Leseprobe - Verlag JHW Dietz Nachf.
Leseprobe - Verlag JHW Dietz Nachf.
Leseprobe - Verlag JHW Dietz Nachf.
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
827 55. Zur Sache: Deutschland<br />
IV.<br />
Wir reden – verständlicherweise – viel über Ökonomie. Doch manchmal<br />
habe ich den Eindruck, die immateriellen Folgen der Spaltung und<br />
die Nachwirkungen des SED-Regimes könnten die Kräfte des Neuaufbaus<br />
viel stärker binden, als dies zu verantworten ist. Das Zusammenwachsen<br />
ist ein widerspruchsvoller Prozess. Auch deshalb ist es wichtig,<br />
nicht zuzulassen, dass gravierendes Unrecht unter den Teppich gekehrt<br />
wird, aber auch nicht hinzunehmen, wenn dem vergangenen System<br />
durch grassierende Verdächtigung und Vergiftung nachträgliche Triumphe<br />
beschwert werden.<br />
Ich möchte mich ganz besonders an die aus mancherlei Gründen<br />
enttäuschten Intellektuellen wenden. Ich möchte sie bitten: Werten Sie<br />
die jüngste Vergangenheit nicht allein unter dem Gesichtspunkt enttäuschter<br />
Hoffnungen, vermeintlich verpasster Gelegenheiten oder Unzulänglichkeiten<br />
der Parteiendemokratie.<br />
Ich weiß natürlich, dass im Herbst 1989 einige anstelle der vergrößerten<br />
BRD lieber eine gründlich reformierte DDR gesehen hätten. 23<br />
Mir fehlt es auch sonst nicht an Verständnis für Wunschvorstellungen<br />
dieser oder jener Art, ohne sie mir dabei selbst zu eigen zu machen. Und<br />
doch erinnere ich an die angelsächsische Lebensweisheit, dass man den<br />
Kuchen nicht gleichzeitig aufessen und behalten kann.<br />
Das Tempo der Vereinigung wurde elementar und millionenfach<br />
»von unten« bestimmt. Der Vorteil westlicher Demokratie ist ja aber,<br />
23 Am 26. November 1989 hatten 31 Intellektuelle aus verschiedenen weltanschaulichen<br />
Richtungen in der DDR einen Aufruf unter dem Titel »Für unser Land« veröffentlicht,<br />
in dem es hieß: »Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen<br />
und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen<br />
Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische<br />
Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit<br />
des Einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet<br />
sind. Oder wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge<br />
und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus Wirtschaft<br />
und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf<br />
unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die<br />
Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird.<br />
Lasst uns den ersten Weg gehen.« (http://www.ddr89.de). Zu den Autoren und Erstunterzeichnern<br />
gehörten Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer, Christa Wolf und<br />
Konrad Weiß. Vgl. zum Verlauf der Debatten in der DDR Wolfgang Jäger/Ingeborg<br />
Villinger (Hrsg.), Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, Freiburg im Breisgau<br />
1997, S. 29 ff., S. 179 ff.; Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989<br />
in der DDR, München 2009, S. 446 ff.