br />
Was für die Eltern auf Grund der politischen Lage<br />
eine klar erkennbare, unausweichliche Notwendigkeit<br />
darstellt, ist für die beiden Söhne zunächst völlig<br />
unverständlich, mit vielen Fragezeichen versehen. Doch<br />
der zehnjährige Harry erzählt uns, wie er Verständnis<br />
für die eigene und die Situation seiner Familie<br />
entwickelt. Er berichtet vom Schmerz der Trennung,<br />
aber auch davon, wie sich alles zugleich für das Kind<br />
als großes Abenteuer darstellt.<br />
Und so ist die Geschichte trotz ihrer Tragik eine der<br />
humorvollsten, die ich je gelesen habe.<br />
Sehr intelligent und tiefsinnig geschrieben.<br />
Die Geschichte erzählt das Geschehen aus der<br />
begrenzten Sicht des zehnjährigen Kindes, welches<br />
Vorgänge verstehen lernen muss, die in normalen<br />
Zeiten unvorstellbar scheinen.<br />
Ein sehr empfehlenswertes Buch.<br />
Marcelo Figueras,<br />
Kamtschatka<br />
Nagel & Kimchen Verlag<br />
19,90 EUR<br />
Eveline Borrmann<br />
Fachgebiete:<br />
11
12<br />
Werke und Briefe<br />
Die Situation ist rasch skizziert:<br />
“Die Natur folgt ruhig und unwiderstehlich ihren<br />
Gesetzen, der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in<br />
Konflikt kommt. Eine Veränderung in den Bestandteilen<br />
der Luft (...), ein Schwanken in dem Gleichgewicht einer<br />
Wassermasse (...), eine Überschwemmung begraben<br />
Tausende.”<br />
“Man arbeitet heut zu Tag Alles in Menschenfleisch. Das<br />
ist der Fluch unserer Zeit.”<br />
Es geht also um Alles – wie auch anders in einer Situation,<br />
in der wir gesagt bekommen: Ändert Euer Leben innerhalb<br />
der nächsten acht Jahre, ändert es radikal, sonst geht Ihr<br />
Alle unter?<br />
Wie soll man leben angesichts einer zum Verzweifeln<br />
falsch, grausam verdreht organisierten Welt? Vielleicht mit<br />
ironisch-sarkastischer Heiterkeit: “Ich habe alle Hände voll<br />
zu tun, ich weiß mir vor Arbeit nicht helfen. Sehen Sie, erst<br />
habe ich auf den Stein hier dreihundert fünf und sechzig<br />
Mal hintereinander zu spucken. Haben Sie das noch<br />
nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigne<br />
Unterhaltung. Dann – sehen Sie diese Hand voll Sand?<br />
– jetzt werf’ ich sie in die Höhe. Wollen wir wetten?<br />
Wieviel Körnchen hab’ ich jetzt auf dem Handrücken?<br />
Grad oder ungrad? (...) Dann – hab’ ich nachzudenken, wie<br />
es wohl angehn mag, daß ich mir einmal auf den Kopf<br />
sehe. – O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das<br />
ist eins von meinen Idealen. Und dann – und dann noch<br />
unendlich Viel der Art.”<br />
Oder verzweifelt-verrückt? “Er ging gleichgültig weiter, es<br />
lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit<br />
spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm,<br />
daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Anfangs drängte<br />
es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der<br />
graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die<br />
Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb<br />
enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie<br />
nach verlornen Träumen, aber er fand nichts.”
Oder müssen wir jetzt nicht doch endlich Revolutionäre<br />
werden und den strengsten, längst abgeschworenen<br />
Maximen Folge leisten? Denn “Die Unterdrücker der<br />
Menschheit bestrafen ist Gnade, ihnen verzeihen ist<br />
Barbarei. (...) Das Laster muß bestraft werden, die Tugend<br />
muß durch den Schrecken herrschen.”<br />
Oder schließlich: Wäre es nicht das einzig Wahre, gleich<br />
Schluß zu machen? “Es ist viel möglich. Der Mensch! es ist<br />
viel möglich. Wir haben schön Wetter Herr Hauptmann.<br />
Sehn Sie so ein schön, festen groben Himmel, man könnte<br />
Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlagen<br />
und sich daran zu hänge, nur wege des<br />
Gedankestrichels zwischen Ja, und wieder<br />
ja – und nein, Herr, Herr Hauptmann, ja<br />
und nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am<br />
Nein Schuld? Ich will drüber nachdenke.”<br />
In den drei Stücken Leonce und Lena,<br />
Dantons Tod und Woyzeck sowie im<br />
Prosatext Lenz, die Georg Büchner uns<br />
hinterlassen hat, ist alles, aber wirklich<br />
alles drin. Und das in einer Sprache und<br />
einer Dichte, die umhauen. Das sind<br />
keine Historiendramen; hier geht es um<br />
existentielle Bedrängnis. Da gibt es die Verzweiflung über<br />
das Nichtlernenkönnen der Menschheit – “Das ist sehr<br />
langweilig immer das Hemd zuerst und dann die Hosen<br />
drüber zu ziehen und des Abends in’s Bett und Morgens<br />
wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor<br />
den andern zu setzen, da ist gar kein Absehens wie es<br />
anders werden soll. Das ist sehr traurig und daß Millionen<br />
es schon so gemacht haben und daß Millionen es wieder<br />
so machen werden und, daß wir noch oben drein aus zwei<br />
Hälften bestehen, die beide das Nämliche tun, so daß Alles<br />
doppelt geschieht. Das ist sehr traurig.” – ebenso wie das<br />
Kreisen zwischen den Polen Gott und Leid: Philippeau:<br />
“Meine Freunde man braucht gerade nicht hoch über der<br />
Erde zu stehen um von all dem wirren Schwanken und<br />
Flimmern nichts mehr zu sehen und die Augen von einigen<br />
großen, göttlichen Linien erfüllt zu haben. Es gibt ein Ohr<br />
für welches das Ineinanderschreien und der Zeter, die<br />
Günther Siedbürger<br />
Mitarbeiter bei<br />
<strong>ameis</strong> <strong>Buchecke</strong><br />
13
14<br />
uns betäuben, ein Strom von Harmonien sind.” - Danton:<br />
“Aber wir sind die armen Musikanten und unsere Körper die<br />
Instrumente.”<br />
Diese Texte fordern Auseinandersetzung, sie gehen aufs<br />
Ganze, und man muss sie lesen: immer wieder. In allen<br />
Lebensfragen. Sie passen immer, denn sie kennen alles und<br />
vermeiden nichts. Und wir, das wird ja immer klarer, brauchen<br />
sie. Damit wir nicht enden wie der arme Lenz: “Am folgenden<br />
Tag bei trübem regnerischem Wetter traf er in Straßburg<br />
ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat<br />
Alles wie es die Andern taten, es war aber eine entsetzliche<br />
Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein<br />
Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.” Oder<br />
schlimmer noch, wie Danton und seine Freunde oder der<br />
einsame Woyzeck: “Morgen bist du eine zerbrochne Fiedel,<br />
die Melodie darauf ist ausgespielt. Morgen bist du eine leere<br />
Bouteille (...) Morgen bist du eine durchgerutschte Hose, du<br />
wirst in die Garderobe geworfen und die Motten werden dich<br />
fressen, du magst stinken wie du willst.”<br />
Vor <strong>30</strong> Jahren war ich übrigens sechzehn und <strong>ameis</strong> <strong>Buchecke</strong><br />
der neue Laden in der Stadt. Irgendwann kam mein Kumpel<br />
Peter in der Schulpause an und zitierte den Hessischen<br />
Landboten: Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Und dann<br />
erzählte er begeistert, wie er Büchner lese und wie großartig<br />
der sei. “Und das Beste: Das gibt es alles in einem billigen<br />
Reclamband für 3 Mark bei <strong>ameis</strong> <strong>Buchecke</strong>!” Besser als die<br />
Reclam-Ausgabe ist wegen ihrer Erläuterungen und weil<br />
sie auch noch Büchners fulminante Briefe enthält die oben<br />
genannte.<br />
Und die wird von nun an hoffentlich immer in <strong>ameis</strong> <strong>Buchecke</strong><br />
zu finden sein!<br />
P.S. Und nicht vergessen: “Ja, die Erde ist eine dünne Kruste, ich<br />
meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. Man<br />
muß mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen. Aber<br />
gehn Sie in’s Theater, ich rat’ es Ihnen.”<br />
Georg Büchner<br />
Werke und Briefe<br />
Münchner Ausgabe<br />
Diogenes 11,90 EUR<br />
Hanser Verlag 50,00 EUR
Mit<br />
brennender<br />
Geduld<br />
Helga Schuppan<br />
Fachgebiete:<br />
Naturheilkunde; Medizin;<br />
Esoterik;<br />
zuständig für <strong>ameis</strong><br />
<strong>Buchecke</strong> in der Uni<br />
Ameis <strong>Buchecke</strong> gibt es seit <strong>30</strong> Jahren;<br />
“ Mit brennender Geduld” gibt es seit 22 Jahren und es ist seither<br />
eines meiner Lieblingsbücher!<br />
Der Roman erschien 1985 bei Piper, als Antonio Skàrmeta als Exil-<br />
Chilene in Berlin lebte. 1989 kehrte er nach Chile zurück und wurde<br />
von 2000 bis 2003 Botschafter seines Landes in Deutschland<br />
Und worum geht’s?<br />
Mario Jimenez ist Briefträger in Isla Negra. Sein wichtigster Kunde<br />
ist Pablo Neruda, der Dichter.<br />
Mit einem Vers aus einem Gedicht Nerudas gelingt es dem<br />
schüchternen jungen Mann, das Herz von Beatriz Gonzàles zu<br />
erobern.<br />
Während Allende chilenischer Präsident und Neruda Botschafter<br />
in Paris wird, gründen Mario und Beatriz eine Familie.<br />
Aus der Ferne vergisst Neruda seinen Briefträger nicht. Er schreibt<br />
ihm und schickt ihm ein tragbares Tonbandgerät mit der Bitte,<br />
die Geräusche seiner Heimat für ihn aufzunehmen. So schickt<br />
Mario dem Dichter das Meeresrauschen, die Vogelstimmen, die<br />
Glockentöne von Isla Negra.<br />
Neben dieser schönen Geschichte der Freundschaft erleben wir<br />
auch die Zeit, in der Neruda todkrank aus Frankreich zurückkehrt,<br />
und den Militärputsch in Chile. Mario wird abgeholt ...<br />
Ich habe diesen Roman sogar schon mehrmals gelesen; es ist<br />
einfach ein feines Buch!<br />
Zum Glück und zu meiner Freude gibt es ”Mit brennender Geduld”<br />
immer noch im Handel, und das sogar in folgenden Ausgaben:<br />
Taschenbuch<br />
bei Piper 7,90 EUR<br />
gebundene Sonderausgabe<br />
bei Piper 9,90 EUR<br />
Hörbuch Hamburg,<br />
gelesen von Hans Korte 9,90 EUR<br />
Büchergilden-Ausgabe<br />
(kleine Reihe) 11,90 EUR<br />
spanisch “Ardiente paciencia”<br />
bei Reclam 5,90 EUR<br />
15
16<br />
Tagebuch<br />
einer<br />
Reise<br />
Katrin Ebernau<br />
Mitarbeiter bei<br />
<strong>ameis</strong> <strong>Buchecke</strong><br />
“Tagebuch einer Reise” entstand 2004, als sich Craig<br />
Thompson zweieinhalb Monate auf einer Lesereise in<br />
Europa befand und gleichzeitig für sein neues Buch<br />
“Habibi” recherchierte. Wie schon der Band “Blankets”,<br />
der 2005 erschien, kann auch “Tagebuch einerReise”,zu<br />
den Comicromanen gezählt werden – eine Literatur-<br />
gattung, die in Deutschland leider noch all zu unbekannt ist.<br />
Craig Thompson verband seinen Aufenthalt in Europa<br />
mit einer dreiwöchigen Reise nach Marokko, bei der er<br />
allein oder in Begleitung flüchtiger Reisebekanntschaften<br />
das Land erkundete. Dabei hat Thompson immer<br />
versucht soviel Nähe zu den Einheimischen aufzubauen<br />
wie möglich. Er setzte sich zu den Fischern am Hafen,<br />
porträtierte sie. Er wird von marokkanischen Familien<br />
zum Essen eingeladen und er porträtierte auch sie.<br />
Überhaupt zeichnet er viel während dieser Reise, nicht<br />
nur um den Vertrag für seinen Verlag zu erfüllen, sondern<br />
auch um den Kinder auf den Straßen und den Händlern<br />
auf den Märkten eine Freude zu bereiten und manchmal<br />
weil er gar nicht anders kann, als zu zeichnen. Manchmal<br />
gibt er den Porträtierten etwas Geld dafür, dass sie ihm<br />
Modell stehen und verschenkt die fertigen Bilder dann<br />
an sie.<br />
Von Einsamkeit getrieben und Sehnsucht nach seiner<br />
todkranken Freundin, von der er sich kurz zuvor getrennt<br />
hat, packt ihn einen Zeichenwut, die ihm die Finger<br />
schmerzen lässt. Er fällt in eine schwere Melancholie.
Eigentlich sollte die Marokkotour Ablenkung bringen,<br />
doch seine Sorgen begleiten ihn auch hier her. Und das<br />
zeigt sich in seinen Zeichnungen – arthritische Hände und<br />
Frauengesichter. Weil er die letzteren in Marokko jedoch<br />
zu selten sieht, zeichnet er Katzen und Bäume. Zu traurig<br />
könnte man da meinen, doch immer wieder tauchen<br />
diese kleinen, bohnenförmigen Figuren auf, die sich über<br />
seine Wehleidigkeit lustig machen und die ausreichend<br />
Selbstironie bei Thompson vermuten lassen.<br />
Alles wird gut: Am Schluss – in Barcelona – trifft er sie<br />
und erlebt endlich das, wonach er sich die gesamte<br />
Reise über gesehnt hat, ist verliebt und turtelt mit der<br />
Schöenen. Doch er fliegt zurück nach Portland in die USA<br />
und sie bleibt in Barcelona. Zu schade könnte man da<br />
meinen...<br />
“Tagebuch einer Reise” ist – wie “Blankets” – eine<br />
Mischung aus Selbstreflexion, Autobiografischem und<br />
Erlebtem. Die Zeichnungen sind abwechslungsreich<br />
zusammengestellt. So wechseln sich ganzseitige Bilder,<br />
in denen er Szenen seiner Reise wie in einem Stillleben<br />
kommentarlos aber ausdrucksstark festgehalten hat und<br />
mehrteilige Comicstrips, in denen er unter anderem die<br />
Kommentare seiner bohnenförmigen, imaginären Freunde<br />
zeichnet, ab.<br />
Ein Buch für alle mit Fernweh, für Marokkofans oder<br />
für diejenigen, die die Vielseitigkeit von Comics mögen<br />
– jenseits von Fix und Foxi.<br />
Craig Thompson<br />
Tagebuch einer Reise<br />
Reprodukt Verlag<br />
16,00 EUR<br />
17
18<br />
Das nächste<br />
große Ding<br />
Holm Friebe und<br />
Kathrin Passig:<br />
„Das nächste grosse Ding“<br />
Verbrecher Verlag 2006<br />
8,00 EUR<br />
Marianne Marheineke<br />
Fachgebiete: Kunst und Kultur;<br />
Comic; junge Autorinnen<br />
und Autoren; zuständig für<br />
Seitenwechsel<br />
Sie ist eine Autorin, die „mit dem beseelten,<br />
verschüchterten Auftreten, das im Literaturbetrieb<br />
noch immer en vogue ist, nichts zu tun haben will.“<br />
So schreibt Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag<br />
über Kathrin Passig - Bachmann-Preisträgerin 2006 und<br />
Autorin seines Verlags.<br />
„Das nächste große Ding“ heißt die Kolumne von<br />
Kathrin Passig und Holm Friebe, die seit 2004<br />
monatlich in der Berliner Zeitung erscheint. Eine<br />
Auswahl von 20 Kolumnen ist 2006 im Verbrecher<br />
Verlag erschienen. Die Illustrationen stammen von<br />
Martin Baaske.<br />
Ein absolutes Hochvergnügen! Witzig,<br />
bissig und treffsicher. Ein Buch nicht nur für<br />
Medienwissenschaftler, Soziologen und Pop-<br />
Theoretiker, sondern für alle, die Spaß an einer<br />
genialen Parodie aller Trendspotting Anstrengugen<br />
haben.<br />
Großartig die kleine Kulturgeschichte des T-Shirts,<br />
das Rätseln um die Frage, welcher Modesalat Rucola<br />
ablösen wird, das dargestellte Szenario des Kampfes<br />
der Giganten Amazon vs. Ebay.<br />
Für das „kollaborative Gegenwarts- und<br />
Zukunftsforschungsblog riesenmaschine.de“, das sie<br />
gemeinsam mit Friebe, Sascha Lobo und einer Handvoll<br />
Gastautoren betreibt, erhielt sie 2006 den Grimme<br />
Online Award. Mit Friebe zusammen unterhält sie auch<br />
zentrale-intelligenz-agentur.de. Die ZIA wurde 2002 in<br />
Berlin gegründet und versteht sich als virtuelle Firma<br />
und kapitalistisch-sozialistisches Gruppenexperiment.<br />
Mit ihrem ersten literarischen Text „Sie befinden sich<br />
hier“ gewann Kathrin Passig den Bachmann-Preis.<br />
Nächstes Jahr soll bei Rowohlt das „Lexikon des<br />
Unwissens“ erscheinen.
Martin Rinke<br />
Fachgebiete:<br />
Der flexible Mensch<br />
btv 8,90 EUR<br />
Die Kultur des neuen<br />
Kapitalismus<br />
Berlin Verlag 18,00 EUR<br />
Btv 8,90 EUR<br />
Radioropa Hörbuch<br />
18,00 EUR<br />
3 Bücher von<br />
Richard Sennett<br />
Der New Yorker Soziologe und Philosoph<br />
Richard Sennett gehört wohl zu den<br />
bekanntesten und meist gelesenen<br />
Sozialwissenschaftlern der Gegenwart.<br />
Mit seinem essayistischen und eingängigen<br />
Sprachstil, der auf überflüssiges Fachchinesisch<br />
verzichtet und eine Fülle anschaulicher<br />
Beispiele bringt, eröffnet er auch den<br />
soziologischen Laien einen einfachen<br />
Zugang und umfassende Einsichten in<br />
einen gewandelten und sich wandelnden<br />
Kapitalismus.<br />
3 Bücher möchte ich Ihnen empfehlen, in<br />
denen Sennett präzise und provokant die<br />
individuellen und gesellschaftlichen Folgen des<br />
sich wandelnden Kapitalismus analysiert und<br />
hinterfragt.<br />
Die Bücher “Der flexible Mensch – Die Kultur<br />
des neuen Kapitalismus” (1998), “Respekt<br />
im Zeitalter der Ungleichheit” (2002), “Die<br />
Kultur des neuen Kapitalismus” (2005) werfen<br />
unterschiedliche Fragen auf:<br />
“Wie können langfristige Ziele verfolgt werden,<br />
wenn man im Rahmen einer ganz auf das<br />
Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt?<br />
Lässt eine Gesellschaft, die durch Ungleichheit<br />
und Ungerechtigkeit geprägt ist überhaupt<br />
noch Respekt, Achtung vor anderen und vor<br />
allem vor den Gescheiterten zu? Wie können<br />
Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen<br />
aufrechterhalten werden, die ständig<br />
zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert<br />
werden? Wie bestimmen wir, was in uns<br />
von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer<br />
ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur<br />
auf den unmittelbaren Moment konzentriert?”<br />
Sennet führt den Leser dahin diese Fragen, für<br />
sich selbst zu beantworten. Auch für Menschen,<br />
die sich nicht in einer Sinnkrise befinden eine<br />
wirklich lohnende Lektüre.<br />
Respekt im Zeitalter<br />
der Ungleichheit<br />
Berlin Verlag 19,90 EUR<br />
btv 10,50 EUR<br />
19
20<br />
Zwei junge<br />
Autoren<br />
Niels Voges<br />
Fachgebiete: Reise; Belletristik;<br />
Geschichte; Philosophie;<br />
zuständig für Seitenwechsel<br />
Als Freund von Kurzgeschichten war ich besonders<br />
über die zwei kürzlich erschienenen Bände der noch<br />
recht jungen und bisher wenig bekannten Autoren<br />
Wolfgang Herrndorf und Thorsten Palzhoff hoch<br />
erfreut.<br />
Von Wolfgang Herrndorfs sechs gesammelten<br />
Erzählungen werden sich vermutlich vor allem die<br />
Mitte zwanzig- bis Ende dreißigjährigen unter uns<br />
angesprochen fühlen. Die Helden und Protagonisten,<br />
die sich immer wieder in den seltsamsten<br />
Situationen wiederfinden, kennt man irgend woher:<br />
Rucksackreisende, Studenten, Ex-Studenten, WG-<br />
Leben:<br />
Total schräge Vögel, die man aus lauter<br />
Mitmenschlichkeit bei sich wohnen lässt, völlig von<br />
sich selbst überzeugt, die einem aber Ruhe, Rückzug<br />
und Raum stehlen, verwandeln einem das eigene Leben<br />
in Chaos und finden das alles auch noch ganz normal.<br />
Viele werden sich in den geschilderten Situationen<br />
selbst wiederfinden und sich bei den anderen denken:<br />
Oh je oh je, ich kenne Leute, denen das so oder ähnlich<br />
passiert ist, aber gut, dass ich selbst bisher verschont<br />
geblieben bin.<br />
Für seine Erzählung `Diesseits des Van-Allen-Gürtels`<br />
hat Wolfgang Herrndorf 2004 beim Klagenfurter<br />
Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis<br />
bekommen. Er beschreibt schnell, spannend und<br />
treffsicher, die Situationen und Dialoge sind aus dem<br />
Leben gegriffen und zünden beim Lesen immer wieder<br />
spontane Lachattacken.<br />
Ganz anders dagegen: Thorsten Palzhoff. Sein<br />
Bändchen `Tasmon` versammelt drei längere<br />
Erzählungen. Von den Handlungsräumen her immer in<br />
völlig verschiedene Gefilde entführend, besticht vor<br />
allem sein genauer Ausdruck. Dabei nicht überbordend,<br />
sich in Einzelheiten verlierend, sondern mit<br />
grammatikalischen Feinheiten und Finessen spielend,
mehrere Ebenen auslotende, die Aufmerksamkeit des<br />
Lesers fordernde Mehrdimensionalität, die sich in der<br />
Phantasie zu einem großen illustrierten Märchenbuch<br />
mit vielen kleinen, ornamentalen Verzweigungen und<br />
deutlich hervorstechenden Kleinigkeiten öffnet.<br />
Die erste Geschichte führt den Leser in das eiskalte<br />
Leningrad des 24. Januar 1942. Die Stadt ist weitgehend<br />
zerstört und unter Blockade der Deutschen. Man<br />
verbrennt Bettgestelle, Türen, Möbel und Bücher.<br />
Adam Adamowitsch Lewkin ist im Begriff, sich auf<br />
den Weg zu machen (aus seiner Bibliothek, die Wände<br />
voll mit französischen Philosophen, davor die Wand<br />
offizieller russischer Klassiker) zu einem geheimen<br />
Treffen mit einer Handvoll anderer Intellektueller,<br />
dem sogenannten Minsk-Kreis, allesamt eingepackt<br />
in mehrere Mäntel, auf der Suche nach einer unter<br />
mysteriösen Umständen verschollenen Erzählung des<br />
verehrten Dichters Obwyjow....<br />
Thorsten Palzhoffs Stil ist anspruchsvoll.<br />
Junge deutsche Literatur – meiner Meinung nach – auf<br />
einem Höhepunkt. Er erhielt den GWK Förderpreis<br />
Literatur 2006.<br />
Wolfgang Herrndorf:<br />
Diesseits des<br />
Van-Allen-Gürtels<br />
Eichborn Berlin Verlag<br />
17,90 EUR<br />
Thorsten Palzhoff:<br />
Tasmon<br />
Steidl Verlag<br />
16,00 EUR<br />
21
22<br />
Der Mann<br />
unter<br />
der Treppe<br />
Marie Hermanson,<br />
Der Mann unter<br />
der Treppe<br />
Suhrkamp tb 3875<br />
8,90 EUR<br />
Wilfried Kemper<br />
Fachgebiete: Philosophie;<br />
zuständig für <strong>ameis</strong> Buckecke<br />
in der Uni<br />
Frederik und Paula haben Glück. Für wenig Geld kaufen<br />
sie ein altes, aber sehr gut erhaltenes Haus an der<br />
Küste Schwedens. Beide können ihren Berufen in der<br />
nahen Stadt nachgehen. Auch die beiden Kinder fühlen<br />
sich wohl.<br />
Eines Tages passiert Frederik ein Missgeschick. Ein<br />
Moment der Unachtsamkeit und schon ist es passiert.<br />
Eine der kostbaren Fliesen im Badezimmer hat eine<br />
Delle. Abends will Frederik seiner Frau von dem Vorfall<br />
erzählen. Doch was ist das? Die Fliese ist repariert.<br />
Einige Zeit später hört Frederik Geräusche unter<br />
der Kellertreppe, die er sich nicht erklären kann.<br />
Der Zugang unter der Treppe ist zu schmal für ihn<br />
um nachzusehen. Irgendwann in der Nacht treiben<br />
Geräusche im Hause Frederik aus dem Bett. Unten<br />
im Haus trifft er auf einen kleinen Mann; etwas<br />
schmuddelig, aber wohl gelaunt. Ich bin dein<br />
Untermieter, sagt dieser und verschwindet durch eine<br />
Klappe unter die Treppe. Frederik ist platt.<br />
Paula will von der ganzen Sache nichts wissen. Sie<br />
nimmt das nicht ernst und lacht über seinen Bericht.<br />
Eines Abends erwischt Frederik seinen Untermieter,<br />
als dieser in seine Rosen pinkelt und das mit einem<br />
ziemlich großen Teil für so einen kleinen Kerl.<br />
Und wieso schlich Paula sich neulich nachts aus dem<br />
Bett und kam lange Zeit später schwer atmend und<br />
verschwitzt wieder zurück?<br />
Der Kerl muss weg. Aber wie? Bei seinen Versuchen<br />
den unliebsamen Untermieter los zu werden muss<br />
Frederik schmerzhaft erfahren, wie gefährlich dieser ist.<br />
Marie Hermanson hat einen spannenden Roman im Stil<br />
der klassischen Gruselschocker geschrieben.
24<br />
Christa Wolf,<br />
Ein Tag im Jahr<br />
1960-2000<br />
EUR<br />
Ein Tag<br />
im Jahr<br />
Sonja Engler<br />
seit Sommer 2000 in Hamburg.<br />
Dort beschäftigt im Kulturzentrum<br />
Zinnschmelze, Geschäftsführung<br />
und Stadtteilarbeit.<br />
Freiberuflich als Kulturmanagerin<br />
und Stadtführerin tätig.<br />
Ich hatte lange nichts mehr von Christa Wolf gelesen, nachdem ich als junge<br />
Erwachsene mehrere ihrer Bücher verschlungen habe. Letztes Jahr bekam ich<br />
“Ein Tag im Jahr” von einem langjährigen Freund geschenkt – und ich habe<br />
die 650 Seiten ebenso aufgesaugt wie die schmalen Erzählungen damals.<br />
Christa Wolf folgt dem Aufruf einer Moskauer Zeitung, einen bestimmten<br />
Tag des Jahres 1960, den 27. September, möglichst genau zu beschreiben.<br />
Und tut dies dann weitere vierzig Jahre lang.<br />
Viele Bücher von Christa Wolf sind autobiographisch gefärbt. Dieses ist es<br />
ganz explizit, es hat Tagebuchcharakter, ohne jedoch Tagebuch zu sein. Bei<br />
aller Privatheit ist es nie ganz intim, bei aller Nähe, die sich einstellt, bleibt<br />
stets die Distanz der künstlerischen Gestaltung.<br />
Zu Beginn, Wolf ist 31 Jahre alt, sind ihre zwei Töchter noch klein, die<br />
Leserin sieht sie Jahr um Jahr aufwachsen, erwachsen werden, eigene Kinder<br />
bekommen.<br />
Die Wechselfälle der Kulturpolitik der DDR, Freundschaften mit anderen<br />
KünstlerInnen aus Ost und West, die Auseinandersetzungen mit der SED<br />
und im Schriftstellerverband, die künstlerischen Fragen der Schriftstellerin<br />
an ihre eigenen Texte und Schreibprojekte – all dies steht gleichberechtigt<br />
neben protokollierten Tagesabläufen, Speisezetteln, Gesprächen mit<br />
ihrem Mann. Das private Leben ist eingebettet in die jeweilige Zeit, und so<br />
entfaltet sich ein Panorama der jüngsten deutschen Geschichte – subjektiv,<br />
hochreflektiert, warmherzig und anregend.<br />
“Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt. Ist<br />
Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden<br />
Zeit? Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht<br />
– und vergeht – ein winziges Stück meines Lebens. So setzt sich Leben aus<br />
unzähligen solcher mikroskopischen Zeit-Stücke zusammen? Merkwürdig<br />
aber, dass man es nicht ertappen kann.”<br />
Das Leben ist mehr als die Summe der Augenblicke, ist gelebte Zeit.<br />
Das wird in “Ein Tag im Jahr” ganz offenbar.
Glennkill<br />
Leonie Swann,<br />
Glennkill<br />
8,95 EUR<br />
Stephan Zoll<br />
Fachgebiete:<br />
Stellen Sie sich bitte mal für einen Moment vor,<br />
sie seien ein Schaf -ein besonders wolliges- und<br />
stehen auf einer schönen, grünen Wiese. Prächtiges<br />
Wetter. Alles wunderbar. Von links grast sich<br />
gerade ein Mitglied ihrer Herde an sie heran.<br />
Gute Gelegenheit für einen Smalltalk: “...ja,ja,<br />
beim kleinen Hügel ist das Gras heute besonders<br />
schmackhaft. Und übrigens, da hinten liegt der<br />
Schäfer mit einem Spaten in der Brust... .” Nun gut,<br />
diese Nachricht ist etwas ungewöhnlich, aber noch<br />
lange kein Grund, das Grasen einzustellen.<br />
“Wir müssen etwas unternehmen!!!” ,hören sie da<br />
plötzlich Miss Maple, das klügste Schaf der Herde,<br />
rufen: “Unternehmen? Was denn, wieso denn? Wir<br />
sind doch nur eine ganz normale Herde!”<br />
STOP – An diesem Punkt setzt die eigentliche<br />
Handlung des Romans ein. Die “ganz normale<br />
Herde” erweist sich schließlich als eine durchaus<br />
mit sehr unterschiedlichen Charakteren<br />
gesegnete Ansammlung von schlauen,<br />
wagemutigen, neugierigen, sturköpfigen, weisen<br />
und zuweilen auch hungrigen Schafen. Auf ihre<br />
sehr schafspezifische Weise leisten sie ihren<br />
Beitrag zur Auflärung des Mordfalls – und<br />
erweitern dabei ganz nebenbei ihren ebenso<br />
schafspezifischen Horizont um viele Elemente aus<br />
der Menschenwelt. Oder haben Sie schon einmal<br />
darüber nachgedacht, dass auch ein Schaf mal<br />
Appetit auf eine schöne Portion Pommes haben<br />
könnte?<br />
Also: Stellen Sie sich doch mal ein Buch lang vor,<br />
sie seien ein Schaf...<br />
25