Mathematische Moritaten Poesie und Mathematik - EOS
Mathematische Moritaten Poesie und Mathematik - EOS
Mathematische Moritaten Poesie und Mathematik - EOS
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Mathematische</strong><br />
<strong>Moritaten</strong><br />
<strong>Poesie</strong> <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
17.10.03
ARCHIMEDES UND DIE GÖTTLICHE KUNST<br />
Friedrich von Schiller (1759 - 1805)
ARCHIMEDES UND DIE GÖTTLICHE KUNST<br />
Archimedes <strong>und</strong> der Schüler<br />
(Friedrich von Schiller)<br />
Zu Archimedes kam ein wißbegieriger Jüngling.<br />
” Weihe mich,“ sprach er zu ihm, ein in die göttliche Kunst,<br />
”<br />
Die so herrliche Frucht dem Vaterlande getragen<br />
Und die Mauern der Stadt vor der Sambuca beschützt!“ –<br />
” Göttlich nennst du die Kunst? Sie ist’s,“ versetzte der Weise;<br />
” Aber das war sie, mein Sohn, eh sie dem Staat noch gedient.<br />
Willst du nur Früchte von ihr, die kann auch die sterbliche zeugen;<br />
Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib.“
ARCHIMEDES UND DIE GÖTTLICHE KUNST<br />
Carl Gustav Jacobi (1804 - 1851)
ARCHIMEDES UND DIE GÖTTLICHE KUNST<br />
Archimedes <strong>und</strong> der Jüngling<br />
(Carl Gustav Jacobi)<br />
Zu Archimedes kam ein wißbegieriger Jüngling.<br />
” Weihe mich,“ sprach er zu ihm, ein in die göttliche Kunst,<br />
”<br />
Die so herrliche Dienste der Sternenk<strong>und</strong>e geleistet,<br />
Hinter dem Uranos noch einen Planeten entdeckt!“ –<br />
” Göttlich nennst du die Kunst? Sie ist’s,“ versetzte der Weise;<br />
” Aber sie war es, bevor noch sie den Kosmos erforscht,<br />
Ehe sie herrliche Dienste der Sternenk<strong>und</strong>e geleistet,<br />
Hinter dem Uranos noch einen Planeten entdeckt.<br />
Was Du im Kosmos erblickst, ist nur der Göttlichen Abglanz,<br />
In der Olympier Schaar thronet die ewige Zahl.“
DER TOD DES ARCHIMEDES
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
Antoni S̷lonimski (1895 - 1976)
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
An die Deutschen<br />
(Antoni S̷lonimski)<br />
Stolz die Ruinen der zerstörten Stadt betrachtend,<br />
Das blutbefleckte Kurzschwert in der Hand,<br />
Betrat ein römischer Barbar das Haus des Archimedes,<br />
Als des Marcellus Legion einst Syrakus erobert.<br />
Schwer atmend unterm staubbedeckten Helm<br />
Da blieb er stehn mit blutgetränkten Nüstern<br />
” Noli tangere circulos meos“–<br />
Sprach Archimedes sanft, im Sande zeichnend.
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
Auf Diameter, Kreis <strong>und</strong> eingeschrieb’nem Dreieck<br />
Ergoß das Blut lebendig sich als ein dunkles Zeichen.<br />
Bereit sei, Archimedes, den Söldner abzuwehren!<br />
Wer wird heut, Archimedes, an deiner Statt gemeuchelt.<br />
Dein Blut versank im Sand, der Geist jedoch, wird leben.<br />
Welch Trug. Auch Geist verlöscht. Wo hinterläßt er Spuren?<br />
Im Marmor deines Hauses da nistet Vipernvolk.<br />
Wind spinnt aus Sand die Kreise um das zerstörte Hellas.<br />
c○der Übertragung, a.m. 2003.
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
Miroslav Holub (1923 - 1998)
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
Der Gefreite der Archimedes erschlug<br />
(Miroslav Holub)<br />
Mit einem wohlgezielten Hieb<br />
erschlug er den Kreis, die Tangente<br />
<strong>und</strong> den Schnittpunkt im Unendlichen.<br />
Unter Androhung<br />
des Vierteilens<br />
verbannte er alle Zahlen<br />
von drei aufwärts.
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
In Syrakus<br />
kommandiert er nun<br />
eine Philosophen-Schule;<br />
für zwei weitere Milennien<br />
stützt er sich gespreizt auf eine Hellebarde<br />
<strong>und</strong> schreibt:<br />
eins zwei<br />
eins zwei<br />
eins zwei<br />
eins zwei<br />
c○der Übertragung, a.m. 2003.
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
Archimedes <strong>und</strong> der Söldner<br />
(Radu Stanca (1920 - 1962)<br />
Verschlag’ner Söldner, stör nicht meine Kreise<br />
Wie ähnlich sie auch sind, auf simple Weise,<br />
Gar deinem Bogen, gilt es aufzulösen:<br />
Ein Spielzeug ist’s <strong>und</strong> nicht das Werk des Bösen.<br />
In ihrer R<strong>und</strong>ung lauert die Extase<br />
Wie sie erfüllt mal Busen, Ball <strong>und</strong> Vase.<br />
Mit leerem Blick betrachte nie das Ganze;<br />
Ein Zirkel ist’s <strong>und</strong> wahrlich keine Lanze<br />
Und näher’ dich voll Ehrfurcht ihrer R<strong>und</strong>e<br />
Denn ohne Fehl ist dieser Zeichen K<strong>und</strong>e.<br />
Obwohl im Staub sie hingestreckt nur scheinen<br />
Erblüht in der Idee ihr Sinn, im Reinen.
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
Ein Steinwurf läßt im Wasser sie entstehen,<br />
Sie wiegen sich im Rauch, du kannst sie sehen<br />
Wie sie auf Muschelrand <strong>und</strong> Schneckenschale<br />
Den Umfang längs entwickeln zur Spirale.<br />
Des Kosmos Himmelswild <strong>und</strong> die Gewalten<br />
Sie mühelos in ihrer Form enthalten.<br />
Erfassen kannst nur dann du sie, verstehe,<br />
Erblickst du sie, verrückt, ganz aus der Nähe.
DER TOD DES ARCHIMEDES<br />
Vergeblich sperrst den Weg du mir zur Türe:<br />
Solang ich nicht den Lösungweg erführe<br />
Wohl zum Problem als Grübler <strong>und</strong> als Werker<br />
Verlass ich nicht, sei sicher, deinen Kerker.<br />
Ob unterm Sternenhimmel, hinter Mauern<br />
Am Boden schlafend, unter Fellen kauern,<br />
Solang nur diese Kreise mich umgeben,<br />
Fühl ich der Freiheit Pulsschlag, bin am Leben.<br />
c○der Übertragung, a.m. 2003.
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
Pythagoras von Samos (569 v.Chr. - 480 v.Chr)
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
Adelbert von Chamisso (1781 - 1838)
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
Vom Pythagoräischen Lehrsatz<br />
(Adelbert von Chamisso)<br />
Die Wahrheit, sie besteht in Ewigkeit,<br />
Wenn erst die blöde Welt ihr Licht erkannt;<br />
Der Lehrsatz, nach Pythagoras benannt,<br />
Gilt heute, wie er galt zu seiner Zeit.<br />
Ein Opfer hat Pythagoras geweiht<br />
Den Göttern, die den Lichtstrahl ihm gesandt;<br />
Es thaten k<strong>und</strong>, geschlachtet <strong>und</strong> verbrannt,<br />
Einh<strong>und</strong>ert Ochsen seine Dankbarkeit.
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
Die Ochsen seit dem Tage, wenn sie wittern,<br />
Daß eine neue Wahrheit sich enthülle,<br />
Erheben ein unendliches Gebrülle;<br />
Pythagoras erfüllt sie mit Entsetzen;<br />
Und machtlos, sich dem Licht zu widersetzen,<br />
Verschließen sie die Augen <strong>und</strong> erzittern.
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
Michael Mesterton-Gibbons
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
The Pythagoras Limerick<br />
(Michael Mesterton-Gibbons)<br />
When Pythagoras suffered bad dreams<br />
He saw roof beams collapse at the seams<br />
And crash down on his proof<br />
That the square of the roof<br />
Is the sum of the squares of its beams!
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
Pythagoras<br />
(a.m.)<br />
Pythagoras zu Kroton<br />
Wurde zu spät verboton,<br />
Denn lang bevor er flüchten konnt<br />
Von Kroton Richtung Metapont,<br />
Da fand er Muße (<strong>und</strong> auch Platz)<br />
Für seinen sogenannten Satz.<br />
Ach, sollten einstmals nicht Katheten<br />
Statt Unkraut Krotons Bürger jäten?<br />
Sie nährten blind an ihrem Busen<br />
Pythagoras Hypothenusen,<br />
Die er (mit Hilfe von da oben)<br />
Schlussendlich zum Quadrat erhoben.
DAS KÖNIGSBERGER BRÜCKENPROBLEM<br />
Leonhard Euler (1707 - 1783)
DAS KÖNIGSBERGER BRÜCKENPROBLEM
DAS KÖNIGSBERGER BRÜCKENPROBLEM
DAS KÖNIGSBERGER BRÜCKENPROBLEM<br />
William T. Tutte (1917 - 2002)<br />
alias Blanche Descartes
DAS KÖNIGSBERGER BRÜCKENPROBLEM<br />
The Expanding Unicurse<br />
(Blanche Descartes)<br />
Some citizens of Königsberg<br />
Were walking on the strand<br />
Beside the river Pregel<br />
With its seven bridges spanned.<br />
” O Euler, come and walk with us,“<br />
Those burghers did beseech.<br />
” We’ll roam the seven bridges o’er,<br />
And pass but once by each.“<br />
” It can’t be done,“thus Euler cried.<br />
” Here comes the Q. E. D.<br />
Your island are but vertices<br />
And four have odd degree.“
DAS KÖNIGSBERGER BRÜCKENPROBLEM<br />
From Königsberg to König’s book<br />
So runs the graphic tale<br />
And still it grows more colorful<br />
In Michigan, and Yale.
ACHILLES UND DIE SCHILDKRÖTE<br />
Achilles widerlegt das Paradoxon
PYTHAGORAS UND SEIN THEOREM<br />
Das Paradoxon<br />
(a.m.)<br />
Folgendes Paradoxon<br />
Beschäftigt mich seit Jahren schon:<br />
Achilles könnte nie, im Laufen,<br />
Die Siegespalme sich erkaufen,<br />
Wenn man dem Gegner, einer Kröte<br />
Mit Schild, nur einen Vorsprung böte.<br />
Als Wissenschaftler irritiert<br />
Hab ich es mehrfach ausprobiert,<br />
Wobei unzählige der Kröten<br />
Sek<strong>und</strong>en nach dem Start zertröten.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Der Erfinder der Epsilontik
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Tom Lehrer
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
There’s A Delta For Every Epsilon (Calypso)<br />
(Tom Lehrer; American Mathematical Monthly, 81 (1974) 612 )<br />
There’s a delta for every epsilon,<br />
It’s a fact that you can always count upon.<br />
There’s a delta for every epsilon<br />
And now and again,<br />
There’s also an N.<br />
But one condition I must give:<br />
The epsilon must be positive<br />
A lonely life all the others live,<br />
In no theorem<br />
A delta for them.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
How sad, how cruel, how tragic,<br />
How pitiful, and other adjec-<br />
Tives that I might mention.<br />
The matter merits our attention.<br />
If an epsilon is a hero,<br />
Just because it is greater than zero,<br />
It must be mighty discouragin’<br />
To lie to the left of the origin.<br />
This rank discrimination is not for us,<br />
We must fight for an enlightened calculus,<br />
Where epsilons all, both minus and plus,<br />
Have deltas<br />
To call their own.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Hubert Cremer (1897 - 1983)
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Die Ballade vom armen Epsilon<br />
(Hubert Cremer)<br />
Die Matrix sang ihr Schlummerlied<br />
den Zeilen <strong>und</strong> Kolonnen,<br />
schon hält das kleine Fehlerglied<br />
ein süßer Traum umsponnen,<br />
es schnarcht die alte p-Funktion,<br />
<strong>und</strong> einsam weint ein bleiches,<br />
junges verlass’nes Epsilon<br />
am Rand des Sternbereiches.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Du guter Vater Weierstraß,<br />
du Schöpfer unsrer Welt da,<br />
ich fleh dich einzig an um das:<br />
Hilf finden mir ein Delta!<br />
Und wenn’s auch noch so winzig wär<br />
<strong>und</strong> beinah Null am Ende,<br />
das klarste Sein blieb öd <strong>und</strong> leer,<br />
wenn sich kein Delta fände.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Vergebens schluchzt die arme Zahl<br />
<strong>und</strong> ruft nach ihrem Retter,<br />
es rauscht so trostlos <strong>und</strong> trivial<br />
durch welke Riemann-Blätter;<br />
die Strenge hat nicht Herz noch Ohr<br />
für Liebesleidgefühle,<br />
das arme Epsilon erfror<br />
im eisigen Kalküle.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Moral:<br />
Unstetig ist die Weltfunktion,<br />
ihr werdet’s nie ergründen,<br />
zu manchem braven Epsilon<br />
läßt sich kein Delta finden.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Alexander Aigner (1909 - 1988)
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Elektron <strong>und</strong> Epsilon<br />
(Alexander Aigner)<br />
Das Elektron <strong>und</strong> das Epsilon<br />
die sind verwandte Gesellen.<br />
Sie tanzen miteinander schon<br />
um singuläre Stellen,<br />
Sie ziehen enge Kreise gern<br />
<strong>und</strong> sorgen für Belebung.<br />
Das eine kreist um einen Kern,<br />
das andre gibt die Umgebung.<br />
In ihrem kleinen Herzen brennt’s.<br />
Denn sie sind angetreten<br />
zu einer Kleinheitskonkurrenz<br />
wie eifernde Asketen.
VON EPSILONS UND DELTAS<br />
Das war ein Wettkampf, klein <strong>und</strong> fein,<br />
<strong>und</strong> haarscharf bis aufs Messer.<br />
” Gewiß klein“ oder beliebig klein“?<br />
”<br />
nun, wer versteht es besser?<br />
Doch da passiert dem Epsilon<br />
ein Unfall sondergleichen.<br />
Im Transfiniten steht es schon<br />
als wahres Riesenzeichen ⋆ .<br />
⋆ Man setzt die Ordnungszahl ω ω ω···<br />
= ɛ
MATHEMATISCHES LEHRGEDICHT<br />
Ein Graph (aus uraltem Geschlecht?)
MATHEMATISCHES LEHRGEDICHT<br />
Grafentheorie<br />
(a. m.)<br />
Ein Graf aus uraltem Geschlecht,<br />
Dem war es überhaupt nicht recht,<br />
Als er in einer Librairie<br />
Den Titel ” Graphentheorie”<br />
Durch sein getöntes Brillenglas<br />
Beinahe überhaupt nicht las,<br />
Und als er dann, ganz aus Versehn,<br />
Das kühne Machwerk durchgesehn,<br />
Missfiel ihm nach drei Seiten schon<br />
Folgende Definition:
MATHEMATISCHES LEHRGEDICHT<br />
Unter einem Graph versteht man ein Tripel (E, K, ν), wobei E die Men-<br />
ge der Ecken, K die der Kanten <strong>und</strong> ν eine Inzidenzabbildung ist, die<br />
je zwei Elementen aus E eines von K zuordnet.<br />
Voll Staunen sah der Graf sich dann<br />
Genau in einem Spiegel an.<br />
Er fand die Kanten <strong>und</strong> die Ecken,<br />
Jedoch er konnte nichts entdecken<br />
Von einer Inzidenzfunktion.<br />
Er fand auch nichts bei seinem Sohn.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Hans Magnus Enzensberger (1929 -)
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Die <strong>Mathematik</strong>er<br />
(Hans Magnus Enzensberger)<br />
Wurzeln, die nirgends wurzeln,<br />
Abbildungen für geschlossene Augen,<br />
Keime, Büschel, Faltungen, Fasern:<br />
diese weißeste aller Welten<br />
mit ihren Garben, Schnitten <strong>und</strong> Hüllen<br />
ist euer Gelobtes Land.<br />
Hochmütig verliert ihr euch<br />
im Überabzählbaren, in Mengen<br />
von leeren, mageren, fremden<br />
in sich dichten <strong>und</strong> Jenseits-Mengen.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Geisterhafte Gespräche<br />
unter Junggesellen:<br />
die Fermatsche Vermutung,<br />
der Zermelosche Einwand,<br />
das Zornsche Lemma.<br />
Von kalten Erleuchtungen<br />
schon als Kinder geblendet,<br />
habt ihr euch abgewandt,<br />
achselzuckend,<br />
von unseren blutigen Freuden.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Wortarm stolpert ihr,<br />
selbstvergessen,<br />
getrieben vom Engel der Abstraktion,<br />
über Galois-Felder <strong>und</strong> Riemann-Flächen,<br />
knietief im Cantor-Staub,<br />
durch Hausdorffsche Räume.<br />
Dann, mit vierzig, sitzt ihr,<br />
o Theologen ohne Jehova,<br />
haarlos <strong>und</strong> höhenkrank<br />
in verwitterten Anzügen<br />
vor dem leeren Schreibtisch,<br />
ausgebrannt, o Fibonacci,<br />
o Kummer, o Gödel, o Mandelbrot,<br />
im Fegefeuer der Rekursion.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Die Dichter<br />
(Replik auf Enzensberger)<br />
Dann, mit vierzig,<br />
von der hechelnden Jagd<br />
nach Metaphern<br />
im ausgedünnten Unterholz der Semantik verbraucht,<br />
ergebt ihr euch,<br />
o Ballettmeister ohne Metronom,<br />
der verdichteten Schreibhemmung, o Fried,<br />
o Thalmayr, o Schrott, o Czernin,<br />
in der Hölle der schwindenden Auflagen.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Ion Barbu (1895 - 1961)
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Nina Cassian (1924 - )
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Amalie Emmy Noether (1882 - 1935)
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Ut Algebra Poesis<br />
(Ion Barbu)<br />
Zu Göttingen, an Jahren trug ich der Jugend Ranzen,<br />
Wie Gauß einst unter’m Bogen der eigenen Alleen<br />
Das Sterngewölb’ der Geometrie ließ neu entstehen,<br />
Verformt’ ich mein Poem hin zu den letzten Stanzen.<br />
Vergaß die weise Muse für Edens Leichtromanzen,<br />
Als, sie, der Nacht entb<strong>und</strong>en, gekrümteste der Feen,<br />
Um meiner Reu’ zu geben, wohl Stimme zu gestehen,<br />
Verwickelt-hinkend schien, entgegen mir zu tanzen.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Ich hatt’ es nicht begriffen, daß Genius vergeht,<br />
Jedoch die Zweite Ankunft wird aufgeweckt mich finden,<br />
Geneigt mein mag’rer Haarschopf den Zauberhelm-gebinden.<br />
Und Emmy, reizlos-himmlisch, der Algebra Prophet,<br />
Als deren Fahnenpriester ich willens, mich zu binden,<br />
Mutiert zur weißen Nina, was ihr unsagbar steht.<br />
c○der Übertragung, a.m. 2003.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
JoAnne Growney
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Mein Tanz ist die <strong>Mathematik</strong><br />
(JoAnne Growney)<br />
Ab, ab, ab in das dunkelschwarze Grab<br />
die Schöne, die Zarte, die Liebe leichthin im Lauf;<br />
der Gescheite, der Weise, der Tapfre steigen ruhig hinab.<br />
Ich weiß. Doch verzweifle nicht <strong>und</strong> nehms nicht in Kauf.<br />
Aus ” Unvertontes Klagelied“ von Edna St. Vincent Millay; von Herman Weyl anläßlich einer Gedächtnisfeier für<br />
Amalie Emmy Noether am Bryn Mawr College vorgetragen. (26 April, 1935)<br />
Sie nannten dich der Noether, so als ob die <strong>Mathematik</strong><br />
eine rein männliche Angelegenheit wäre. 1964, etwa dreissig Jahre<br />
nach deinem Tod, sah ich dich letztlich im Scheinwerferlicht,<br />
auf einem Weltausstellungsplakat,<br />
” Männer der Modernen <strong>Mathematik</strong>.“
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Kollegen priesen deine Brillianz, doch nicht ohne zuvor zu bemerken,<br />
wie fett <strong>und</strong> gewöhnlich and ungehobelt <strong>und</strong> laut du gewesen.<br />
Manche erwähnten deine Fre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> den Sinn für guten<br />
Humor <strong>und</strong> gaben letzten Endes<br />
deine Schlüsselrolle beim Entstehen der axiomatischen Algebra zu.<br />
1890, als du 8 Jahre alt warst, ergriffst du<br />
bei einer Geburtstagsparty das Wort, um ein schwieriges<br />
<strong>Mathematik</strong>-Rätsel zu lösen.<br />
An diesem Tag hast du dich selbst (von den anderen) abgesetzt,<br />
um jemand zu sein, dem ich folgen konnte.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Als ich dir folgte, sah ich, dass du wählen musstest<br />
zwischen der <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> einer anderen Romanze.<br />
Harte Männer konnten beides umarmen,<br />
für dich galt ein anderer Standard.<br />
Ich hörte Väter sagen, tanze mit Emmy. Tue es früh<br />
am Abend <strong>und</strong> sie wird nicht erwarten, dass du<br />
bei ihr bleibst. Max ist nett, ein guter Fre<strong>und</strong>,<br />
<strong>und</strong> seine Tochter liebt es zu tanzen.<br />
Falls der Tanz einer Frau<br />
die <strong>Mathematik</strong> ist,<br />
muss sie alleine tanzen?
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Ich höre Mütter sagen, necke sie nicht.<br />
Obwohl Emmy seltsam ist, ihr Herz ist liebenswert.<br />
Sie hilft ihrer Mutter beim Reinemachen,<br />
<strong>und</strong> sie kann nichts dafür für ihren mathematischen Verstand.<br />
Lehrer sagten, sie sei intelligent,<br />
aber eher dickköpfig, streitsüchtig <strong>und</strong> laut,<br />
ein abstrakter Denker, nicht wie wir,<br />
<strong>und</strong> nicht bestimmt unseren Ideen den Vorzug zu geben.<br />
Studenten sagten, es sei schwierig ihr zu folgen,<br />
<strong>und</strong> sie langweilt uns. Einige wenige in den vorderen Sitzreihen<br />
sahen ihr zu, wie sie zur lebendigen Forschung formte –<br />
was sie auf ihren Schultern stehend aufbauten.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Emmy Noethers abstrakte axiomatische Sichtweise<br />
veränderte das Gesicht der Algebra.<br />
Sie half uns in einfachen Begriffen zu denken,<br />
die in deren Allgemeinheit erblühten.<br />
Trotz Emmys Talenten<br />
gab es immer Gründe<br />
ihr keinen höheren Rang<br />
oder eine Dauerstellung zu geben.<br />
Sie ist eine Pazifistin, eine Frau.<br />
Sie ist eine Frau <strong>und</strong> eine Jüdin.<br />
Sie denkt nicht, wie wir es tun.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Geschichtsbücher sagen nun, dass Noether<br />
der größte <strong>Mathematik</strong>er sei,<br />
den ihr Geschlecht hervorbrachte. Sie sagen,<br />
dass sie – für eine Frau – sehr gut gewesen sei.<br />
Gerade heraus <strong>und</strong> mutig,<br />
ohne jegliches Selbstinteresse,<br />
von elegantem Verstand,<br />
mütterlich <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich,<br />
Trost spendend<br />
in einer schrecklichen Zeit,<br />
eine Dichterin logischer Ideen.<br />
c○der Übertragung, a.m. 2003.
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Tristan Tzara (1896 - 1963)
DICHTER UND MATHEMATIKER<br />
Der Prinz des Dada<br />
(a. m.)<br />
Er kam vor Zeiten aus Moine¸sti<br />
Und schnitt Poeme stets in Streifen<br />
Wie man Bananen oft verwäscht,<br />
Damit sie in der Sonne reifen.<br />
Den Scheitel trug er manchmal links,<br />
Im and’ren Auge das Monokel,<br />
Und es bedurfte eines Winks<br />
Schon stürzte Opas Kunst vom Sockel.