Rümlig-Post 2012 Teil 1 (PDF-Download ca - Gewerbeverein ...
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mann seinen Schlitten abgestellt und war zu Fuss weitergezogen.<br />
Zu gerne hätte Rasputin die Rentiere nach dem<br />
weiteren Weg gefragt. Aber die schliefen und schnarchten<br />
so erschöpft, dass nicht mal ein Sternschnuppen orkan<br />
sie geweckt hätte. «Dann finde ich mein Kind eben alleine»,<br />
sagte Rasputin zu sich und flog den Lichtern entgegen<br />
hinein in die grosse Stadt. Wie viele Häuser hier standen.<br />
Grosse und kleine, blaue und graue, alte und neue<br />
... Die geschmückten Fenster blitzten in der weiss verschneiten<br />
Weihnachtsnacht wie Sterne am Himmel. Und<br />
Rasputin dachte: Hinter einem dieser Fenster wartet mein<br />
Kind. Als der kleine Rabe durch die Scheiben in die Wohnzimmer<br />
lugte, erkannte er genau, wo der Weihnachtsmann<br />
schon überall gewesen war. Hier küsste ein Mädchen<br />
ihr Schlafschaf. Dort drückte ein Junge seine Puppe<br />
an die Brust. Und da kuschelten zwei Geschwister mit<br />
ihren Kuschelkatzen. In jedem Haus schien der Weihnachtsmann<br />
das richtige Geschenk abgeliefert zu haben,<br />
denn in jedem Wohnzimmer strahlten die Kinder über<br />
ihre erfüllten Wünsche. Kein Kind sah unglücklich aus,<br />
keines enttäuscht, keines wünschend oder wenigstens<br />
wartend. Und kein Kind liess Rasputins Rabenherz höher<br />
schlagen. Wer nämlich glaubt, dass sich nur die Kinder<br />
über ihre Geschenke freuen, der irrt sich gewaltig! Auch<br />
die Geschenke freuen sich über ihre Kinder; besonders<br />
die Puppen und die Tiere. Wenn ein Wunschgeschenk<br />
bei seinem Kind landet, ist das für beide Seiten ein ganz<br />
und gar wunderbares Glück. Und darauf hatte sich der<br />
kleine Rabe so gefreut. Aber jetzt wurden ihm langsam<br />
die Flügel schwer, und Rasputin fühlte sich immer einsamer.<br />
Nur ein goldschimmernder Funke Hoffnung trieb<br />
ihn weiter. Von Strasse zu Strasse. Von Haus zu Haus.<br />
Von Fenster zu Fenster. Als der kleine Rabe das letzte<br />
Fenster des letzten Hauses in der letzten Strasse hinter<br />
sich gelassen hatte, war Weihnachten schon fast vorbei.<br />
Aber sein Kind hatte Rasputin nicht gefunden. Da zischte<br />
es leise, und so war nun Rasputins letzter Hoffnungsfunke<br />
auch noch erloschen.<br />
Mit hängenden Flügeln stapfte der Rabe aus der Stadt<br />
und von dort einen holprigen Feldweg entlang. Nur der<br />
Schnee erleuchtete jetzt noch die Erde, und der kleine<br />
Rabe bemerkte in seiner Traurigkeit gar nicht, dass seine<br />
Krallen in grosse Fussspuren tappten. In Stiefelfussspuren.<br />
In Weihnachtsmannstiefelfussspuren. Sie führten<br />
durch einen kleinen Wald, hinter dem auf einer hellen<br />
Lichtung ein einzelnes windschiefes Häuschen stand.<br />
Hier endeten die Fussspuren, und in die Ohren des kleinen<br />
Raben drang ein leises Weinen. Verwundert trat er<br />
näher, flatterte mit allerletzter Kraft auf den Fenstersims,<br />
blinzelte durch die Scheibe ins Wohnzimmer – und sah:<br />
den Weihnachtsmann. Mit hängenden Schultern stand er<br />
vor einem kleinen Mädchen, das ganz anders aussah als<br />
die anderen Kinder. Es trug einen hohen, dunkellila Hut,<br />
sein grünes Kleid zierte eine funkelnde Krötenbrosche,<br />
und seine Fingernägel waren rabenschwarz lackiert.<br />
Durch das angelehnte Fenster hörte Rasputin den Weihnachtsmann<br />
sagen: «Ich kann es mir einfach nicht erklären,<br />
Mirabella Hexenkind. Ich war mir ganz sicher, dass<br />
ich alle Geschenke wieder aufgesammelt habe. Aber ...»,<br />
die Schultern des Weihnachtsmannes sanken noch tiefer,<br />
«... ich muss mich geirrt haben. Es tut mir ja so leid.» Das<br />
Mädchen schluchzte herzerweichend, und der Weihnachtsmann<br />
wandte sich jetzt ratlos an die Mutter.<br />
«Könnten Sie nicht vielleicht... ich meine, Sie sind doch<br />
eine Hexe und ...» Aber die Hexenmutter schüttelte den<br />
Kopf. «Weihnachtswünsche sind leider die einzigen Dinge,<br />
die sich nicht durch Hexerei erfüllen lassen. Dafür gibt<br />
es schliesslich den Weihnachtsmann!» Zärtlich beugte<br />
sich die Hexenmutter zu ihrer Tochter herab. «Ich könnte<br />
dir eine weisse Eule hexen. Die hast du dir zwar nicht<br />
gewünscht, aber es wäre bestimmt die schickste Eule im<br />
Wald!» Mirabella heulte nur noch lauter: «Ich will keine<br />
blöde Eule! Ich will meinen Ra-ha-ha-ben!» Die Mutter<br />
seufzte. Der Weihnachtsmann wischte sich die Stirn. Das<br />
Hexenkind vergrub sein Gesicht in den Händen.<br />
Aber Rasputin fiel vor lauter Aufregung fast vom Fenstersims.<br />
Sein Kind! Dieses Hexenmädchen war sein Kind! Er<br />
hatte es gefunden – und das spürte er jetzt auch, denn<br />
sein Rabenherz schlug Purzelbäume. Wie wild hämmerte<br />
er mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Die Mutter reckte<br />
den Hals. Der Weihnachtsmann drehte sich um. Das<br />
Hexenkind hob den Kopf. Rasputin sah ihr direkt in die<br />
Augen. In seinem Bauch explodierte das Glück, und dem<br />
Hexenkind Mirabella schien es nicht anders zu gehen.<br />
Mit einem Satz war sie am Fenster, und im nächsten Moment<br />
sass Rasputin auf ihrer Schulter. Er schmiegte seine<br />
weichen Federn an die Wangen der kleinen Hexe und<br />
dann erzählte er dem staunenden Weihnachtsmann von<br />
seiner abenteuerlichen Reise.<br />
Der schüttelte nur noch den Kopf. «Ein Weihnachtsgeschenk,<br />
das sich selbst ausliefert», murmelte er. «So etwas<br />
habe ich ja noch nie erlebt.» «Tja», grinste Mirabella.<br />
«Rasputin ist eben ein richtiger Hexenrabe. Genau wie<br />
ich ihn mir gewünscht habe.» Rasputin krächzte stolz.<br />
Dann wünschten sie dem Weihnachtsmann eine gute<br />
Heimfahrt. Und fröhliche Weihnachten.<br />
Isabel Abedi<br />
Aus: Kerzenschein und Weihnachtszauber –<br />
24 Weihnachtsgeschichten<br />
zum Vorlesen.<br />
Ellermann-Verlag,<br />
ISBN 978-3-7707-2462-8