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Rebuilding Asmara - Hinterland Magazin

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36<br />

essen<br />

1 wie die militante<br />

Kunama Organisation<br />

DMLEK (Democratic<br />

Movement for<br />

the Liberation of the<br />

Eritrean Kunama)<br />

2 Dies ist die vorhergesehene<br />

monatliche<br />

Ration, von der<br />

allerdings 20% für<br />

Mahlkosten abgehen,<br />

da der Weizen ungemahlen<br />

verteilt wird.<br />

In einer camp-internen<br />

Mühlanlage, die<br />

sich in Flüchtlingsbesitz<br />

befindet, kann<br />

gegen Bezahlung<br />

gemahlen werden.<br />

<strong>Rebuilding</strong> <strong>Asmara</strong><br />

Nutella, Grüner Tee, Shampoo und die Verwirklichung von Lebensqualität im<br />

Flüchtlingslager Shimelba. Von Lea Tesfaye<br />

„Wir sind in der Stadt<br />

<strong>Asmara</strong> aufgewachsen”,<br />

sagt Haben, eine<br />

zwanzigjährige Eritreerin,<br />

die gerade zusammen<br />

mit ihren vier<br />

MitbewohnerInnen zu<br />

Mittag isst. Sie deutet<br />

damit an, dass sie ein<br />

anderes, städtisches<br />

Leben gewohnt ist. In<br />

der Hauptstadt Eritreas<br />

lebte sie bei ihren<br />

Eltern, ging dort zur<br />

Schule und war sich<br />

sicher, einmal an der Universität zu studieren.<br />

Heute lebt sie im Flüchtlingslager Shimelba, welches<br />

im Norden Äthiopiens, nahe der eritreischen<br />

Grenze liegt. Haben ist eine von etwa 9.000<br />

Flüchtlingen, die ihre Heimat Eritrea aufgrund der<br />

repressiven Regierung unter dem Präsidenten Isayas<br />

Afewerki verlassen mussten. Während des<br />

Grenzkrieges zwischen Äthiopien und Eritrea<br />

(1998-2000) flüchteten DeserteurInnen und KriegsdienstverweigererInnen,<br />

Angehörige militanter<br />

Widerstandsbewegungen 1 und andere DissidentInnen<br />

vor dem repressiven Regime in Eritrea und<br />

suchten Schutz auf äthiopischem Boden oder in<br />

anderen benachbarten Ländern.<br />

Haben und ihre Freundin Adeam teilen sich einen<br />

großen Teller mit drei anderen MitbewohnerInnen<br />

und laden uns ein, mit ihnen zu essen. Es gibt<br />

ingera - ein äthiopisch-eritreisches Fladenbrot - mit<br />

etwas gekochtem Gemüse. Wir lehnen ab, aber<br />

bleiben noch zum Gespräch. Seit zwei Jahren lebt<br />

Haben in Shimelba, einem Ort, der von <strong>Asmara</strong><br />

nicht mehr als drei Stunden entfernt ist, aber doch<br />

eine andere Lebenswelt darstellt.<br />

Im Durchschnitt sind es vier<br />

bis sechs Jahre, in denen<br />

die Flüchtlinge hier auf die<br />

Möglichkeit der Umsiedlung<br />

in die USA, nach Kanada<br />

oder Australien warten müssen,<br />

je nach Stichtagsregelung<br />

oder Dringlichkeit<br />

eines Falles.<br />

„Kein Mensch kann von<br />

einem Sack Weizen leben”<br />

„Wir haben hier alle abgenommen”,<br />

antwortet Haben<br />

auf die Frage, ob ihnen die monatlich verteilten<br />

Lebensmittelrationen des World Food Programme<br />

reichen. Alle schauen kurz von ihrem gemeinsamen<br />

Essen auf und nicken versichernd. „Kein<br />

Mensch kann nur von einem Sack Weizen leben”,<br />

fügt Haben hinzu. Wie schon in zahlreichen anderen<br />

Gesprächen bestätigt, schildert Haben das<br />

Dilemma, in welchem sich die Campbewohner<br />

sehen. Die Rationen, die vom Welternährungsprogramm<br />

der Vereinten Nationen auf monatlicher<br />

Basis verteilt werden, decken weder quantitative<br />

noch qualitative Erwartungen der Flüchtlinge an<br />

gute Ernährung ab. Es handelt sich um 16 kg Weizen,<br />

0,9 kg Öl, 0,15 kg Salz, 1,5 kg Linsen und<br />

0,45 kg Zucker. 2 Stolzer Hühnerbesitzer<br />

Diese Ration soll nach den<br />

Berechnungen des WFP eine ausreichende Energiemenge<br />

von 2.100-2.171 kcal pro Tag liefern. Ob<br />

ein Mensch jedoch jeden Monat davon leben kann<br />

und will, steht nicht zu Debatte. Die meisten<br />

Flüchtlinge sehen sich dazu gezwungen, die Hälfte<br />

des Weizens zu verkaufen, um sich zusätzlich, frische<br />

Lebensmittel, etwa Gemüse leisten zu können.<br />

Der Rest reicht den Empfänger-Innen gerade<br />

einmal 15-20 Tage.<br />

Fotos: Lea Tesfaye


Blick in die Töpfe<br />

im Flüchtlingslager Shimelba


38<br />

essen<br />

3 fornello, ein klei-<br />

ner Holzkohlenofen -<br />

im Flüchtlingslager<br />

meist aus WFP-<br />

Kanistern hergestellt<br />

4 Anhand des sog.<br />

„SPHERE Standard”<br />

misst die UNO den<br />

Standard der Wasserqualität<br />

und -<br />

quantität pro Person.<br />

Nach diesem<br />

Standard stehen<br />

jeder Person 20 l pro<br />

Tag zu. In Shimelba<br />

jedoch stehen den<br />

Bewohnern lediglich<br />

10-16 Liter Wasser<br />

zur Verfügung, in<br />

der Trockenzeit sind<br />

es lediglich 6-7 Liter.<br />

5 Barentu ist die<br />

Hauptstadt der<br />

Kunama, die etwa<br />

die Hälfte der<br />

Bewohner des<br />

Flüchtlingslagers<br />

ausmachen. Der<br />

Titel spielt auf die<br />

beiden ethnischen<br />

Gruppen an, die sich<br />

in dem Lager in<br />

unterschiedlichen<br />

Vierteln einquartiert<br />

haben.<br />

„Schlafen wie die Hunde es tun”<br />

Meheret, eine Mutter von zwei Kindern, erklärt,<br />

dass ihr die Ration für die ersten Tage relativ gut<br />

ausreicht. Ab der Monatsmitte beginnt sie, die<br />

Soßen, die zum ingera-Fladen gegessen werden,<br />

mit Wasser zu verdünnen und die Portionen zu<br />

verkleinern. Gegen Ende des Monats bleibt ihr<br />

nichts anderes übrig, als einzelne Mahlzeiten auszulassen<br />

und das Essen auf einmal pro Tag zu<br />

reduzieren. Andere Mütter berichten, dass sie sich<br />

in dieser Zeit lethargisch und müde fühlen und<br />

unfähig sind, zu arbeiten: „Das einzige, was uns<br />

bleibt, ist zu schlafen, wie die Hunde es tun.”<br />

Die kulinarischen Realitäten<br />

Eines Nachmittags besuchen wir Yonas, der gerade<br />

sein Mittagessen zubereitet. Wir sehen ihm zu, wie<br />

er mit großer Sorgfalt Zwiebeln und Tomaten<br />

schneidet und in einem Topf auf einem fornello 3<br />

verkocht. Anschließend vermengt er das Gemüse<br />

mit shiro-Pulver - einem aus Erbsen gewonnenen<br />

Pulver. Zu guter Letzt breitet er den gekauften<br />

ingera-Fladen auf einem großen Teller aus und<br />

schüttet die fertige Soße darüber. Wir sind<br />

erstaunt, dass er für sein Mittagessen - und auch<br />

für die anderen Mahlzeiten - außer etwas Öl nichts<br />

von seinen Rationen verwendet. Yonas schildert<br />

uns, dass es die meisten<br />

im Lager ähnlich halten.<br />

Sie verkaufen ihren Weizen<br />

an eine ingera-Bäckerin<br />

und kaufen später<br />

wieder den fertigen Fladen.<br />

Vergleicht man das<br />

Flüchtlingslager Shimelba<br />

mit anderen äthiopischen<br />

Flüchtlingslagern, so ist<br />

der Anteil unterernährter<br />

Menschen dort am höchsten.<br />

Das liegt hauptsächlich<br />

an den mangelhaften<br />

Essensrationen, aber auch<br />

der fehlenden Möglichkeit<br />

zu landwirtschaftlichem<br />

Anbau. Lediglich in der kurzen Regenzeit ist<br />

es möglich, kleine Mengen Tomaten, bamia (Okra-<br />

Schoten) und ein paar andere Gewächse anzubauen.<br />

Der Ertrag reicht allerdings noch nicht einmal<br />

für einen Monat aus.<br />

Shimelba ist ein trockener Ort, an dem die Regenzeiten<br />

sehr kurz ausfallen. In der Trockenzeit ist<br />

die Wasserversorgung ein Problem. Installierte<br />

Pumpen gewährleisten zwar im Durchschnitt eine<br />

Grundversorgung an Wasser, die allerdings in der<br />

Trockenzeit stark nachlässt und nicht zumutbar ist 4 .<br />

Die Wasserqualität verursacht Durchfall und<br />

Magenkrämpfe, vereinzelt sogar Fieber. Dies steigert<br />

die Vulnerabilität der Menschen erheblich.<br />

Auch Malariaerkrankungen sind im Lager an der<br />

Tagesordnung.<br />

Shimelba - Ort zwischen Barentu 5 und <strong>Asmara</strong><br />

Das Lager liegt in einem Tal, das von einem Plateau<br />

zu überschauen ist. Letzteres teilen sich<br />

UNHCR (United Nation High Commissioner for<br />

Refugees), WFP (World Food Programme), andere<br />

Hilfsorganisationen sowie die zuständige Regierungsbehörde<br />

und vermitteln eine aus dem raumsemantischen<br />

Setting ableitbare Hierarchie gegenüber<br />

den Flüchtlingen im Tal.<br />

Das Flüchtlingslager Shimelba kommt mit der<br />

Dämmerung zur Ruhe. Es ist in ein weites Tal<br />

gebettet, das sich inmitten von kargen Bäumen,<br />

vereinzelten Grasflecken und Felsen verliert. Eng<br />

aneinander liegende Hütten markieren das Camp<br />

und trennen es von der weiten Einöde.<br />

Das Flüchtlingslager hat<br />

kaum etwas mit der<br />

üblichen UNHCR-Zeltlandschaft<br />

gemein, es ist<br />

vielmehr eine kleine<br />

Stadt. Kleine Gassen ziehen<br />

sich durch die<br />

Ansammlungen von Hütten<br />

und Häusern und<br />

ordnen sie in kleine Viertel.<br />

Man meint zumindest<br />

zwei unterschiedliche<br />

ausmachen zu können.<br />

Während sich das eine<br />

durch seine Lichter, die<br />

Lehmhäuser und den<br />

Lärm der ohrenbetäuben-<br />

Blick vom Plateau auf das Lager<br />

den Musik auszeichnet,<br />

erkennt man in dem<br />

anderen Hütten mit Strohdächern und kleinen<br />

bewachsenen Hintergärten, grasendes Vieh und<br />

vereinzelt Kamele. Die unterschiedlichen Viertel<br />

spiegeln die unterschiedlichen Lebensweisen der<br />

Bewohner wider. Während das ruhigere Viertel<br />

ländlich geprägte Kunama beherbergt, hausen im


lauteren Teil eher tigrinya-sprachige städtische<br />

junge Erwachsene. Es scheint, als trenne eine imaginäre<br />

Linie die beiden Viertel, die vergessen lässt,<br />

dass beide der eritreischen Shaebia-Regierung 6 entflohen<br />

sind. Anders als die Tigrinya sind viele<br />

Kunama in Familienzusammenhängen<br />

nach<br />

Äthiopien gekommen,<br />

nachdem sie sich im Mai<br />

2000 gegen Ende des<br />

äthiopisch-eritreischen<br />

Grenzkrieges (1998-2000)<br />

zusammen mit dem<br />

äthiopischen Militär auf<br />

äthiopischen Boden<br />

zurückgezogen hatten.<br />

Die Repressalien und<br />

Landenteignung durch<br />

die Shaebia-Regierung<br />

entzogen ihnen jegliche<br />

Existenzgrundlage.<br />

Schließlich sahen sie sich<br />

im Kreuzfeuer von Regierung<br />

und militanter Anti-<br />

Shaebia-Opposition DMLEK, die auch jetzt im<br />

Flüchtlingslager unter der Hand für einen bewaffneten<br />

Kampf gegen das Regime Isayas wirbt.<br />

„Ich warte bis Isayas stirbt”<br />

Isayas Afewerki, der Präsident Eritreas und Kopf der<br />

eritreischen Führungsclique, ließ die Universität von<br />

<strong>Asmara</strong> 2003 schließen, um die Entstehung einer<br />

intellektuellen Elite zu verhindern. Nun werden die<br />

Schüler nach der elften Klasse nach Sawa geschickt,<br />

um dort ihre zwölfte Klasse zu absolvieren. Sawa ist<br />

allen ein geläufiger Ort. Nur einige wenige qualifizieren<br />

sich nach dem sechsmonatigen Dienst an der<br />

Waffe, der auch für Frauen verpflichtend ist, für die<br />

so genannten „technical colleges”, welche die Universität<br />

ersetzen sollen und einem strengen, staatlich<br />

überprüften Lehrplan folgen.<br />

„Ich war einer der wenigen herausragenden Schüler”,<br />

schildert Araia, ein Staatsanwalt. Er durfte nach<br />

dem Militärdienst die Universität besuchen, um<br />

schließlich in den Staatsdienst zu treten. Nach zweijähriger<br />

fast unbezahlter Arbeit verließ auch er<br />

Eritrea. Auf die Frage, warum er seinen Lohn nicht<br />

eingefordert habe, antwortet er mit einem Lächeln<br />

und etwas Selbstironie: „In Eritrea wagt es niemand,<br />

nachzufragen.”<br />

„Ich warte, bis Isayas stirbt, dann gehe ich sogar<br />

zu Fuß zurück nach Eritrea”, sagt uns eine Kunama-Mutter.<br />

Gleichzeitig schwärmt sie von besseren<br />

Zeiten und den vollen Erntespeichern in ihrer Heimat<br />

bei Tocombia, im Westen Eritreas.<br />

Hommage an <strong>Asmara</strong><br />

Cafés, Bars und Restaurants<br />

ziehen sich entlang<br />

der Gassen des städtischen<br />

Viertels im Flüchtlingslager<br />

Shimelba, welches<br />

auch „Little <strong>Asmara</strong>”<br />

genannt wird. Friseursalons<br />

für Frauen, Barber-<br />

Shops für Männer, Kinos,<br />

unscheinbare kleine Bordelle<br />

und auch Billardtische<br />

und Kicker zieren<br />

das Straßenbild. Es ist<br />

einiges von dem zu fin-<br />

Busfahrt in die Zukunft<br />

den, was die Lebensqualität<br />

<strong>Asmara</strong>s verspricht<br />

und die „migrierten” Bedürfnisse der Flüchtlinge<br />

befriedigen könnte. In Frühstückshäusern, den biet<br />

qursi, hängen unwirkliche Abbildungen von Essen,<br />

um die Phantasie der Gäste anzuregen. In den<br />

Restaurants und den Frühstückshäusern werden<br />

dieselben Gerichte wie in <strong>Asmara</strong> serviert. Von<br />

foul (dicken gekochten Bohnen) bis frittata (Rührei),<br />

von Kaffee bis Soda ist alles zu haben.<br />

„Everything you want is available” ist auch der<br />

Schriftzug des „Texas Cafés” , in dem liebevoll<br />

Stühle und Tische aus Lehm errichtet wurden, und<br />

der Schriftzug verrät, dass es hier, wie früher einmal<br />

in <strong>Asmara</strong>, an nichts mangelt. Wenn nur das<br />

Zahlungsmittel nicht fehlen würde.<br />

Die von Flüchtlingen selbst errichteten und betriebenen<br />

Cafés, Bars, Restaurants, Kinos, usw. sind<br />

erstaunlicherweise Orte, an denen es nie an Menschen<br />

mangelt. Hier trifft man sich mit Freunden,<br />

raucht eine Zigarette für ein Simuni (25 Cent), kaut<br />

zusammen khat 7 und lauscht den Liedern des<br />

populären äthiopischen Sängers Teddy Afro, die in<br />

Überlautstärke aus jedem Café „Little <strong>Asmara</strong>s” die<br />

Öde des Tages zu übertönen suchen. Allerdings<br />

sieht man die Gäste der Cafés nur ein Glas Leitungswasser<br />

trinken oder sich eine Portion foul teilen.<br />

Bei genauerer Betrachtung gibt es Risse im<br />

vermeintlich heilen Bild „Little <strong>Asmara</strong>s”, und es<br />

wird wieder deutlich, in welchem Setting wir uns<br />

befinden.<br />

6 shaebia ist der<br />

essen<br />

Ausdruck für die<br />

eritreische Regierung.<br />

Es ist arabisch<br />

und meint sinngemäß<br />

‚Volksfront’.<br />

7 khat, Strauch-<br />

pflanze, deren<br />

Blätter als leichtes<br />

Rauschmittel dienen.<br />

39


„Little <strong>Asmara</strong>”<br />

Everything you want is available


Fotos: Lea Tesfaye<br />

„Here I am only living physically”<br />

Alula ist Künstler und Musiker und hat seine eigene<br />

Perspektive von Lebensqualität. Er lebt bereits<br />

seit drei Jahren in Shimelba und war zur Zeit des<br />

eritreischen Befreiungskampfes EPLF-Kämpfer 7 .<br />

Nach dem Befreiungskrieg dauerte es Jahre, bis er<br />

seine Entlassung als Kämpfer durchsetzen konnte,<br />

wenn auch ohne Bezüge. Als kritischer Musiker<br />

eckte er schnell mit den Ideologen des jungen<br />

Staates an und verließ<br />

Eritrea schließlich aus<br />

Sorge um sein Leben. In<br />

Hommagen an die Frauen<br />

in <strong>Asmara</strong>, an die<br />

zahlreichen Boulevards<br />

und die Architektur hält<br />

er die Erinnerung an<br />

seine Heimat in Liedern<br />

aufrecht. Seine Gitarre ist<br />

alt und die Saiten scheinen<br />

bereits mehrfach<br />

gerissen zu sein. Mit<br />

einer tiefen, kräftigen<br />

Stimme singt er ein Lied,<br />

das er „Individual Freedom”<br />

nennt. Er singt von<br />

seiner Dankbarkeit, in<br />

einem fremden Land<br />

Unterschlupf zu erhalten, aber auch davon, dass es<br />

mehr zum Leben braucht. Es geht um die Erfüllung<br />

seiner Vision, irgendwann seiner künstlerischen<br />

Tätigkeit nachgehen zu können und sein aufgeschobenes<br />

Leben zu leben. Er hält das Flüchtlingslager<br />

Shimelba für ein Gefängnis - physisch wie<br />

geistig. „Here I am only living physically.”<br />

Improvisierte Hochzeit im<br />

scheinbar provisorischen Leben<br />

Unverhofft werden wir zu einer Hochzeit im<br />

Flüchtlingslager eingeladen. Das Brautpaar ist<br />

stolz, uns zeigen zu können, wie reich gedeckt ihr<br />

Buffet ist. Tatsächlich scheint es an fast nichts zu<br />

mangeln. Allerdings fallen die kleinen Portionen<br />

auf - selbst die runden ingera-Fladen sind in kleine<br />

Dreiecke geschnitten. Eine Buffetdame gewährleistet,<br />

dass jeder nur zwei Stücke bekommt. Selbst<br />

die Fanta ist keine Fanta, sondern ein Brausegemisch,<br />

welches, mit Leitungswasser vermengt,<br />

optisch täuschend echt aussieht. Eine Lager-Bäckerei<br />

hat einen kleinen Kuchen gebacken, der in<br />

winzigen Stücken an die vielen Gäste verteilt wird.<br />

Der Jeep des ansässigen UNHCR dient als Hoch-<br />

zeitswagen des Brautpaares. Bei der gut ausgestatteten<br />

Hochzeit verraten wieder nur Feinheiten zwischen<br />

all dem Prunk, in welchem Rahmen diese<br />

Feierlichkeiten stattfinden. Trotzdem, sagt uns<br />

einer der Gäste später, begrüße er es, dass Menschen<br />

hier nichtsdestotrotz heiraten. Derartige<br />

Ereignisse sind eine willkommene Abwechlsung<br />

zum eintönigen Alltag und nehmen dem Leben<br />

den provisorischen Charakter.<br />

Improvisierte Pracht<br />

In der Retrospektive<br />

Kurz vor unserer Abreise<br />

begegnen uns Haben und<br />

Adeam wieder. Haben<br />

drückt mir einen kleinen<br />

Zettel mit ihren E-Mailadressen<br />

und einer kleinen<br />

Liste in die Hand,<br />

verknüpft mit der Bitte,<br />

ihnen die dort aufgeführten<br />

Dinge zu schicken:<br />

„Nutella, Grüner Tee und<br />

Shampoo”. „Ich vertrage<br />

keinen Schwarzen Tee”,<br />

sagt Haben entschuldigend<br />

und will uns einige<br />

zerknitterte Geldscheine<br />

zuschieben.<br />

Wir machen uns auf den Weg nach Aksum zum<br />

Flughafen. Rückblickend fällt mir auf, dass die<br />

Bewohner des Camps es schaffen, trotz dieser<br />

restriktiven Lage Ideen von Lebensqualität einzubringen<br />

und zu verwirklichen. Sei es durch die<br />

zahlreichen Cafés, welche die Ästhetik ihrer Heimatstadt<br />

repräsentieren, durch das UNHCR-Auto<br />

für das Brautpaar, die Kinos, die nach namhaften<br />

Orten Eritreas benannt sind und die kleine, aber<br />

existierende Möglichkeit zu wählen, wie das Essen<br />

zubereitet wird. Das Leben in den Cafés und letztlich<br />

auch Dinge wie Nutella, Grüner Tee und<br />

Shampoo sind Beispiele für Lebensqualität, die<br />

sich die Flüchtlinge dort erhalten.<br />

Die Idee vom guten Leben und der Drang, diese<br />

Idee zu verwirklichen, scheinen das Leben erst mit<br />

Qualität auszustatten und machen das Warten und<br />

Verschwenden jener „goldnen Zeit”, wie Alula es<br />

nennt, ein wenig annehmbarer. Man schafft sich<br />

Räume von Heimat im Exil, indem man ein kleines<br />

Refugium inmitten eines großen mit ein bisschen<br />

Heimat füllt.<<br />

essen<br />

8 Die EPLF (Eritrean<br />

People’s Liberation<br />

Front) war eine<br />

nationale Befreiungsfront<br />

im Unabhängigkeitskrieg<br />

gegen Äthiopien.<br />

1994 hat sie sich formal<br />

aufgelöst und<br />

bildet heute in neuer<br />

Form die Einheitspartei<br />

Eritreas unter<br />

Isayas Afewerki.<br />

Lea Tesfaye<br />

studiert Ethnologie,<br />

Recht und Soziologie<br />

an der LMU<br />

41

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