Domrufen - Dom Wetzlar
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Szene, die in ihren Grundzügen<br />
bereits einige Jahrhunderte zuvor in<br />
den legendenhaften „Transitus-<br />
Mariae-Berichten“ geschildert wurde:<br />
Auf wundersame Weise hätten<br />
sich laut dieser Legende alle zwölf<br />
Apostel an Marias Sterbebett versammelt<br />
und ihr mit Gesängen und<br />
einer Totenmesse Beistand beim<br />
Sterben geleistet.<br />
Das <strong>Wetzlar</strong>er Gemälde folgt dem<br />
hochmittelalterlichen Typus, wie ihn<br />
zum Beispiel das berühmte<br />
Tympanonrelief am Südquerhausportal<br />
der Kathedrale von<br />
Straßburg, um 1230, gezeigt hat.<br />
Das Sterbebett Mariens steht parallel<br />
zur Bildebene und steht damit in<br />
der antiken Tradition der Prothesis,<br />
bei der Aufbahrung und Totenklage<br />
gezeigt wurden. Der herausgehobene<br />
Mann mit der Stirnlocke und dem<br />
Haarkranz, der die Rechte im Zeigegestus<br />
erhoben hat und die Linke vor<br />
die Brust hält, soll wohl Petrus sein,<br />
denn in diesem Frisurentypus wird<br />
er meist im Mittelalter dargestellt.<br />
Die anderen 11 Apostel umrahmen<br />
das Bett und halten eine Kerze oder<br />
ein Weihrauchfass. Der mädchenhaft<br />
wirkende Apostel mit dem Kreuzstab<br />
hinter dem Bett könnte als<br />
Johannes identifiziert werden.<br />
Das kleine, rechteckige Bild im<br />
oberen Teil des Bogenfeldes ist der<br />
wichtigste Bestandteil des Bildes.<br />
Gezeigt wird hier, wie die Seele<br />
Mariens, dargestellt durch eine<br />
kindhaft kleine Mariengestalt,<br />
von Christus in den Himmel aufgenommen<br />
wird.<br />
26<br />
Dieses Gemälde im <strong>Wetzlar</strong>er <strong>Dom</strong><br />
drückt im Denken seiner Zeit aus,<br />
was die Kirche am Fest „Mariä Aufnahme<br />
in den Himmel“ feiert. Für die<br />
Menschen im Mittelalter war die<br />
Seele die Identitätsträgerin des Menschen<br />
über den Tod hinaus. Der Leib<br />
wurde meist nach platonisch-dualistischem<br />
Vorbild als „Gefängnis der<br />
Seele“ betrachtet. Der Leib war der<br />
Seele eindeutig untergeordnet. Mit<br />
ihm wurde das Sündhafte und<br />
Schwache in Verbindung gebracht.<br />
Diese negative Sicht des Leibes haben<br />
wir heute Gott sei Dank überwunden.<br />
Maria wurde mit „Leib und<br />
Seele“ in den Himmel aufgenommen.<br />
Das heißt: der ganze Mensch,<br />
die ganze Person, die nicht nur als<br />
Seele existiert, sondern lacht und<br />
weint, arbeitet und ruht, feiert und<br />
fastet, der ganze Mensch, der spürbar<br />
und greifbar ist in dieser Welt,<br />
die ganze Existenz von Maria ist<br />
nicht verloren gegangen. Maria<br />
übergibt nicht einfach ihre Seele an<br />
Gott, sie ist mit „Leib und Seele“ bei<br />
Gott. In ihrer Aufnahme in den Himmel<br />
wird das vorweg genommen,<br />
was uns alle bei Gott erwartet. – So<br />
wie Maria wird jeder von uns mit<br />
Leib und Seele in den Himmel aufgenommen.<br />
Oda Peter/Peter Kollas