Die Büchse der Pandora - Esther Fischer-Homberger
Die Büchse der Pandora - Esther Fischer-Homberger
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<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong>: Der mythische Hintergrund<br />
<strong>der</strong> Eisenbahnkrankheiten des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts*<br />
Von <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
Als <strong>der</strong> englische König Georg III den Erfin<strong>der</strong> James Watt (1736–<br />
1819) fragte, womit er sich gerade beschäftige, soll ihm dieser geantwortet<br />
haben: „I invent power“ 1 .<br />
Tatsächlich hat Watt mit seiner Erfindung <strong>der</strong> Kondensationsdampfmaschine<br />
den Machtbereich des Menschen unerhört ausgedehnt. <strong>Die</strong>se<br />
Maschine hat die Umwandlung <strong>der</strong> Feuerhitze in an<strong>der</strong>e Energieformen<br />
– mechanische Kraft zum Beispiel – ohne allzugroße Verluste erlaubt.<br />
Damit hat sich <strong>der</strong> technische Anwendungsbereich des Feuers explosionsartig<br />
erweitert. Mit ihr konnten unerhörte Mengen von lebendigen<br />
Arbeitskräften – auch Pferden: das Maß „Pferdestärke“ stammt von<br />
Watt – eingespart werden. Mit ihr konnte die Arbeitskraft des Wassers<br />
durch eine ortsunabhängige Kraft ersetzt werden – Mühlen mußten nun<br />
nicht mehr an Bächen stehen. Mit ihr wurden aber auch neue Arten von<br />
Arbeitsleistungen möglich.<br />
<strong>Die</strong> Dampfmaschine wurde rasch zu verschiedenen Zwecken erfolgreich<br />
eingesetzt: die Gevatterin <strong>der</strong> Watt’schen Maschine, die Dampfpumpe,<br />
wurde ausgebaut, Dampfkrane, Dampfbagger, Dampfmühlen,<br />
Dampfhammer und Dampfspritzen für die Feuerwehr wurden erfunden.<br />
Aber auch die sich selbst fortbewegende Dampfmaschine wurde<br />
gebaut. Der Franzose José Cugnot schuf 1769 den ersten Dampfwagen,<br />
den er mit Unterstützung des Kriegsministeriums vervollkommnete. Es<br />
folgten Dampfschiff, Dampfpflug, Dampfwalze, Dampfdroschke und<br />
Lokomobile 2 .<br />
<strong>Die</strong> weitaus spektakulärste Erscheinungsform <strong>der</strong> Dampfmaschine aber<br />
war die Dampflokomotive. <strong>Die</strong> Lokomotive war ein Kind von Dampfmaschine<br />
und Grubenbahn, welch letztere seit Jahrhun<strong>der</strong>ten auf Schienen<br />
gefahren war. Der Name „Eisen“bahn bezieht sich auf das Material dieser<br />
Schienen 3 .<br />
* Sudhoffs Archiv, Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 56 (1972), 297–317.<br />
1<br />
Für Jürg Schatzmann.<br />
Schultz, Fritz Traugott, <strong>Die</strong> Ludwigsbahn. <strong>Die</strong> erste deutsche Eisenbahn. Leipzig 1935,<br />
S. 7. Vgl. Das größte Wun<strong>der</strong>werk unserer Zeit o<strong>der</strong> die Eisenbahn für Dampfwägen zwischen<br />
Liverpool und Manchester in England. Mit 13 Kupferplatten. Friedrich Campe:<br />
Nürnberg 1832, S. 4.<br />
2 Vg l. Feldhaus, F. M., Feuer als Arbeitskraft. In: Der Mensch und die Erde, Bd. 8, Berlin-<br />
Leipzig 1911, S. 156ff.; Baumann, Max, Englische, deutsche und schweizerische Dampflokomotiven.<br />
Spreitenbach 1969, S. 9 und 14.<br />
3 Feldhaus, op. cit., S. 212.
298 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Dampflokomotive war Richard Trevithick (1771–1833),<br />
<strong>der</strong> Erbauer <strong>der</strong> „Catch me who can“, Sohn eines Grubenverwalters in<br />
Cornwall.<br />
Den ersten großen Aufschwung nahmen Lokomotivbau und Eisenbahnen<br />
mit einem an<strong>der</strong>n Englän<strong>der</strong>, George Stephenson (1781–1848),<br />
und dessen Sohn Robert. Er begann damit, daß Stephenson, <strong>der</strong> Kohlengruben-Ingenieur,<br />
die „Locomotion“ baute, welche auf einem Schienenwege<br />
Kohlen von Darlington nach Stockton zu bringen hatte. <strong>Die</strong>se<br />
Stockton-Darlington-Bahn wurde 1825 in Betrieb genommen. Dann<br />
baute Stephenson die Linie Manchester-Liverpool. Er lieferte für diese<br />
Strecke auch die Lokomotive, denn seine „Rocket“ hatte in dem berühmten<br />
Rennen von Rainhill 1829 sich als die weitaus leistungsfähigste unter<br />
den Konkurrenten gezeigt. <strong>Die</strong> Liverpool-Manchester-Bahn, die erste, die<br />
für den öffentlichen Verkehr bestimmt war, wurde 1830 eingeweiht 4 . <strong>Die</strong><br />
Stephensons leiteten einen riesigen Aufschwung des Eisenbahnwesens<br />
ein. Nach Englands Vorbild, anfangs oft mit Englands und Stephensons<br />
Hilfe, bauten auch an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> ihre Bahnen. Amerika, Deutschland<br />
und Frankreich überzogen sich rasch mit Schienenwegen, wie Pilze schossen<br />
Eisenbahngesellschaften aus dem Boden.<br />
<strong>Die</strong> Vorteile des neuen Verkehrsmittels waren allerdings evident: große<br />
Mengen von Waren und Leute konnten nun ungleich rascher und billiger<br />
als je zuvor auch auf dem Landweg transportiert werden; Pünktlichkeit<br />
im Transportbetrieb war ein weiteres fundamentales Novum. Wo Eisenbahnen<br />
waren, gab es neue Möglichkeiten <strong>der</strong> Kommunikation, da blühten<br />
Handel und Industrie auf, Arbeiter fanden Arbeit und Spekulanten<br />
Geld 5 .<br />
<strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Eisenbahn wurde seinerzeit im allgemeinen durchaus<br />
gesehen und gewürdigt. Sie erschien den Menschen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
vielfach sogar größer als sie dem 20. Jahrhun<strong>der</strong>t retrospektive<br />
erscheint. Viele Autoren sahen in <strong>der</strong> Erfindung <strong>der</strong> mit Dampf<br />
betriebenen Eisenbahnen ein buchstäblich epochemachendes Ereignis.<br />
Der Nationalökonome Friedrich List (1789–1846) findet es 1837 richtig,<br />
zu sagen, „daß seit <strong>der</strong> Erfindung <strong>der</strong> Buchdruckerkunst sich nichts<br />
zugetragen habe, was <strong>der</strong> durch Eisenbahn und Dampfwagen erzeugten<br />
Beschleunigung und Erleichterung des öffentlichen Verkehrs rücksichtlich<br />
4 Baumann, op. cit., S. 10 und 16–24; Feldhaus, op. cit., S. 214–222.<br />
5 Vg l. Knies, Karl, <strong>Die</strong> Eisenbahnen und ihre Wirkungen. Braunschweig 1853; Sieveking,<br />
Heinrich, Grundzüge <strong>der</strong> neueren Wirtschaftsgeschichte [=Grundriß <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft,<br />
Reihe II, Abt. 2] 3. Aufl., Leipzig-Berlin 1921, S. 67–69.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 299<br />
<strong>der</strong> Folgen an die Seite gesetzt werden könnte …“ 6 . Auch Heinrich Heine<br />
analogisierte den durch die Erfindung <strong>der</strong> Eisenbahn gesetzten Neuanfang<br />
dem Anfang <strong>der</strong> Neuzeit: „So muß unseren Vätern zu Mute gewesen<br />
sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich<br />
durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten<br />
Aushängebogen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. <strong>Die</strong> Eisenbahnen<br />
sind wie<strong>der</strong> ein solches providentielles Ereignis ... es beginnt ein<br />
neuer Abschnitt in <strong>der</strong> Weltgeschichte ...“ 7 .<br />
<strong>Die</strong> Eisenbahn wurde geradezu als Paradigma für das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
betrachtet. „<strong>Die</strong> Eisenbahn ... ist ein Product ... des Geistes ihrer Zeit“<br />
soll <strong>der</strong> Ingenieur W. J. Rankine (1820–1872) gesagt haben 8 . Der Ingenieur<br />
Max Maria von Weber (1822–1881), ein Sohn des Komponisten Carl<br />
Maria, schreibt über das Eisenbahnwesen: „<strong>Die</strong>jenigen ..., die es ... gleich<br />
nach seiner Geburt sahen, überwältigte es, als stiege <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Zeit ...<br />
in Person vor ihnen nie<strong>der</strong>“ 9 .<br />
<strong>Die</strong> Eisenbahn wurde zum Indikator und zur eigentlichen Ursache<br />
des zivilisatorischen Fortschritts, <strong>der</strong> das Leben des einzelnen verbesserte<br />
und das Gesicht <strong>der</strong> Welt veredelte. „Was andres waren die Hebel<br />
<strong>der</strong> französischen, englischen und amerikanischen Industrie, Künste,<br />
Gewerbe und des Nationalwohlstandes im Allgemeinen, als die Transporterleichterung?“<br />
schreibt ein Anonymer 1837 unter dem Titel „Nutzen<br />
<strong>der</strong> Eisenbahnen“ 10 . Geradezu chiliastische Erwartungen wurden an<br />
die Eisenbahn geknüpft. „Unsere Zeit ist eine rein industrielle“, schreibt<br />
Prof. J. Eckenstein, Redaktor <strong>der</strong> „Neuen Basler Zeitung“ 11 1841, „denn<br />
die Industrie mit ihrem Herrscherzeichen, dem Oehlzweig, statt Szepter<br />
und Schwert, hat den Weltenthron bestiegen; sie wird ... verwirklichen,<br />
was bis jetzt ein utopischer Traum war; ihre Aufgabe ist: den Krieg<br />
aus <strong>der</strong> Welt zu verbannen. ... In dem gewaltigen System <strong>der</strong> alle Welt<br />
beherrschenden Industrie stehen die Eisenbahnen ... obenan 12 ... Der<br />
6 Zit. n. Volmar, Friedrich Aug., Aus <strong>der</strong> Frühzeit <strong>der</strong> Dampfrosse. Bern 1947, S. 12.<br />
7 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 11–12. Vgl. auch Fürst, Artur, <strong>Die</strong> hun<strong>der</strong>tjährige Eisenbahn.<br />
München 1925, S. 9: „Das Mittelalter ... reicht bis ... 1830.“<br />
8 Weber, Max Maria, Freiherr von, Vom rollenden Flügelrade. Skizzen und Bil<strong>der</strong>. Berlin<br />
1882, S. 113. Rankine hat dabei speziell den Geist <strong>der</strong> Arbeiterbewegung im Auge<br />
gehabt.<br />
9 Weber, op. cit., S. 99.<br />
10 <strong>Die</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Leipzig–Dresdner Eisenbahn. Leipzig 1837, S. 7.<br />
11 Nach Volmar, op. cit., S. 36.<br />
12 Eckenstein nennt außer den Eisenbahnen nur noch „die Dampfschiffahrt“ (auf<br />
Kanälen), diese ist jedoch bald <strong>der</strong> Konkurrenz <strong>der</strong> Eisenbahn erlegen.
300 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
Mensch wird durch diese Erfindung(en) aufhören, eine Maschine zu sein,<br />
in welcher Eigenschaft er bei roher Arbeit sein irdisches Leben verhauchet.<br />
Der Mensch hat ... Maschinen in’s Leben gerufen, durch ... [die]<br />
auch <strong>der</strong> großen Masse ..., die man bisher mit <strong>der</strong> Hoffnung auf eine <strong>der</strong>einstige<br />
überirdische Seligkeit ... zu vertrösten pflegte, bisher unbekannte<br />
Bequemlichkeiten und Genüsse zu Theil werden sollen ... Am Weitesten<br />
... hat es England getrieben ... Britannien gibt den Maßstab für die industriellen<br />
Erscheinungen aller an<strong>der</strong>n Län<strong>der</strong>; Britanniens Siegesruf stachelt<br />
die übrige Welt rastlos zur That; denn dort haben die Eisenbahnen Wun<strong>der</strong><br />
gewirkt ... <strong>Die</strong> Eisenbahnen bilden dort die Pulsa<strong>der</strong>n eines neuen<br />
Lebens: ganze Bevölkerungen siedeln sich längs denselben an, und große<br />
Städte erweitern sich, so daß in wenigen Dezennien ganz England gleichsam<br />
nur eine Stadt bilden wird, in <strong>der</strong>en Parke sich Flüsse schlängeln, und<br />
Kanäle hinziehen und feuersprühende Rosse an den prachtvollen Gärten<br />
und Schlössern durch Wäl<strong>der</strong> und Fel<strong>der</strong> dahin fliegen“ 13 . Friedrich<br />
List nennt die Eisenbahn einen „Herkules in <strong>der</strong> Wiege, <strong>der</strong> die Völker<br />
erlösen wird von <strong>der</strong> Plage des Krieges, <strong>der</strong> Teuerung und Hungersnot,<br />
des Nationalhasses und <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit, <strong>der</strong> Unwissenheit und des<br />
Schlendrians...“ 14 , <strong>der</strong> Freiherr M. M. v. Weber schreibt: „Nie war die<br />
Stimmung <strong>der</strong> arbeitenden Volksklassen eine verzweiflungsvoller deprimirte<br />
gewesen als gerade in dem Jahre, das zwischen den Wettfahrten zu<br />
Rainhill und <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Liverpool- und Manchester-Bahn liegt ...<br />
<strong>Die</strong> Spannung war auf ’s äußerste gestiegen. In diese schwüle Düsterkeit<br />
des Völkerlebens fiel die gewaltige Erscheinung <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> ersten<br />
grossen Eisenbahn <strong>der</strong> Welt wie ein Lichtstrahl. ... Sie schien ein Evangelium<br />
besserer Zukunft auf ihren eisernen Flügeln zu tragen“ 15 .<br />
Töne prometheischen Stolzes schwingen im Bericht eines Augenzeugen<br />
<strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Liverpool-Manchester-Bahn mit: „Man mag vom<br />
Pol zum Äquator, von <strong>der</strong> Straße von Malakka zum Isthmus von Darien<br />
reisen und wird nichts so Bewun<strong>der</strong>nswürdiges sehen wie diese Eisenbahn“<br />
schreibt dieser. „<strong>Die</strong> Donner <strong>der</strong> Ausbrüche des Vesuv und Aetna,<br />
die Konvulsionen <strong>der</strong> Natur bei einem Hochgewitter erschüttern durch<br />
ihre Größe, drücken aber den Stolz des Menschen tief darnie<strong>der</strong>, während<br />
die Szenen, die wir hier vor uns sehen und die sich in ihrer Macht<br />
nicht würdig beschreiben lassen, ein hohes Selbstgefühl und eine Bewun-<br />
13 Eckenstein, J., <strong>Die</strong> Eisenbahn. Basel 1841, S. 85–88.<br />
14 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 12.<br />
15 Weber, op. cit., S. 120–122.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 301<br />
<strong>der</strong>ung für die Geisteskraft des Menschen entwickeln, intensiver und<br />
lebendiger als alle Produkte <strong>der</strong> Poeten, <strong>der</strong> Maler und Philosophen“ 16 .<br />
*<br />
Das Erlebnis <strong>der</strong> Eisenbahn scheint unter an<strong>der</strong>em also irrationale,<br />
mythisch-religiöse Assoziationen geweckt zu haben. <strong>Die</strong> Eisenbahn wurde<br />
nicht nur als fortschrittliche Neuerung im Bereich des Verkehrswesens<br />
begrüßt, sie erschien auch als ein Zeichen <strong>der</strong> Selbsterlösungs fähigkeit<br />
<strong>der</strong> Menschen. Entsprechend wurde sie nicht nur in technischer, organisatorischer<br />
und ästhetischer Hinsicht kritisiert, son<strong>der</strong>n auch als Frevel.<br />
Insofern die Eisenbahn in <strong>der</strong>artige irrationale Assoziationssysteme<br />
einbezogen wurde, wurde sie zur Quelle einer Eisenbahnangst, für welche<br />
die Nachteile <strong>der</strong> Eisenbahn nicht Folge von <strong>der</strong>en Unvollkommenheit<br />
waren, son<strong>der</strong>n Folge von <strong>der</strong>en Existenz. Gerade die Vorteile<br />
<strong>der</strong> Eisenbahn sogar waren in diesem Sinne die Ursache dieser Angst:<br />
gerade ihretwegen erwartete die Menschheit, nach dem Prometheus-<br />
Epimetheus-Schema, von neuen, ungeahnten Leiden mit Strafcharakter<br />
heimgesucht zu werden. Immer wie<strong>der</strong> hat die Menschheit ihren zivilisatorischen<br />
Fortschritt in diesem Sinne mit neuen Leiden, namentlich<br />
auch Zivilisationskrankheiten, bezahlen zu müssen geglaubt, beim Aufkommen<br />
<strong>der</strong> Eisenbahn wurde dies aber beson<strong>der</strong>s deutlich. Hatte James<br />
Watt prometheisch-listig das Feuer in seine Dampfmaschine gebannt, so<br />
war es – mythisch gedacht – unvermeidlich, daß die beleidigten Mächte<br />
<strong>der</strong> Gewohnheit den Menschen eine neue <strong>Pandora</strong>büchse voll Unheils<br />
übersenden würden 17 .<br />
16 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 7.<br />
17 „Prometheus (Vorbedacht) … im gr[iechischen] Mythos <strong>der</strong> Freund <strong>der</strong> Menschen und<br />
Gegner des Zeus … suchte … den Zeus zu betrügen … Zeus … entzog daraufhin zur Strafe<br />
den Menschen das Feuer. P. aber stahl es und brachte es ihnen. Jetzt strafte Zeus die<br />
Menschen durch <strong>Pandora</strong>“ (O. Hiltbrunner: Kleines Lexikon <strong>der</strong> Antike. Bern 1946)<br />
„Zeus … nannte sie <strong>Pandora</strong>, das heißt die Allbeschenkte, denn je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Unsterblichen<br />
hatte dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben<br />
… Sie aber schritt zu Epimetheus, dem argloseren Bru<strong>der</strong> des Prometheus, ihm das<br />
Geschenk des Zeus zu bringen … Epimetheus … nahm die schöne Jungfrau mit Freuden<br />
auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter <strong>der</strong><br />
Menschen, von seinem Bru<strong>der</strong> beraten, frei von Übel … ohne quälende Krankheit. Das<br />
Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen.<br />
Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald<br />
entflog dem Gefäße eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über<br />
die Erde. … <strong>Die</strong> Krankheiten irrten bei Tage und bei Nacht unter den Menschen umher,<br />
heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine Schar<br />
von Fiebern hielt die Erde belagert, und <strong>der</strong> Tod … beflügelte seinen Schritt“ (Gustav<br />
Schwab: <strong>Die</strong> schönsten Sagen des klassischen Altertums. 2. Basler Ausgabe, Basel 1948,<br />
Bd. 1, S. 16–17).
302 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
Nicht nur als Friedensengel und erlösen<strong>der</strong> Herkules wurde daher die<br />
Eisenbahn begrüßt. Auch „Feuerdrachen“ 18 , „Feindlicher Dämon … ,<br />
unwillig unterjocht und wüthend keuchend“ 19 , „ungeduldiges lebendiges<br />
Riesenthier einer fremden Welt“ 20 wurde sie genannt, o<strong>der</strong>: „trojanisches<br />
Pferd, das mit einer geheimnisvollen Zukunft schwanger gehe“ 21 . Bei <strong>der</strong><br />
Einweihung <strong>der</strong> Eisenbahn nach Venedig soll <strong>der</strong> Kardinalpatriarch statt<br />
einer Segensrede eine Fluchrede gehalten haben, in <strong>der</strong> er die Eisenwege<br />
und Dampfmaschinen als Ausgeburt einer „sündhafte[n] Erfindungslust<br />
des Menschengeistes“ geißelte 22 . Nicht nur Freiheit hoffte man durch die<br />
Eisenbahn zu gewinnen 23 , man sprach auch von dem „neuen Sklaventum“,<br />
das dieselbe bringe 24 . Der Vision von <strong>der</strong> befruchtend- kultivierenden<br />
Eisenbahn stand <strong>der</strong> Alb von <strong>der</strong> lebensfeindlich-barbarisierenden<br />
Eisenbahn gegenüber. Wo die Eisenbahn durchführe, würden die Fel<strong>der</strong><br />
unfruchtbar, hieß es, die Quellen würden austrocknen, wie ein Erdbeben<br />
würde diese Erfindung das Land verwüsten 25 . Gegen den Bau <strong>der</strong><br />
Liverpool-Manchester-Bahn wurde eingewendet, „die aus dem Schornstein<br />
<strong>der</strong> Maschine herausfliegenden Funken müßten jedes in <strong>der</strong> Nähe<br />
stehende Haus anzünden, die Luft würde durch die Rauchwolken verpestet<br />
werden ... <strong>Die</strong> Dampfkessel <strong>der</strong> ‘Reisemaschinen’ würden häufig platzen,<br />
so daß kein Mensch in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Bahn mehr seines Lebens sicher sein<br />
würde; <strong>der</strong> bloße Anblick des vorüberdonnernden Eisenbahnzugs müßte<br />
die Tiere zu Tode erschrecken, Menschen wahnsinnig machen“ 26 . „Es wurde<br />
behauptet, durch die vergiftete Luft, aus <strong>der</strong> die Vögel tot herabfallen<br />
würden, müßten die Kühe die Milch verlieren, die Pferdezucht werde verkommen,<br />
das Getreide und Viehfutter schädliche Beimischungen erhalten<br />
18 Weber, op. cit., S. 119.<br />
19 Jaehns, Max, Max Maria Freiherr von Weber. Biographische Skizze. In: Weber, op. cit.,<br />
S. III–IV.<br />
20 <strong>Die</strong> Eröffnung ..., S. 17.<br />
21 Eckenstein, op. cit., S. 57.<br />
22 Kollath, Werner, Zivilisationsbedingte Krankheiten und Todesursachen. [=Schriftenreihe<br />
zur Politischen Hygiene, Bd. 1] Ulm 1958, S. 161.<br />
23 Vg l. Weber, Max Maria von, Aus dem Reich <strong>der</strong> Technik. Bd. 2, Berlin 1928, S. 28.<br />
24 Berghaus, Erwin, Auf den Schienen <strong>der</strong> Erde. Eine Weltgeschichte <strong>der</strong> Eisenbahn.<br />
München 1960, S. 68.<br />
25 Francis, John, A History of the English Railway. Its social relations and revelations<br />
1820–1845. 1851. Faksimile New York 1967, S. 175.<br />
26 Fürst, op. cit., S. 56.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 303<br />
und, was den Herzen <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> am nächsten ging, <strong>der</strong> Jagdsport werde<br />
durch Aussterben und Verscheuchen <strong>der</strong> Hasen, Rehe, Hühner, Fasanen<br />
und vornehmlich <strong>der</strong> Füchse unheilbar geschädigt werden; abgesehen<br />
davon, daß das Leben <strong>der</strong> Reisenden auf <strong>der</strong> Bahn ununterbrochen<br />
aufs äußerste gefährdet sein müsse“ 27 .<br />
Punch 1865. Aus: Anton Klima, <strong>Die</strong> Technik im Lichte <strong>der</strong> Karikatur. Wien 1913, S. 36.<br />
Auch für die Gesundheit <strong>der</strong> Eisenbahnfahrenden fürchtete man natürlich.<br />
Zahlreiche Eisenbahnkrankheiten wurden bekannt – wir werden<br />
darauf unten ausführlicher zu sprechen kommen.<br />
Punch 1865. Aus: Anton Klima, <strong>Die</strong> Technik im Lichte <strong>der</strong> Karikatur. Wien 1913, S. 10.<br />
27 Weber, Aus dem Reich … , Bd. 2, S. 160–161.
304 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
Nun sind <strong>der</strong> Menschheit aus <strong>der</strong> Erfindung <strong>der</strong> Eisenbahn ja tatsächlich<br />
neue Leiden erwachsen. <strong>Die</strong>s ist ebenso wahr wie, daß sie mächtige<br />
Vorteile mit sich gebracht hat, und braucht heute, in <strong>der</strong> Zeit des<br />
Kampfs gegen Luftverschmutzung, Lärm und Landschaftsverwüstung<br />
kaum gesagt zu werden. Und die Industrialisierung hat ja auf ihren eisernen<br />
Flügeln wirklich nicht nur Frieden und Freiheit gebracht. Auch <strong>der</strong><br />
Vergleich <strong>der</strong> Dampflokomotive mit einem Feuerdrachen und einem<br />
trojanischen Pferd war seinerzeit nicht ganz unberechtigt: <strong>der</strong> Schornstein<br />
von Stephensons „Locomotion“ glühte und spie Funken, wenn die<br />
Maschine in voller Fahrt war 28 , und die Assoziation von Lokomotive und<br />
Pferd lag <strong>der</strong> Pionierzeit <strong>der</strong> Eisenbahn natürlich viel näher als uns, die<br />
wir das Wort „Pferdestärken“ kaum mehr wörtlich nehmen 29 . Unfälle<br />
waren, beson<strong>der</strong>s anfangs, als das Signalwesen noch wenig ausgebaut war,<br />
tatsächlich ziemlich häufig. Sie waren auch beson<strong>der</strong>s schrecklich: die<br />
Wagen, schwache Holzkonstruktionen, schoben sich dabei vielfach stark<br />
ineinan<strong>der</strong> und fingen Feuer von <strong>der</strong> oft in Brand geratenen Dampflokomotive.<br />
So hat <strong>der</strong> Unfall auf <strong>der</strong> Paris-Versailles-Strecke von 1842 (rive<br />
gauche) bei 770 Passagieren 164 Opfer, davon 55 Tote 30 gefor<strong>der</strong>t. Auch<br />
die Idee, die Eisenbahn bringe Krankheiten, ist nicht gänzlich von <strong>der</strong><br />
Hand zu weisen. Im Anfang waren die Wagen vielfach offen, schlecht<br />
o<strong>der</strong> gar nicht gefe<strong>der</strong>t und die Dampfmaschine gab sicher Neben- und<br />
Restprodukte ab, die <strong>der</strong> Gesundheit nicht zuträglich waren. Durch die<br />
Eisenbahn konnten zudem Epidemien ungleich rascher weit verbreitet<br />
werden, als zuvor. In einem gewissen Sinne war die Angst des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
vor <strong>der</strong> Eisenbahn also rational, nämlich auf bekannte Gefahren<br />
zurückführbar. <strong>Die</strong> Gefahren konnten denn auch durch entsprechende<br />
Verbesserungen planmäßig vermin<strong>der</strong>t werden.<br />
Im ganzen aber stand die Eisenbahnangst jener Zeit in keinem vernünftigen<br />
Verhältnis zu <strong>der</strong> Gefährlichkeit des neuen Transportmittels.<br />
Sie war größer als nötig (objektiv war <strong>der</strong> Verkehr mit Fuhrwerken<br />
28 Baumnann, op. cit., S. 17.<br />
29 Vgl. hierzu Müller, Karl, <strong>Die</strong> Lokomotiven. In: Der Siegeslauf <strong>der</strong> Technik, hrsg.<br />
v. M. Geitel, Bd. 3, 2. Aufl., Stuttgart-Berlin-Leipzig (s.d.), S. 97–98 und Baumann,<br />
op. cit., S. 11: 1813 wurde eine Lokomotive nach dem Modell des Pferdes gebaut, die<br />
sich mithilfe beinartiger Stangen vorwärts bewegte. Noch 1824 wurde eine ähnliche<br />
Erfindung patentiert.<br />
30 Armand, Louis, Histoire des chemins de fer en France. Paris 1968, S. 42–43. Jener Unfall<br />
wurde durch den Umstand erheblich verschlimmert, daß die Abteiltüren beim Start<br />
vorsichtshalber abgeschlossen worden waren, die Passagiere daher die brennenden<br />
Wagen nicht verlassen konnten.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 305<br />
gefährlicher als <strong>der</strong>jenige mit <strong>der</strong> Eisenbahn 31 ) und sie bezog sich nicht<br />
auf Konkretes, Faßbares (und also auch Behebbares) son<strong>der</strong>n auf Nicht-<br />
Bekanntes. Man fürchtete nicht einfach Unfälle und Gesundheitsschäden,<br />
man fürchtete Schlimmeres, Lauerndes, eben gerade Nicht-Voraussehbares,<br />
gegen das es kein Mittel gab als die Abschaffung <strong>der</strong> Eisenbahn.<br />
Unfall-Schutz-Kostüm für Eisenbahnreisende. Karikatur von 1847.<br />
Aus: E. Berghaus, Auf den Schienen <strong>der</strong> Erde. München 1960, S. 61.<br />
Denn unbekannte Gefahren sind mit Neuerungen logischerweise unlösbar<br />
verbunden. <strong>Die</strong>se irrationale Angst – irrational ist nicht unlogisch<br />
– basiert auf einer Denkweise, die <strong>der</strong> mythischen Denkweise <strong>der</strong><br />
Prometheus-Epimetheus-Sage, dem Fortschritts-Strafe-Mythus eng verwandt<br />
ist. Sie findet entsprechend ihren Ausdruck in Bezeichnungen <strong>der</strong><br />
Lokomotive als Ausgeburt sündhafter Erfindungslust etc., und in Klagen<br />
über die „mordende Eisenbahn“, wie sie sich auf einem englischen Grabstein<br />
von ca. 1840 findet 32 , – Äußerungen, die nicht eben typisch sind für<br />
ein wissenschaftlich-technisches Denken.<br />
*<br />
31 Weber, Max Maria von, <strong>Die</strong> Technik des Eisenbahnbetriebes in bezug auf die Sicherheit<br />
desselben. Leipzig 1854, S. 16–18.<br />
32 Nach brieflicher Mitteilung von Prof. Walter Pagel, London. Der Grabstein steht auf<br />
dem Friedhof von Harrow-on-the-Hill.
306 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
<strong>Die</strong> mythologische Dimension <strong>der</strong> Eisenbahnangst verbirgt sich zweifellos<br />
auch hinter <strong>der</strong> Angst vor Eisenbahnunfall und -krankheit.<br />
Aus: Randall Davies, The railway centenary. London 1925, S. 3.<br />
„Periculum privatum utilitas publica“ war das Motto <strong>der</strong> Stockton-<br />
Darlington-Bahn 33 . Eine Notiz im „Lancet“ über die Eisenbahnunfälle<br />
im Jahre 1861 nennt <strong>der</strong>en Folgen die „sacrifices, paid fort he benefit of<br />
cheap travel“ 34 . „<strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Eisenbahnunfälle ist genau so alt wie<br />
die Geschichte <strong>der</strong> Eisenbahnen“, schreibt K. Müller in „Der Siegeslauf<br />
<strong>der</strong> Technik“, „hat doch die feierliche Eröffnung <strong>der</strong> … Eisenbahn … von<br />
Liverpool nach Manchester … mit einem Unfall geendet …“ 35 . Durch diese<br />
Äußerung blickt die Annahme einer finsteren Gesetzmäßigkeit, <strong>der</strong>zufolge<br />
Fortschritt und Tod Hand in Hand gehen, hindurch. Tatsächlich<br />
hat <strong>der</strong> Unfall, an dem <strong>der</strong> Abgeordnete Huskisson bei <strong>der</strong> Eröffnung<br />
<strong>der</strong> von ihm sehr geför<strong>der</strong>ten Liverpool-Manchester-Strecke starb, die<br />
Öffentlichkeit vermutlich gerade darum so stark erschüttert, weil sie<br />
weniger wie ein Zufall als wie ein Schicksalsschlag anmutete.<br />
Dasselbe kann von dem großen Unfall auf <strong>der</strong> Paris-Versailles-<br />
Strecke (1842) gesagt werden. „Noch niemals wurde eine Erfindung<br />
ohne Opfer gemacht“, schrieb bei dieser Gelegenheit ein Pariser Korre-<br />
33 The Influence of Railway Travelling on Public Health. Report of the Commission.<br />
Lancet (1862) Vol. I, S. 15; Davies, Randall, The Railway Centenary. London 1925 (?),<br />
S. 3; Fürst, op. cit., S. 53.<br />
34 Railway Accidents. Lancet (1862) Vol. I, S. 516.<br />
35 Müller, op. cit., S. 112.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 307<br />
spondent. „<strong>Die</strong> Zivilisation gebiert so gut in Wehen und Schmerzen als<br />
die Natur“ 36 . Auch da reagierte die Allgemeinheit nicht einfach rationalvernünftig.<br />
Der Pariser Korrespondent <strong>der</strong> Neuen Zürcher Zeitung<br />
schrieb: „Das … Ereignis auf <strong>der</strong> Eisenbahn hat die Stadt mit dem größten<br />
Schrecken erfüllt; ich habe sie we<strong>der</strong> zur Zeit <strong>der</strong> Cholera, noch in<br />
den Aufständen von 1832 und 1834 bewegter gesehen. Das Volk wollte<br />
die Eisenbahnen zerstören …“ 37 . Noch viele Tage nachher füllten die<br />
Nachrichten über den Unfall die Spalten auch <strong>der</strong> Schweizer Zeitungen.<br />
Dem tagelangen Brand von Hamburg, <strong>der</strong> nicht lange vorher stattgefunden<br />
hatte, war nicht annähernd soviel Aufmerksamkeit zugewendet<br />
worden. Der Hygieniker L.-R. Villermé (1782–1836) verspürte noch<br />
vier Tage nachher eine Verengung auf <strong>der</strong> Brust, als ob ihm ein riesiges<br />
Gewicht drauf sitze, obwohl er nicht einmal Augenzeuge gewesen war.<br />
Zwanzig Kriegsschlachten und Tausende von Toten und Verwundeten,<br />
schrieb er an seinen Freund L. A.-J. (1796–1874), hätten ihn nicht so<br />
arg hergenommen wie die Nachricht von diesem Ereignis 38 . „<strong>Die</strong> durch<br />
gewöhnliche Fuhrwerke veranlaßten Unglücksfälle gelangen selten zur<br />
Publizität, während diejenigen auf den Eisenbahnen durch alle Zeitungen<br />
ausposaunt werden“, schreibt die Appenzeller Zeitung anläßlich desselben<br />
Unfalls. Trotzdem sei es ausgemacht, „daß verhältnismäßig weit<br />
mehr Menschen durch gewöhnliche Fuhrwerke, als auf Eisenbahnen, zu<br />
Schaden kommen“ 39 .<br />
Erwartete man von <strong>der</strong> Eisenbahn den Tod, wieviel mehr mußte man<br />
von ihr Krankheit erwarten. <strong>Die</strong> ersten größeren Arbeiten über den Einfluß<br />
<strong>der</strong> Eisenbahn auf die Gesundheit erschienen bald nach <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>tmitte.<br />
Eine erste Monographie von Franz Rex (1795–1855)<br />
erschien 1854 40 , Edouard Adolpe Duchesne’s „Des chemins de fer et de<br />
leur influence sur la santé des mécaniciens et des chauffeurs“ erschien,<br />
wie C. Devilliers’ „Recherches statistiques et scientifiques sur les maladies<br />
des diverses professions du chemin de fer de Lyon“, 1857 in Paris 41 .<br />
36 Appenzeller Zeitung vom Mittwoch, 18. Mai 1842, S. 198.<br />
37 Neue Zürcher Zeitung vom Mittwoch, 18. Mai 1842, S. 235.<br />
38 Zit. n. Ackerknecht, Erwin H., Villermé and Quetelet. Bull. Hist. Med. XXVI (1952),<br />
S. 327. [Dass jedoch dem Brand von Hamburg „nicht annährend soviel Aufmerksamkeit“<br />
gewidmet wurde, mag für die französische Presse zutreffen; in <strong>der</strong> Schweizer Presse<br />
jedoch findet man mehr über den Brand als über den Unfall von Meudon. Anm. <strong>Fischer</strong>-<br />
<strong>Homberger</strong>, 2007].<br />
39 Appenzeller Zeitung vom Mittwoch, 25. Mai 1842, S. 208–209.<br />
40 Nach Schadewaldt, Hans: Zur Geschichte <strong>der</strong> Verkehrsmedizin unter beson<strong>der</strong>er<br />
Berücksichtigung <strong>der</strong> Schiffahrtsmedizin. In: Handbuch <strong>der</strong> Verkehrsmedizin, Berlin–<br />
Heidelberg–New York 1968, S. 32–33.<br />
41 Zit. n. Koch, Gisela, und Hoffmann, H., Geschichte <strong>der</strong> Verkehrsmedizin für den Verkehr<br />
mit Landfahrzeugen von den Anfängen bis zum Ende des 2. Weltkrieges. Zentralblatt<br />
für Verkehrs-Medizin, Verkehrs-Psychologie, Luft- und Raumfahrt-Medizin XV (1969),
308 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
1862 kam Max Maria von Webers „<strong>Die</strong> Gefährdungen des Personals beim<br />
Maschinen- und Fahrdienst <strong>der</strong> Eisenbahnen“ heraus 42 , in demselben<br />
Jahre druckte das „Lancet“ in England einen „Report of the Commission“<br />
über „The influence of railway travelling on public health“ ab, <strong>der</strong> später<br />
als Broschüre verkauft wurde 43 . Johannes Riglers (geb. 1839) und Otto<br />
Brähmers (1838–1902) Arbeiten zum Thema erschienen später 44 .<br />
Auch Krankheiten wurden vielfach als Strafe für die neue Errungenschaft<br />
empfunden. „Fast je<strong>der</strong> bedeutenden Erfindung“, schreibt <strong>der</strong> Freiherr von<br />
Weber 1862, „haften, wie <strong>der</strong> Schatten dem Lichte, gewisse Nachtheile an<br />
…“ 45 . Und Duchesne nahm für seine Arbeit ein Motto nach Auenbrugger:<br />
„Le médecin philosophe voit une foule de maux bien réels prendre naissance<br />
à la source de tant d’utiles et ingénieuses inventions“ 46 . Das Scheppern <strong>der</strong><br />
Wagen und das Pfeifen <strong>der</strong> Lokomotive schädigten das Gehör bis zur Taubheit<br />
47 , <strong>der</strong> Anblick vorbeiflitzen<strong>der</strong> Objekte ermüdete und schädigte Augen<br />
und Sehbahnen. „Dr. Budd, F. R. S.“, heißt es überdies im „Report“ von<br />
1862, „has directed our attention to the peculiarly dazzling effect of passing<br />
in rapid succession the white telegraph posts, from which the wires seem to<br />
fall and rise, appearing to the eye to undulate“ 48 . Auch das Lesen im Zuge<br />
ermüdete und zerrüttete Augen und Gehirn 49 . Ein typisches Eisenbahn-<br />
S. 224. Vgl. auch Duchesne, E. A., Influence hygiénique des chemins de fer. Annales<br />
d’hygiène publique et de médecine légale XII (1859), S. 470–471.<br />
42 Weber, Max Maria von, <strong>Die</strong> Gefährdung des Personals beim Maschinen und Fahrdienst<br />
<strong>der</strong> Eisenbahnen. Eine Denkschrift. Leipzig 1862.<br />
43 The influence of railway travelling on public health. Report of the commission. Lancet<br />
(1862) Vol. I., S. 15–19, 48–53, 79–84, 107–110,l 130–132, 155–158, 231–235 und<br />
258–261.<br />
Noch im selben Jahr kam <strong>der</strong> Report in London als „shilling volume“ heraus (Lancet<br />
[1862], Vol. II, S. 396).<br />
44 Rigler, Johannes, Über die Folgen <strong>der</strong> Verletzungen auf Eisenbahnen, insbeson<strong>der</strong>e Verletzungen<br />
des Rückenmarks, Berlin 1879;<br />
Rigler, Johannes, <strong>Die</strong> im Eisenbahndienst vorkommende Berufskrankheit und Mittel zu<br />
ihrer Abhilfe. Berlin 1880.<br />
Brähmer, Otto, Eisenbahnhygiene. [= Handbuch <strong>der</strong> Hygiene, Bd. 6, 4. Lieferung]<br />
Jena 1896.<br />
45 Weber, <strong>Die</strong> Gefährdung …, S. 1.<br />
46 Zit. n. Pietra-Santa, Prosper de, Etude médico–hygiénique sur l’influence qu’exercent les<br />
chemins de fer sur la santé publique. Annales d’hygiène publique et de médecine légale,<br />
2. Serie, XII (1859), S. 16.<br />
47 The influence of railway travelling …, S. 52 und 110.<br />
48 Id., S. 51–52.<br />
49 Id., S. 52. Vgl. auch Legrand du Saulle: De l’influence congestive de la lecture en<br />
chemin-de-fer. Bull. Soc. de méd. prat. de Paris 1863, 8–10.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 309<br />
fieber wurde später als Heufieber erkannt 50 . Der große Astronom,<br />
Physiker und Politiker François Arago führte gegen den Bau <strong>der</strong> Paris-<br />
Versailles-Bahn, die durch ein Tunnel führen mußte, 1836 u. a. folgendes<br />
ins Feld: „Man denke sich ... die Passagiere eines Wagenzuges, die sich<br />
bisher in dieser Temperatur [eines warmen Sommertags] bewegt hatten,<br />
erlitten plötzlich nach <strong>der</strong> Einfahrt in den Tunnel eine Erniedrigung <strong>der</strong><br />
Wärme bis auf 8°. Ein solcher Wechsel wird empfindlichen Personen nothwenig<br />
Schleimflüsse, Husten und Katarrh zuziehen müssen“ 51 . Vorzeitiges<br />
Altern wurde speziell bei Abonnements-Passagieren beobachtet 52 .<br />
Das Rütteln <strong>der</strong> Wagen wurde für Kranke als zu schwach, für Gesunde<br />
als zu stark betrachtet. „Bekanntlich gehört das Reisen zu den Hauptmitteln<br />
unserer Kunst“, schreibt 1836 ein Arzt, „durch die fortdauernde<br />
Erschütterung. Ich habe Beispiele genug gesehen, wo zur Kur <strong>der</strong> Hämorrhoiden<br />
und Hypochondrie gar nichts weiter nöthig war ... <strong>Die</strong>ser große<br />
Vortheil <strong>der</strong> ... wohltätigen Erschütterung, fällt nun aber ganz weg bei<br />
<strong>der</strong> Fahrt auf Eisenbahnen. Beson<strong>der</strong>s wichtig tritt dieser Umstand ein,<br />
bei <strong>der</strong> Reise nach den Bä<strong>der</strong>n ... Wird es also künftig nicht nothwendig<br />
seyn, bei solchen medizinischen Reisen den Kranken ausdrücklich die<br />
Eisenbahnen zu verbieten...?“ 53 Andrerseits wurde das Rütteln <strong>der</strong> Eisenbahnwagen<br />
seiner Heftigkeit wegen für ungesund erklärt, es provozierte<br />
Frühgeburten, Aborte 54 , Harnverhaltung 55 , Hämorrhoiden 56 , Blutungen<br />
aller Art 57 und – und dies vor allem: Schädigungen des Nervensystems.<br />
Schon die bloße Betrachtung <strong>der</strong> Eisenbahn erschütterte die Nerven.<br />
„Treffend bezeichnet ein großer Gelehrter ... die Geschwindigkeit, mit<br />
<strong>der</strong> sich die Züge <strong>der</strong> Eisenbahnen bewegen, mit dem Ausdrucke einer<br />
‘fast planetarischen’. In <strong>der</strong> That ist diese Geschwindigkeit eine so abweichende<br />
von allen bis dahin bei Beför<strong>der</strong>ung von Menschen und Gütern<br />
in Anwendung gebrachten, daß sie wohl zum Vergleiche mit überirdischen<br />
Erscheinungen berechtigt ... <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> vorüberrollenden<br />
Massen, die schwindelnde Schnelligkeit, mit <strong>der</strong> die ... Wagen dröh-<br />
50 Zit. n. Koch und Hoffmann, op. cit., S. 200.<br />
51 Zit. n.: Zur Geschichte <strong>der</strong> festländischen Eisenbahnen. Zeitung des Vereins deutscher<br />
Eisenbahn-Verwaltungen, Nr. 61 (1862), S. 601.<br />
52 The influence of railway travelling ..., S. 79–80.<br />
53 Ein Wink über die Eisenbahnen in medizinischer Beziehung. Hufelands Journal LXXXII<br />
(1836), 3. Stück, S. 119.<br />
54 Beaugrand, E., Chemins de fer. In: Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales,<br />
hrsg. v. Dechambre, 1. Serie, Bd. 15, Paris 1874, S. 700.<br />
55 The influence of railway travelling ..., S. 131–132.<br />
56 Id., S. 155.<br />
57 Id., S. 132 und 155–156.
310 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
nend auf den Schienenwegen dahinschießen und die Luft ... wild aufwirbeln<br />
machen ... alles dies bildet ein Ganzes, welches die jetzt lebende<br />
Generation noch nicht ganz ohne eine gewisse Erschütterung <strong>der</strong> Nerven<br />
anschauen kann“ 58 , schreibt Max Maria von Weber. Ein berühmt gewordenes<br />
Gutachten des bayrischen Obermedizinalkollegiums aus dem Jahre<br />
1835 59 enthält folgende Passage: „Reisen mit irgend einer Art Dampfmaschine<br />
sollten aus Gesundheitsrücksichten verboten sein. <strong>Die</strong> raschen<br />
Bewegungen werden bei den Passagieren eine geistige Unruhe, ‘Delirium<br />
furiosum’ genannt, hervorrufen ... Der Anblick einer Lokomotive, die in<br />
voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, diese schreckliche Krankheit zu<br />
erzeugen. Es ist daher unbedingt nötig, daß eine wenigstens sechs Fuß<br />
hohe Schranke auf beiden Seiten <strong>der</strong> Bahn errichtet werde“ 60 .<br />
„The very power of locomotion keeps persons in a state of great nervous<br />
excitement“, sagte Lord Shaftesbury 1859. „I have ascertained that many<br />
persons who have been in the habit of travelling by railway have been obliged<br />
to give it up in consequence of the effect on the nervous system“ 61 .<br />
Und die Ursache solcher Aufregung? „Several eminently careful observers<br />
have, in their communications, alluded to an often experienced condition<br />
of uneasiness ... which pervades the generality of travellers by rail. The<br />
possibility of collision is constantly present to such persons“ 62 . Auch „a<br />
vague dread of certain undefined consequences to health resulting from<br />
influences peculiarly produced by this mode of travelling“ 63 zehrte an den<br />
Nerven <strong>der</strong> Eisenbahnreisenden. Brown-Séquard, Forbes Winslow, Russell<br />
Reynolds und an<strong>der</strong>e medizinische Autoritäten hielten Eisenbahnreisen<br />
bei Hirnerweichung für kontraindiziert, da sie ohnehin hirnerweichend<br />
wirkten, bei entsprechen<strong>der</strong> Prädisposition rief das Eisenbahnfahren auch<br />
sonstige Hirnkrankheiten hervor 64 . Cerebrospinale Erschöpfung führte<br />
bei Passagieren häufig zu Verschlimmerungen von Abdominalleiden 65 .<br />
Speziell gefährdet waren natürlich immer die Nervensysteme des<br />
Eisenbahnpersonals. Dr. Devilliers, Arzt <strong>der</strong> Paris-Lyon-Bahn, fand,<br />
daß 1/15 aller Lokomotivführer und Heizer an Hirn- und Rückenmarks-<br />
58 Weber, <strong>Die</strong> Technik des Eisenbahnbetriebes ..., S. 1.<br />
59 Koch und Hoffmann, op. cit., S. 193. Es handelte sich um die Genehmigung <strong>der</strong><br />
Nürnberg–Fürther-Bahn.<br />
60 Zit. n. Jaggi, Arnold, Ein Lesebuch für Schule und Haus. Bern 1936, S. 29. . Bern 1936,<br />
S. 29. [Ein solches Gutachten ist indessen offenbar nie gefunden worden. Ralf Roth,<br />
Das Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Eisenbahn. Ostfil<strong>der</strong>n 2005, S. 50; Roth zitiert F. M. Feldhaus, Ein<br />
medizinisches Gutachten über das Eisenbahnfahren? Mitteilungen zur Geschichte <strong>der</strong><br />
Medizin und <strong>der</strong> Naturwissenschaften 20, 1920. Anm. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, 2007]<br />
61 The Influence of railway travelling ..., S. 15.<br />
62 Id., S. 51.<br />
63 Id., S. 15.<br />
64 Id., S. 107.<br />
65 Id., S. 156.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 311<br />
leiden krankten 66 . Dr. H. de Martinet berichtete an <strong>der</strong> Académie des<br />
sciences (1857) über eine spezifische Berufskrankheit <strong>der</strong> Eisenbahner:<br />
„Le système nerveux est lésé, les sujets maigrissent, la faculté génératrice<br />
s’éteint; le corps est agité de soubresauts, de convulsions, l’intelligence<br />
faiblit“ 67 . Dr. Duchesne hat eine „maladie des mécaniciens“ beschrieben,<br />
ein Krankheitsbild, das sich vorwiegend in allerlei Schmerzen<br />
äußerte. „Ces douleurs dépendent probablement d’une affection de la<br />
moelle épinière, qui a pour cause la station debout trop prolongée et<br />
la trépidation continuelle et presque inévitable des locomotives ...“ 68 .<br />
Der Rücken war überhaupt <strong>der</strong> Prädilektionsort <strong>der</strong> Eisenbahnschäden.<br />
Auch dieser historische Befund hat seinen mythologischen Hintergrund.<br />
Gerade im mittleren Drittel des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts nämlich,<br />
in dem die Eisenbahnen <strong>der</strong> Inbegriff des Mo<strong>der</strong>nen waren, waren auch<br />
Rückenleiden ganz außerordentlich en vogue. <strong>Die</strong> sogenannte „Spinalirritation“,<br />
die Rückenmarksreizung, war das mo<strong>der</strong>nste, was man damals<br />
haben konnte, und ähnlich beliebt wie ihre Nachfahrin, die „Neurose“<br />
unserer Zeit, die wie sie den Stempel <strong>der</strong> Zivilisationskrankheit trägt 69 .<br />
Daß das Rückenmark als Substrat von zivilisatorischen Noxen gedacht<br />
werden konnte, hängt damit zusammen, daß es auch als Sitz eines Teils<br />
<strong>der</strong> psychischen Funktionen galt.<br />
<strong>Die</strong> Erforschung <strong>der</strong> Reflexe hatte die teilweise Autonomie des<br />
Rückenmarks und seiner einzelnen Segmente klargelegt und <strong>der</strong> Begriff<br />
<strong>der</strong> „Rückenmarksseele“ geisterte in <strong>der</strong> Literatur herum. Wer in jener<br />
Zeit also ein Rückenleiden hatte, krankte auch psychisch 70 .<br />
So brachte denn auch das Fahren mit <strong>der</strong> furchterregenden neuen<br />
Errungenschaft <strong>der</strong> Zivilisation, <strong>der</strong> Eisenbahn, typischerweise viele<br />
Rückenleiden. Vermutlich brachte es mehr Rückenleiden, als sich aus<br />
<strong>der</strong> mangelnden Fe<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Züge, aus <strong>der</strong> Häufigkeit syphilitischer<br />
und tuberkulöser Vorerkrankungen und aus dem Bestehen von Versicherungen<br />
im Eisenbahnwesen hätten erklären lassen. Sicher aber waren<br />
diese Leiden mehr gefürchtet als dies rationalerweise angezeigt gewesen<br />
66 Id., S. 80.<br />
67 Zit. n. Pietra-Santa, op. cit., S. 14. Vgl. auch: The influence of railway travelling ..., S. 80.<br />
Martinet führte dieses nervöse Leiden speziell auf Vergiftung durch die eingeatmeten<br />
Verbrennungsgase zurück.<br />
68 Zit. n. Pietra-Santa, S. 25.<br />
69 <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>, Hypochondrie. Bern 1970, S. 81–85 und 123–126.<br />
70 Vg l. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, <strong>Esther</strong>, Railway Spine und traumatische Neurose – Seele und<br />
Rückenmark. Gesnerus 27 (1970) 96–111.
312 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
wäre. Passagiere 71 , beson<strong>der</strong>s aber das Personal galt natürlich als gefährdet.<br />
M. M. von Weber unterschied zweierlei Sorten von Gefahren, denen<br />
das Eisenbahnpersonal beson<strong>der</strong>s ausgesetzt sei: die „Gefahren mechanischen<br />
Ursprungs“ und die „Gefahren physiologischen Ursprungs“ 72 . <strong>Die</strong><br />
Spezifischsten davon nannte er „diejenigen, die von den harten Erschütterungen<br />
<strong>der</strong> Fahrt ... herrühren ... <strong>Die</strong> Erschütterungen gehen bei dem<br />
Locomotivpersonale durch die Beine auf das Rückgrat und das Gehirn<br />
über, bei dem Zugpersonale: Schaffner, Oberschaffner etc. erfolgen sie<br />
directer auf die Wirbelsäule ... <strong>Die</strong> nächsten Folgen <strong>der</strong> Erschütterungen<br />
zeigen sich ... als Dumpfheit in den Beinen ... Es treten dann auch<br />
häufig Schmerzen im Rückgrat ein und die Abnahme <strong>der</strong> Intelligenz, die<br />
durch ... die hohe Temperatur in <strong>der</strong> Nähe des Feuers ... eingeleitet ist,<br />
wird durch diese Einflüsse beschleunigt. <strong>Die</strong> Erschütterungen des Körpers<br />
scheinen auch zu <strong>der</strong> Störung <strong>der</strong> Unterleibsfunctionen, aus denen<br />
ein großer Theil <strong>der</strong> Krankheiten des Locomotivpersonals erwächst ...<br />
beizutragen ...“ 73<br />
Der Eisenbahnarzt Johannes Rigler (geb. 1839) bestätigt Webers<br />
Annahmen. In seiner Arbeit „<strong>Die</strong> im Eisenbahndienst vorkommende<br />
Berufskrankheit“ (1880) stellt er „mit positiver Gewißheit“ fest:<br />
„1. daß <strong>der</strong> Beruf des Maschinenpersonals im Eisenbahndienst ein<br />
beson<strong>der</strong>s consumiren<strong>der</strong> ist und im natürlichen Lauf <strong>der</strong> Dinge relativ<br />
frühzeitig Invalidität herbeiführt;<br />
2. daß diese Invalidität zumeist in einem eigenthümlich verän<strong>der</strong>ten<br />
Zustand <strong>der</strong> Nervencentra, einer Irritation <strong>der</strong>selben, ihren Grund hat,<br />
und daß wir in dieser Irritation die recht eigentlich professionelle Krankheit<br />
des Maschinenpersonals erkennen müssen“ 74 . <strong>Die</strong>se Irritation war<br />
aber charakteristischerweise ebensosehr im Rückenmark als im Gehirn<br />
lokalisiert.<br />
Ein außerordentlich häufiges Krankheitsbild <strong>der</strong> zweiten Hälfte<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts war ferner die sogenannte „Railway-Spine“. <strong>Die</strong><br />
„Railway-Spine“ war das typische Rückenleiden nach Eisenbahnunfall.<br />
Es betraf Passagiere wie Angestellte. Bei letzteren konnte es auch<br />
durch chronische Einwirkungen entstehen. <strong>Die</strong> „Railway-Spine“, die<br />
bald auch „Railway-Brain“ genannt wurde, ist die begriffliche Ahnin <strong>der</strong><br />
71 The influence of railway travelling ..., S. 79–80 und 108–109.<br />
72 Weber, <strong>Die</strong> Gefährdungen des Personals ..., S. 3.<br />
73 Id., S. 33–34.<br />
74 Rigler, <strong>Die</strong> im Eisenbahndienst vorkommende Berufskrankheit..., S. 13.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 313<br />
späteren traumatischen Neurose und <strong>der</strong> Schreckneurose 75 – ein interessantes<br />
Analog zur Entwicklung <strong>der</strong> Neurose im allgemeinen aus <strong>der</strong> Spinalirritation.<br />
<strong>Die</strong> klassische Beschreibung dieses Krankheitsbildes stammt<br />
von dem englischen Chirurgen John Eric Erichsen (1818–1896), <strong>der</strong> es<br />
allerdings „concussion of the spine“ nannte und nicht „railway spine“.<br />
Denn er fand, wie viele nach ihm, dieses Krankheitsbild entstünde zwar<br />
vorzugsweise anläßlich von Eisenbahnunfällen, denn diese seien häufig<br />
und wirkten beson<strong>der</strong>s entsetzlich auf das Gemüt 76 . Aber doch fand<br />
Erichsen, daß prinzipiell je<strong>der</strong> Unfall geeignet sein könne, eine Rückenmarkserschütterung<br />
hervorzurufen. <strong>Die</strong> Symptome waren hauptsächlich:<br />
Schlechtes Aussehen, schlechtes Gedächtnis, schlechter Schlaf, schlechte<br />
Laune und verwirrtes Denken, Kopfweh, Störungen von Augen, Gehör,<br />
Sprache, Sensibilität und Motilität, vegetative Symptome und Rückenschmerz<br />
77 . Johannes Rigler nahm dann später (1879) doch an, daß es<br />
sich bei <strong>der</strong> Railway Spine um ein spezifisches Eisenbahnleiden handle.<br />
„<strong>Die</strong> eigenthümliche Art, sowie die Intensität ... des Vorganges, sowie ...<br />
die ... Erschütterung stellen Momente dar, wie sie in gleicher Weise eben<br />
nur bei Zusammenstößen auf Eisenbahnen gegeben sind, so daß hier in<br />
Wirklichkeit eine Affektion ganz beson<strong>der</strong>er Art, die recht eigentliche<br />
‘railway spine’, vorliegt, ...“ Doch nimmt Rigler echte Railway Spine nur<br />
dann an, wenn <strong>der</strong> Verunfallte im Augenblick des Unfalles „dem Punkte<br />
des Zusammenstoßes den Rücken zuwandte“ 78 .<br />
Rigler kannte aber noch ein an<strong>der</strong>es spezifisches Eisenbahnleiden.<br />
<strong>Die</strong>ses wurde leicht mit an<strong>der</strong>en, organischen Rückenmarkskrankheiten<br />
verwechselt 79 . Durch den Einfluß <strong>der</strong> Berufsschädlichkeiten entstehe,<br />
schreibt er, „bei den Beamten des Maschinen- und Fahrdienstes<br />
eine ... Irritation <strong>der</strong> Nervencentra, welche im gewöhnlichen Laufe<br />
<strong>der</strong> Dinge allerdings erst nach ... geraumer ... <strong>Die</strong>nstzeit deutlicher zu<br />
Tage tritt, unter <strong>der</strong> Einwirkung einer äußeren Gewalt aber o<strong>der</strong> auch<br />
nur des Shock, vorzeitig und in sehr gesteigertem Grade sich bemerklich<br />
machen kann.“ Es kommt dann zu einem Zustande spinaler Irritation<br />
75 Vg l. <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, Railway Spine ... und: Ursachen <strong>der</strong> traumatischen Neurose von<br />
<strong>der</strong> „Railway Spine“ bis nach dem Ersten Weltkrieg. Noch unpubliziert. [Nachtrag fh<br />
2008: <strong>Die</strong> Publikation erfolgte 1975: <strong>Die</strong> traumatische Neurose. Vom somatischen zum<br />
sozialen Leiden. Huber: Bern-Stuttgart-Wien; Neudruck mit Vorwort von Günter H.<br />
Seidler, Psychosozial-Verlag: Giessen 2004.]<br />
76 Erichsen, John Eric, On railway and other injuries of the nervous system. Philadelphia<br />
1867, S. 20ff. Vgl. auch Oppenheim, Hermann, Railway-Spine. In: Real-Encyclopädie<br />
<strong>der</strong> gesammten Heilkunde, hrsg. v. A. Eulenburg, 2. Aufl., Bd 16, Wien–Leipzig 1888, S.<br />
384ff.<br />
77 Erichsen, op. cit., S. 72 ff.<br />
78 Rigler, Über die Folgen <strong>der</strong> Verletzungen ..., S. 36.<br />
79 Id., S. 123.
314 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
mit „krankhafter Abneigung gegen die gewohnte Thätigkeit“, zu einem<br />
„so beson<strong>der</strong>en und eigenthümlichen Zustand ..., daß es gerechtfertigt<br />
erscheinen dürfte, denselben als einen ganz specifischen und zwar als den<br />
einer ‘Si<strong>der</strong>odromophobie’ aufzufassen ...“ 80<br />
Mit <strong>der</strong> Zeit gewöhnte man sich an die Eisenbahn. Neue Errungenschaften<br />
<strong>der</strong> Technik zogen den Mythos von <strong>der</strong> Zivilisationskrankheit<br />
auf sich – allerdings nie mehr mit <strong>der</strong>selben Heftigkeit wie die Eisenbahn.<br />
<strong>Die</strong> meisten Eisenbahnkrankheiten verschwanden wie Schnee in<br />
<strong>der</strong> Sonne, als die Eisenbahn allmählich zum gewöhnlichen und gar zum<br />
gemütlichen Verkehrsmittel wurde. Auch dieser Umstand weist darauf<br />
hin, daß <strong>der</strong> Mythos von <strong>der</strong> Zivilisationskrankheit hinter den Eisenbahnkrankheiten<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts steht.<br />
*<br />
Ich habe versucht, die Eisenbahnkrankheiten des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
in ihrem mythologischen Aspekt, als Preis o<strong>der</strong> Strafe für den zivilisatorischen<br />
Fortschritt, als Übel aus <strong>Pandora</strong>s <strong>Büchse</strong>, darzustellen. Ich habe<br />
versucht, zu zeigen, daß hinter den medizinisch-naturwissenschaftlichen<br />
Theorien von den schädlichen Wirkungen <strong>der</strong> Eisenbahn eine mythisch<br />
motivierte Angst steht.<br />
Bemerkenswert und interessant war dabei, daß <strong>der</strong> Feststellung dieser<br />
Angst wesentliche methodologische Schwierigkeiten entgegenstanden.<br />
Niemand will nämlich diese Angst, die sich nicht auf reale Gefahren<br />
kausal zurückführen lässt, die nur im Rahmen einer irrationalen Denkweise<br />
logisch erscheint, selbst verspürt haben. Nicht die Angst an sich<br />
wird geleugnet, wohl aber <strong>der</strong>en irrationale Quelle, denn irrationales<br />
Denken ist als unvernünftig diskriminiert. Das verbindliche Denken ist<br />
das rationale 81 .<br />
So findet man die irrationale Eisenbahnangst in den <strong>der</strong> Geschichtsschreibung<br />
einigermaßen leicht zugänglichen Dokumenten des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
praktisch nur als Objekt <strong>der</strong> Kritik. Man findet Gedichte,<br />
Witze und Karikaturen darüber. Auch <strong>der</strong> Freiherr von Weber hat eine<br />
humoristische Erzählung, „Der Nervendämon auf <strong>der</strong> Eisenbahn“,<br />
geschrieben 82 . Häufig findet man ferner die irrationale Eisenbahnangst<br />
an an<strong>der</strong>en beobachtet und beschrieben: an Kin<strong>der</strong>n, Unterentwickelten,<br />
Geisteskranken, Frauen; an <strong>der</strong> Masse, zu <strong>der</strong> sich noch nie jemand ge-<br />
80 Id., S. 118–119.<br />
81 <strong>Die</strong>s gilt für die Zeit, von <strong>der</strong> wir hier sprechen, in ganz beson<strong>der</strong>em Maße. Vgl. de Vries,<br />
Jan, Forschungsgeschichte <strong>der</strong> Mythologie. Freiburg–München 1961, S. 199 ff.<br />
82 Weihe, Carl, Max Maria von Weber. Ein Lebensbild des Dichter-Ingenieurs. Berlin 1917,<br />
S. 42.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 315<br />
zählt hat und – das muß den Historiker interessieren – an denen, die<br />
früher gelebt haben.<br />
„Wie gross“, schreibt 1845 eine Zeitung anläßlich eines Eisenbahnunfalles,<br />
„war früher das Vorurtheil gegen Eisenbahnen! Mancher bediente<br />
sich ihrer nur mit Angst und Wi<strong>der</strong>streben und nach einem Abschiede<br />
von den Seinigen, als ob es in den Tod ginge! Jetzt hat ... die Furcht ... sich<br />
verloren und nur in wenigen Gegenden Deutschlands, z.B. in Österreich,<br />
finden wir mitunter noch antilocomotive Vorurtheile. Es ist in <strong>der</strong> That<br />
etwas sehr Thörichtes um diese Furcht vor dem Dampfwagen!“ 83<br />
So sind auch die obenzitierten Ausdrücke, die auf eine mythische Eisenbahnangst<br />
hindeuten größtenteils nicht unmittelbare eigene Äußerungen<br />
<strong>der</strong> Autoren, bei denen sie sich finden. Auch sie sind an<strong>der</strong>en in Mund<br />
und Geist gelegt. <strong>Die</strong> referierenden Autoren selbst glauben nicht, daß<br />
auf zivilisatorischen Fortschritt mit gesetzmäßiger Notwendigkeit ein<br />
entsprechendes Quantum neuen Übels folge. Sie identifizieren sich mit<br />
einem rational-technischen Denken. Wo sie mythischen Denkmustern<br />
bei sich selbst aber doch begegnen und sie sich darüber äußern, distanzieren<br />
sie sich davon. So fügt Villermé dem Geständnis seines unverhältnismäßig<br />
großen Schrecks über den Unfall auf <strong>der</strong> Paris–Versailles–Strecke<br />
bei: „Cela n’empèchera pas d’ailleurs une seule fois les gens raisonables de<br />
prendre les chemins de fer“ 84 .<br />
So wird das mythische Denken 85 , aus dem sich vermutlich <strong>der</strong> größte<br />
Teil <strong>der</strong> Angst des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor Eisenbahnunfall und Eisenbahnkrankheit<br />
ableitet, historisch kaum je direkt faßbar. Auch aus<br />
dem Bewußtsein <strong>der</strong>er, die mit Eisenbahnkrankheiten zu tun hatten,<br />
waren „antilocomotive Vorurtheile“ ja verbannt: die Angst vor Eisenbahnkrankheiten<br />
beruhte nicht auf Vorurteilen, son<strong>der</strong>n auf rationaler<br />
Beurteilung <strong>der</strong> Schädlichkeit des Eisenbahnfahrens. Man fürchtete die<br />
meß- und wägbaren Erschütterungen, Dämpfe, Geschwindigkeiten und<br />
Temperaturschwankungen. Es ist, nebenbei bemerkt, in diesem Zusammenhange<br />
interessant, was Gustav Schwab über die Übel aus <strong>Pandora</strong>s<br />
<strong>Büchse</strong> schreibt: „<strong>Die</strong> Krankheiten irrten bei Tage und bei Nacht unter<br />
83 Zit. n. Volmar, op. cit., S. 87–88.<br />
84 Zit. n. Ackerknecht, op. cit., S. 327.<br />
85 „Mythisches Denken“ ist hier also nicht so sehr im Sinne Cassirers (Ernst Cassirer: Sprache<br />
und Mythos. Leipzig–Berlin 1925) von seinen allfälligen formalen und inhaltlichen<br />
Merkmalen her verstanden als vielmehr im Sinne des von Cassirer (op. cit., S. 3 ff.) kritisierten<br />
Max Müller, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Mythologie sagt: „Sie ist ... <strong>der</strong> Schatten, welchen die<br />
Sprache auf den Gedanken wirft...“
316 <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong><br />
den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen<br />
keine Stimme gegeben“ 86 .<br />
Entsprechend verliert sich auch <strong>der</strong> Ursprung des Begriffs <strong>der</strong> „Railway<br />
Spine“ im Nichtformulierten – und ebenso <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „Rückenmarksseele“,<br />
die mit <strong>der</strong> Railway Spine und den übrigen Eisenbahn-<br />
Rückenkrankheiten doch eng zusammenhängt. <strong>Die</strong> „Rückenmarksseele“,<br />
für die Pflüger so oft zitiert und kritisiert wird, findet sich nämlich bei<br />
Pflüger wie<strong>der</strong>um nur als kritisiertes Zitat: Pflüger empfindet es als eine<br />
Ironisierung seiner Ansichten, daß er <strong>der</strong> „Entdecker <strong>der</strong> ‘Rückenmarksseele’“<br />
genannt wurde 87 . <strong>Die</strong> historische Wurzel <strong>der</strong> „Railway Spine“ zu<br />
finden, ist bisher ja auch nicht gelungen. Sicher ist nur, daß sie nicht, wie<br />
gemeinhin angenommen, bei Erichsen liegt 88 .<br />
Es ist schwierig, mit historisch wurzellosen Größen, wie es diese<br />
Rückenmarksseele und die Railway Spine, aber auch die „Eisenbahnkrankheiten“<br />
überhaupt sind, mit Größen, <strong>der</strong>en Ursprünge in a- und<br />
parahistorischen Bereichen liegen, historisch umzugehen. Es ist schwierig,<br />
weil die Argumentation dabei erschwert ist. Wenn die mythische<br />
Denkweise, die wir als die Quelle eines großen Teils <strong>der</strong> Eisenbahnangst<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts betrachten o<strong>der</strong> vermuten, nicht regelrecht aktenkundig<br />
ist, wie können wir als Historiker behaupten, daß es sie je gegeben<br />
habe? Wenn sie in ihrer historisch wirksamen Form, in Form <strong>der</strong> assoziativen<br />
Selbstverständlichkeit, historisch nicht greifbar ist, darf <strong>der</strong> Historiker<br />
dann überhaupt mit ihr rechnen? Psychologische Argumentation<br />
in historischen Dingen ist fragwürdig: man darf nicht einfach denen eine<br />
irrationale Eisenbahnangst imputieren, die solche Angst distanznehmend<br />
beschreiben. Der Historiker darf keine Projektionsmechanismen in die<br />
Vergangenheit projizieren, wo sich diese historisch nicht als solche bestätigen<br />
lassen.<br />
Und doch versteht man einen Teil <strong>der</strong> historischen Tatsachen und<br />
Geschehnisse kaum, wenn man mit solcher Angst nicht rechnet. Man<br />
versteht dann kaum die enorme Erregung <strong>der</strong> Pariser Bevölkerung bei<br />
jenem Unfall im Jahre 1842. Man steht <strong>der</strong> enormen Verbreitung <strong>der</strong><br />
Eisenbahnkrankheiten im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t und <strong>der</strong>en plötzlichem weitgehenden<br />
Verschwinden gegen Ende jenes Jahrhun<strong>der</strong>ts dann mehr o<strong>der</strong><br />
86 Schwab, Gustav, <strong>Die</strong> schönsten Sagen des klassischen Altertums. 2. Ausg., Basel 1948,<br />
Bd. 1, S. 17.<br />
87 Pflueger, Eduard, Bemerkungen zur Physiologie des centralen Nervensystems. Arch. für<br />
die gesamte Physiologie XV (1877), S. 151.<br />
88 <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, Railway Spine..., S. 96–97. Vgl. Erichsen, op. cit., S. 22–23.
<strong>Die</strong> <strong>Büchse</strong> <strong>der</strong> <strong>Pandora</strong> 317<br />
weniger verständnislos gegenüber. Auch die Tatsache, daß die Eisenbahnen<br />
vor allem den Rücken schädigten, muß dann schwer begreiflich<br />
erscheinen. So sind denn in vielen Fällen Mythen die historischen Realitäten,<br />
mit denen die Geschichte arbeiten muß – unter Mythen sind dabei<br />
Assoziationssysteme verstanden, die nur als Objekte rationaler Kritik<br />
historisch werden. <strong>Die</strong> Geschichtsschreibung muß sich in solchen Fällen<br />
aber bewusst bleiben, daß sie über methodologische Abgründe geht.<br />
Zum Schluss sei hier noch ein Text von Jeremias Gotthelf (1797–1854)<br />
vorgelegt, in dem das Von-Sich-Wegschieben <strong>der</strong> irrationalen Angst vor<br />
<strong>der</strong> Eisenbahn dichterisch beschrieben ist. Er entstammt dem zweitletzten<br />
Kapitel von „Jakobs des Handwerksgesellen Wan<strong>der</strong>ungen durch die<br />
Schweiz“ (1846/47). „Jakob machte Einwendungen gegen die Eisenbahnen<br />
...“ heißt es da. „Er fürchtete sich vor <strong>der</strong> dämonischen Macht, welche<br />
die Menschen dahinführt akkurat wie <strong>der</strong> Teufel die armen Seelen<br />
<strong>der</strong> Hölle zu, ohne daß sie was daran mehr machen können, wenn das<br />
Ding einmal im Lauf ist. Er hatte viel von Unglück gehört, schrecklichen<br />
Dingen, wie man verbrennen könne, wie man könne gesotten werden, ...<br />
wie man könne in die Luft gesprengt werden, daß man sein Lebtag nicht<br />
mehr zu Boden komme, so hoch hinauf. Im Waadtlande hatte er erzählen<br />
hören, ein solcher Zug sei einmal ausgerissen, ganz ab <strong>der</strong> Kette gekommen<br />
und davongefahren. Am grünen Vorgebirge habe man ihn noch gesehen,<br />
seither aber nichts mehr davon erfahren, bloß Arago, <strong>der</strong> berühmte<br />
Pariser Sterngucker, ... wollte ihn am hintersten Mond des Jupiters haben<br />
vorbeisausen sehen. Jakob glaubte es nun freilich nicht, er machte bloß<br />
Eindruck auf ihn, im Waadtlande hatte es aber viel Glauben gefunden, die<br />
Waadtlän<strong>der</strong> sind ein sehr gläubiges Volk, in solchen Dingen nämlich“ 89 .<br />
<strong>Die</strong> Grenzen, die historischer Aussage gesetzt sind, werden hier also<br />
dichterisch überschritten: Gotthelf legt nahe, daß Jakob an ähnlichen<br />
Ängsten leidet wie die Waadtlän<strong>der</strong>. Wir dürften als Historiker aus dieser<br />
Erzählung nicht schließen, daß Gotthelf von Jakobs Ängsten je berührt<br />
worden sei.<br />
Ich möchte Dr. med. H. Kradolfer, Bahnärztlicher <strong>Die</strong>nst und dem Personal <strong>der</strong> SBB-<br />
Bibliothek Bern, speziell Mme. M. Chappuis, noch beson<strong>der</strong>s für ihre Hilfe danken.<br />
Dr. med. <strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>, Medizinhistorisches Institut <strong>der</strong> Universität<br />
CH-8006 Zürich, Im Turm <strong>der</strong> Universität.<br />
89 Gotthelf, Jeremias, Jakobs des Handwerksgesellen Wan<strong>der</strong>ungen durch die Schweiz.<br />
Zürich–München–Leipzig 1923, S. 489–490.