Programmheft (pdf) - Basel Sinfonietta
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Die Stimme der Scheherazade<br />
Gedanken zu den Zwischentexten des heutigen Konzerts<br />
1956 strahlte das syrische Radio die G e-<br />
schichten der Scheherazade aus. Mit der<br />
Musik von Rimski-Korsakow waren diese<br />
zwei Jahre und acht Monate lang a ll-<br />
abendlich zu hören. «Nacht für Nacht»,<br />
e rinnert sich der Erzähler Rafik Schami 1 ,<br />
«hallte ihre Stimme in unserer Gasse<br />
aus Hunderten von Radios. Vor allem im<br />
Sommer, wenn die Fenster offen s tanden,<br />
konnte man nur eine Stimme hören, die<br />
Stimme der Scheherazade.» Und schon<br />
nach der ersten Nacht überlegt der junge<br />
Die Galland-Handschrift. Das älteste noch<br />
erhaltene Manuskript von 1001 Nacht<br />
Einstieg<br />
Schami, was die Heldin erzählen müsste, um am Leben zu bleiben. «In meiner kindlichen<br />
Vorstellung wälzte sich Scheherazade in jener Nacht voller Kummer auf ihrem<br />
Bett hin und her. Sie stand ja vor dem Tode.»<br />
Sich vorzustellen, was Scheherazade empfunden und gedacht haben mag, ist ein unmittelbarer<br />
Impuls. Und eine Notwendigkeit, denn davon ist in der Rahmenhandlung<br />
von 1001 Nacht nichts zu finden. Diese beschränkt sich auf den Plot: Der grausame König<br />
Schahriyar ertappt seine Frau beim Ehebruch und tötet nicht nur sie, sondern nimmt<br />
von da an jede Nacht ein anderes Mädchen zur Frau, um sie am Morgen nach der Hochzeitsnacht<br />
hinrichten zu lassen. Die schöne und gebildete Scheherazade b egehrt dagegen<br />
auf und zwingt ihren Vater, den Wesir, sie dem König zur Frau zu geben. Jede Nacht<br />
erzählt sie nun ihrer Schwester Dinarasad eine Geschichte, die sie an der spannendsten<br />
Stelle unterbricht, so dass der zuhörende König ihr Leben immer wieder verschont, um<br />
die Fortsetzung zu hören. Erst nach 1001 Nacht endet dieses grausame «Spiel». Diese<br />
Reduktion ist typisch für Märchen. «Die Helden», schreibt Rafik Schami, «sind zweidimensional.<br />
Sie haben keine psychologische Tiefe.» Es ist Sache der Zuhörenden oder<br />
Lesenden, die «Flachheit» der Figuren «aus dem eigenen Reservoir an Erfahrungen» zu<br />
ergänzen.<br />
D er Klang von 1001 Nacht<br />
1701 stösst der französische Orientalist Antoine Galland auf die älteste, noch erhaltene<br />
Handschrift von 1001 Nacht, eine leider unvollständige Fassung, die vermutlich um<br />
1450 aufgezeichnet wurde. Da diese nur bis zur 282. Nacht reicht, ergänzt er seine 1704<br />
1 Rafik Schami: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte. Carl Hanser Verlag 2011