Beitrag aus: Die Tonkunst, 2. Jg., 2008, Heft
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„Wir werden das 20. Jahrhundert verlassen, ohne seine Musik kennengelernt zu<br />
haben.“<br />
Peter Schwarz und das Archiv seiner Aufführungen<br />
Im Frühjahr dieses Jahres besuchte ich auf Einladung der Malerin Uta Schwarz-Korth, der<br />
Witwe des Chorleiters und Organisten Peter Schwarz, seine private musikalische<br />
Arbeitsstätte: das Dachgeschoss eines Reihenh<strong>aus</strong>es in Berlin-Hermsdorf mit starker<br />
Dachschräge; an den tragenden Balken des H<strong>aus</strong>es ist eine Orgel gleichsam angelehnt. In<br />
einem Dutzend Umzugskartons sind nun vor kurzem die Aktenordner <strong>aus</strong> dem Nachlass ins<br />
Archiv der Berliner Universität der Künste gelangt.<br />
Es handelt sich um den gesamten beruflich-künstlerischen Nachlass, um das Archiv seiner<br />
Aufführungen. Seit den sechziger Jahren hat Schwarz die Programme, Ankündigungen,<br />
Plakate und Besprechungen der Konzerte, an denen er beteiligt war, gesammelt und sorgfältig<br />
abgelegt. <strong>Die</strong> teils schmuckvollen Plakate sind noch eingefaltet inmitten der Schriftstücke, die<br />
sich dem Normmaß der Akten fügen. Oft sind handschriftliche Notizen dabei, die etwa<br />
kurzfristige Programmänderungen vermerken; besondere Ordner „Planungen“ enthalten<br />
Korrespondenzen mit Veranstaltern, Komponisten und den Geschäftsstellen der Ensembles,<br />
die Schwarz leitete. Peter Schwarz war in hohem Maße ein Mensch, in dessen rastloser<br />
Tätigkeit viele Fäden zusammenliefen. Sein Archiv ist ein wertvolles Zeugnis zur Neuen<br />
Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das mit seinem Schwerpunkt bei der<br />
Dokumentation musikalischer Aufführungen – in Berlin, im östlichen Europa und andernorts<br />
– vielfältige Kontexte greifbar werden lässt. Eine Auswertung lohnt sich; sie steht naturgemäß<br />
noch <strong>aus</strong>.<br />
Wer war „der Kantor Peter Schwarz“, als der ihn der Komponist Manfred Schubert in seinem<br />
Nachruf 1 bezeichnet? Jahrzehntelang bürgte sein Name für höchstes Niveau bei<br />
Aufführungen vor allem Neuer Musik und für höchst interessante Programmgestaltungen.<br />
Wer in Berlin lebte und an musica nova sacra nicht achtlos vorbeiging, der stieß immer<br />
wieder auf den engagierten Chorleiter und vortrefflichen Organisten. Als Organist<br />
konzertierte er beinahe weltweit; Chorreisen führten ihn und die von ihm betreuten Ensembles<br />
besonders nach Mittel- und Osteuropa: nach Polen, in die Tschechoslowakei, nach Ungarn,<br />
Rumänien und in die UdSSR, aber auch nach Italien und in die Türkei. Mit den Chören,<br />
die
Schwarz selbst aufgebaut hatte, der Berliner Cappella und dem ars nova ensemble, bestritt<br />
er<br />
unzählige Konzerte. Ein Verzeichnis der aufgeführten Werke umfasst mehr als 650 Einträge<br />
allein auf dem Gebiet der Neuen Musik. Peter Schwarz starb 2006 kurz vor Vollendung<br />
seines<br />
siebzigsten Lebensjahres.<br />
Geboren wurde er 1936 in Nürnberg und wuchs in Dinkelsbühl auf, der malerischen<br />
mittelfränkischen Stadt. 2 Das städtische Musikleben war durch die unermüdliche Tätigkeit<br />
von Schwarz’ Vater, des dortigen Kantors, geprägt; der Sohn trat schon früh in seine<br />
Fußstapfen. <strong>Die</strong>ses Amt versah man in Dinskelsbühl nebenbei; sein Brot verdiente sich<br />
Leonhard Schwarz als Grund- und Berufsschullehrer. Musikalisch begabt und auf den<br />
Musiker-Beruf von H<strong>aus</strong>e <strong>aus</strong> gut vorbereitet, studierte der Sohn Schul- und Kirchenmusik in<br />
Detmold und anschließend Musikwissenschaft und Anglistik in Münster/Westf., Erlangen und<br />
an der Freien Universität Berlin. Seine Lehrer waren Michael Schneider (Orgel), Kurt<br />
Thomas (Chorleitung/Dirigieren) sowie Wolfgang Fortner (Musiktheorie). <strong>Die</strong> Dissertation<br />
„Studien zur Orgelmusik Franz Liszts“ 3 betreute Rudolf Stephan.<br />
Als Schwarz sie 1971 abschloss, war er bereits seit einem Jahrzehnt als Organist und Kantor<br />
berufstätig: an der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche in Berlin-Tiergarten, im Westen der<br />
geteilten Stadt. <strong>Die</strong>se Kirche mit Portaltüren von Gerhard Marcks und Glasfenstern, u.a. von<br />
Georg Meistermann, sowie ihrer Schuke-Orgel, die Schwarz schätzte, liegt im Hansaviertel,<br />
dem Kernstück der Internationalen Bau<strong>aus</strong>stellung 1957, die bis heute große Aufmerksamkeit<br />
auf sich zieht. <strong>Die</strong>se war und blieb der Ausgangspunkt für Schwarz’ weitgespannte<br />
musikalische Unternehmungen, welche schon bald – trotz aller politischen Hindernisse – ins<br />
von Berlin <strong>aus</strong> benachbarte, aber durch die Mauer abgetrennte und auf Abstand gehaltene<br />
Osteuropa führten.<br />
Der Chor, den Schwarz gründete, hieß wie selbstverständlich „Berliner Cappella“ und<br />
signalisierte von Anfang an den Anspruch zumindest stadtweiter Geltung. Zusammen mit<br />
Frank Michael Beyer richtete Schwarz die Konzertreihe „musica sacra nova“ ein; in den<br />
ersten Jahren wurde <strong>aus</strong>schließlich Neue Musik einstudiert, „die Neuentdeckung im<br />
Gegenwärtigen war die Parole“, wie Beyer rückblickend schrieb. 4 1969, im Jahr nach der<br />
gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings, kam es zu einer Chorreise in die<br />
damalige ČSSR, nach Olomouc und Ostrava. 1987 gründete Schwarz das ars nova ensemble,<br />
bestehend <strong>aus</strong> zwölf, höchstens sechzehn Sängerinnen und Sängern, die avancierte und<br />
2
schwierigste Kompositionen wie Chöre von Ligeti und Penderecki zu interpretieren<br />
vermochten. Nach der Pensionierung wirkte Schwarz als Organist in der Kirche Zum<br />
Heilsbronnen in Berlin-Schöneberg.<br />
Was die wichtigen Reisen nach Polen angeht, so sei ein Dokument herangezogen, das sich in<br />
dem eben übernommenen Archiv auffinden lässt: Schwarz’ Ansprache während des Konzerts<br />
in der Berliner Philharmonie zu seiner Verabschiedung als Leiter der Berliner Cappella vom<br />
20. Juni 2001. Schwarz ging auf diese Reisen in seiner tour d’horizon – laut Manuskript –<br />
recht <strong>aus</strong>führlich ein: „<strong>Die</strong> ersten Berührungen mit Polen ergaben sich <strong>aus</strong> einem<br />
Orgelkonzert in der Warschauer Philharmonie im Jahr 1973: das tiefe Nachdenken vor dem<br />
Warschauer Getto-Denkmal, das Erschaudern in den Kellern des Pawiak-Gefängnisses, die<br />
Rührung angesichts von Warschauer Bürgern, die am Sonntag Steine der Ruine des<br />
Warschauer Stadtschlosses sortierten und vom Mörtel säuberten“. 5 <strong>Die</strong>se Worte zeigen den<br />
politisch-moralischen Aspekt von Schwarz’ Aktivitäten: „wir […] galoppierten der offiziellen<br />
Politik weit vor<strong>aus</strong>, die nur mühsam vorankam.“ Es entstand eine enge Beziehung zur<br />
Filharmonia Pomorska in Bydgoszcz, die beim Konzert, in dem Schwarz die zitierten Worte<br />
sprach, mitwirkte.<br />
<strong>Die</strong> Neue Musik, wie sie Peter Schwarz aufgriff, lässt sich von ihrem zeitgeschichtlichen<br />
Hintergrund nicht trennen; man denke an Werke wie Schönbergs Friede auf Erden op. 13<br />
oder an Dallapiccolas Canti di prigonia, die Schwarz aufführte; Brittens War Requiem<br />
kombinierte er mit dem Katyn-Epitaph von Andrzej Panufnik. Neben diesen ‚Klassikern’ der<br />
Neuen Musik stehen zahlreiche weitere, gerade osteuropäische Komponisten: der Tscheche<br />
Petr Eben, die Rumänen Anatol Vieru, Corneliu Dan Georgescu und Myriam Marbé, um nur<br />
einige beispielhaft zu nennen. <strong>Die</strong> Reihe der Komponisten, die mit mindestens zwei<br />
Uraufführungen unter der Ägide von Peter Schwarz im Aufführungsarchiv vertreten sind, ist<br />
beinahe zu lang, um hier wiedergegeben zu werden, was dennoch geschehen mag, damit das<br />
kompositorische Spektrum deutlich wird. Aufgezählt seien diejenigen, die noch nicht an<br />
anderer Stelle in diesem Artikel erwähnt sind: Alex Arteaga, Helmut Barbe, Augustyn Bloch,<br />
Jolyon Brettingham-Smith, Heribert Breuer, Hans Chemin-Petit, Jacek Domagala, Helmut<br />
Friedrich Fenzl, Harald Genzmer, Friedemann Graef, Gabriel Iranyi, Werner Jacob, Helge<br />
Jung, Christian Knopf, Erwin Koch-Raphael, Henri Lazarof, Kl<strong>aus</strong> Matthes, Kurt <strong>Die</strong>tmar<br />
Richter, Wolfgang Rihm, Christfried Schmidt, <strong>Die</strong>ter Schnebel, Hanning Schröder, Alfred<br />
Schust, Wilhelm <strong>Die</strong>ter Siebert, Wolfgang Steffen, Witold Szalonek, Lothar Voigtländer,<br />
3
Karlheinz Wahren, Sabine Wüsthoff, Isang Yun, Ruth Zechlin und Grete von Zieritz. 6 „Wir<br />
werden das 20. Jahrhundert verlassen, ohne seine Musik kennengelernt zu haben“, diese<br />
Aussage von Peter Schwarz gibt der Dirigent Hanno Bachus wieder 7 – aber die lange<br />
Namensliste der Uraufgeführten zeigt, dass es ein beachtlicher Ausschnitt ist, der mit seiner<br />
Hilfe hat erklingen können.<br />
Seit 1977 nahm Schwarz Lehraufträge für Geschichte der Kirchenmusik an der Hochschule<br />
der Künste Berlin (der heutigen Universität der Künste) wahr; von 1981 an wirkte er an der<br />
Hochschule als Professor für Chorleitung. Dort leitete er eine Studentenkantorei, so wie er in<br />
seiner Kirchengemeinde einen Jugendchor aufbaute.<br />
Bei allem Engagement besaß Schwarz, gewissermaßen als Gegenpol, auch analytische<br />
Fähigkeiten. Seine kurzen, prägnanten Texte für Programmhefte sind in einer kleinen Schrift<br />
postum her<strong>aus</strong>gegeben worden. Der Titel „Von der Ordnung des Himmels und der Welt“ ist<br />
einer kleinen Reflexion zu Messiaen, Schütz und Johann Sebastian Bach entlehnt; in ihr tritt<br />
der religiöse Aspekt seiner Persönlichkeit zutage. Als Kantor versah er ja ein geistliches Amt.<br />
Schwarz geht auf eine Bemerkung über Musik und Evangelium in den Tischreden Martin<br />
Luthers ein, in welcher der Reformator auf Josquin Desprez zu sprechen kommt. 8 Über<br />
Desprez wollte Schwarz ein Buch schreiben, wozu es aber nicht mehr kam. Der Plan allein<br />
zeigt, dass seine musikalischen Interessen weit über die zeitgenössische Musik hin<strong>aus</strong>reichen.<br />
<strong>Die</strong>tmar Schenk<br />
Anmerkungen<br />
1<br />
Berliner Zeitung vom 11. Juli 2006: „Exzellenter Virtuose und Chorleiter. Zum Tode des Kantors Peter<br />
Schwarz“.<br />
2<br />
Vgl. Gottfried Eberle: „Aufgewachsen in einer mittelfränkischen Kleinstadt. <strong>Die</strong> Wurzeln von Peter Schwarz“,<br />
in: Klänge und Gegenklänge. Festschrift für Peter Schwarz, hrsg. v. <strong>Die</strong>ter Demuth. Berlin 2001, S. 165-168.<br />
3<br />
<strong>2.</strong> unveränd. Aufl. München, Salzburg 2001.<br />
4<br />
„Freundesgruß an Peter Schwarz“, in: Klänge und Gegenklänge, a.a.O., S. 174f, hier: S. 174.<br />
5<br />
Peter Schwarz: „Rede 2<strong>2.</strong> 6. 2001“ (Archiv der Universität der Künste Berlin, Nachlass Peter Schwarz).<br />
6<br />
Laut „Verzeichnis aufgeführter Werke von Komponisten Neuer Musik“, in: Von der Ordnung des Himmels und<br />
der Welt. Peter Schwarz – Aufsätze zur Musik, hrsg. v. <strong>Die</strong>ter Demuth. Berlin 2007, S. 111-123.<br />
7<br />
Klänge und Gegenklänge, a.a.O., S. 139.<br />
8<br />
Von der Ordnung des Himmels und der Welt, a.a.O., S. 85.<br />
4