Vergessene Zivilisationskrankheiten - Esther Fischer-Homberger
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Sonderdruck aus:<br />
Umwelt und Mensch<br />
Körperliche und seelische Auswirkungen<br />
Universität Bern<br />
Kulturhistorische Vorlesungen<br />
Peter Lang<br />
Bern ∙ Frankfurt am Main ∙ Las Vegas
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
<strong>Esther</strong> <strong>Fischer</strong>-<strong>Homberger</strong>*<br />
Wenn ich hier über das Aufblühen und Vergessenwerden von <strong>Zivilisationskrankheiten</strong><br />
erzähle, so ist mit “Zivilisation” jene Verfeinerung der Lebensweise gemeint, die<br />
die technische und wirtschaftliche Entwicklung der Neuzeit mit sich gebracht hat.<br />
Diese Entwicklung ist nun zwar älter als die sogenannte Neuzeit. Die Technisierung<br />
des Gewerbes, das Aufblühen des Handels und der Städte, die systematische Pflege<br />
der Wissenschaften, diese grundlegenden Träger der neuzeitlichen Zivilisation, gehen<br />
tief ins Mittelalter zurück. Wichtige Anfänge liegen in der Zeit der Rezeption des von<br />
den Arabern ins Abendland gebrachten Kultur- und Gedankengutes in den ersten<br />
Jahrhunderten unseres Jahrtausends. Aber erst mit der Neuzeit haben die Europäer<br />
die Tatsache, dass diese Entwicklungen von Generation zu Generation tiefgreifende<br />
Veränderungen der Lebensgewohnheiten mit sich brachten, als solche in ihre Kultur<br />
bzw. in ihr Erleben der Welt eingebaut. Die Bezeichnung “Neuzeit” selbst (17. Jhdt.)<br />
samt deren Abhebung vom nun so genannten “Mittelalter”, die bei den Humanisten<br />
des 15. Jahrhunderts zuerst gefunden wird 1 , bringt diesen Umschwung im Erleben der<br />
eigenen Geschichte zum Ausdruck.<br />
Die Auffassung, das Abweichen von Altem dominiere das moderne Leben, scheint sich<br />
im 15. und 16. Jahrhundert vor allem auch unter dem Eindruck der Reformation, der<br />
Entdeckungen, des Schiesspulvers, des Humanismus (der die alten Schriften mehr als<br />
historische Quellen denn als Quell der Wahrheit betrachtete) und des Buchdrucks<br />
verbreitet zu haben. Dem Buchdruck kam dabei als einem Massenmedium, das an der<br />
Verbreitung der Idee vom Neuen schon mit Blick auf die dadurch gewissermassen<br />
garantierte Erneuerung seines Absatzmarktes selbst interessiert war, wohl besondere<br />
Bedeutung zu.<br />
Zuerst sprach man halb verschämt zwar noch von “Wieder”geburt und Er-Neuerung,<br />
Re-naissance und Re-formation, als ob das ganze nur ein Anknüpfen an Altes wäre.<br />
Man knüpfte damit noch an die Tradition des Mittelalters an, welches Neues lieber als<br />
Wiederkehr alter Erkenntnisse und Gestaltungen betrachtete denn als wirklich Neues.<br />
Mit der Zeit aber wurde die Hochwertung des Neuen zum abendländischen Kultur-<br />
* Aus: Umwelt und Mensch. Körperliche und seelische Auswirkungen, hrsg. v. André<br />
Mercier (=Universität Bern, Kulturhistorische Vorlesungen [1976/77]). Lang:<br />
Bern-Frankfurt/M.-Las Vegas 1978, S. 9-38. An einigen Stellen leicht modifiziert.<br />
9
UMWELT UND MENSCH<br />
zug. Die Neuigkeiten häuften sich im 15. und 16. Jahrhundert auch so sehr, dass es<br />
allmählich praktischer wurde, sie einfach als Niedagewesenes zu akzeptieren als sie alle<br />
in mühsamer Gelehrtenarbeit in den alten Schriften nachzuweisen. Die Angst, welche<br />
die Begegnung mit Neuem und Ungewohntem mit sich zu bringen pflegt, bewältigte<br />
man durch eine ausgesprochene Freude am Umbruch und am Wagnis, den Stolz des<br />
Pioniers und die Idee, der Weg der neuzeitlichen Zivilisation sei der Weg zur Erlösung<br />
von menschlichem Leid.<br />
Die <strong>Zivilisationskrankheiten</strong> repräsentierten dabei die Schattenseiten der neuzeitlichen<br />
Entwicklungen, den Preis für die neuen Errungenschaften, die Strafe<br />
der beleidigten, übermenschlichen Instanzen für den freventlichen menschlichen<br />
Schritt zur Selbsterlösung. So hat im Mythos ZEUS die Menschen bestraft, nachdem<br />
PROMETHEUS (der Vorbedacht) im Himmel für sie das Feuer, den Inbegriff der Zivilisation,<br />
gestohlen hatte: er liess ihnen durch PANDORA jene ominöse Büchse voller<br />
Uebel und Krankheiten schicken, die seither die Erde bevölkern 2 . Eine gewisse Kritik<br />
am zivilisatorischen Fortschritt als solchem ist im Begriff der Zivilisations‘krankheiten’<br />
impliziert. Schon damit jedoch, dass der Krankheitsbegriff der Medizin, einem der<br />
zentralsten Anwendungsgebiete des neuzeitlichen Fortschritts, entnommen ist, ist<br />
seine kritische Brisanz begrenzt. Und im ganzen kann man wohl sagen, dass die klassische<br />
neuzeitliche Zivilisationskrankheit den Glanz des Phänomens Zivilisation nicht<br />
nur nicht trübte, sondern nach der Regel “Wo viel Schatten ist, ist viel Licht” sogar<br />
erhöhte. Wenn demgegenüber in jüngerer Zeit vielfach die Zivilisation selbst als Uebel<br />
erlebt wird, als Fehlentwicklung, im Rahmen derer die eigentlichen <strong>Zivilisationskrankheiten</strong><br />
nur noch die Bedeutung von Symptomen haben, so ist das mindestens eine<br />
Gegenbewegung zur klassisch-neuzeitlichen Tradition, vielleicht sogar ein Bruch mit<br />
ihr. Wir werden hierauf zurückkommen.<br />
Zunächst aber möchte ich eine klassisch-neuzeitliche Dynastie von <strong>Zivilisationskrankheiten</strong><br />
vorstellen, von Krankheiten also, mit denen die zivilisierte Menschheit der<br />
letzten 500 Jahre ihre Fortschritte bezahlte.<br />
Die Stammmutter dieser Leiden ist die Melancholie.<br />
Der Begriff der Melancholie entstammt der antiken Säftelehre, derzufolge der<br />
10
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
Abb. 1<br />
Zur Strafe für seine Tat wurde Prometheus an eine Felswand im Kaukasus<br />
geschmiedet und Zeus sandte ihm “einen Adler, der als täglicher<br />
Gast an seiner Leber zehren durfte, die sich, abgeweidet, immer wieder<br />
erneuerte” (Schwab, Anm. 2, S.18). Mani bringt dies damit in Zusammenhang,<br />
dass die Leber den Griechen “als Sitz wichtigster Empfindungen galt”<br />
(Anm. 12, I, S. 14-16). Lakonische Schale (ca 550 v. Chr.) aus:Arthur Lane,<br />
Greek pottery, London 1948, Tafel 31 A.<br />
11
UMWELT UND MENSCH<br />
menschliche Organismus sich wesentlich aus den vier Säften Blut, Schleim, gelbe<br />
Galle und schwarze Galle zusammensetzt. Als melancholisch (von griechisch melas =<br />
schwarz und chole = Galle) galt ein Zustand des Ueberwiegens der schwarzen Galle<br />
über die anderen Säfte.<br />
Die Melancholie äusserte sich nicht nur in Traurigkeit, wie man nach modernem Wortverständnis<br />
meinen könnte. Traurigkeit war nur eines von zahlreichen Symptomen der<br />
Melancholie – neben aussergewöhnlich heiteren Stimmungen, vor allem aber Unausgeglichenheit<br />
und Stimmungslabilität, Zornmütigkeit, Einsamkeit und Menschenscheu,<br />
schlechtem Schlaf und körperlichen Symptomen wie dunkel‐grünlicher Hautverfärbung,<br />
Magerkeit, Verstopfung, Ausscheidung von nur wenig dunklem und<br />
scharfem Urin, Blähungen, Aufstossen, Magenleiden und Pulsunregelmässigkeiten 3 .<br />
Die grüne Haut, die Magerkeit, Verstopfung und Urin armut waren direkte Folgen des<br />
Ueberhandnehmens der schwarzen Galle, die als kalter und – es mag etwas paradox<br />
klingen – trockener Saft von grünschwarzer Farbe galt.<br />
Die Antike kannte aber auch eine Melancholie, die an sich noch nicht krankhaft war<br />
– einen melancholischen Charakter. Ein dem ARISTOTELES zugeschriebener Text<br />
(Problema XXX, I) stellt die Melancholie in diesem Sinne als einen menschlichen<br />
Zustand dar, der an sich im Bereich des Normalen liegt, der aber zu Abweichungen<br />
disponiert, und zwar einerseits zu Krankheit, andrerseits aber zu Genie. Wieso, fragt<br />
der Autor, sind alle grossen Philosophen, Politiker und Dichter, HERAKLES, AJAX und<br />
BELLEROPHON, PL ATO, EMPEDOKLES und SOKRATES Melancholiker gewesen und<br />
haben oft sogar an regelrechten melancholischen Krankheiten gelitten? Und seine<br />
Antwort besteht zum Teil darin, dass die schwarze Galle ein dem Weine ähnlicher Saft<br />
sei, der die Menschen, wie dieser, aus ihren Gewohnheiten und dem Durchschnitt heraushebe,<br />
wodurch sie zwar durch Wahnsinn, Verblödung, Selbstmord, Ausschweifung<br />
gefährdet, aber auch zu aussergewöhnlichen Leistungen, Brillanz und Genie befähigt<br />
würden 4 .<br />
Gerade dieser Melancholiebegriff nun erlebte in der Renaissance eine regelrechte Wiedergeburt,<br />
eigentlich sogar sein erstes grosses Keimen 5 . Das aristotelische Problema ist<br />
nämlich zunächst wenig beachtet worden, Antike und<br />
12
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
Mittelalter betrachteten die schwarze Galle im wesentlichen mehr als einen krankmachenden<br />
Saft (der allenfalls für Störungen des Geistes in besonderer Weise verantwortlich<br />
war) denn als Nährboden des Genies. Das Mittelalter hielt auch überhaupt nicht<br />
viel von Genies, da es insgesamt das Erschliessen neuer Schaffensbereiche, das Lebenselement<br />
des Genies, nicht speziell pflegte. Mit der Renaissance aber verbreitete sich<br />
plötzlich ein grosser Geniekult, und die Idee, die schwarze Galle sei die Voraussetzung<br />
aller genialen Leistungen, griff um sich. Man blieb nun nicht dabei, bei Genies eine<br />
Melancholie zu finden, man nannte sich nun melancholisch, wenn man in bescheidener<br />
Weise antönen wollte, dass man geistig speziell regsam sei und mit der Zeit ging.<br />
“La mia allegrezz’ è la malinconia” schrieb MICHELANGELO (1475-1564) 6 . Die<br />
Melancholie wurde zum Leiden der Wissenschafter und Künstler, der Front der neuzeitlichen<br />
Zivilisation, und zum Zeichen, dass man dazugehörte. ALBRECHT DUERERs<br />
(1471-1528) “Melancolia I”, die finstergesichtige geflügelte Person, die sinnend,<br />
einen Zirkel in der Hand, zwischen allerlei Attributen von Wissenschaft und Technik,<br />
Handel und Kunst sitzt, illustriert diesen Melancholiebegriff der Renaissance 7 . Im goldenen<br />
Spanien und in Shakespeares England war “man” melancholisch; der melancholische<br />
Spanier war vor Spaniens Niedergang sprichwörtlich 8 und in England wurde die<br />
Melancholie zur “Elizabethan Malady”. Auch am Hofe des LOUIS XIII (1610-1643)<br />
war man, wenn man auf sich gab, melancholisch wie übrigens der König selbst, desgleichen<br />
in den Salons des späteren 17. Jahrhunderts 9 . 1621 erschien in Oxford – “zu<br />
einer Zeit, in der die ‘Elisabethanische Krankheit’ zum Allgemeinbefinden – zumal<br />
der Intellektuellen – geworden ist” 10 – ROBERT BURTONs (1576-1640) Anatomy of<br />
Melancholy. Dieses Werk war ein literarischer Grosserfolg, 1632 erschien es bereits<br />
in 4., 1676 in 8. Auflage. Und da findet man nun, dass die Melancholie deutliche Züge<br />
einer Zivilisationskrankheit trägt, einer Krankheit, die man sich bei eben der verfeinerten<br />
Lebens- und Erlebensweise zuzog, auf welche man als zivilisierter Mensch<br />
besonders stolz war. Man glaubt eine vornehme Menukarte aus dem 17. Jahrhundert<br />
vor sich zu haben, wenn man BURTONs Liste der wichtigen äusseren Ursachen der<br />
Melancholie liest, und den Tagesplan eines Menschen, der nicht unbedingt arbeiten<br />
muss. Gefühlsregungen<br />
13
UMWELT UND MENSCH<br />
Abb. 2<br />
Albrecht Dürer: Die Melancholie<br />
14
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
spielen da eine grosse Rolle, man findet das Ennui (den unerklärlichen Lebensüberdruss<br />
der Höflinge und der gehobenen Stände, der nicht selten zum Selbstmord führt),<br />
den Ehrgeiz, Vergnügungssucht, Leidenschaften, übermässige Geistesarbeit als wichtige,<br />
ja notwendige Ursachen der Melancholie. Ein spezieller Exkurs über das Elend<br />
der Gelehrten und die Frage, weshalb die Musen melancholisch seien, beschliesst den<br />
Abschnitt über die Ursachen der Melancholie 11 .<br />
Aber die Melancholie konnte sich in dieser Form nicht halten als das Leiden der geistig<br />
Anspruchsvollsten. Einerseits ertrug sichs grundsätzlich nicht, dass man an der Front<br />
des Fortschritts allzulange an derselben Zivilisationskrankheit litt. Andrerseits hatte<br />
die Medizin zunehmende Schwierigkeiten, die Krankheitseinheit Melancholie wissenschaftlich<br />
aufrechtzuerhalten. Denn sie fand bei ihren Sektionen – und die Anatomie<br />
galt im 17. Jahrhundert sozusagen als die medizinische Grundlagenwissenschaft par<br />
excellence – weder jenen schwarzgalligen Saft, der da von der Milz produziert werden<br />
sollte, noch den sagenhaften Gallengang, der diesen Saft von der Milz in den Magen<br />
ableiten sollte 12 . Sie fand nur gewöhnliche Galle in der Gallenblase, und die entleerte<br />
sich, wie altbekannt, in den Zwölffingerdarm. Damit wurde die Melancholie, die<br />
Schwarzgalligkeit, zur fragwürdigen Krankheitseinheit.<br />
Man beobachtet daher in der Literatur des späteren 17. und vor allem dann des<br />
18. Jahrhunderts eine allmähliche Ablösung der “Melancholie” durch die sogenannte<br />
“Hypochondrie”. Zwar war die “hypochondrische Melancholie” (von griechisch hypo =<br />
unter und chondros = der Knorpel, to hypochondrion = der weiche Teil des Leibs unter<br />
dem Brustknorpel und den Rippen) von altersher eine Unterabteilung der Melancholie<br />
mit Hauptsitz im Oberbauch gewesen. Jetzt aber begann sich die Hypochondrie als<br />
selbständiges Leiden von der Melancholie loszulösen. Dieses Leiden hatte dann mit<br />
dem veralteten schwarzen Saft wenig oder nichts mehr zu tun; es wurde in modernerer<br />
anatomischer Denkweise von den Organen jener hypochondrischen Gegend abgeleitet.<br />
In Fortsetzung der Tradition, welche die Gallenproduktion in die Milz verlegt<br />
hatte, aber ohne die Galle als Ursache der Krankheit länger zu bemühen, sprach man<br />
nun auch von<br />
15
UMWELT UND MENSCH<br />
Abb. 3<br />
Der Milz-Magen-Gang<br />
3a) im Schema mittelalterlicher Tradition. Der Verdauungstrakt bildet<br />
gewissermassen die Zentralachse der Abbildung, Leber und Milz sind ihm zu<br />
beiden Seiten zugeordnet. Nach einem Holzschnitt aus J. Truttvetter, Summa<br />
in totam physicen, hoc est philosophiam naturalem, Erfurt 1514. Aus: Erich<br />
Hintzsche, Anatomische Forschungen im mittelalterlichen Abendland. Ciba<br />
Zeitschrift Nr. 96 (1944), S. 3434.<br />
16
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
3b) in situ. Diese Abbildung findet sich in Magnus Hundt, Antropologium de<br />
hominis dignitate, natura et proprietatibus, Leipzig 1501. Aus: A. Hahn und P.<br />
Dumaître, Histoire de la médecine et du livre médical à la lumière des collections<br />
de la bibliothèque de la Faculté de Médecine de Paris, Paris 1962, S. 102.<br />
17
UMWELT UND MENSCH<br />
“Milzsucht” und “Spleen” (the spleen = die Milz). Man sprach auch vermehrt vom<br />
Magen und von der Leber als Sitz dieses Leidens. In ihrem Erscheinungsbild aber<br />
glich die Hypochondrie des 18. Jahrhunderts so sehr der älteren Melancholie, dass<br />
sich der Gedanke aufdrängt, es habe das alte Leiden lediglich einen neuen Namen und<br />
neue körperliche Grundlagen bekommen. Die Hy pochonder waren nämlich wie die<br />
alten Melancholiker mager, dunkelhäutig, ins Grünliche schimmernd, auch sie waren<br />
verstopft, lösten oft nur wenig Urin, ihr Herzschlag war unregelmässig, auch sie litten<br />
an bösen Träumen, Verdauungsstörungen, Winden und Blähungen. Wegen dieser<br />
Blähungen nannte man die Hypochondrie auch “windige Melancholey”, “Blähsucht”,<br />
“Vapours” oder “Vapeurs”. Auch seelisch boten die Hypochonder des 18. Jahrhunderts<br />
ein ähnliches Erscheinungsbild wie die älteren Melancholiker: sie waren unausgeglichen,<br />
ihren Launen unterworfen, bald lustig, bald traurig, zornmütig, auch sie hingen<br />
einzelnen Grillen krankhaft nach, auch sie waren menschenscheu und fühlten sich oft<br />
einsam 13 .<br />
Gleich wie die Melancholie und sogar noch vermehrt war auch die Hypochondrie ein<br />
Schatten der Zivilisation. Sie war der Preis, den die zivilisierte Gesellschaft entrichtete<br />
für den niedagewesenen Luxus, der ihr im 18. Jahrhundert zur Verfügung stand. “Ich<br />
sehe aber als Hauptquellen der heutiges Tages so allgemein herrschenden Hypochondrie<br />
an:”, schreibt ULRICH BILGUER (1720-1796), ein Experte in dieser Sache, 1767,<br />
“die Pracht; die Schwelgerey,… den Müssiggang,… die heutiges Tages übertriebene<br />
Begierde, seinen Stand zu verbessern,… der” – hier fällt der Autor in den Nominativ<br />
– “so allgemein herrschende Missbrauch des Zuckers und Backwerks, des Thee- Caffee-<br />
Schoccolade und Brandtweingetränkes, wie auch des Rauchtabaks; die zu grosse<br />
Ansträngung der Seelenkräfte,… besonders in solchen Personen, die… sich solchen<br />
Geschäfften gewiedmet, wozu viele Seelenkräfte und Genie erforderlich ist” 14 . Speziell<br />
auch die Anstrengung des Geistes beim nun auch die Nacht für die Zivilisation<br />
erobernden Lampenlicht machte hypochondrisch. Weil aber gerade die neuesten<br />
Errungenschaften besonders hypochondrisch machten, galt auch die Hypochondrie<br />
als etwas Neues, als eine niedagewesene und nie vorher so verbreitete Geissel der zivilisierten<br />
Menschheit – man sprach von 1/6 bis<br />
18
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
2/3 aller Patienten. BILGUER schrieb im Titel seines Buchs sogar, “dass die Hypochondrie<br />
heutigen Tages eine fast allgemeine Krankheit ist”. Die grosse Häufigkeit<br />
der Hy pochondriediagnose im 18. Jahrhundert ist sicher dadurch mitbedingt, dass<br />
diese Diagnose bei den Patienten sehr beliebt war. Tatsächlich war sie ja in gewissem<br />
Sinne ein Statussymbol, ein durch eine Schlüsselfigur der neuzeitlichen Zivilisation,<br />
den Arzt verliehenes Attest, dass man an der Front des Fortschritts marschierte.<br />
So war nicht nur jeder Gebildete auf seine Hypochondrie stolz – auch IMMANUEL<br />
KANT (1724-1804) bekannte sich zur “Gelehrtenkrankheit”: “Ich habe… eine natürliche<br />
Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Ueberdruss<br />
des Lebens grenzte” – auch die Nationen Europas wetteiferten um den Ruf, unter<br />
der Hypochondrie zu leiden. Und den Sieg trug England, die Wiege der Aufklärung,<br />
davon. “Es ist die Krankheit der gebildetsten und begütertsten Völker, der Männer und<br />
Weiber, die das Glück am meisten begünstigt hat”, schreibt der Psychiater JEAN-PIERRE<br />
FALRET (1794-1870) über den Spleen, und deshalb leiden die Engländer am meisten<br />
daran. Deshalb kommt in England der Ueberdruss am Leben und der Selbstmord so<br />
ausserordentlich häufig vor. Deshalb nannte man die Hypochondrie auch “The English<br />
Malady”, “Morbus anglicus” oder “Melancholia anglica” 15 .<br />
Aber auch die hypochondrischen Organe konnten nicht Sitz dieser Geissel der zivilisierten<br />
Menschheit bleiben. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde man pathologisch-anatomisch<br />
kritischer und es begann sich herumzusprechen, dass bei Hypochondristen<br />
keine Milz-, Magen- und Leberveränderungen nachgewiesen werden konnten.<br />
Der Verdacht wurde laut, die Aerzte nennten alles Hypochondrie, was sie nicht besser<br />
diagnostizieren könnten und die Patienten bildeten sich ihre Leiden nur ein. Das Wort<br />
“Hypochondrie” begann daher die Bedeutung der eingebildeten Krankheit anzunehmen.<br />
Zudem kam auch die Hypochondrie allmählich einfach aus der Mode – man<br />
hatte sich an Thee, Kaffee, Kutschenfahren und Nachtbeleuchtung gewöhnt, die Front<br />
der Zivilisation hatte sich weiter vorgeschoben. Man hatte neue Bereiche erschlossen<br />
und fürchtete neue Krankheiten. Namentlich begann man mehr und mehr von<br />
Nervenkrankheiten zu sprechen. Das Nervensystem war im Lauf des 18. Jahrhunderts<br />
allmählich zu einem wich-<br />
19
UMWELT UND MENSCH<br />
Abb. 4<br />
“Der Hypochonder”, Photographie eines Gemäldes von B. Vautier<br />
(Photographische Gesellschaft, Berlin, Nr. 963). Aus der Bildersammlung<br />
des Medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich.
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
tigen, ja anderen Organsystemen übergeordneten System geworden. Hatte man in alter<br />
galenischer und säftemedizinischer Tradition das Verdauungssystem für besonders<br />
wichtig angesehen, trat dieses nun gegenüber dem Nervensystem zurück. ALBRECHT<br />
VON HALLERs (1708-1777) neurophysiologische Forschungen sind ein Meilenstein<br />
in dieser Entwicklung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann begeisterte man<br />
sich plötzlich für das Rückenmark. Das Rückenmark hatte über lange Zeiten als ein<br />
Kanal gegolten, der ganz passiv zwischen Gehirn und Körper eine Verbindung herstellte.<br />
Nun war, mit der Entdeckung des Rückenmarkreflexes, die Idee aufgekommen,<br />
das Rückenmark könnte aus einer Reihe von selbständigen kleinen Denkorganen<br />
bestehen, es könnte eine Art Perlenkette aus kleinen Gehirnen sein. Analog betrachtete<br />
man dann die einzelnen Wirbelknochen als kleine Schädel - diese Idee ist durch<br />
JOHANN WOLFGANG GOETHE (1749-1832) als “Schädelwirbeltheorie” bekannt<br />
geworden. Die Idee, Rückgrat und Kopf bildeten eine einzige Kette von kleineren und<br />
grösseren Gehirnen und Schädeln, passte gut in die romantische Suche nach Urelementen<br />
und nach auf- und absteigenden Entwicklungsreihen. Den Romantikern gefiel<br />
auch die Idee, dass dem Kopf, dem Sitz des aufgeklärten, scharfen Verstandes ein<br />
anderes Organ als Sitz dunklerer, bewusstseinsfernerer und gefühlsnäherer Geistestätigkeiten<br />
gegenüberstehe. Und schon bald zirkulierte das dem Physiologen EDUARD<br />
PFLUEGER (1829-1910) zugeschriebene Schlagwort von der “Rückenmarksseele” –<br />
übrigens einer Vorform des späteren “Unbewussten” 16 .<br />
Was lag nun näher, als dass man sich durch die Zivilisation nun nicht mehr an der<br />
Galle oder Milz, sondern am Rückenmark geschädigt fühlte? Und tatsächlich trat in<br />
den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts ein ganz neues Leiden epidemisch auf: die sogenannte<br />
Spinalirritation, die Rückenmarksreizung oder auch -erschütterung. Unnötig<br />
zu sagen, dass die Symptome dieses Leidens wiederum ähnlich waren wie die der alten<br />
Hypochondrie und Melancholie, nur dass man vermehrt an Rückenweh litt. Gewisse<br />
Rückwirkungen von der angenommenen Krankheitsursache auf die als typisch<br />
betrachtete Symptomatologie findet man eben eigentlich immer – darum sind ja auch<br />
die regelrechten Melancholiker so grün gewesen 17 .<br />
21
UMWELT UND MENSCH<br />
Abb. 5<br />
Noch vier Tage nach diesem Unfall auf der Paris-Versailles-Strecke vom<br />
8.5.1842 spürte der Hygieniker L.-R. Villermé eine Verengung auf der Brust,<br />
als ob ihm ein riesiges Gewicht drauf sitze, obwohl er nicht einmal Augenzeuge<br />
gewesen war. Zwanzig Kriegsschlachten und Tausende von Toten und<br />
Verwundeten, schrieb er an einen Freund, hätten ihn nicht so arg hergenommen<br />
wie die Nachricht von diesem Ereignis. Stahlstich aus der Bildersammlung<br />
des Medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich.<br />
22
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
Eine eigentümliche Spezialform von Spinalirritation bildete sich im weiteren Verlauf<br />
des 19. Jahrhunderts heraus: die sogenannte “Railway Spine”, der Eisenbahnrücken.<br />
Dieses Leiden zog man sich bei Eisenbahnunfällen zu. Kleine und grosse Eisenbahnunfälle<br />
waren im 19. Jahrhundert häufig und, was wichtig ist, ausserordentlich gefürchtet.<br />
Der Eisenbahnunfall war der Inbegriff eines entsetzlichen Ereignisses; auch die<br />
kleinste Panne verbreitete Schrecken und Zähneklappern. Die Eisenbahn war eben in<br />
jener Zeit der Inbegriff des zivilisatorischen Fortschrittes, des der Natur abgetrotzten<br />
weltverändernden Komforts, nicht unähnlich dem Feuer des PROMETHEUS. Feuer<br />
und Funken stoben ja auch oben aus den gerade deswegen hohen Kaminen der frühen<br />
Dampflokomotiven heraus, und bei Unfällen entstanden nicht selten Brände. Das<br />
Erlebnis Eisenbahn wurde daher auch mit Vulkanausbrüchen verglichen, und entsprechend<br />
scheint sich neben dem Jubel über das gebändigte Feuer die Angst vor dem Ausden-Schranken-Treten<br />
der neuen Kräfte verbreitet zu haben. Man fürchtete Vergiftung<br />
der Luft und der Nahrungsmittel durch die Abgase der Lokomotiven, und das Verkommen<br />
von Vieh, Jagdwild und Anwohnern. Namentlich fürchtete man die<br />
Abb. 6<br />
Die Eisenbahn als Schädling.<br />
“Punch” 1865, aus: A. Klima,<br />
Die Technik im Lichte der<br />
Karikatur, Wien 1913, S. 10.<br />
23
UMWELT UND MENSCH<br />
Krankheiten, welche die beleidigte Natur den Lieblingen des PROMETHEUS schicken<br />
würde. Und tatsächlich kam umgehend die erwartete Büchse voller Leiden. Das Scheppern<br />
der Wagen und das Pfeifen der Lokomotiven, so las man nun in der medizinischwissenschaftlichen<br />
Literatur, schädigten das Gehör bis zur Taubheit, der Anblick vorbeiflitzender<br />
Objekte schädigte Augen und Sehbahnen. Das Lesen im Zuge zerrüttete<br />
Augen und Gehirn. Ein typisches spezifisches Eisenbahnfieber trat auf – später hat es<br />
sich als Heufieber entpuppt. Die Tunnels galten als besonders pathogen. Das Rütteln<br />
der Wagen wurde als für Kranke zu schwach, für Gesunde zu stark betrachtet. Es<br />
provozierte Frühgeburten, Aborte, Harnverhaltungen, Hämorrhoiden, Blutungen aller<br />
Art und vor allem: Schädigungen des Ner vensystems. Und besonders typischer weise<br />
brachte das Eisenbahnfahren Rückenleiden mit sich. Die Berichte über Rückenleiden<br />
des Bahnpersonals häufen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. MAX<br />
MARIA VON WEBER (1822-1881), der Sohn des Komponisten CARL MARIA, hat als die<br />
typischsten Leiden des Eisenbahnpersonals diejenigen beschrieben, “die von den harten<br />
Erschütterungen der Fahrt… herrühren. … Die Erschütterungen gehen… durch<br />
die Beine auf das Rückgrat und das Gehirn über, bei dem Zugpersonale… erfolgen sie<br />
directer auf die Wirbelsäule… Es treten… häufig Schmerzen im Rückgrat ein und die<br />
Abnahme der Intelligenz, die durch… die hohe Temperatur in der Nähe des Feuers…<br />
eingeleitet ist, wird durch diese Einflüsse beschleunigt.” Der Bahnarzt JOHANNES<br />
RIGLER (geb. 1839) kannte ein spezifisches Rückenleiden der Bähnler: eine “Irritation<br />
der Nervencentra, welche im gewöhnlichen Laufe der Dinge… zu Tage tritt, unter der<br />
Einwirkung einer äusseren Gewalt aber oder nur des Shock… in sehr gesteigertem<br />
Grade sich bemerklich machen kann.” Es kommt dann zu einem Zustande spinaler Irritation<br />
mit “krankhafter Abneigung gegen die gewohnte Thätigkeit”, zu dem “ganz spezifischen”<br />
Zustand der “Siderodromophobie”, der Angst, Eisenbahnen zu besteigen 18 .<br />
Das ist nun also die Spinalirritation verursacht durch den Inbegriff der Zivilisation des<br />
19. Jahrhunderts. Und damit, dass diese Rückenmarksreizung nach Eisenbahnunfällen<br />
oder auch nur nach Unfallschreck besonders rasch und heftig auftrat, ist die Beziehung<br />
zur Railway Spine hergestellt. Auch in der Entstehung der Railway Spine galt der<br />
Schreck des Eisen-<br />
24
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
Abb. 7<br />
Der vorsichtige Reisende schützt sich gegen Eisenbahnunfälle: Karikatur von<br />
1847. Aus: E. Berghaus, Auf den Schienen der Erde, München 1960, S. 61.<br />
bahnunfalles als sehr wichtig. Die seelische Erschütterung des Eisenbahnunfalles<br />
konnte allein schon genügen, eine Erschütterung des Rückenmarks hervorzurufen,<br />
die sich in schweren akuten und chronischen Entzündungen des Rückenmarks und<br />
seiner Hüllen äusserte; schon der Altvater der Railway Spine, JOHN ERIC ERICHSEN<br />
(1818-1896), ein Londoner Chirurg, hielt das fest 19 . Auch Bagatellunfälle konnten<br />
daher tödlich enden. Voraussetzung dieser Auffassung war natürlich, dass das Rückenmark<br />
Sitz eines seelenartigen Prinzips war. Die körperlich-seelische Doppelbedeutung<br />
der Worte “Erschütterung”, “Schock” und “Reizung” (später auch “Trauma”) kam ihr<br />
sprachlich entgegen.<br />
Doch die eigentliche Spinalirritation war zur Zeit, da die Railway Spine florierte,<br />
eigentlich bereits wieder vergessen. Auf die deutsche Romantik folgte<br />
25
UMWELT UND MENSCH<br />
die deutsche Wissenschaftlichkeit der zweiten Jahrhunderthälfte, das Rückenmark<br />
kam etwas aus der Mode, man identifizierte sich nun mehr mit dem Gehirn. Auch<br />
wissenschaftlich hatte sich die Spinalirritation nicht halten können, unter anderem,<br />
weil man die ihr zugrundevermuteten Veränderungen des Rückenmarks nicht finden<br />
konnte. Die Railway Spine der 60er und 70er Jahre ist eine eher späte Blüte der<br />
Spinalirritation.<br />
1880 aber begann eine neue Zivilisationskrankheit ihr epidemisches Wüten zu entfalten.<br />
Die Eisenbahn, die Dampfkraft überhaupt (die mittler weile in viele Bereiche<br />
vorgedrungen war) war eine ihrer Ursachen, aber auch der Telegraph, die Presse, das<br />
Geschäft und die Beteiligung der Frau am Geistesleben. Das neue Leiden hiess Neurasthenie,<br />
es bestand in einer pathologisch-anatomisch nicht nachweisbaren, daher auch<br />
weniger kritisierbaren, wahrscheinlich chemisch bedingten allgemeinen Schwäche der<br />
Nerven. Diese Nervenschwäche grassierte im sogenannten “nervösen Zeitalter” 20 in<br />
der ganzen zivilisierten Welt, vor allem aber in den zur technischen und wirtschaftlichen<br />
Weltmacht aufsteigenden USA. GEORGE MILLER BEARD (1839-1883), ein<br />
Amerikaner, der die<br />
Abb. 8a<br />
26
Abb. 8b<br />
27
UMWELT UND MENSCH<br />
28<br />
Abb. 9 “American Progress” aus Crofutt’s New Overland Tourists’ Guide (1878). Aus: Max Mittler; Eroberung eines<br />
Kontinents. Der grosse Aufbruch in den amerikanischen Westen, Zürich 1968, S. 6/7.
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
Neurasthenie 1880 einführte, nannte diese daher auch “American Nervousness”. Die<br />
Neurasthenie, schrieb BEARD, sei “theilweise die Compensation für unseren Fortschritt<br />
und unsere Verfeinerung”. Sie sei bisher in ihrem wahren Wesen nicht erkannt<br />
worden, unter anderem habe man sie als Verdauungsstörung und Spinalirritation<br />
misinterpretiert. Tatsächlich sieht die Neurasthenie diesen Vorfahren symptomatologisch<br />
zum Verwechseln ähnlich und man hat wiederum den Eindruck, es sei hier alter<br />
Wein in neue Schläuche umgefüllt worden. Aber Welt und Leiden wurden eben wieder<br />
neu erlebt und BEARD selbst hat seine Entdeckung der Neurasthenie mit den Einsichten<br />
des KOPERNIKUS verglichen 21 .<br />
Doch die nächste kopernikanische Wende folgte auf dem Fuss und schon auf das<br />
Jahrhundertende hin wurde das wahre Wesen der Nervosität, an welcher die zivilisierte<br />
Menschheit litt, wieder entdeckt: es war die unbewältigte Sexualität. 1898 hat SIG<br />
MUND FREUD (1856-1939) es in seinem Artikel Die Sexualität in der Aetiologie der<br />
Neurosen formuliert: “Sexuelle Aetiologie also in allen Fällen von Neurosen”. Neurose<br />
war jetzt der Terminus, die Neurasthenie war nur noch eine Unterform des nun so<br />
genannten Leidens. FREUD lag mit seiner Entdeckung der Sexualität nicht schlecht,<br />
denn gerade zwischen 1880 und 1900 ist es in unserem Kulturkreis zu einer wahren<br />
Sexwelle gekommen, was sich unter anderem in einer Flut von medizinischer Literatur<br />
zum Thema äusserte. Wer sein Problem in seiner Sexualität suchte, wies sich damit<br />
von vornherein als jemand aus, der mit den neueren Entwicklungen und Diskussionen<br />
Schritt hielt. Man wies sich damit aber auch als genuin zivilisiert aus. Denn gerade um<br />
die Jahrhundertwende betrachtete man die Sexualität als etwas zwar Rohes, aber doch<br />
Mächtiges, nicht unähnlich dem Feuer, und die Idee, dass man diese Kraft ähnlich<br />
dem Feuer in der Dampfmaschine zivilisatorisch nutzen könne, ja sogar, dass sie an<br />
sich eine zivilisierende Kraft sei, lag in der Luft. So betrachtete man um die Jahrhundertwende<br />
das Schönheitsempfinden – welches als hoher zivilisatorischer Wert galt,<br />
zumal Schönheit mit Wahrheit, Kraft und hoher Entwicklungsstufe einiges zu tun<br />
hatte – oft als eine zivilisierte Form von Sexualität 22 . Aehnlich galt die Aggressivität<br />
im Rahmen des Evolutionismus vielfach als eine zwar niedrige Triebkraft, der aber<br />
letztlich alle Höherentwicklung der Lebewesen zu verdanken war. So konnte man um<br />
die Jahrhundert-<br />
29
UMWELT UND MENSCH<br />
Abb. 10<br />
“Das neue Spiel, die innerste Seele blosszulegen”, Punch 1915. Aus:<br />
Helmut Vogt, Medizinische Karikaturen von 1800 bis zur Gegenwart,<br />
3. Aufl., München 1962, S. 150.<br />
wende ruhig seine Dampkrafts-, Telegraphen- und Frauenemanzipationsneurasthenie<br />
gegen ein Freudsches Neurosen-Modell eintauschen.<br />
Ein interessantes Detail ist in unserem Zusammenhang übrigens, dass sich FREUDs<br />
Neurosenbegriff historisch in ziemlich direkter Linie von der Railway Spine ableiten<br />
lässt. Die Railway Spine war nämlich mittlerweile zur traumatischen, unfallbedingten<br />
Neurose geworden, oft sprach man auch von traumatischer Hysterie oder traumatischer<br />
Neurasthenie. Und gerade die traumatische Neurose, in deren Entstehung<br />
Schreck und Angst, jedenfalls psychische Faktoren<br />
30
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
eine so grosse Rolle spielten, ist gewissermassen zum Kristallisationskern von FREUDs<br />
Neurosekonzept geworden 23 . Sein “sexuelles” und “psychisches” Trauma leitet sich<br />
historisch also vom Eisenbahnunfall ab.<br />
Nun, FREUDs ursprüngliche Sexualität, die ja wie die “Erschütterung” und die “Reizung”<br />
ebensosehr seelischer wie körperlicher Natur war, machte bald der mehr<br />
psychologisch verstandenen Libido, dann breiter angelegten psychologischen Neuroseursachen<br />
Platz. In der Medizin fassten die psychologischen Neuroselehren nach dem<br />
ersten Weltkrieg richtig Wurzel; wir werden darauf zurückkommen. Und nach dem<br />
zweiten Weltkrieg blühte die Psychosomatik auf, im Rahmen derer man auch die körperlichen<br />
Symptome der alten Melancholie, Hy pochondrie, Neurasthenie (soweit sie<br />
sich unterdessen nicht auf andere Ursachen hatten zurückführen lassen), namentlich<br />
allerlei Verdauungs- und Kreislaufstörungen wiederum als Zeichen von verfeinertem<br />
Gemüt und Lebensweise ansehen konnte. Von den 50er Jahren an büsste man seine<br />
Einteilung in der Vorhut der Entwicklung überdies speziell mit Stresssymptomen und<br />
der Managerkrankheit 24 , sodass auf den Sitzungstischen leitender Gremien vielfach<br />
nicht nur Papier, spitzes Schreibzeug und Zigaretten, sondern auch Schälchen von<br />
Tranquillizern serviert worden sein sollen.<br />
Aber die Glanzzeit der Zivilisationskrankheit ist doch, so scheint mir, vorbei. Denn<br />
ihr grosses Pathos bezog die Zivilisationskrankheit ja doch von der Ungetrübtheit des<br />
Vertrauens in die technisch-organisatorische neuzeitliche Zivilisation im Ganzen und<br />
in die Medizin im speziellen. Und dieses Vertrauen scheint nun seit den Weltkriegen<br />
nachhaltig und seit einigen Jahren in weiten Kreisen erschüttert zu sein. Die Kritik an<br />
unserer Zivilisation ist in letzter Zeit lauter und ernsthafter geworden, als sie es je vorher<br />
in der Neuzeit war. Die Zivilisationskritik Rousseauscher Prägung ( JEAN-JACQUES<br />
ROUSSEAU, 1712-1778) mutet dagegen mehr als ein enger begrenztes, literarisches<br />
Phänomen an 25 . Vielleicht bin ich Opfer einer Mode, wenn ich das nun so sehe. Aber<br />
das muss man auch im Metier des Historikers riskieren, und ich will versuchen, zu<br />
skizzieren, was mir anders geworden zu sein scheint. Angst und Misstrauen gegenüber<br />
unserer Zivilisation hat es seit Beginn der Neuzeit ge-<br />
31
UMWELT UND MENSCH<br />
geben – wie die Zivilisationskrankheit, die man ja auch als Ausdruck von Angst,<br />
Misstrauen und Kritik ansehen kann. Aber bis ins letzte Jahrhundert waren es vorwiegend<br />
die Schattenseiten und Nebenwirkungen der zivilisatorischen Errungenschaften,<br />
die man fürchtete, die Unfälle und Pannen – die Krankheiten. Der Glaube an die<br />
Erlöserkraft der Zivilisation blieb dabei mehr oder weniger unerschüttert. Sogar den<br />
Krieg pries man als Promotor der Entwicklung der Menschheit zu Höherem – überlebten<br />
doch auch im Krieg, und gerade da, die Tüchtigsten im Sinn des Darwinismus.<br />
Im Evolutionismus des 19. Jahrhunderts war die Menschheit aufgehoben wie eine<br />
Aehre im Aermel: jede Bewegung beförderte sie aufwärts. Europa ist noch singend,<br />
die Offiziere bunt gekleidet und weissbehandschuht in den Ersten Weltkrieg gezogen.<br />
Herausgekommen ist es anders. Der Erste Weltkrieg hat für viele, die ihn erlebten, den<br />
Zusammenbruch der Hoffnung auf Erlösung durch Technik, Wissenschaft, Handel<br />
und Industrie, also eigentlich der glühendsten Hoffnungen der Neuzeit, bedeutet 26 .<br />
Die beiden Weltkriege haben uns erstmals die Errungenschaften der Zivilisation<br />
selbst fürchten gelehrt. Die Granaten, Gase und Bomben haben ja tadellos funktioniert,<br />
das waren keine Unfälle und Nebenwirkungen. Aber noch tröstete man sich mit<br />
dem Gedanken, die Kriege seien im ganzen lediglich Entgleisungen der Entwicklung<br />
gewesen – welche damit weiterhin als Entwicklung zum Besseren betrachtet werden<br />
konnte. Man hörte nun auf, den Krieg als Vater des Fortschritts zu preisen, dafür pries<br />
man doppelt die friedliche Nutzung der zivilisatorischen Errungenschaften, wozu die<br />
Nachkriegsentwicklungen reichlich Handhabe boten. Aber in den letzten Jahren hat<br />
das Erlebnis der Weltkriege auf den Frieden überzugreifen begonnen. Auch gewisse<br />
friedliche Nutzungen begannen als zerstörerisch empfunden zu werden, gewisse durch<br />
Handel und Wissenschaft angezettelte Entwicklungen begannen auch in ihrer friedlichen<br />
Ausformung als Entgleisungen zu imponieren. Diese Wendung wurde teils durch<br />
die Art, teils aber allein schon durch die Quantität der anfallenden Errungenschaften,<br />
die allmählich an sich schon als bedrohlich empfunden wurde, angestossen. Vergleiche<br />
unseres Friedens mit dem Kriege wurden laut, man begann zu sagen, gewisse Städte<br />
seien seit den Kriegen mehr zerstört worden als durch alle Bomben, und unser Privatverkehr<br />
sei “ein neuartiger Krieg”, “ein Krieg aller gegen alle…<br />
32
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
sozusagen geführt von Freiwilligen” 27 . Im Rahmen des Terrorismus wurde auf die<br />
als aggressiv empfundenen Friedensentwicklungen mit offenen Kriegshandlungen<br />
reagiert. Im Rahmen des Umweltschutzes fürchtet man nicht, dass blühende Städte<br />
durch Kriege dem Erdboden, sondern dass der Erdboden durch friedliche Entwicklungen<br />
den Städten gleichgemacht werde. Mit alledem ist heute ein gewisser Anschluss an<br />
die beiden ersten Weltkriege hergestellt und ein gewisser Bruch mit den traditionellen<br />
Werten der Neuzeit vollzogen. “Zivilisation” bedeutet nicht mehr genau dasselbe wie<br />
bisher 28 .<br />
Innerhalb der Medizin ist etwas ähnliches passiert, und so bedeutet auch “Krankheit”<br />
nicht mehr genau dasselbe wie bisher. Auch hier begann es mit den Weltkriegen. Vor<br />
1914 verstand man unter “Krankheit” im Ganzen ein körperlich bedingtes und körpermedizinisch<br />
behandelbares Leiden. Die pathologische Anatomie galt als Grundlage<br />
der Pathologie, soweit, dass man sie bis heute oft nur “Pathologie” nennt, was doch<br />
eigentlich viel allgemeiner “Krankheitslehre” bedeutet. Nach 1918 schossen Entwürfe<br />
psychologischen, soziologischen und anthropologischen Krankheitsverständnisses<br />
förmlich aus dem Boden. Das Vertrauen in das rein körpermedizinische Krankheitsverständnis<br />
war erschüttert. Die Aerzte des Dritten Reiches, die es im Namen der Zivilisation<br />
gegen die Kranken eingesetzt hatten, haben es besonders kräftig mit erschüttern<br />
helfen. Der Anbruch des therapeutischen Zeitalters – die meisten wirksamen Medikamente,<br />
über die wir verfügen, sind Kriegs- und Nachkriegskinder – liess dann ebenfalls<br />
über diesen Kriegsschock hinwegkommen. Aber auch hier findet in letzter Zeit ein<br />
Anschluss an die Kriegserlebnisse statt. Auch der friedliche Einsatz der modernen<br />
Medizin wird von vielen zunehmend als aggressiv empfunden. Dies klingt in vielen<br />
Diskussionen um die Arzt-Patienten-Beziehung und die Euthanasie und in einer<br />
Flut von Literatur über die Nebenwirkungen der Therapie an. Auch die “Explosion”<br />
genannte Steigerung der Kosten der Medizin werden seit einiger Zeit, besonders von<br />
den gesunden Versicherungszahlern (Kranke reden anders, aber nicht so laut), mehr<br />
und mehr als organisierter Anschlag auf die Zivilisten empfunden und beantwortet.<br />
Man misstraut dem Körpermediziner, der Körpermedizin und dem körpermedizinischen<br />
Krankheitsbegriff.<br />
33
UMWELT UND MENSCH<br />
Abb. 11<br />
Im Ersten Weltkrieg fand das Bewusstsein, Krankheit habe auch ihre<br />
nicht‐naturwissenschaftlichen Aspekte, plötzlich grosse Verbreitung.<br />
Aus: Jean Louis Forain, De la Marne au Rhin; dessin des années de<br />
guerre 1914-1919, Paris 1920.<br />
So hat die Zivilisation von ihrem Glanz und die Medizin von ihrem Pathos verloren und<br />
es ist weder mehr für den Leidenden attraktiv, eine Zivilisationskrankheit zu haben, noch<br />
für den Arzt, eine solche am falschen Objekt, zu welchem der Patient geworden ist, zu<br />
behandeln. Die Manager, die sich als Ursache und Folge ihrer hervorragenden Stellung<br />
ihren Herzinfarkt selbst anrauchten, haben gegenüber den heute als zahllos betrachteten<br />
unfreiwilligen Opfern von Rauchgeräten, Auspuffen und Kaminen an Interesse verloren.<br />
Mag sein, dass die klassische Neuzeit und damit die Hochblüte der Zivilisations-<br />
34
VERGESSENE ZIVILISATIONSKRANKHEITEN<br />
Abb. 12<br />
“Sie sind eben etwas überängstlich! Besorgen Sie sich ein Beruhigungsmittel<br />
in der Apotheke.” Aus: Intermed, Zeitschrift der Studierenden medizin ischer<br />
Richtung der Schweiz, Dezember 1973, S. 12.<br />
krankheiten mit den Weltkriegen zu Ende gegangen ist. Mag sein, dass die “<strong>Zivilisationskrankheiten</strong>”<br />
künftighin insgesamt etwas in Vergessenheit geraten werden.<br />
35
UMWELT UND MENSCH<br />
Anmerkungen<br />
1<br />
JOHAN HUIZINGA, Zur Geschichte des Begriffs Mittelalter (1921). In: Geschichte und<br />
Kultur, gesammelte Aufsätze (Stuttgart 1954, S. 213-227)<br />
2<br />
Vgl. GUSTAV SCHWAB, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums (2. Basler Ausgabe,<br />
Basel 1949, Bd. 1, S. 16-17)<br />
3<br />
Vgl. die klassische Beschreibung der Melancholie bei ARETAEUS VON KAPPADOZIEN<br />
(um 50 n. Chr.) in: The extant works of Aretaeus. Mit griechischem Text hrsg. u.<br />
übers. v. F. ADAMS (London 1856, S. 298-300. Chron. Krankheiten, Buch 1, Kap. 5)<br />
4<br />
ARISTOTELES, Problems, Vol. 2, mit engl. Uebers. v. W. S. HETT (Loeb Classical Librar y,<br />
London 1937, S. 154-169. Problem XXX, I)<br />
5<br />
WILHELM LANGE-EICHBAUM, Genie, Irrsinn und Ruhm. Neu bearb. v. W. KURTH (5.<br />
Aufl., Basel 1961, S. 29-30)<br />
6<br />
Die Dichtungen des Michelangelo Buonarotti, hrsg. v. C. FREY, 1897, Nr. 81, zit. n.<br />
RAYMOND KLIBANSKY, ERWIN PANOFSKY und FRITZ SAXL, Saturn and Melancholy.<br />
Studies in the history of natural philosophy, religion and art(London 1964, S. 232)<br />
7<br />
Vgl. KLIBANSKY, PANOFSKY, SAXL (Anm. 6 ), S. 284-399 (Teil 4: Dürer)<br />
8<br />
KLIBANSKY, PANOFSKY, SAXL (Anm. 6 ), S. 233-234<br />
9<br />
WOLF LEPENIES, Melancholie und Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1969, S. 55-68)<br />
10<br />
LEPENIES (Anm. 9 ), S. 34<br />
11<br />
ROBERT BURTON, The anatomy of melancholy (Oxford 1621. Nachdruck , The English<br />
experience, Nr. 301. Amsterdam-New York 1971)<br />
12<br />
NIKOLAUS MANI, Die historischen Grundlagen der Leberforschung (2 Teile, Basel<br />
Stuttgart 1959 und 1967, II, S. 80)<br />
13<br />
Vgl. ESTHER FISCHER-HOMBERGER, Hypochondrie. Melancholie bis Neurose, Krankheiten<br />
und Zustandsbilder (Bern-Stuttgart-Wien 1970, S. 15-16, 50-51)<br />
14<br />
JOHANN ULRICH BILGUER, Nachrichten an das Publicum in Absicht der Hypochondrie.<br />
Oder Sammlung verschiedener, und nicht sowohl für die Aerzte als vielmehr für<br />
das ganze Publicum gehörige die Hypochondrie, ihre Ursachen und Folgen betreffende<br />
medicinische Schriftstellen, und daraus gezogener Beweis, dass die Hypochondrie<br />
heutiges Tages eine fast allgemeine Krankheit ist, und dass sie eine Ursache der<br />
Entvölkerung abgeben kann (Kopenhagen 1767, S. 8-9)<br />
15<br />
Vgl. FLORINE KALKUEHLER, Die Natur des Spleens bei den englischen Schriftstellern<br />
in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Diss., Leipzig 1920; auch FISCHER-HOM-<br />
BERGER, Anm. 13 , S. 35-44)<br />
16<br />
ESTHER FISCHER-HOMBERGER, Railway Spine und traumatische Neurose – Seele<br />
und Rückenmark (Gesnerus, Aarau, 27, 1970, S. 100-105)<br />
36
UMWELT UND MENSCH<br />
society, civilization and barbarism (Oxford 1944); F. LAEMMLI: Homo faber:<br />
Triumph, Schuld, Verhängnis? (Basel 1968); La Civilisation au carrefour<br />
(Paris 1969); O. SCHATZ: Die erschreckende Zivilisation (Wien-Zürich 1970);<br />
K. LORENZ: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit (München 1973)<br />
38