ganze Ausgabe - jot wd
ganze Ausgabe - jot wd
ganze Ausgabe - jot wd
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Leute<br />
Von Ingeborg Dittmann<br />
Es ist gerade erst ein paar Wochen<br />
her. Eines abends klingelt<br />
mein Telefon. Charlotte ruft aus<br />
Porla Brunn an, um sich für<br />
meinen Brief zu bedanken. Sie<br />
habe mit Freunden zusammen<br />
gesessen, im Saal hätten Dutzende<br />
Kerzen gebrannt. „Wir haben<br />
ein bisschen gefeiert“, sagt sie.<br />
Und: „Beim nächsten Mal<br />
musst du dabei sein.“<br />
Es war der Abend ihres 74. Geburtstages.<br />
„...denn eigentlich lebe ich ja<br />
seit der Gründerzeit“<br />
Fotos: Dittmann<br />
„Ende März bin ich im Schloss<br />
Altranft und in Dahlwitz. Dann<br />
sehen wir uns ja“, sagt sie zum<br />
Abschied.<br />
Als ich Charlotte ein paar Tage<br />
später in Altranft treffe, hält sie<br />
ein Staubsaugerrohr in der Hand<br />
und assistiert dem Schlosshandwerker,<br />
der im Gelben Salon<br />
mit der Bohrmaschine hantiert.<br />
„Seit Stunden ist Lottchen<br />
auf Trapp und gestaltet den<br />
Damensalon“, sagt Museums-<br />
Manchmal läutet bei Helga<br />
Duwe sogar nachts das Telefon.<br />
„Das sind dann Stammkunden<br />
aus New York oder Detroit, die<br />
wissen wollen, ob ihr Smoking<br />
oder das schicke Designerkleid<br />
noch zu retten ist, in das sie sich<br />
ein Zigarettenloch gebrannt haben“,<br />
sagt die 60-jährige<br />
Mahlsdorferin. Die gelernte Repassiererin<br />
und Kunststopferin<br />
kann ihre Kunden dann beruhigen.<br />
Bisher hat sie jeden Fall<br />
gelöst, und sei er auch noch so<br />
kompliziert und aussichtslos.<br />
Denn mit hauchdünnen Fäden<br />
und Nadeln und einer bis zu 100fach<br />
vergrößernden Zeiss-Lupenbrille<br />
vermag die Mahlsdorferin<br />
Kleidungsstücke wieder<br />
so herzurichten, als wäre<br />
kein Malheur passiert. “Sehen<br />
Sie noch, dass hier mal ein Loch<br />
war?“, fragt sie und präsentiert<br />
der Reporterin „das Lieblingsjackett<br />
eines von Film und Fernsehen<br />
her bekannten Entertainers“.<br />
Natürlich ist nichts zu sehen.<br />
Wo, bitteschön, war da mal<br />
chef Peter Natuschke. Dann<br />
wirbelt sie im schwarzen Faltenrock,<br />
mit Zollstock und Bilderhaken<br />
in der Hand, durch den<br />
Raum, um den passenden Platz<br />
für Gemälde und Wandleuchter<br />
zu finden, sucht nach passenden<br />
Deckchen, rückt Möbel hin<br />
und her. Verrät den Museumsmitarbeitern<br />
schließlich, wie<br />
man das Uhrwerk der Kaminuhr<br />
des Kochs von Kaiser Wilhelm<br />
I. in Gang setzt. „Was<br />
würden wir nur ohne dich machen“,<br />
sagt Natuschke.<br />
Drei Tage darauf, am Ostermontag,<br />
fegt Lottchen durch die heruntergekommenen<br />
Räume des<br />
Schlosses Dahlwitz, hält ihre<br />
Erinnerungen an den ursprünglichen<br />
Zustand auf einem kleinen<br />
Bandgerät fest. „Wenn ich<br />
mal tot bin, dann habt ihr wenigstens<br />
was Schriftliches“,<br />
scherzt sie und würde sich am<br />
liebsten gleich an Ort und Stelle<br />
die Ärmel hochkrempeln, um<br />
dem Haus seine einstige Schönheit<br />
wieder zu geben. „Ach Kinder,<br />
wenn ich ein paar Jahre jünger<br />
wäre und genug Geld hätte...“<br />
Später kniet sie sich – im<br />
langen stahlblauen Mantel – neben<br />
Peter Natuschke ins Gras<br />
und studiert die alten Pläne des<br />
einstigen Treskow-Landsitzes.<br />
Das schwarze Handtäschchen<br />
neben sich im Gras, hockt sie<br />
lange Zeit in unbequemer Stellung<br />
auf der Erde und fährt mit<br />
den Fingern über den Plan. Dieses<br />
Bild werde ich nicht mehr<br />
los. Es ist so typisch für Charlotte.<br />
Es war ihr Leben.<br />
Ein Leben für die Schätze der<br />
Gründerzeit, die sie von Kindesbeinen<br />
an faszinierten. Es<br />
war ihr Lebensinhalt, sie für die<br />
Nachwelt zu erhalten. Nicht<br />
Von der schwierigen Kunst des Stopfens<br />
Mit feinen Nadeln macht Helga Duwe Mottenlöcher unsichtbar<br />
ein Loch im eleganten Zweireiher?<br />
Den Namen des Besitzers will<br />
die gebürtige Mahlsdorferin<br />
„aus Diskretionsgründen“<br />
nicht<br />
nennen.<br />
Doch Fakt<br />
ist: Bei Helga<br />
Duwe an der<br />
Ridbacher<br />
Straße gehen<br />
Sänger,<br />
Schauspieler,<br />
Musiker,<br />
Eiskunstläufer,Balletteusen<br />
und Politiker<br />
ein und<br />
aus. Aber<br />
auch ganz<br />
normale Leute<br />
von nebenan,<br />
die sich<br />
einen Dreiangel<br />
in die Lederhosegerissen<br />
haben<br />
oder deren Lieblingspullover ein<br />
Opfer von Mottenfraß wurde.<br />
Kunden, die der 60-Jährigen exklusive<br />
Strumpfhosen oder<br />
Gesundheitsstrümpfe zum<br />
Repassieren bringen, kommen<br />
nun auch wieder öfter. „Zu<br />
DDR-Zeiten war das mein<br />
Hauptgeschäft“, erinnert sich<br />
die Repassiererin, die schon mit<br />
17 lernte, Laufmaschen aus<br />
hauchdünnen Nylons wegzuzaubern.<br />
Bei einem Preis von<br />
neunfuffzig - mit Ferse und<br />
Zwickel 12 Mark - habe es sich<br />
schon gelohnt, 50 Pfennige für<br />
die Reparatur auszugeben. Im<br />
Haus des Reisens am Alex, im<br />
Rundfunk, in Verlagen und Ministerien<br />
habe sie ihre Annahmestellen<br />
gehabt.<br />
„Als ich 1963 mein Geschäft<br />
eröffnete, war ich die jüngste<br />
Selbstständige in der DDR“, erinnert<br />
sich Frau Duwe. „Im<br />
nächsten Jahr habe ich mein 40jähriges<br />
Betriebsjubiläum.“<br />
Mehr als 200 Lehrlinge hat sie<br />
in all den Jahren ausgebildet,<br />
später auch in die Geheimnisse<br />
der Kunststopferei und Anderungsschneiderei<br />
eingeweiht.<br />
Sechs sind noch heute dabei. Ihre<br />
3<br />
Geld damit zu verdienen. Jede<br />
Mark steckte sie in die Vervollständigung<br />
ihrer Sammlungen.<br />
Sie selbst führte immer ein bescheidenes<br />
Leben, bis zu ihrem<br />
letzten Tag.<br />
Von Dahlwitz aus fahren wir<br />
„nach Hause“. Obwohl das<br />
Mahlsdorfer Gutshaus am<br />
Hultschiner Damm an diesem<br />
Tag geschlossen ist, zaubert<br />
Moni Kuchen und Kaffee auf<br />
den Tisch. Wir sitzen mit Charlotte<br />
und ein paar Freunden in<br />
ihrer geliebten Mulackritze und<br />
klönen. „Für mich bitte nur einen<br />
Pfefferminztee“, sagt Lottchen<br />
und genießt den Kuchen.<br />
Dann kramt sie aus ihrem<br />
Handtäschchen einen Stapel<br />
politischer Karikaturen raus.<br />
„Die haben mir liebe Freunde<br />
gegeben, sind echt gelungen,<br />
kichert sie. „Könnt ihr die weiter<br />
verteilen?“ fragt sie in die<br />
kleine Runde.<br />
Später sitzt sie, über einen<br />
handschriftlichen Zettel gebeugt,<br />
allein an einem Tischchen<br />
neben dem Tresen. Charlotte<br />
hat sich Dutzende Namen<br />
und Telefonnummern notiert.<br />
„Alles Freunde, die ich noch<br />
anrufen oder besuchen muss“,<br />
erklärt sie mir. „Wie soll ich das<br />
nur alles schaffen bis morgen?“<br />
Wenig später kommt ein alter<br />
Bekannter, um sie zum Klön<br />
abzuholen. Plötzlich fällt ihr<br />
ganz nebenbei ein: „Wo könnte<br />
ich denn heute Nacht schlafen?“<br />
Da macht ihr Moni die<br />
Liege unterm Dach im Gutshaus<br />
zurecht. „Macht bloß keine<br />
Umstände, mir reicht ein<br />
Strohsack.“<br />
So war Charlotte. Und so bleibt<br />
sie uns im Gedächtnis. Charlotte,<br />
Du wirst uns fehlen.<br />
älteste Mitarbeiterin ist 71.<br />
Auch nach der Wende wollte<br />
Helga Duwe jungen Leuten das<br />
selten gewordene Handwerk<br />
(nur noch sechs Adressen stehen<br />
im Branchenbuch) beibringen.<br />
Damals habe man ihr beim<br />
Arbeitsamt gesagt: Wozu, gute<br />
Frau? Wir leben doch jetzt in<br />
einer Wegwerfgesellschaft.<br />
In den Wandschränken der<br />
Kellerwerkstatt stapeln sich<br />
Stoffballen, Gardinen und<br />
Tischdecken. „Oft muss ich<br />
Dutzende Stoffe durchsehen,<br />
um die richtige Faser fürs Stopfen<br />
zu finden“, erklärt Frau<br />
Duwe. Das macht sich bezahlt,<br />
wenn alte Traditionsfahnen,<br />
Altardecken oder auch mal ein<br />
historischer Teppich aus der<br />
Wartburg bei der Meisterin in<br />
Auftrag gehen. Den weitesten<br />
Weg legte einst ein Paket aus<br />
Neuseeland zurück. Ein Mann<br />
hatte seinen Lieblingspullover<br />
zum Kunststopfen nach<br />
Mahlsdorf geschickt.<br />
Text/Foto:Ingeborg Dittmann