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Predigtreihe über das Buch Tobit

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<strong>Predigtreihe</strong> <strong>über</strong> <strong>das</strong> <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong><br />

Sonntag, 16. Januar 2005<br />

<strong>Tobit</strong>s Werke der Barmherzigkeit, Dr. Stefan Seiler<br />

Sonntag, 23. Januar 2005<br />

Tobias und der Engel Raphael, PD Dr. Marcel Nieden<br />

Sonntag, 30. Januar 2005<br />

Sara und Tobias – eine gefährliche Liebe, Pfarrerin Susanne Munzert<br />

Sonntag, 06. Februar 2005<br />

Der Lobgesang des <strong>Tobit</strong>, Prof. Dr. Dieter Becker


<strong>Tobit</strong>s Werke der<br />

Barmherzigkeit<br />

Predigt <strong>über</strong> <strong>Tobit</strong> 1, 1–3, 6<br />

16.01.2005<br />

Liebe Gemeinde,<br />

als einen »ungehobenen Schatz« habe ich<br />

<strong>das</strong> <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> vorhin bezeichnet. Das gilt<br />

vor allem für uns evangelische Christen,<br />

denen diese Erzählung nur in besonderen<br />

Bibelausgaben zugänglich ist. Am bekanntesten<br />

sind vielleicht noch die bildlichen<br />

Darstellungen zu diesem <strong>Buch</strong>. Vor allem<br />

der Engel Raphael ist ein beliebtes Motiv.<br />

Einige dieser Darstellungen haben Sie ja<br />

auf unserm Einladungsplakat gesehen –<br />

etwa die wunderschöne Skulptur von Veit<br />

Stoß »Tobias und Raphael«, die sich in<br />

Nürnberg im Germanischen Museum befindet.<br />

Auch Rembrandt hat sich von der<br />

<strong>Tobit</strong>-Erzählung in besonderer Weise inspirieren<br />

lassen.<br />

Das <strong>Buch</strong> enthält zunächst einmal eine<br />

Familiengeschichte. Es erzählt von dem<br />

Juden <strong>Tobit</strong>, der zum Stamm Naftali gehört.<br />

Zusammen mit seiner Frau Anna und<br />

seinem Sohn Tobias war er nach dem Untergang<br />

des Nordreichs Israel im 8. Jahrhundert<br />

nach Assyrien verschleppt worden.<br />

Dort lebten sie in der Hauptstadt Ninive<br />

und versuchten, mitten in dieser fremden<br />

Umwelt an den Gesetzen und Riten ihres<br />

jüdischen Glaubens festzuhalten.<br />

Daran wird aber auch deutlich, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

<strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> doch noch mehr ist als eine<br />

Familiengeschichte. Man muss sich immer<br />

wieder vor Augen halten, <strong>das</strong>s die Men-<br />

schen, von denen hier erzählt wird, in der<br />

Diaspora, der Zerstreuung leben. Ohne diesen<br />

Hintergrund würde man die Geschichte<br />

gar nicht richtig verstehen. Es geht in ihr<br />

permanent um die Frage, wie man als Jude,<br />

als Jüdin seine Identität wahren kann. Man<br />

will sich nicht zu sehr an die heidnische<br />

Umwelt anpassen. – Dieser Blickwinkel<br />

führt freilich auch dazu, <strong>das</strong>s in diesem<br />

<strong>Buch</strong> die Solidarität mit dem eigenen Clan,<br />

dem eigenen Volk wichtiger ist als die mit<br />

den Fremden, unter denen man lebt. Und<br />

so enthält <strong>das</strong> <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> auch klare Momente<br />

der Abgrenzung, die man meiner<br />

Meinung nach durchaus kritisch beurteilen<br />

sollte. –<br />

1. <strong>Tobit</strong>s »Werke der Barmherzigkeit«<br />

1.1 Barmherzigkeit als praktizierte<br />

Solidarität<br />

Ich möchte mit einem »Programmwort«<br />

beginnen, <strong>das</strong> ganz am Anfang dieses <strong>Buch</strong>es<br />

steht und <strong>das</strong> uns die Lebenseinstellung<br />

und die Lebensweise <strong>Tobit</strong>s vielleicht<br />

am besten vor Augen führen kann. Da<br />

heißt es im ersten Kapitel.<br />

»Ich, <strong>Tobit</strong>, habe mich mein ganzes Leben lang an<br />

den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit gehalten,<br />

und ich habe den Brüdern aus meinem Stamm und<br />

meinem Volk, die mit mir zusammen in <strong>das</strong> Land<br />

der Assyrer nach Ninive gekommen waren, aus<br />

Barmherzigkeit viel geholfen« (Tob 1, 3).<br />

Diese Worte, die für unsere Ohren durchaus<br />

von einem gesunden Selbstbewusstsein<br />

zeugen, enthalten ein ganz entscheidendes<br />

Stichwort, <strong>das</strong> für den weiteren Verlauf der<br />

Geschichte bestimmend wird: Es ist der<br />

Begriff »Barmherzigkeit«. – »Barmherzigkeit«<br />

– <strong>das</strong> ist <strong>das</strong> Programm des Lebens<br />

<strong>Tobit</strong>s, darin besteht seine Frömmigkeit.<br />

Dieses Wort hat nun weniger mit Empfindungen<br />

und Gefühlen, als vielmehr mit<br />

1


praktizierter Solidarität, mit helfender Tat<br />

– auch mit Treue – zu tun. Worin diese<br />

praktizierte Solidarität besteht, <strong>das</strong> beschreibt<br />

<strong>Tobit</strong> in diesem ersten Kapitel mit<br />

Worten, die uns wenigstens zum Teil ans<br />

Neue Testament erinnern. Da heißt es:<br />

»Ich gab den Hungernden mein Brot und den Nack-<br />

ten meine Kleider; wenn ich sah, <strong>das</strong>s einer aus<br />

meinem Volk gestorben war und <strong>das</strong>s man seinen<br />

Leichnam hinter die Stadtmauer von Ninive gewor-<br />

fen hatte, begrub ich ihn« (Tob 1, 17).<br />

Die ersten beiden Taten lassen uns an die<br />

Werke der Barmherzigkeit denken, die wir<br />

aus der großen Weltgerichtsrede bei Matthäus<br />

kennen (Mt 25). Hinzu kommt ein<br />

weiteres Werk, <strong>das</strong> im Neuen Testament<br />

nicht genannt ist: nämlich die Bestattung<br />

der Toten (ich werde darauf noch zu sprechen<br />

kommen).<br />

Praktizierte Solidarität und Gemeinschaftssinn<br />

– dafür haben wir in den letzten Wochen<br />

eindrückliche Beispiele erlebt. Viele<br />

waren und sind weltweit nach der Flutkatastrophe<br />

bereit, im Rahmen ihrer Möglichkeiten<br />

zu helfen: angefangen bei Spenden<br />

und Patenschaften bis hin zu freiwilligen<br />

Einsätzen, die Angehörige der verschiedenen<br />

Hilfsorganisationen durchgeführt<br />

haben. Das hat, so hieß es in einem<br />

Leitartikel der Süddeutschen Zeitung, offenbart,<br />

»<strong>das</strong>s die Menschheit mehr sein<br />

kann als die Summe von sechseinhalb Milliarden<br />

Einzelkämpfern«. 1 Freilich wird<br />

sich diese Solidarität vor allem dann bewähren<br />

müssen, wenn die schrecklichen<br />

Bilder und Nachrichten aus den Medien<br />

verschwunden sind und es darum gehen<br />

wird, den langwierigen – und sicher ganz<br />

unspektakulären – Wiederaufbau in diesen<br />

Ländern zu unterstützen. Dabei dürfen<br />

auch die Regionen nicht aus dem Blick geraten,<br />

denen zur Zeit weniger Aufmerksamkeit<br />

geschenkt wird. Ich zitiere noch<br />

1 SZ vom 04.01.2005, S. 4.<br />

einmal aus dem erwähnten Artikel: »Es ist<br />

verständlich, wenn die Welt nun auf die<br />

Opfer in Asien blickt; doch die große Intensivstation<br />

liegt südlich der Sahara.«<br />

1.2 Die Bestattung der Toten<br />

Ich habe schon auf ein Werk der Barmherzigkeit<br />

hingewiesen, <strong>das</strong> im <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> eine<br />

besondere Rolle spielt. Es geht um die<br />

Bestattung der Toten. Ein würdiges Begräbnis<br />

war im Alten Israel – wie auch bei<br />

andern Völkern – sehr wichtig. Nicht bestattet<br />

zu werden galt als Zeichen der<br />

Schmach und der Ehrlosigkeit. Dahinter<br />

steht die Überzeugung, <strong>das</strong>s die Würde des<br />

Menschen nicht mit dem Tod endet; auch<br />

dem Verstorbenen muss Respekt gezollt<br />

werden. Im Talmud heißt es: Wer einem<br />

Leichenzug begegnet und ihn nicht wenigstens<br />

ein Stück weit begleitet, verhält<br />

sich so, als ob er den Schöpfer selbst lästert.<br />

2<br />

Ich habe mich gefragt: Wie gehen wir heute<br />

mit den Toten – und mit dem Tod – um?<br />

Das sagt ja manchmal auch einiges dar<strong>über</strong><br />

aus, wie wichtig uns <strong>das</strong> Leben und die<br />

Lebenden sind. – Im ganzen Bundesgebiet<br />

hat in den letzten Jahren die sog. »anonyme<br />

Bestattung«, die »no-name-Bestattung«<br />

zugenommen. Dabei werden Menschen in<br />

Gemeinschaftsanlagen – ohne individuelles<br />

Grabzeichen – beigesetzt. Z.T. werden die<br />

Urnen ohne Trauerfeier – manchmal auch<br />

ohne Beisein der Angehörigen – bestattet.<br />

Die Beerdigung wird dann zum rein verwaltungstechnischen<br />

Akt.<br />

Gewiss: Die meisten haben es zu ihren<br />

Lebzeiten selber so bestimmt – und sie hatten<br />

sicher ihre Gründe dafür. Und doch<br />

frage ich mich, ob es nicht die Selbstachtung<br />

und die eigene Wertschätzung gebieten,<br />

eben nicht namenlos und spurlos von<br />

2 bBerakhot 18a.<br />

2


dieser Erde zu verschwinden. Das Gedenken<br />

an einen Toten ist auch ein Bekenntnis<br />

zu seiner Einmaligkeit und seinem Wert,<br />

den ihm Gott zugesprochen hat.<br />

Vielleicht kann uns <strong>das</strong> <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> anregen,<br />

auch einmal <strong>über</strong> diese Themen nachzudenken,<br />

die wir gerne aus unserm Leben<br />

ausblenden: Wir gehen wir mit dem Tod,<br />

wie gehen wir mit den Toten um?<br />

2. Leiderfahrungen<br />

<strong>Tobit</strong>s Frömmigkeit und Barmherzigkeit<br />

bekommen sehr schnell einen tragischen<br />

Zug. Es beginnt damit, <strong>das</strong>s er diejenigen<br />

begräbt, die der assyrische König Sanherib<br />

hatte hinrichten lassen. Daraufhin erstattet<br />

ein Einwohner von Ninive Anzeige gegen<br />

<strong>Tobit</strong>. Er muss fliehen, kann allerdings<br />

nach einiger Zeit wieder zurückkehren,<br />

nachdem Sanherib ums Leben gekommen<br />

ist. Außerdem hat sein Neffe inzwischen<br />

eine hohe Stellung am Hof erlangt und ein<br />

gutes Wort für ihn eingelegt.<br />

Aber schon wartet der nächste Schicksalsschlag<br />

auf <strong>Tobit</strong>. Sein Sohn Tobias berichtet<br />

ihm eines Tages, <strong>das</strong>s auf dem Marktplatz<br />

ein Jude liegt, den man erdrosselt hat.<br />

<strong>Tobit</strong> zögert keinen Augenblick. Er holt<br />

den Verstorbenen und begräbt ihn. Die<br />

Nachbarn, die <strong>das</strong> Geschehen beobachtet<br />

haben, kommentieren <strong>das</strong> mit höhnischen<br />

Worten: »Erst vor kurzem hat er fliehen<br />

müssen, und jetzt begräbt er wieder einen<br />

Toten. Er hat wohl gar keine Angst mehr<br />

vor der Hinrichtung!«<br />

Und dann passiert <strong>das</strong> Tragische: <strong>Tobit</strong><br />

muss außerhalb des Hauses bleiben, weil er<br />

durch die Berührung mit dem Toten unrein<br />

geworden ist. Und so legt er sich an der<br />

Hofmauer zum Schlafen hin. Da geschieht<br />

<strong>das</strong> Unglück: Sperlinge, die in der Mauer<br />

nisten, lassen ihren Kot in seine offenen<br />

Augen fallen. Es bilden sich weiße Fle-<br />

cken. <strong>Tobit</strong> erblindet. In der Folgezeit<br />

sucht er verschiedene Ärzte auf, die ihm<br />

aber nicht helfen können. Und so trifft ihn<br />

ein noch schlimmeres Unglück als zuvor,<br />

weil zunächst keine Heilung in Aussicht<br />

steht.<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich eine<br />

kleine Szene erwähnen, die zeigt, wie <strong>das</strong><br />

fortgesetzte Unglück diesen Menschen<br />

verändert hat und die m.E. psychologisch<br />

sehr einfühlsam beschrieben ist. <strong>Tobit</strong>s<br />

Frau Anna sorgt inzwischen für die Familie<br />

und fertigt Webarbeiten an. Eines Tages<br />

bekommt sie eine »Sonderzulage« zu ihrem<br />

Lohn – so würden wir es heute ausdrücken.<br />

Es ist ein Ziegenböckchen, <strong>das</strong><br />

man ihr mitgegeben hat. Doch <strong>Tobit</strong> freut<br />

sich gar nicht dar<strong>über</strong>, sondern verdächtigt<br />

seine Frau sofort, sie habe es gestohlen.<br />

Trotz ihrer Beteuerungen lässt er sich nicht<br />

von seinem Argwohn abbringen. Er ist<br />

nervös, gereizt, bekommt die Züge eines<br />

Cholerikers, würden wir vielleicht sagen.<br />

Eugen Drewermann hat eine tiefenpsychologische<br />

Interpretation zum <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong><br />

verfasst. Darin geht er auf diese bemerkenswerte<br />

Szene ein und schreibt:<br />

»In den mißtrauischen und ungerechten Vorwürfen<br />

gegen seine Frau zeigt sich, … wohin es mit ihm<br />

selbst gekommen ist. Er wollte sein Leben lang nur<br />

Gott dienen; und jetzt ist er ein mißtrauischer Nör-<br />

gelkopf und Misanthrop geworden.« 3<br />

Wenn man in einer so schweren Notlage<br />

auch noch die Menschen angreift, die einem<br />

nahe stehen und helfen wollen, dann<br />

macht <strong>das</strong> auf besonders tragische Weise<br />

die Ausweglosigkeit der Lage deutlich.<br />

Besonders tragisch ist es, <strong>das</strong>s all dieses<br />

Leid gerade durch <strong>Tobit</strong>s barmherziges<br />

3 Eugen Drewermann, Der gefahrvolle Weg der<br />

Erlösung: Die <strong>Tobit</strong>-Legende tiefenpsychologisch<br />

gedeutet. Freiburg 1993, 29.<br />

3


und frommes Verhalten entstanden ist. Er<br />

wäre nicht verfolgt worden, hätte er den<br />

Angehörigen seines Volkes nicht den letzten<br />

Liebesdienst der Beerdigung erwiesen.<br />

Und gerade weil er sich nach Gottes Gebot<br />

richten und in seiner Unreinheit nicht <strong>das</strong><br />

Haus betreten wollte, fiel er jenem<br />

schrecklichen Unglück zum Opfer, <strong>das</strong> ihn<br />

erblinden ließ. – Der Helfer war nun selbst<br />

auf Hilfe angewiesen.<br />

Auch <strong>das</strong> haben manche in den letzten Tagen<br />

und Wochen im Zusammenhang mit<br />

der Flutkatastrophe erlebt. Da sind Hilfsmannschaften<br />

in die Krisenregion geflogen<br />

und haben mit großem Engagement professionelle<br />

Hilfe geleistet. Aber bei manchen<br />

Helfern und Helferinnen haben sich diese<br />

schrecklichen Bilder des Leids und des<br />

Todes tief eingegraben; sie sind selbst<br />

traumatisiert worden. Und nun müssen sie<br />

mit Hilfe von Psychologen und Seelsorgern<br />

versuchen, diese schlimmen Nachwirkungen<br />

ihres Einsatzes aufzuarbeiten.<br />

»Beben der Seele« – so war gestern in unserer<br />

Zeitung ein Artikel <strong>über</strong> diese<br />

schrecklichen Traumatisierungen <strong>über</strong>schrieben.<br />

–<br />

Helfer und Helferinnen, denen nun selbst<br />

geholfen werden muss! – Man möchte am<br />

liebsten zornig werden <strong>über</strong> soviel<br />

Ungerechtigkeit und Tragik!<br />

3. Ein von Gottes Barmherzigkeit<br />

umschlossenes Leben<br />

Das <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> bleibt nicht bei diesen<br />

Leiderfahrungen stehen. Es macht ja gerade<br />

die Besonderheit dieser Erzählung aus,<br />

<strong>das</strong>s am Ende doch immer die Rettung erfolgt<br />

– und zwar, wie wir in den nächsten<br />

Predigten hören werden, auf eine geradezu<br />

märchenhafte Weise. Auch <strong>Tobit</strong> wird<br />

letztendlich – nach acht Jahren – von seiner<br />

Blindheit geheilt. Das geschieht auf eine<br />

ganz sonderbare Weise. Sein Sohn To-<br />

bias streicht ihm etwas von der Galle eines<br />

Fisches auf die Augen: die weißen Flecken<br />

lösen sich, und er kann wieder sehen.<br />

Was soll man davon halten? Ist <strong>das</strong> ein<br />

phantasievolles »happy end«? Entpuppt<br />

sich diese Lehrerzählung hier vollends als<br />

Märchen? – Ich möchte dieses Wunder,<br />

<strong>das</strong> <strong>Tobit</strong> erlebt, als einen Hinweis, als einen<br />

Wink verstehen. Für mich besagt er:<br />

Das Leiden des Gerechten wird nicht <strong>das</strong><br />

letzte Wort behalten. Die Gerechtigkeit<br />

Gottes wird sich durchsetzen und gegen alle<br />

Widerstände zum Ziel kommen.<br />

Wann und auf welche Weise <strong>das</strong> geschieht,<br />

<strong>das</strong> können wir Gott nicht vorschreiben.<br />

Aber es muss keineswegs so sein, <strong>das</strong>s dies<br />

erst in einer fernen Zukunft zu erwarten ist.<br />

– Das ist für mich auch eine Botschaft des<br />

<strong>Tobit</strong>-<strong>Buch</strong>es – eine Botschaft, die vielleicht<br />

manches gegenwärtige Leid leichter<br />

ertragen hilft und Hoffnung und Kraft für<br />

die Zukunft gibt. –<br />

Es ist ja <strong>über</strong>haupt eine Denkbewegung der<br />

Weisheit, die man auch in manchen Psalmen<br />

wieder finden kann: Maßgeblich sind<br />

nicht die momentanen Widerstände und<br />

Notlagen. Entscheidend ist, was am Ende<br />

steht. Exemplarisch hierfür möchte ich einen<br />

Vers aus dem 37. Psalm anführen:<br />

»Achte auf den Rechtschaffenen und sieh<br />

auf den Redlichen, denn die Zukunft für<br />

einen solchen ist ›Schalom‹ – Wohlergehen,<br />

Glück, Gelingen.« – oder wie Luther<br />

<strong>über</strong>setzt hat: »denn einem solchen wird es<br />

zuletzt (!) gut gehen«.<br />

Was <strong>das</strong> <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> prägt – wir werden sicher<br />

noch ausführlicher davon hören – ist<br />

<strong>das</strong> Motiv des Weges: nicht nur als konkrete<br />

Wegstrecke, sondern auch als »Lebensweg«<br />

und »Lebenswandel«. Dass dieser<br />

Lebensweg sehr verschlungen, steil und<br />

voller Hindernisse sein kann, manchmal<br />

sogar als Sackgasse erscheint, <strong>das</strong> hat <strong>Tobit</strong><br />

erfahren müssen. Er hat aber auch er-<br />

4


lebt, <strong>das</strong>s er diesen Weg nicht allein zurücklegen<br />

musste und <strong>das</strong>s an dessen Ende<br />

– sicher auch schon an etlichen »Zwischen-Stationen«<br />

– Gottes Barmherzigkeit<br />

aufleuchtete. Mir macht diese Geschichte<br />

Mut für meine eigenen Wege. Weil meine<br />

und unsere Wege – so wie die <strong>Tobit</strong>s –<br />

letztlich von der Barmherzigkeit Gottes<br />

umschlossen sind, kann uns diese Erzählung<br />

vielleicht auch Mut machen, selbst die<br />

»Werke der Barmherzigkeit« zu wagen –<br />

so wie es <strong>Tobit</strong> getan hat –, auch wenn sie<br />

sich scheinbar nicht »aus-zahlen«. Amen.<br />

Stefan Seiler<br />

5


Tobias und der Engel<br />

(Rembrandt)<br />

6


Den Engel<br />

im Menschen<br />

sehen<br />

Predigt <strong>über</strong> <strong>Tobit</strong> 5 und 6<br />

23.01.2005<br />

Liebe Gemeinde!<br />

Sabrina hat ihn gesehen. Endlich. Eines<br />

Tages stand er vor ihr mit verschränkten<br />

Armen. Eine Riesenerscheinung. Groß wie<br />

ein zehnstöckiges Hochhaus. Durchgestylter,<br />

muskulöser Körper. Bekleidet mit arabischen<br />

Schlabberhosen, oben nur eine<br />

kurze Weste. »Ich bin Iwan«, rief er ihr zu.<br />

Sabrina schaute nach oben. Er war gigantisch.<br />

Sie musste sofort an Iwan den<br />

Schrecklichen denken. »Du sollst ein Engel<br />

sein?« dachte sie sich. Iwan schaute zu<br />

ihr hinunter, wie ein zehnjähriges Kind auf<br />

ein winziges Insekt: »You’ll bet I am« –<br />

»Darauf kannst du deinen Kopf verwetten.«<br />

Der Anfang einer wunderbaren<br />

Freundschaft!<br />

Sabrina Fox, amerikanische Fernsehmoderatorin,<br />

weiß genau, wie ihr Schutzengel<br />

aussieht. In ihrem <strong>Buch</strong> »Wie Engel uns<br />

lieben. Wahre Begebenheiten mit Schutzengeln«<br />

hat sie ihre erste Begegnung mit<br />

Iwan beschrieben. 4 Und es sollte beileibe<br />

nicht die einzige Begegnung bleiben …<br />

Solche und ähnliche Visionsbeschreibungen<br />

finden sich zuhauf in der explosionsartig<br />

angewachsenen esoterischen und halb-<br />

4 Sabrina Fox, Wie Engel uns lieben. Wahre Begebenheiten<br />

mit Schutzengeln, München 1997,<br />

S. 29f.<br />

esoterischen Engelliteratur. Schien <strong>das</strong><br />

himmlische Gefieder durch Aufklärung<br />

und Nach-Aufklärung schon endgültig begraben,<br />

so sind nun im Rahmen eines vielerorts<br />

greifbaren Trends zur »Resakralisierung«<br />

die Engel, vor allem die Schutzengel,<br />

triumphal zurückgekehrt. Die Engel<br />

sind wieder da. Angels are back again. Es<br />

scheint, als sei <strong>das</strong> neue Zeitalter (New<br />

Age) ganz wesentlich ein Zeitalter der Engel.<br />

Es wimmelt von Literatur <strong>über</strong> Engel,<br />

von CDs mit Engelsmusik, von Tagungsstätten<br />

mit Engelseminaren. Hier werden<br />

nicht nur einschlägige Erlebnisse ausgetauscht.<br />

Hier werden auch Anweisungen<br />

gegeben, wie man räuchernd-meditierend<br />

seinem Engel begegnen kann.<br />

Ich frage mich: Was wird da eigentlich gesucht?<br />

Was fasziniert heute selbst in areligiösen<br />

Kreisen wieder so an den althergebrachten<br />

Engelvorstellungen? Sabrina Fox<br />

scheint die Richtung anzudeuten, in der wir<br />

die Motivation zu suchen haben. Sie fragt:<br />

»Können wir je wieder einsam sein, wenn<br />

wir unseren Schutzengel gefunden haben?«<br />

5 Und ich meine, genau darum geht<br />

es: Im Glauben an den persönlichen<br />

Schutzengel erfahren Menschen eine Art<br />

von Nähe und Geborgenheit, die wir Menschen<br />

untereinander offenbar nur noch selten<br />

vermitteln können. Ein Gefühl von Nähe<br />

und Geborgenheit, <strong>das</strong> selbst der Glaube<br />

an einen allgemeinen und für alle zuständigen<br />

Gott nicht mehr so recht aufkommen<br />

lassen will. Lassen mich auch die Menschen<br />

im Stich. Mein Engel bleibt bei mir.<br />

In christlichen Kreisen waren die Engel<br />

freilich nie völlig ausgestorben. Fielen hier<br />

die Vorstellungen von der Erscheinung der<br />

Engel meist etwas nüchterner aus als in der<br />

gegenwärtigen Esoterik-Literatur, so waren<br />

doch die Erwartungen an <strong>das</strong> Wirken der<br />

Engel kaum geringer. Noch zu Großelternzeiten<br />

hing in fast jedem Kinderzimmer ein<br />

5 Ebd., Text auf der <strong>Buch</strong>rückseite.<br />

7


schaurig-schöner Druck. Er stellte einen<br />

Schutzengel mit großen Flügeln sozusagen<br />

bei der Arbeit dar: Wie er ein nichts ahnendes<br />

Geschwisterpaar behutsam <strong>über</strong> einen<br />

gefährlichen Brückensteg bugsierte.<br />

Dergleichen Druckwerke sind heute verschwunden.<br />

Aber die Bilder vom Schutzengel<br />

in den Köpfen sind geblieben. Die<br />

Engel sind die heimlichen metaphysischen<br />

Schutzgeister, die im Hintergrund unseres<br />

Lebens viel zu tun haben: dieses defekte<br />

Stromkabel von uns fernhalten, diesen Balken<br />

neben uns niederkrachen lassen, diesen<br />

Airbag noch rechtzeitig öffnen und so<br />

weiter und so fort. Wem <strong>das</strong> Wort vom<br />

»Dusel« zu profan klingt, dem entfährt es<br />

gelegentlich: »Da habe ich aber einen<br />

Schutzengel gehabt …«<br />

Auch Tobias hat einen Schutzengel gehabt.<br />

Freilich einen speziellen, der sich nicht<br />

leicht mit unseren geläufigen Vorstellungen<br />

zusammenfügt. Wie wir schon letzten<br />

Sonntag hörten, lebte der greise Vater des<br />

Tobias, <strong>Tobit</strong>, im assyrischen Ninive als<br />

frommer, gesetzestreuer Jude – fernab der<br />

Heimat. Eine hiobsähnliche Gestalt. Trotz<br />

eines Verbots des assyrischen Königs bestattete<br />

er immer wieder die verstorbenen,<br />

ermordeten Juden. Und wurde für all seine<br />

Mühe auch noch mit Blindheit und Armut<br />

geschlagen.<br />

In dieser ganz und gar trüben Situation entsinnt<br />

er sich eines Verwandten im fernen<br />

Ekbatana, dem er einst Geld geliehen hatte.<br />

Jetzt können <strong>Tobit</strong> und seine Frau <strong>das</strong> Geld<br />

gut gebrauchen. Also wird der junge Sohn<br />

Tobias auf die weite Reise geschickt, <strong>das</strong><br />

Geld zu holen – eine gefährliche Reise,<br />

lauern doch an jedem Wegesrand beutegierige<br />

Räuber. Bevor sich Tobias aufmacht,<br />

gesellt sich ein sympathischer, fremder<br />

Jüngling zu ihm, der sich ihm als Reisebegleiter<br />

anbietet. Er gibt sich aus als Asarja,<br />

ein Sohn des großen Hananja aus dem<br />

Stamm Naftali. Der Vater ist zufrieden, einen<br />

Begleiter aus gutem jüdischen Hause<br />

für seinen Sohn gefunden zu haben. Was<br />

beide nicht wissen: der Reisebegleiter ist<br />

ein Engel, und zwar kein Geringerer als<br />

der Erzengel Raphael höchstselbst.<br />

Im fünften Kapitel des <strong>Tobit</strong>-<strong>Buch</strong>es heißt<br />

es (Vers 17):<br />

»Darauf sagte <strong>Tobit</strong> zu Tobias: Mach dich fertig zur<br />

Reise! Ich wünsche euch alles Gute auf den Weg.<br />

Als der Sohn alles für die Reise vorbereitet hatte,<br />

sagte sein Vater zu ihm: Mach dich mit dem Mann<br />

auf den Weg! Gott, der im Himmel wohnt, wird<br />

euch auf eurer Reise behüten; sein Engel möge<br />

euch begleiten. Da brachen die beiden auf, und der<br />

Hund des jungen Tobias lief mit.«<br />

Der Vater ahnt gar nicht, wie direkt und<br />

unmittelbar sein Wunsch nach himmlischer<br />

Begleitung erfüllt werden sollte.<br />

So machen sich also die beiden zu Fuß auf<br />

die Reise: der junge Tobias und sein Begleiter<br />

Asarja – und nicht zu vergessen: <strong>das</strong><br />

Hündchen. Unterwegs mit einem Engel.<br />

Tobias in Zwiesprache mit seinem unerkannten<br />

himmlischen Begleiter – ein Idyll.<br />

Aber <strong>das</strong> erste Abenteuer sollte nicht lange<br />

auf sich warten lassen.<br />

Das <strong>Tobit</strong>-<strong>Buch</strong> erzählt im sechsten Kapitel<br />

(Verse 1–9):<br />

»Die beiden kamen auf ihrer Reise abends an den<br />

Tigris, wo sie <strong>über</strong>nachteten. Als der junge Tobias<br />

im Fluss baden wollte, schoss ein Fisch aus dem<br />

Wasser hoch und wollte ihn verschlingen. Der En-<br />

gel rief Tobias zu: Pack ihn! Da packte der junge<br />

Mann zu und warf den Fisch ans Ufer. Und der En-<br />

gel sagte zu Tobias: Schneide den Fisch auf, nimm<br />

Herz, Leber und Galle heraus und bewahre sie gut<br />

auf! Der junge Tobias tat, was ihm der Engel sagte.<br />

Dann brieten sie den Fisch und aßen ihn. Als sie<br />

weiterreisten und in die Gegend von Ekbatana ka-<br />

men, fragte der junge Tobias den Engel: Asarja,<br />

lieber Bruder, wozu sollen die Leber, <strong>das</strong> Herz und<br />

die Galle des Fisches gut sein? Raphael antwortete:<br />

Wenn ein Mann oder eine Frau von einem Dämon<br />

8


oder einem bösen Geist gequält wird, soll man <strong>das</strong><br />

Herz und die Leber des Fisches in Gegenwart die-<br />

ses Menschen verbrennen; dann wird er von der<br />

Plage befreit. Und wenn jemand weiße Flecken in<br />

den Augen hat, soll man die Augen mit der Galle<br />

bestreichen; so wird er geheilt.«<br />

Wie sich schon bald herausstellt, sind diese<br />

nicht nur für unser heutiges Empfindung<br />

eher ekligen Fischeingeweide dem Tobias<br />

äußerst nützlich. In Ekbatana angekommen,<br />

vermag er nämlich mit Hilfe von<br />

Fischherz und -leber seine ihm dort anvertraute<br />

Frau von einem mordgierigen Dämon<br />

zu befreien, indem er ihn kurzerhand<br />

in die ägyptische Wüste schickt. Und als<br />

Tobias mit seiner Frau und Asarja nach der<br />

langen Reise endlich wieder in Ninive ankommen,<br />

gelingt es ihm auch noch, mit der<br />

Fischgalle seinen Vater von der Blindheit<br />

zu heilen. Nun ist die Mission des heimlich-himmlischen<br />

Begleiters Asarja zu Ende,<br />

er nimmt Abschied – und offenbart<br />

jetzt den Staunenden, <strong>das</strong>s er der Engel<br />

Raphael sei. Dann ist er auch schon verschwunden.<br />

Die Zurückbleibenden aber<br />

dankten und beteten auf den Knien liegend<br />

drei Stunden lang, was jeder verstehen<br />

wird.<br />

Zugegeben, die ganze Geschichte machte<br />

auf mich zunächst den Eindruck einer allzu<br />

phantastischen Zauberstory. Und irgendwie<br />

kann ich auch verstehen, <strong>das</strong>s Luther<br />

<strong>das</strong> <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> zu den »Apokryphen«<br />

zählte und nicht einfach mit den Psalmen<br />

und Propheten auf eine Stufe stellen wollte.<br />

Aber was hier jüdischer Glaube vom<br />

Schutzengel erzählt, erscheint mir doch<br />

bedenkenswert. So unspektakulär der Engel<br />

Raphael den Tobias begleitet – als<br />

Bruder Asarja –, so unspektakulär ist auch<br />

seine Hilfe. Unspektakulär, aber keineswegs<br />

unwirksam. Das zeigt gerade die so<br />

entscheidende Szene mit dem Monsterfisch.<br />

6<br />

Die ganze Szene, so bizarr sie auch anmutet,<br />

ist als Gleichnis gelesen uns im Grunde<br />

relativ leicht zugänglich. Das Leben verläuft<br />

in seinen gewohnten, ruhigen Bahnen,<br />

still wie die trägen Fluten des Tigris. Und<br />

mit einem Mal und wie aus dem Nichts<br />

reißt sich aus ihnen der gähnende Schlund<br />

einer Krankheit, eines Unfalls, einer Depression,<br />

einer Trennung auf und droht uns<br />

zu verschlingen. Mit einem Mal scheint alles<br />

auf dem Spiel zu stehen, was wir bisher<br />

aufgebaut haben.<br />

Tobias sieht sich der Fratze des Monsterfischs<br />

wie hilflos ausgeliefert. Ein Abgrund<br />

tut sich auf, den er so noch nicht gekannt<br />

hat, ein Rachen, der ihn förmlich anspringt.<br />

Jetzt kommt alles darauf an, wie er<br />

sich verhält.<br />

Allein auf sich gestellt, würde Tobias wohl<br />

versteinern vor lauter Angst und wie angewurzelt<br />

stehen bleiben. Er würde dann<br />

mit Sicherheit eine leichte Beute der durch<br />

den Fisch symbolisierten Krise werden.<br />

Oder: Allein auf sich gestellt, würde Tobias<br />

wohl nach hinten, ans Ufer fliehen und<br />

der Krise ausweichen; dann aber käme er<br />

nie an <strong>das</strong> Ziel seines Weges. Er würde<br />

zwar unbeschadet weiterziehen, aber, so<br />

die <strong>Tobit</strong>-Geschichte, etwas Entscheidendes<br />

würde ihm fehlen: die Eingeweide des<br />

Fisches – und damit die Heilmittel, um<br />

seine künftige Frau von dem Dämon zu befreien<br />

und den Vater von der Blindheit.<br />

Es gibt daher nur einen Weg – aber gerade<br />

den kann sich Tobias nicht selbst verordnen;<br />

retten kann er sich allein, indem er die<br />

ihn anspringende Gefahr selber »in die<br />

6 Vgl. zum folgenden Abschnitt die – allerdings<br />

anders akzentuierte – Interpretation von Eugen<br />

Drewermann in ders., Der gefahrvolle Weg der<br />

Erlösung. Die <strong>Tobit</strong>-Legende tiefenpsychologisch<br />

gedeutet (Herder Spektrum 4165), Freiburg-Basel-Wien<br />

1993, S. 50–54.<br />

9


Hand« zu nehmen und anzupacken wagt.<br />

Aber gerade <strong>das</strong> vermag er offenbar nur,<br />

weil jemand da ist, dem er bedingungslos<br />

vertrauen kann und weil dieser jemand ihn<br />

auffordert: »Pack ihn!« Nicht in sich<br />

selbst, kraft eines eigenen Willensentschlusses,<br />

findet er die Kraft, diese Herausforderung<br />

zu bestehen; vielmehr allein im<br />

Vertrauen auf seinen Begleiter, der sich im<br />

nachhinein als Bote Gottes zeigen wird,<br />

gewinnt er die Kraft, sich dieser Lebensaufgabe<br />

zu stellen. Durch die Aufforderung<br />

»Du packst es!« wird seine Angst verscheucht<br />

und er vermag <strong>das</strong> kurz zuvor<br />

noch Undenkbare zu tun: den Fisch an den<br />

Kiemen zu fassen und herauszuziehen. Es<br />

ist nicht Mut, sondern Vertrauen, was Tobias<br />

letztlich rettet.<br />

So unspektakulär die ganze Erscheinung<br />

Raphaels ist, so unspektakulär ist auch sein<br />

Wirken. Raphael hat den Tobias als Bruder<br />

Asarja auf seinem Weg begleitet. Hat mit<br />

ihm gesprochen von Mensch zu Mensch.<br />

Und er hilft ihm jetzt wie ein guter Freund.<br />

Raphael ist kein Schutzengel, der den Tobias<br />

vor allen Angriffen aus dem Untergrund<br />

des Lebens abschirmt. Er ist keine<br />

metaphysische Firewall. Er hindert den<br />

jungen Tobias nicht daran, in die trügerisch<br />

trägen Fluten des Tigris zu steigen, um<br />

sich die Füße zu waschen. Die Erfahrung,<br />

die Tobias dort machen wird, will er ihm<br />

nicht abnehmen. Denn sie wird ihn in seiner<br />

lebensmäßigen Entwicklung weiter voranbringen.<br />

Würde er diese Gefahr verhindern,<br />

wäre Tobias um eine entscheidende<br />

Erfahrung ärmer und besäße vor allem die<br />

Medizin nicht, seine künftige Frau und den<br />

Vater zu heilen. Indem er ihm zuruft »Pack<br />

ihn!«, traut er ihm dagegen zu, selber den<br />

Fisch <strong>über</strong>wältigen zu können. So macht<br />

Raphael den Tobias stark.<br />

Vielleicht müssen wir uns, wenn wir in unserem<br />

eigenen Leben nach Begegnungen<br />

mit Schutzengeln suchen, am ehesten fragen:<br />

Wann und wo haben mich Menschen<br />

in Krisen ermutigt? Wann und wo habe ich<br />

es erlebt, <strong>das</strong>s Menschen an mich geglaubt<br />

haben und mir aufmunternd »Du schaffst<br />

es!« zugerufen haben? Wann und wo habe<br />

ich es erlebt, <strong>das</strong>s mich Menschen stark<br />

gemacht haben, so <strong>das</strong>s ich mich einer Krise<br />

stellen konnte – und nicht einfach vor<br />

ihr weggelaufen oder ihr wie gelähmt gegen<strong>über</strong>gestanden<br />

bin? – Als ich durch einen<br />

andern bestärkt wurde, eine Prüfung<br />

oder auch eine Krankheit »anzupacken« –<br />

bin ich nicht da einem Engel begegnet?<br />

Mag sein, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> manchem von Ihnen zu<br />

protestantisch-nüchtern klingt: »den Engel<br />

im Menschen sehen«. Zu anthropologisch<br />

gewendet. Vielleicht würden Sie den Engel<br />

zuerst und zunächst woanders suchen als<br />

im Mitmenschen. Das <strong>Tobit</strong>-<strong>Buch</strong> beansprucht<br />

nicht, eine systematische Engellehre<br />

zu entwickeln. Worauf es verweist, ist<br />

vielmehr eine Erfahrung: Nämlich, <strong>das</strong>s<br />

wir <strong>das</strong> Heilige hier auf Erden nur im<br />

Zwielicht sehen. Gott und sein Engel<br />

kommen uns nahe im dürftigen, aber so<br />

vieldeutigen Zeichen des Wortes, im Sakrament<br />

des Bruders und der Schwester, die<br />

doch nie nur Engel sind, sondern in denen<br />

oft genug <strong>das</strong> Dämonische aufblitzt. Aber<br />

nur so, meint <strong>das</strong> <strong>Tobit</strong>-<strong>Buch</strong>, geht es: Wir<br />

sehen Gott beziehungsweise seinen Engel<br />

nicht schon am Anfang unseres Weges;<br />

von uns selbst her können wir nur <strong>das</strong> Vertrauen<br />

haben, <strong>das</strong>s er uns begleitet; und<br />

erst vom Ende her wird sich erweisen, <strong>das</strong>s<br />

es tatsächlich Gott gewesen ist, der mit uns<br />

gegangen ist; <strong>das</strong>s es tatsächlich Gott gewesen<br />

ist, der uns all die Zeit in dem zur<br />

Seite war, was uns menschlich so fern und<br />

doch gleichzeitig so eng verwandt erschien.<br />

Raphael, so wird erzählt, hat sich erst beim<br />

Abschied zu erkennen gegeben. Dahinter<br />

steckt eine tiefe Erfahrung: Ob man einem<br />

Engel gegen<strong>über</strong>gestanden hat, weiß man<br />

erst, wenn er verschwunden ist … Amen.<br />

Marcel Nieden<br />

10


Raphael als Schutzengel<br />

und Wegbegleiter von Tobias<br />

(Andrea del Verrochio)<br />

11


Sara und Tobias –<br />

eine gefährliche<br />

Liebe<br />

Predigt <strong>über</strong> <strong>Tobit</strong> 3 und 6–8<br />

30.01.2005<br />

Liebe Gemeinde,<br />

Die neuesten Forschungen scheinen es zu<br />

beweisen, was viele schon immer behauptet<br />

haben: Männer und Frauen passen nicht<br />

zusammen – schon genetisch nicht. Also:<br />

Männer und Frauen – eine hoffnungslos<br />

trostlose Beziehungsgeschichte?!?<br />

Ich darf Ihnen heute eine Frau vorstellen,<br />

die Erstaunliches zum Thema Beziehungen<br />

zu erzählen hat:<br />

[Pfarrerin legt sich ein buntes Tuch um die Schulter<br />

und tritt in die Mitte]<br />

Danke, <strong>das</strong>s ich kommen und Ihnen meine<br />

Geschichte erzählen darf. Ich heiße Sara<br />

und bin mit Tobias verheiratet. Ich bin sehr<br />

glücklich, Tobias begegnet zu sein. Er hat<br />

mir meinen Glauben an Gott wiedergegeben<br />

– und an mich und meine Mitmenschen.<br />

Aber lassen Sie mich von vorne erzählen:<br />

Ich bin <strong>das</strong> einzige Kind meiner Eltern Raguël<br />

und Edna, wohlhabender Juden aus<br />

Ekbatana. Ich war damals jung, hübsch<br />

und voller Erwartungen in die Zukunft.<br />

Meine erste große Liebe hieß, sagen wir<br />

mal, Jonas. Wir schworen uns ewige Liebe.<br />

Ihn und keinen anderen wollte ich haben.<br />

Meine und seine Eltern waren hoch erfreut<br />

<strong>über</strong> die Verbindung unserer Familien. Der<br />

Ehevertrag wurde aufgesetzt und unter-<br />

schrieben. Meine Aussteuer war fertig. Mit<br />

klopfenden, sehnsüchtigem Herzen wartete<br />

ich auf die Hochzeitsnacht. Danach würde<br />

ich die Frau von Jonas sein – endlich! Und<br />

dann kam die lang ersehnte Nacht der<br />

Nächte …<br />

Die Ärzte erklärten mir später, <strong>das</strong>s Jonas<br />

wohl einen angeborenen Herzfehler hatte.<br />

Mit Jonas waren alle meine Hoffnungen<br />

und Erwartungen an mein Leben gestorben.<br />

Ab da war es, als ob ein Fluch auf mir<br />

liegen würde. Alle meine folgenden Beziehungen<br />

scheiterten. Die Leute sagten bald:<br />

Sara ist von einem Dämon besessen, der<br />

alle ihre Männer in der Hochzeitsnacht<br />

sterben lässt.<br />

Ich war am Ende.<br />

Ich haderte mit Gott.<br />

Ich hasste mich und mein Leben.<br />

Und dann kam Tobias und hatte sich unbedingt<br />

in den Kopf gesetzt, <strong>das</strong>s ich seine<br />

Frau werden soll. Ich bin fast ausgerastet.<br />

»Weißt du, was mit den Männern passiert,<br />

die es mit mir zu tun haben?«, habe ich ihn<br />

angeschrien. Aber Tobias ließ es sich nicht<br />

ausreden. Und irgendwann war es mir dann<br />

auch egal. Ich hatte ihn gewarnt. Er wusste,<br />

auf was er sich einließ.<br />

Und dann kam die Hochzeitsnacht. Aber<br />

Tobias blieb ganz ruhig. Er zündete Kerzen<br />

und ein Feuer an und verbrannte einige<br />

Dinge. (Später erzählte mir Tobias, <strong>das</strong>s es<br />

Herz und Leber eines Fisches war, den er<br />

am Tag vorher gefangen hatte.)<br />

Dann nahm Tobias mich bei der Hand und<br />

sagte: »Lass uns zuerst Gott darum bitten,<br />

<strong>das</strong>s er uns beisteht.« Ich hatte schon lange<br />

meinen Glauben aufgegeben. Doch nun betete<br />

ich zusammen mit Tobias aus vollem<br />

Herzen: »Gott, steh uns bei. Du hast die<br />

ganze Welt und uns Menschen geschaffen.<br />

Segne und stärke unsere Liebe.«<br />

12


Was danach kam? Das geht Sie – mit Verlaub<br />

– nichts an. Nur so viel: es war wunderbar<br />

…<br />

[Pfarrerin legt <strong>das</strong> bunte Tuch ab und geht an <strong>das</strong><br />

Lesepult zurück]<br />

Liebe Gemeinde, ich bin noch ganz gefangen<br />

von der Geschichte, die uns Sara erzählt<br />

hat. Unglaublich: sieben Männer sollen<br />

Saras »Dämon« in der Hochzeitsnacht<br />

zum Opfer gefallen sein, so erzählt es <strong>das</strong><br />

<strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong>. Die Bibel ist eigentlich sehr<br />

zurückhaltend, wenn sie von Dämonen<br />

spricht. Für die Bibel gibt nur einen Herrn<br />

der Welt: Gott. Aber der Dämonenglauben<br />

war in der Volksfrömmigkeit Israels und<br />

seiner Umwelt weit verbreitet. Man stellte<br />

sich die Dämonen als Mächte vor, die Böses<br />

verursachen, z.B. Krankheiten oder eben<br />

unerklärliche Todesfälle wie bei Saras<br />

Männern. Auch mir fällt es schwer, an die<br />

Existenz von Dämonen als eigenständige<br />

Wesen zu glauben.<br />

Was ich aber erlebe, sind Strukturen und<br />

Verhaltensweisen von uns Menschen, die<br />

Leben in seiner Fülle verhindern oder vernichten.<br />

Was wäre also, wenn ich Saras<br />

»Dämon« in diesem Sinn nicht wörtlich<br />

nehme, sondern frage: Gibt es nicht doch<br />

»dämonische Verhältnisse«, die gelingende<br />

Beziehungen zwischen uns Menschen, besonders<br />

zwischen uns Männern und Frauen<br />

heute verhindern?<br />

Und dazu fällt mir einiges ein: Ganz offensichtlich<br />

verbindet sich der »Dämon« Saras<br />

mit dem Thema Sexualität. Darin spiegelt<br />

sich die uralte Angst vieler Kulturen, <strong>das</strong>s<br />

eine Frau im Zusammenhang mit der<br />

Hochzeitsnacht für den Mann gefährlich, ja<br />

tödlich sein kann. Bei uns heute sind nur<br />

noch in den seltensten Fällen die Hochzeitsnacht<br />

und der erste Sex miteinander<br />

identisch. Das enthebt uns aber nicht von<br />

der Frage, wie wir mit unserer Sexualität<br />

umgehen. Geht es z.B. nur um Sex in unserer<br />

Beziehung? Respektiere ich meinen<br />

Partner, meine Partnerin in allen Bereichen<br />

unserer Beziehung oder dient sie/er mir nur<br />

als Erfüllungshilfe meiner Bedürfnisse und<br />

Phantasien? In welcher Beziehung stehen<br />

für mich Sexualität und Liebe?<br />

Weiter: Jeder gute Liebesfilm oder –roman<br />

endet mit dem Gipfelpunkt der Glückseligkeit.<br />

Nach einigen Wirrnissen liegen sich<br />

Mann und Frau selig in den Armen und<br />

verheißen sich immer währendes Glück auf<br />

Erden. Das mag Balsam auf unseren geschundenen<br />

Seelen sein. Doch ist <strong>das</strong> auch<br />

realistisch? Überfordern wir uns selbst und<br />

unsere Liebsten nicht gnadenlos mit der<br />

Erwartung: Du musst der Garant/die Garantin<br />

meines Glückes sein? Wer kann diesen<br />

Anforderungen auf Dauer genügen?<br />

Was für eine Vorstellung vom Leben steht<br />

dabei dahinter?<br />

Die Bibel ist da viel nüchterner: Gott schuf<br />

die Menschen als Mann und Frau, weil es<br />

zu zweit im Leben leichter ist als allein.<br />

Man könnte <strong>das</strong> Schicksal Saras auch noch<br />

von einer anderen Seite aus betrachten.<br />

Drewermann (29) bezeichnet Saras »Dämon«<br />

als die Unfähigkeit zur Liebe. Hat<br />

Sara etwa Angst davor, sich auf <strong>das</strong> gefährliche<br />

Abenteuer Liebe einzulassen?<br />

Wir haben wohl alle die Erfahrung gemacht,<br />

<strong>das</strong>s es schon eine gehörige Portion<br />

Mut braucht, sich auf einen anderen Menschen<br />

einzulassen, ihm/ihr zu vertrauen,<br />

sich ihm/ihr hinzugeben. Oft genug scheitern<br />

wir und unsere Beziehungen eben genau<br />

daran. Und wie gehe ich dann mit<br />

meiner Enttäuschung um? Kann ich verzeihen<br />

und loslassen? Oder lebe ich irgendwann<br />

nach der Devise: »Vertrauen ist<br />

gut, Kontrolle ist besser«?<br />

Oder hat Drewermann gar recht? Er vermutet<br />

nämlich, <strong>das</strong>s Sara von ihrer Frömmigkeit<br />

gehindert wird, <strong>das</strong> Leben in seiner<br />

Fülle auszuschöpfen: Sara verkümmere »in<br />

ihrer Tugendhaftigkeit an der Fähigkeit zu<br />

lieben« (29). Fehlgeleiteter und miss-<br />

13


äuchlicher Glaube kann echte Liebe verhindern.<br />

Heerscharen von Religionskritikern<br />

werden nicht müde, dem Christentum<br />

genau dies vorzuwerfen.<br />

Sie sehen, liebe Gemeinde, Saras Geschichte<br />

ist uns vielleicht ja gar nicht so<br />

fern. Ihr »Dämon« könnte in gewisser<br />

Weise auch unserer sein.<br />

Doch die Geschichte endet ja nicht im Fiasko,<br />

sondern – wie im richtigen Märchen<br />

– mit einem happy end. Sara findet in Tobias<br />

einen Partner, der den »Dämon« in ihrem<br />

Leben bannen kann. Zunächst folgt<br />

Tobias dem Rat Raphaels und verbrennt<br />

Herz und Leber des Fisches, den er am<br />

Vortag gefangen hat. Diese magische Vorstellung,<br />

<strong>das</strong>s bestimmte Gerüche Dämonen<br />

vertreiben können, ist den meisten von<br />

uns wahrscheinlich fremd. Mir hat aber <strong>das</strong><br />

Bild sehr gefallen, wie beschrieben wird:<br />

»Sobald der Dämon den Geruch spürte, floh er in<br />

den hintersten Winkel Ägyptens; dort wurde er von<br />

dem Engel gefesselt« (Tob 8,3).<br />

Dieser Dämon ist von nun an chancenlos!<br />

Was dann kommt, beschreibt <strong>das</strong> <strong>Buch</strong><br />

<strong>Tobit</strong> so:<br />

»Als Tobias und Sara in der Kammer allein waren,<br />

erhob sich Tobias vom Lager und sagte: ›Steh auf,<br />

Schwester, wir wollen beten, damit der Herr<br />

Erbarmen mit uns hat.‹ Und er begann zu beten:<br />

›Sei gepriesen, Gott unserer Väter; gepriesen sei<br />

dein heiliger und ruhmreicher Name in alle Ewig-<br />

keit. Die Himmel und alle deine Geschöpfe müssen<br />

dich preisen. Du hast Adam erschaffen, und hast<br />

ihm Eva zur Frau gegeben, damit sie ihm hilft und<br />

ihn ergänzt. Von ihnen stammen alle Menschen ab.<br />

Du sagtest: Es ist nicht gut, <strong>das</strong>s der Mensch allein<br />

ist; wir wollen für ihn einen Menschen machen, der<br />

ihm hilft und zu ihm passt. Darum, Herr, nehme ich<br />

diese Schwester auch nicht aus reiner Lust zur Frau,<br />

sondern aus wahrer Liebe. Hab Erbarmen mit mir,<br />

und lass mich gemeinsam mit ihr ein hohes Alter<br />

erreichen!‹ Und Sara sagte zusammen mit ihm:<br />

›Amen.‹ Und beide schliefen sie die Nacht <strong>über</strong><br />

miteinander« (Tob 8, 4–9).<br />

Sara und Tobias ist es offensichtlich klar:<br />

Nur mit Gottes Hilfe kann ihre Liebe Bestand<br />

haben. Es genügt eben nicht, sich fest<br />

vorzunehmen, einen anderen Menschen zu<br />

lieben und zu ehren. Dies ist ein Vorhaben,<br />

<strong>das</strong> unsere Kräfte allzu leicht <strong>über</strong>steigt<br />

und woran so viele von uns scheitern.<br />

Darum besiegeln die Eheleute im Gottesdienst<br />

ihr Trauversprechen mit einem »Ja,<br />

mit Gottes Hilfe«. Ein »Ja, ich will« wäre<br />

zu wenig und würde uns gleichzeitig gnadenlos<br />

<strong>über</strong>fordern.<br />

Mit der schützenden Liebe Gottes im Rücken<br />

wenden sich Sara und Tobias nun befreit<br />

und mit Hingabe einander zu. Jetzt,<br />

fern aller Dämonen, unter dem liebenden<br />

Schutz Gottes können sie sich ganz dem<br />

Leben in all seiner Fülle widmen. Und sie<br />

tun es offensichtlich mit Freude »die ganze<br />

Nacht«.<br />

Aber wie sagte Sara vorhin: »Was danach<br />

kam, geht Sie – mit Verlaub – nichts an.<br />

Nur so viel: es war wunderbar … « Amen.<br />

Susanne Munzert<br />

14


Sarah wartet auf Tobias<br />

(Rembrandt)<br />

15


Der Lobgesang<br />

des <strong>Tobit</strong><br />

Predigt <strong>über</strong> <strong>Tobit</strong> 13, 1–9<br />

16.01.2005<br />

Liebe Schwestern und Brüder,<br />

meine Beziehung zu dem <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> begann<br />

auf einer Reise in den Iran im vergangenen<br />

Frühjahr. Im Nordwesten des<br />

Landes kam ich auch in die Stadt Ekbatana<br />

(heute: Hamadan), 2.000 Meter <strong>über</strong> dem<br />

Meeresspiegel, im letzten März waren die<br />

Berggipfel ringsum noch schneebedeckt.<br />

Ekbatana war Hauptstadt des alten Mederreichs.<br />

Die Stadt ist bis heute Sitz einer<br />

größeren jüdischen Gemeinde. Hier in Medien<br />

liegt einer der beiden Hauptschauplätze<br />

des <strong>Buch</strong>es <strong>Tobit</strong>. Auf meiner Reise habe<br />

ich <strong>das</strong> <strong>Buch</strong> gelesen und mir den Inhalt<br />

im Zusammenhang vor Augen geführt.<br />

Dabei hat mir die Einsicht geholfen, <strong>das</strong>s<br />

die Erzählung entlang der alten Seidenstraße<br />

an zwei Orten spielt, dort in Ekbatana<br />

und weiter im Westen im Zweistromland,<br />

in der assyrischen Stadt Ninive.<br />

Das <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> führt uns zunächst ins Ninive<br />

des 8. Jahrhunderts. Dorthin wird eine<br />

Gruppe von Israeliten von assyrischen Soldaten<br />

verschleppt. Einer von ihnen heißt<br />

<strong>Tobit</strong>, was – welch ein Gegensatz – soviel<br />

bedeutet wie »Jahwe ist gut«. Sie alle leiden<br />

schwer unter ihrem Schicksal als Verbannte.<br />

Aber nur <strong>das</strong> Schicksal <strong>Tobit</strong>s und<br />

<strong>das</strong> seiner Familie wird uns erzählt. <strong>Tobit</strong><br />

steigt in Ninive nach einiger Zeit zum königlichen<br />

Beamten auf und kommt sogar<br />

zu bescheidenem Reichtum. Mit seiner<br />

Frau Anna hat er einen Sohn fast gleichen<br />

Namens, Tobias. Was den Vater von ande-<br />

ren Juden, die sich mehr oder weniger der<br />

neuen Kultur und Gesellschaft anpassen,<br />

unterscheidet, ist: er begräbt vom Herrscher<br />

erschlagene Juden.<br />

Nach einem Wechsel auf dem assyrischen<br />

Königsthron kommt <strong>Tobit</strong> in äußere<br />

Schwierigkeiten und muss seinen Sohn<br />

nach Ekbatana schicken, um bei einem Bekannten<br />

hinterlegtes Geld zurück zu holen.<br />

Die Reise ist gefährlich, geht aber gut aus.<br />

Das Geld ist noch vorhanden. Der Sohn<br />

trifft auf verständige Verwandte und findet<br />

auf dieser Reise im persönlichen Bereich<br />

sogar <strong>das</strong> Glück seines Lebens. Am Ende<br />

des <strong>Buch</strong>es sehen wir einen Vater, der versöhnt<br />

mit seinem Schicksal den folgenden<br />

Lobpreis spricht:<br />

»Gepriesen sei Gott, der in Ewigkeit lebt, sein Kö-<br />

nigtum sei gepriesen. Er züchtigt und hat auch wie-<br />

der Erbarmen; er führt in die Unterwelt und auch<br />

wieder heraus. Niemand kann seiner Macht entflie-<br />

hen. Bekennt euch zu ihm vor allen Völkern, ihr<br />

Kinder Israels; denn er selbst hat uns unter die Völ-<br />

ker zerstreut. Verkündet dort seine erhabene Größe,<br />

preist ihn laut vor allem, was lebt. Denn er ist unser<br />

Herr und Gott, er ist unser Vater in alle Ewigkeit.<br />

Er züchtigt uns wegen unserer Sünden, doch hat er<br />

auch wieder Erbarmen. Er führt uns aus allen Völ-<br />

kern zusammen, von <strong>über</strong>all her, wohin ihr ver-<br />

schleppt worden seid. Wenn ihr zu ihm umkehrt,<br />

von ganzem Herzen und aus ganzer Seele, und euch<br />

an seine Wahrheit haltet, dann kehrt er sich euch zu<br />

und verbirgt sein Angesicht nicht mehr vor euch.<br />

Wenn ihr dann seht, was er für euch tut, bekennt<br />

euch laut und offen zu ihm! Preist den Herrn der<br />

Gerechtigkeit, rühmt den ewigen König! Ich be-<br />

kenne mich zum Herrn im Land der Verbannung,<br />

ich bezeuge den Sündern seine Macht und erhabene<br />

Größe. Kehrt um, ihr Sünder, tut, was recht ist in<br />

seinen Augen. Vielleicht ist er gnädig und hat mit<br />

euch Erbarmen. Ich will meinen Gott rühmen, den<br />

König des Himmels, meine Seele freut sich <strong>über</strong> die<br />

erhabene Größe meines Gottes« (Tob 13, 1–9).<br />

Der Lobgesang bezieht sich inhaltlich nicht<br />

ausdrücklich auf die <strong>Tobit</strong>-Erzählung. Die<br />

16


Hauptpersonen werden namentlich nicht<br />

erwähnt, es gibt nur eine kleine Anspielung<br />

auf <strong>das</strong> vorhergehende Kapitel. Der Erzählzusammenhang<br />

scheint unterbrochen<br />

und doch wird die gesamte Handlung<br />

durch dieses Gebet noch einmal in ein neues<br />

Licht gestellt. Es ist, wie wenn jemand<br />

am Geburtstag oder an einem anderen Feiertag<br />

zu den Psalmen oder zum Gesangbuch<br />

greift. Das Gelesene oder Gesungene<br />

ist ganz <strong>das</strong> eigene Lied, auch wenn er oder<br />

sie sich allgemeiner Worte und Gedanken<br />

bedient. Mit diesen Worten formuliert<br />

<strong>Tobit</strong> nach <strong>über</strong>standener Gefahr in Form<br />

eines Gebets so etwas wie sein Vermächtnis.<br />

Es soll auch von Menschen nach ihm<br />

noch gesprochen werden können. Auch<br />

wer zukünftig in der Diaspora lebt, soll<br />

sich darin wieder finden. Auch eine spätere<br />

Generation, die fern der Heimat als Minderheit<br />

unter Menschen anderer Volkszugehörigkeit<br />

und anderer Religion ihr Leben<br />

nach den Weisungen des Gottes Israels<br />

einrichten muss, soll aus diesem Lobpreis<br />

wichtige Schlüsse ziehen können. Das Gebet<br />

ist den späten Psalmen und der Weisheit<br />

verwandt. Es ist Lobpreis und Dank<br />

für <strong>über</strong>wundene Not. Und es wurde – wie<br />

es heißt – in Freude geschrieben.<br />

Teil I:<br />

»Ich bekenne mich zum Herrn im Land<br />

der Verbannung« (V. 8) – <strong>das</strong> Ineinander<br />

von Bekennermut und tragischem<br />

Schicksal<br />

Das <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> ist eine »romanhafte Erzählung«.<br />

Romanhaft, weil es in ihm nicht<br />

nur um eine Episode aus dem Leben eines<br />

oder mehrerer Menschen geht. Romanhaft,<br />

weil es uns eine <strong>das</strong> ganze Leben des <strong>Tobit</strong><br />

umfassende Perspektive gibt. Dieser Mann<br />

geht einen langen Weg. Welche Überschrift<br />

könnte man der Erzählung geben?<br />

»Ein wunderbares Leben«? Das nimmt einen<br />

Aspekt auf und greift doch viel zu<br />

kurz.<br />

Bei genauem Hinsehen ist der Lebensweg<br />

des <strong>Tobit</strong> ein schwerer Gang. Da ist eine<br />

Anspannung in seinem Leben, die aus einer<br />

langen geistigen und religiösen Einsamkeit<br />

resultiert. Im Widerspruch sogar<br />

zu seiner eigenen Großfamilie hält er sich<br />

an die <strong>über</strong>kommenen Gebote und wandelt,<br />

wie es heißt, »auf den Wegen der<br />

Redlichkeit« (Tob 1, 3) <strong>Tobit</strong> verkörpert<br />

mit seinem Handeln <strong>das</strong> Ideal eines »Gerechten«,<br />

eines jüdischen Heiligen. Auf<br />

sich selbst, auf seine eigenen persönlichen<br />

Wünsche und Interessen lernt er verzichten.<br />

Sein ganzes Leben wird aber zu einer<br />

Auseinandersetzung mit den Menschen<br />

seiner Umgebung. Seine Familienangehörigen<br />

kehren der Überzeugung Israels den<br />

Rücken und beugen sich den Befehlen der<br />

Assyrer. <strong>Tobit</strong> allein hat den Mut, für seinen<br />

Gott und seine Überzeugung einzutreten.<br />

Charakterfest, unbeugsam scheut er<br />

keine Schwierigkeit und Einsamkeit, wenn<br />

es um <strong>das</strong> Bekenntnis und die Treue seines<br />

Glaubens geht. In seinem Schicksal erkennen<br />

wir etwas von der Größe und dem<br />

Stolz eines Menschen, dem nichts wichtiger<br />

ist als <strong>das</strong>, was in den Gesetzen Israels<br />

geschrieben steht.<br />

Ausdruck dieses Bemühens ist ein konkretes<br />

Tun: <strong>Tobit</strong> macht es sich zur Aufgabe,<br />

die Toten auf den Straßen der Stadt Ninive<br />

zu bestatten. Er fühlt sich der Weisung des<br />

Gesetzes verpflichtet, die Körper der Verstorbenen<br />

nicht unbestattet zu lassen. Auch<br />

wenn die assyrischen Behörden unter Todesandrohung<br />

fordern, die eigenen Toten<br />

zu verleugnen, kann er dem nicht nachkommen.<br />

Er weiß, <strong>das</strong>s dies bedeuten würde,<br />

sein eigenes Empfinden zu verleugnen<br />

und die Identität als Jude preiszugeben. Ein<br />

Begräbnis in fremder Erde hält ja indirekt<br />

die Erinnerung an die eigene Heimat und<br />

Herkunft wach. Es ruft die Forderung nach<br />

Rückkehr immer wieder in Erinnerung.<br />

Das <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> zeigt uns aber auch die<br />

Gefahren und Zerrissenheiten, die sich er-<br />

17


geben, wenn einer sein Leben nur in dieser<br />

Perspektive der Abgrenzung leben kann. In<br />

diesem Zwiespalt verändert sich <strong>das</strong> Innere<br />

eines Menschen. Da entsteht <strong>das</strong> beklemmende<br />

Gefühl, allein zu sein und gegen alle<br />

anderen zu stehen. Da wachsen Regungen<br />

des Hasses und der Menschenverachtung.<br />

Es gibt auch einen falschen Stolz aus<br />

dem Gefühl heraus, vor Gott ganz allein im<br />

Recht zu sein. Es ist offenbar eine sehr beschwerliche<br />

Situation, wenn da einer oder<br />

eine wirklich nur gut und nur fromm leben<br />

möchten. – Das <strong>Buch</strong> <strong>Tobit</strong> ordnet dies alles<br />

in größere Zusammenhänge ein, die auf<br />

eine <strong>über</strong>raschende Lösung hinweisen. Es<br />

spricht in Bildern, die auch uns Heilung<br />

anbieten.<br />

Teil II:<br />

»Er führt in die Unterwelt und auch<br />

wieder heraus« (V. 2) – ein Leben in Extremen<br />

Die Heilung <strong>Tobit</strong>s kommt in der Erzählung<br />

nicht zustande, ohne <strong>das</strong>s es in seinem<br />

Leben kräftig drunter und dr<strong>über</strong> geht. Der<br />

Mangel an Stunden unbekümmerter Heiterkeit,<br />

die unerfüllten Wünsche nach<br />

menschlicher Nähe und Zugehörigkeit graben<br />

ihre Spuren in sein Leben ein. Es gibt<br />

so viel zurückgehaltene Wut, so viel aufgespeicherten<br />

Zorn, eine solche Sehnsucht<br />

nach einem Ende des Kampfes … Da werden<br />

krasse Extreme menschlichen Daseins<br />

sichtbar. Wir stehen vor einem Menschen<br />

mit großen inneren Widersprüchen. Aus<br />

diesen Gegensätzen erwächst eine starke<br />

Unausgeglichenheit. Da wird ein Menschenleben<br />

gleichsam wie eine Geigensaite<br />

angespannt, und es ist die Frage, ob sie<br />

zerreißt oder die höchsten und reinsten Töne<br />

hervorbringt.<br />

<strong>Tobit</strong>s ständige Nähe zu den Toten, sein<br />

furchtloser Begräbnisdienst sind etwas Eigenartiges.<br />

Sie vermitteln uns den Eindruck,<br />

als ob er in merkwürdiger Weise<br />

von Totem angezogen würde. Gab es in<br />

ihm selber etwas, <strong>das</strong> ihn die Gegenwart<br />

von Toten förmlich suchen ließ? Es<br />

scheint, <strong>das</strong>s er sich je länger je mehr gerade<br />

mit den Toten Israels aufs Innigste verwandt<br />

fühlte. Sah er sich selber schon als<br />

Toten inmitten seiner »Brüder«? Am Ende<br />

ist es buchstäblich die Unreinheit, der Kot<br />

der Welt, die ihm die Augen verschließt.<br />

Er wird blind und braucht nicht mehr mit<br />

anzusehen, was ihn immer wieder gequält<br />

hat. In ihm erstirbt die Hoffnung, er wird<br />

verbittert und misstrauisch. Es bleibt nur<br />

Dunkelheit und <strong>das</strong> Unvermögen, noch irgendetwas<br />

Positives wahrzunehmen.<br />

In dieser Situation bedarf es nur eines äußeren<br />

und geradezu banalen Anlasses, um<br />

<strong>Tobit</strong>, den gerechten und lauteren <strong>Tobit</strong>,<br />

ins Unrecht zu setzen. Und diesen Anlass<br />

bietet eines Tages seine eigene Frau Anna.<br />

Tragischerweise. Sie hat sein Leben der<br />

äußeren und inneren Isolation treu mit ihm<br />

geteilt. Sie hat alle Schmähungen und<br />

Ängste mit ihm getragen. Sie hat dieselben<br />

Opfer auf sich genommen und dieselben<br />

Gebete gesprochen wie er. Um wenigstens<br />

<strong>das</strong> Lebensnotwendige zu verdienen, hat<br />

sie, nachdem er als königlicher Beamter<br />

abgesetzt wurde, Spinnarbeiten angenommen<br />

und dafür bei der Ablieferung ein<br />

Ziegenböckchen als Lohn erhalten. Als sie<br />

es heimbringt, hört <strong>Tobit</strong> <strong>das</strong> Meckern des<br />

Tieres. Er ist <strong>über</strong>rascht. Er konnte ja nicht<br />

sehen, mit wie viel Arbeit seine Frau sich<br />

dieses Böckchen als Lohn verdient hat. Er<br />

denkt vielmehr, sie müsse es in ihrer Not<br />

gestohlen haben.<br />

Vielleicht hatte er sich oft schon heimlich<br />

selbst die Schuld an seiner Erblindung und<br />

an der damit verbundenen Verarmung seiner<br />

Familie gegeben. Möglicherweise hatte<br />

er selbst schon oft genug <strong>über</strong>legt, wie er<br />

seiner Familie die Härten dieser Situation<br />

erleichtern könnte. Sollte er nicht einfach<br />

einmal <strong>über</strong> seinen Schatten springen und<br />

zum Wohl seiner Familie ein kleines, nur<br />

18


geringfügiges Unrecht begehen? War ein<br />

solcher Schritt, nach allem, was geschehen<br />

war, nicht geradezu seine Vaterpflicht?<br />

<strong>Tobit</strong> wird solche Erwägungen bei genauerem<br />

Nachdenken weit von sich gewiesen<br />

haben. Sie waren ihm nur eine Versuchung<br />

des Bösen. In dem Augenblick aber, in<br />

dem er <strong>das</strong> Meckern des Böckchens hört,<br />

kommt es ihm so vor, als ob gerade <strong>das</strong>,<br />

was er sich selber in aller Strenge untersagte,<br />

nun doch geschehen sei. Ein gestohlenes<br />

Böckchen in seinem Hause, <strong>das</strong> war<br />

für ihn der Zusammenbruch, die totale Widerlegung<br />

alles dessen, wofür er sein ganzes<br />

Leben gelitten und gekämpft hatte.<br />

Wegen dieses Böckchens gerät er außer<br />

sich vor Wut, er beschimpft seine Frau, er<br />

schreit sie an, sie solle, koste es was es<br />

wolle, auf der Stelle <strong>das</strong> Tier zurückschaffen<br />

…<br />

Aber <strong>das</strong> Tier ist nicht gestohlen und <strong>Tobit</strong><br />

ist – obwohl er für <strong>das</strong> Recht einzutreten<br />

meint – im Unrecht. Langsam dämmert es<br />

ihm. Er steht auf der falschen Seite. Nicht<br />

aufgrund eines simplen Malheurs, sondern<br />

tief verwurzelt, von Grund auf. Er spürt,<br />

<strong>das</strong>s es stimmt, wenn seine Frau ihm vorhält:<br />

»Jetzt ist es offenkundig, wie es mit<br />

dir steht!« (Tob 2, 14) Er wollte in allem<br />

nur Gott dienen und ist ein misstrauischer<br />

Nörgelkopf und Misanthrop geworden. Er<br />

wollte den Weisungen des Gesetzes folgen<br />

und ist inzwischen nur noch ein seniler,<br />

verkalkter, lebensfremder Prinzipienreiter,<br />

gehässig, lieblos, stur. Nichts kann er akzeptieren<br />

und nichts gelten lassen, nicht<br />

einmal bei seiner eigenen Frau. Eine<br />

furchtbarere Einsicht gibt es kaum für einen<br />

Menschen. Das ist die Infragestellung<br />

aller Inhalte, Werte und Ideale des eigenen<br />

Lebens.<br />

Teil III: »Ich will meinen Gott rühmen«<br />

(V. 9) – wie wir dennoch Gott loben<br />

können<br />

Neben den Vater tritt in dieser Erzählung<br />

die Gestalt des fast gleichnamigen Sohnes:<br />

Tobias. Ausführlich wird erzählt, wie der<br />

Sohn sich auf die weite Reise nach Medien,<br />

nach Ekbatana, macht und seine Frau<br />

Sara kennen lernt. Die Hochzeit wird<br />

glücklich gefeiert, aber nur – wie wir letzte<br />

Woche gehört haben – unter Überwindung<br />

größter Schwierigkeiten. Ohne die Hilfe<br />

eines Begleiters, der sich später als von<br />

Gott gesandter Engel erweist, hätte alles<br />

ein tragisches Ende genommen. Und nun<br />

ist der Sohn auf der Rückreise. Mit ihm<br />

gehen seine Frau und sein reisekundiger<br />

Begleiter. Hinter ihnen treiben Knechte einiges<br />

Vieh. Die Taschen hat ihnen der<br />

Schwiegervater voll Geld gesteckt. Jetzt<br />

soll die Freude des Hochzeitsfestes im fernen<br />

Medien auch die Ereignisse im Elternhaus<br />

im heimatlichen Ninive bestimmen.<br />

Jetzt müssen die Extreme sich vereinigen.<br />

Der jugendliche Held tritt seinem depressiven<br />

Vater gegen<strong>über</strong>. Für <strong>das</strong> Augenleiden<br />

seines Vaters bringt Tobias eine Salbe mit.<br />

Sie ist aus der Galle eines Fisches gewonnen<br />

und soll beim Auftragen auf die erkrankten<br />

Augen ein dünnes Häutchen ablösen,<br />

<strong>das</strong> die Erblindung bewirkte.<br />

Aber auch diese Heilung geschieht nur<br />

Schritt für Schritt und nicht ohne weitere<br />

Verwicklungen. Da ist zunächst die Enttäuschung<br />

seiner Mutter. Sie starrt täglich<br />

stundenlang auf den Weg nach Osten, erwartet<br />

aber nicht mehr wirklich, <strong>das</strong>s ihr<br />

Sohn ihr noch einmal entgegen kommt<br />

(Tob 10, ). Beide Eltern sind ungeduldig,<br />

enttäuscht <strong>über</strong> <strong>das</strong> lange Warten auf die<br />

Rückkehr des Sohns. Uns als Lesern dieser<br />

Erzählung wird schnell deutlich, wie lang<br />

der innere Weg zu sich selbst ist, den die<br />

Eltern des Tobias gehen müssen. Obwohl<br />

sie immer zu Hause geblieben sind, müssen<br />

sie dennoch eine Entwicklung durchlaufen,<br />

die sie vor eine große Herausforderung<br />

stellt. Und wie der Sohn erst zu sich<br />

selbst findet, indem er den weiten Weg<br />

nach Ekbatana zurücklegt, sehen wir auch<br />

19


die betagten Eltern bis zum Schluss in einer<br />

inneren Bewegung. Erst ganz am Ende<br />

der Erzählung wird deutlich, <strong>das</strong>s nun auch<br />

sie an <strong>das</strong> Ziel ihres Weges kommen.<br />

Wir als Leser wissen bereits, <strong>das</strong>s sich die<br />

Erzählung einem guten Ende für alle Beteiligten<br />

zuneigt. Anders <strong>Tobit</strong> und seine Frau<br />

Anna. Gerade in dem Augenblick, in dem<br />

<strong>das</strong> Heil zum Greifen nahe ist, kommt es<br />

ihnen so vor, als ob endgültig nichts mehr<br />

zu erwarten wäre. Alles scheint vergebens,<br />

verloren, aus (Tob 10, 1–3). Kurz vor der<br />

erlösenden Heimkehr des Sohnes entsteht<br />

<strong>das</strong> Gefühl, im Grunde alles falsch gemacht<br />

zu haben. Sie haben den einzigen<br />

Sohn auf den Weg geschickt. Wenn er nun<br />

nicht zurückkehrt, dann ist alles unwiderruflich<br />

verloren! Nur ganz leise vernehmen<br />

sie im Inneren noch eine andere Stimme,<br />

die trotz allem nicht verzweifeln will (Tob<br />

10, 6).<br />

Das innere Erleben des Sohnes in dieser<br />

Situation stellt sich ganz anders dar. Er<br />

kommt zurück von einem langen und gefahrvollen<br />

Weg. Er möchte dort wieder ankommen<br />

und sich zu Hause fühlen, wo er<br />

als Kind gelebt hat. Eine solche Heimkehr<br />

ist schwer, weil er jetzt auch seinen Vater,<br />

weil er jetzt auch seine Mutter mit neuen<br />

und geschärften Augen sieht. Aber so<br />

schwer diese Rückkehr für alle Beteiligten<br />

ist, es ist gerade die Heimkehr des Sohnes<br />

aus der Fremde, die dem Vater – und indirekt<br />

auch der Mutter – die Augen öffnet<br />

(Tob 11, 8.12.13).<br />

Wir würden die Erzählung missverstehen,<br />

wollten wir in dem Geheiltwerden des Vaters<br />

nur eine altorientalische Arztpraxis am<br />

Werk sehen. Es geht hier letztlich nicht um<br />

ärztliche Kunst und um die Wirkmacht von<br />

Fischgalle. Hinter dem medizinischen Rat<br />

des Engels steht Gottes eigene Heilungsmacht.<br />

Die Heilung <strong>Tobit</strong>s ist ein Bild für<br />

eine neue Art zu sehen. Jetzt wird <strong>das</strong> ei-<br />

gene Leben für ihn klar, durchsichtig und<br />

ansehnlich.<br />

Der Sohn kehrt heim zusammen mit seiner<br />

Frau. Junges Leben füllt <strong>das</strong> tote Haus.<br />

Und ganz allmählich erkennen die Eltern,<br />

<strong>das</strong>s sich mit dieser Heimkehr alles, was<br />

bisher nicht auszuhalten war, zum Guten<br />

wendet. Selbst in dem, was sie bislang<br />

nicht mit anzusehen vermochten, können<br />

sie nun einen Sinn entdecken. Sie ahnen,<br />

<strong>das</strong>s sich sogar Leid und Enttäuschung<br />

sinnvoll in unser Leben einfügen können.<br />

Auch Trauer und Verzweiflung müssen<br />

nicht <strong>über</strong>flüssig und falsch gewesen sein.<br />

Mit der Heimkehr von Sohn und Schwiegertochter<br />

lernen sie ihre Situation neu sehen.<br />

Wovor müssen sie jetzt noch die Augen<br />

verschließen? Sie verstehen, <strong>das</strong>s auch<br />

auf dem schwierigen Weg ihres Lebens<br />

Gott auf verborgene Weise ihr Leiter und<br />

Begleiter war (Tob 12, 15).<br />

Auf dem Bild von Peter Cornelius sehen<br />

Sie, wie der junge Tobias ganz nah an den<br />

blinden Vater herantritt. Mit großer Vorsicht<br />

legt er seine Hand auf <strong>das</strong> kranke<br />

Auge. Tobias beobachtet den kranken Vater<br />

genau und dieser ist ihm mit seinen erloschenen<br />

Augen ganz zugewandt. Die<br />

Hand des Sohnes wirkt heilend wie die eines<br />

Arztes. Mit großer Behutsamkeit führt<br />

Tobias die Weisung des Engels aus. Das<br />

Bild zeigt ihn ganz und gar auf diese<br />

Handlung konzentriert. Fast kann man den<br />

Eindruck haben, es komme dem Künstler<br />

hier nicht auf <strong>das</strong> Wunder der Heilung an,<br />

sondern auf die im Wirken begriffene<br />

Hand. (Das genannte Bild findet sich in:<br />

Hanna und Ilse Jursch, Hände als Symbol<br />

und Gestalt, Berlin 1951, S. 95.)<br />

Auch auf unserem Lebensweg sieht vieles<br />

oft menschlich, allzumenschlich aus. Vieles<br />

erscheint nichtig, leer, sinnlos und<br />

schmerzhaft. Und doch gibt es wohl immer<br />

wieder Augenblicke, in denen wir uns auf<br />

einem inneren Weg erkennen und sehen,<br />

20


<strong>das</strong>s uns Gott begleitet. Wir können eine<br />

solche Einsicht nicht von vornherein postulieren.<br />

Wenn wir nach vorn schauen, sind<br />

da immer nur unsere eigenen Pläne. Aber<br />

wir können doch von Fall zu Fall in uns die<br />

Stimme hören, die zu uns wie ein guter<br />

Freund weisend und lenkend redet.<br />

» Gepriesen sei Gott, der in Ewigkeit lebt, sein Kö-<br />

nigtum sei gepriesen. Er züchtigt und hat auch wi-<br />

der Erbarmen; er führt in die Unterwelt und auch<br />

wieder heraus. Niemand kann seiner Macht entflie-<br />

hen« (Tob 13, 2).<br />

Vielleicht werden wir so die Angst besiegen,<br />

die uns an vielen Stellen immer neu<br />

den Lebensweg verstellt. Auch wir sollen<br />

ans Ziel, auch wir sollen zur Einsicht Gottes<br />

kommen. Auch wir sollen auf eine<br />

tiefste Weise im Einklang mit uns selber<br />

sein. Wo <strong>das</strong> geschieht, verwandelt sich<br />

auch unser Zuhause in einen Ort, wo sich<br />

uns Gott als Engel, Gott als Arzt, Gott als<br />

Retter zu erkennen gibt. Wo wir diese Erfahrung<br />

machen, werden wir auch verstehen,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> letzte Wort des <strong>Tobit</strong>-<strong>Buch</strong>es<br />

ein Danklied, ein Gebet ist.<br />

» Bekennt euch zu ihm vor allen Völkern, ihr Kinder<br />

Israels; denn er selbst hat uns unter die Völker zer-<br />

streut. Verkündet dort seine erhabene Größe, preist<br />

ihn laut vor allem, was lebt. Denn er ist unser Herr<br />

und Gott, er ist unser Vater in alle Ewigkeit. Er<br />

züchtigt uns wegen unserer Sünden, doch hat er<br />

auch wieder Erbarmen. Er führt uns aus allen Völ-<br />

kern zusammen, von <strong>über</strong>all her, wohin ihr ver-<br />

schleppt worden seid« (Tob 13, 3–5).<br />

Anfechtung, Traurigkeit, Kampf und Not<br />

bleiben dem Glaubenden nicht erspart.<br />

Aber die <strong>Tobit</strong>-Erzählung vermittelt die<br />

Zuversicht, <strong>das</strong>s Gott, wenn wir ihm treu<br />

bleiben, uns am Ende als der, der heilt, erscheinen<br />

wird. Sie zeigt, <strong>das</strong>s es sich lohnt,<br />

die Hoffnung festzuhalten und sich für eine<br />

Rettung zu öffnen, von der wir heute noch<br />

nichts wissen. So ist auch <strong>das</strong> Loblied des<br />

<strong>Tobit</strong> ein <strong>über</strong>schwänglicher Ausdruck der<br />

Freude. Alle, die den Weg der Wahrheit<br />

und Gerechtigkeit gehen, werden sich<br />

freuen; sie werden Gott, den Herrn, lieben<br />

und ihren Brüdern Gutes tun.<br />

Die Erzählung zeigt, <strong>das</strong>s menschliche<br />

Rechtschaffenheit und Lauterkeit vor Gott<br />

nicht verborgen sind. <strong>Tobit</strong> darf sich am<br />

Ende <strong>über</strong> Kinder und Enkelkinder freuen.<br />

Sein Sohn wird ihn und seine Frau Seite an<br />

Seite begraben. Unverdrossen hält <strong>Tobit</strong> an<br />

der Hoffnung auf eine Rückkehr aus der<br />

Gefangenschaft fest. Er glaubt an den<br />

Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem.<br />

Er ist <strong>über</strong>zeugt von einer Mission Israels<br />

an den anderen Völkern. Er lässt sich nicht<br />

beirren in der Zuversicht, <strong>das</strong>s sich Menschen<br />

aus vielen Völkern dem wahren Gott<br />

zuwenden werden.<br />

Am Ende seines Lebens rät <strong>Tobit</strong> seinen<br />

Kindern, aus Ninive wegzuziehen nach<br />

Medien. Mit Recht. Ninive wurde zerstört.<br />

Medien erfreute sich einer Zeit des Friedens.<br />

<strong>Tobit</strong> selbst wird sehr alt, 158 Jahre.<br />

In Medien, so berichtet die Erzählung, liegt<br />

nun sein Sohn begraben. Es tut gut, wenn<br />

man nach Ekbatana kommt, sich die <strong>Tobit</strong>-<br />

Geschichte in ihrer faszinierenden Tiefe<br />

durch den Kopf gehen zu lassen. Amen.<br />

Dieter Becker<br />

21


Augenheilung des <strong>Tobit</strong><br />

(Peter Cornelius)<br />

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