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Endstation Prenzlauer Berg? - orlandodesign.de

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LSD<br />

DAS STADTMAGAZIN FÜR DEN HELMHOLTZKIEZ / PRENZLAUER BERG<br />

3 /2005 Mai /Juni Euro 1,80<br />

<strong>Endstation</strong> <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>?<br />

Wohnst du nur o<strong>de</strong>r bleibst du schon?<br />

Foto: Heike Struhlik


Kin<strong>de</strong>r & JugendTheater MURKELBÜHNE e.V.<br />

im EliasHof, Senefel<strong>de</strong>rstraße 6, 10437 Berlin - <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong><br />

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illustration<br />

Tel: 44050308 Barbi Mlczoch


EDITORIAL<br />

Locals for Locals<br />

Ich kam im Dezember 1989 in <strong>de</strong>n <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> und hoffte <strong>de</strong>m west<strong>de</strong>utschen<br />

Leben zu entfliehen. Während <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>zeit schien alles möglich zu<br />

sein, nur nicht das, was folgte. Ich lebte in <strong>de</strong>n besetzten Häusern <strong>de</strong>r Lettestrasse<br />

7 und <strong>de</strong>r Dunckerstrasse 15. Wir genossen <strong>de</strong>n Sommer 1990 auf <strong>de</strong>n<br />

Dächern unserer Häuser. Ossis und Wessis liebten sich, hatten Sex - auch auf<br />

<strong>de</strong>m Dach. Dann holte uns die Wie<strong>de</strong>rvereinigung ein und die neuen, alten<br />

Hausbesitzer versiegelten die Dachluken. Es könnte jemand abstürzen, sagten<br />

sie. Die Reparatur <strong>de</strong>r Teerpappe wird Geld kosten, dachten sie. Mehrmals<br />

brannte in jener Zeit <strong>de</strong>r Dachstuhl <strong>de</strong>r Dunckerstrasse 15. Rauchsäulen stan<strong>de</strong>n<br />

über <strong>de</strong>m <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>. Man nannte dies eine „heiße Räumung“. Wir<br />

begriffen langsam, dass sich das Leben hier rasant verän<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>. Damals<br />

trafen Systeme aufeinan<strong>de</strong>r, inzwischen beschädigen Spekulanten & Schickeria<br />

<strong>de</strong>n guten Ruf. Früher trat man oft in Hun<strong>de</strong>dreck, heute stolpert man über<br />

Laufrä<strong>de</strong>r und Kin<strong>de</strong>rwägen. Es hätte schlimmer kommen können. Trotz allem<br />

o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen - sind wir glücklich im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> ? Für einige von<br />

uns wird er vielleicht die <strong>Endstation</strong> sein, <strong>de</strong>r Ort, an <strong>de</strong>m man bleiben will. Warum<br />

leben und lieben wir gera<strong>de</strong> hier ? Warum gibt es Europas höchste Babyquote<br />

im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> ? Wie kommt es, dass es jetzt dieses merkwürdige<br />

LSD-Magazin gibt, das ökonomisch auf wackligen Beinen steht ?<br />

„Angenehm altmodisch“ o<strong>de</strong>r „Nach<strong>de</strong>nklich und langsam“, beschrieben einige<br />

Mütter unser letztes Heft. „Richtig scheiße“, sagte mein Nachbar Klaus, <strong>de</strong>r<br />

Wan<strong>de</strong>rer (siehe Story Seite 20). Kritik ist gut, auch <strong>de</strong>struktive. Solche Kritik ist<br />

ehrlich – sozusagen voll in die Fresse. Auch mein Nachbar lebt hier, mittlerweile<br />

seit dreizehn Jahren. Nehmen wir ihn also ernst, auch wenn er sich nicht mit<br />

spitzer Fe<strong>de</strong>r in feingeistiger Rhetorik übt und ihm die Lust fehlte, sich konstruktiv<br />

zu äußern. Er ist authentisch und <strong>de</strong>shalb schreiben wir über ihn, <strong>de</strong>shalb<br />

gibt es LSD. Je<strong>de</strong>r von uns ist jemand; je<strong>de</strong>r hat seine Geschichte über die es<br />

sich lohnt zu berichten. Es geht um Haltung und darum, das zu bewahren was<br />

<strong>de</strong>r <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>, vor und nach <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong> immer war und ist: Angenehm<br />

an<strong>de</strong>rs und manchmal voll in die Fresse……….<br />

Respekt<br />

Jürgen Oxenknecht


Andreas Lenzmann<br />

Kompressionist<br />

Nachrichten aus <strong>de</strong>m alten “Neuen Berlin”<br />

Nach<strong>de</strong>m die Dummheit unbeherrschbar<br />

erscheint, bleiben lediglich die Dummen<br />

um beherrscht zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Walburgas Sommernachtstraum<br />

Den Namen Walpurgisnacht verdanken wir Walburga, Nichte <strong>de</strong>s Heiligen Bonifazius<br />

und eine <strong>de</strong>r ersten christlichen Missionarinnen im alten Germanien. Nach<strong>de</strong>m<br />

sie über 100 Jahre nach ihrem Tod einem Bischof im Traum erschienen war<br />

und sich über die schlechte Lage ihres Grabes beschwert hatte, wur<strong>de</strong> sie an einem<br />

1. Mai heilig gesprochen.<br />

Die Feier <strong>de</strong>r Nacht, das ausschweifen<strong>de</strong> Beltane-Fest, ist viel älter und es ist seltsam,<br />

dass das wil<strong>de</strong>ste, sinnlichste und berauschendste <strong>de</strong>r Jahresfeste, das<br />

Fest <strong>de</strong>r Lebensfülle und <strong>de</strong>r Fruchtbarkeitsriten, nach einer christlichen Missionarin<br />

benannt ist.<br />

In <strong>de</strong>n vorchristlichen Kulturen markierte <strong>de</strong>r 1. Mai <strong>de</strong>n Übergang von <strong>de</strong>r kalten<br />

zur warmen Hälfte <strong>de</strong>s Jahres.<br />

Thomas Zerbst<br />

Starke Mütter<br />

Der <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> hat Europas höchste<br />

Babyquote. Kin<strong>de</strong>rwägen und Dreirä<strong>de</strong>r verstopfen<br />

die Bürgersteige. Wer sind diese<br />

Mütter ? Was tun sie, wenn ihre Kin<strong>de</strong>r<br />

Abends schlafen ?<br />

Anat Fritz: „Ich hatte plötzlich die I<strong>de</strong>e Mützen<br />

zu häkeln. Damit habe ich ein Ventil für<br />

meinen kreativen Ausdruck geschaffen. Unter<br />

<strong>de</strong>m Label AUMi entstehen nun diverse<br />

Kreationen in verschie<strong>de</strong>nen Formen und<br />

Farben. Ich verkaufe sie für 30,- € je Stück<br />

und habe mittlerweile mehr Anfragen, als ich<br />

bewältigen kann.“<br />

Foto: JoX


INHALT<br />

Politnews Seite 6<br />

Fakten aus <strong>de</strong>m <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong><br />

Liskes Spaziergänge Seite 7<br />

Deutscher unter Deutschen<br />

Gesichter Seite 9-11<br />

Heute gibt es Reis ... Seite 9<br />

In Deutschland laufen alle ihrer Nase nach ... Seite 10<br />

Unterwegs Seite 12<br />

Wohnst du nur o<strong>de</strong>r bleibst du schon ? - Umzugsfotos<br />

Diskussion Seite 14<br />

<strong>Endstation</strong> <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> ?<br />

1989 - als alles begann.. Seite 16-19<br />

Anarchie, Aufbruch, Anachronismus<br />

Hel<strong>de</strong>n Seite 20<br />

3000 Kilometer zu Fuß quer duch Europa<br />

Baby <strong>Berg</strong> Boomers Seite 22-25<br />

Kolle 37 - die Stadt als Spiellandschaft ... Seite 22-23<br />

Neue europäische Regelung ... Seite 24<br />

Tipps und Termine für Kids ... Seite 25<br />

Zeitreise Seite 26<br />

Errinerungen an ein Automobil<br />

Suchen Fin<strong>de</strong>n Helfen Seite 28<br />

Das LSD-Spiel<br />

Brot & Spiele Seite 30<br />

Fußball-Ballett auf <strong>de</strong>m <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong><br />

Mo<strong>de</strong> vom P-<strong>Berg</strong> Seite 32<br />

Winter a<strong>de</strong>! Endlich frei! Mo<strong>de</strong> von www.lillililli.<strong>de</strong><br />

Freiraum Seite 34<br />

Cui Bono ? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

Lies mich Seite 35<br />

Berliner Mietshaus - eine Buchvorstellung<br />

Domblick Seite 36<br />

Kölner Fernsichten<br />

Ein Tag Seite 37<br />

Bäcker - Fotostory<br />

9<br />

16<br />

26<br />

Essen bei Chau Van<br />

“Bei mir ist <strong>de</strong>r Gast noch König aber<br />

<strong>de</strong>r Wirt ist Kaiser.”<br />

Strassenkunst o<strong>de</strong>r doch nur Schrott -<br />

eine Zeitreise


POLITNEWS<br />

Fakten, Fakten, Fakten……….<br />

POLITNEWS aus <strong>de</strong>m PRENZLAUER BERG<br />

Neue Sozialstadträtin im Amt<br />

Die BVV hat am 23. März die Diplompädagogin<br />

Lioba Zürn-Kasztantowicz zur Bezirksstadträtin für<br />

Gesundheit und Soziales gewählt. Die 52jährige<br />

SPD-Politikerin, die seit 1995 im Pankower Ortsteil<br />

Blankenburg lebt und bislang als Jugendhelferin in<br />

Friedrichshain-Kreuzberg tätig war, erwarten komplizierte<br />

Aufgaben. Unter ihrem Vorgänger Johannes<br />

Lehmann kam es im Sozialamt zu umfangreichen<br />

Falschbuchungen, durch die ein finanzieller<br />

Scha<strong>de</strong>n von vier Millionen entstan<strong>de</strong>n ist. Zu<strong>de</strong>m<br />

waren Anfang <strong>de</strong>s Jahres im Sozialamt ca. 30.000<br />

noch nicht abschließend bearbeitete Akten ent<strong>de</strong>ckt<br />

wor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r BVV bezeichnete es Zürn-<br />

Kastztantowizc als ihre wichtigste Aufgabe, die<br />

gravieren<strong>de</strong>n Mängel zielstrebig zu beseitigen und<br />

das Vertrauen <strong>de</strong>r Öffentlichkeit und <strong>de</strong>r BVV zurückzugewinnen,<br />

die von Lehmann über das Ausmaß<br />

<strong>de</strong>r Missstän<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rholt falsch informiert<br />

wor<strong>de</strong>n waren.<br />

Erster Spatenstich für »<strong>Prenzlauer</strong> Gärten«<br />

Für Berlins <strong>de</strong>rzeit größtes Wohnungsbauvorhaben<br />

ist am 5. April auf <strong>de</strong>m ehemaligen Brauereiareal<br />

zwischen Greifswal<strong>de</strong>r Straße und <strong>de</strong>r Straße<br />

Am Friedrichshain im Sanierungsgebiet Bötzowstraße<br />

<strong>de</strong>r erste Spatenstich erfolgt. Auf <strong>de</strong>m<br />

20.000 m² großen Grundstück will die <strong>Prenzlauer</strong><br />

Gärten Grundbesitz AG rund 38 Millionen Euro in<br />

<strong>de</strong>n Bau von zwei Apartmenthäusern und einer aus<br />

60 Einfamilienhäusern bestehen<strong>de</strong>n Reihenhaussiedlung<br />

nach britischem Vorbild investieren. Der<br />

Investor verpflichtete sich darüber hinaus im alten<br />

Brauereigebäu<strong>de</strong> eine Jugendfreizeitstätte einzurichten,<br />

die <strong>de</strong>r Bezirk anmieten wird.<br />

Ge<strong>de</strong>nktafel für Käthe Kollwitz<br />

Das Bezirksamt ehrt die Grafikerin und Bildhauerin<br />

Käthe Kollwitz mit einer Ge<strong>de</strong>nktafel, die am<br />

22. April, ihrem 60. To<strong>de</strong>stag, am ehemaligen<br />

Wohnhaus <strong>de</strong>s Ehepaars Kollwitz in <strong>de</strong>r heutigen<br />

Kollwitzstraße 56A enthüllt wird. Von 1891 bis 1943<br />

lebte die Künstlerin mit ihrem Mann, <strong>de</strong>m Arzt Dr.<br />

Karl Kollwitz, in <strong>de</strong>m Haus am Kollwitzplatz, das im<br />

Krieg zerstört und in <strong>de</strong>n neunziger Jahren durch<br />

einen Neubau ersetzt wor<strong>de</strong>n war. Die Kosten<br />

6 LSD<br />

übernimmt die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag,<br />

<strong>de</strong>r das Gebäu<strong>de</strong> gehört.<br />

Rückzug in Raten<br />

Nach <strong>de</strong>r Entscheidung <strong>de</strong>r Senatsverwaltung<br />

für Stadtentwicklung, die bei<strong>de</strong>n in unserem Bezirk<br />

gelegenen Quartiersmanagementgebiete Helmholtzplatz<br />

und Falkplatz 2007 aufzuheben, bereiten<br />

die QM-Teams <strong>de</strong>r S.T.E.R.N. GmbH jetzt ihren<br />

sukzessiven Rückzug vor. In einem bis Jahresmitte<br />

abzustimmen<strong>de</strong>n Aktionsplan soll die schrittweise<br />

Übertragung von Aufgaben <strong>de</strong>s Quartiersmanagements<br />

an das Bezirksamt und an bewohnergetragene<br />

Strukturen geregelt wer<strong>de</strong>n.<br />

Überprüft wer<strong>de</strong>n soll dabei auch <strong>de</strong>r geplante Einsatz<br />

<strong>de</strong>r für die Jahre 2005 bis 2007 bereits bewilligten<br />

QM-Mittel. Geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n soll nur Projekte,<br />

die nachweislich zur Verstetigung bislang<br />

erzielter Ergebnisse beitragen. Für das Helmholtzplatz-Gebiet<br />

stehen bis 2007 noch 4,7 und<br />

für das Falkplatz-Gebiet noch 1,2 Millionen Euro<br />

zur Verfügung. Auch <strong>de</strong>r Aktionsfonds -für bei<strong>de</strong><br />

Gebiete je 15.000 Euro- wird in diesem Jahr letztmalig<br />

vom Senat finanziert. Das QM-Büro in <strong>de</strong>r<br />

Senefel<strong>de</strong>rstraße 6 hat ab sofort nur noch donnerstags<br />

von 16 bis 19 Uhr geöffnet (Tel.<br />

74778221).<br />

BVV unterstützt Elterninitiative<br />

Die BVV Pankow hat sich jetzt <strong>de</strong>s Anliegens<br />

einer Eltern- und Anwohnerinitiative zur Erhöhung<br />

<strong>de</strong>r Verkehrssicherheit für Kin<strong>de</strong>r im Bereich <strong>de</strong>s<br />

Speilplatzes in <strong>de</strong>r Gethsemanestraße angenommen.<br />

Durch parken<strong>de</strong> Autos am Spielplatzrand<br />

wird die Sicht von Kin<strong>de</strong>rn, die <strong>de</strong>n Platz betreten<br />

o<strong>de</strong>r verlassen wollen, stark eingeschränkt. Auf<br />

Empfehlung <strong>de</strong>s Verkehrsausschusses hat die<br />

BVV das Bezirksamt aufgefor<strong>de</strong>rt, die Gefahren<br />

zügig zu beseitigen. Die Initiative schlägt vor, an<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gethsemanestraße zugewandten Seite<br />

<strong>de</strong>s Spielplatzes einen mit Pollern geschützten<br />

Fußweg einzurichten. Das Konzept soll En<strong>de</strong> April<br />

im Verkehrsausschuss vorgestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

Hartmut Seefeld, VorOrt Redaktion


„Boah, gibt’s hier viele Cafés die schon<br />

En<strong>de</strong> Februar die Tische rausstellen! Und diese<br />

Straßenmusiker überall! Und all die kleinen Galerien<br />

erst, wow!“<br />

Man kann ja über <strong>de</strong>n <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> viel Gutes<br />

sagen. Dass er sich ernsthaft am I<strong>de</strong>al einer<br />

multikulturellen Gesellschaft beteiligt, gehört lei<strong>de</strong>r<br />

nicht dazu. Das wur<strong>de</strong> mir aber auch erst bewusst,<br />

als ich kürzlich vor <strong>de</strong>n Obststiegen meines Vietnamesen<br />

prüfend an einer Hun<strong>de</strong>rtschaft Avocados<br />

herumfingerte. Nach<strong>de</strong>m sich die ersten fünfzig als<br />

unreif erwiesen hatten, ich aber nicht gewillt war<br />

aufzugeben, hatten sich meine sonstigen Sinne in<br />

ein meditatives Nirwana begeben. Daher bemerkte<br />

ich das Pärchen, das neben mir Kiwis begrabbelte<br />

erst, als die bei<strong>de</strong>n begannen, sich zu unterhalten.<br />

„Sag mal, was meinst Du, wohnen die eigentlich<br />

in ihrem La<strong>de</strong>n?“ Die Stimme gehörte einer circa<br />

22jährigen magersüchtigen Piepsblondine.<br />

GZSZ-Darstellerin vermutlich. Die leben ja neuer-<br />

LISKES SPAZIERGÄNGE<br />

Deutscher unter Deutschen<br />

dings fast alle in meiner Straße. „Wer <strong>de</strong>nn?“ fragte<br />

<strong>de</strong>r Kunststu<strong>de</strong>nt neben ihr zurück. Schwarze<br />

Hornbrille, Dutt mit Bleistifthalterung, die Schläfenhaare<br />

zu spitzen Hörnchen gesprayt. „Na, diese<br />

Vietnamesen! Die müssen doch irgendwo wohnen.<br />

Man sieht die immer nur in ihrem La<strong>de</strong>n.“ „Ei,<br />

weiß isch do’ net. Vielleischt in Hälläsdoff.“ Der<br />

Kunststu<strong>de</strong>nt kam wohl aus Hessen. „Glaub’ ich<br />

nicht. Die wohnen bestimmt in ihrem La<strong>de</strong>n.“ Entschie<strong>de</strong>n<br />

griff sich Blondi zwei Kiwis aus <strong>de</strong>r Kiste<br />

und verschwand in das Geschäft. König Frisur<br />

trottete hinterdrein, und ich blieb sprachlos zurück.<br />

Nicht nur Kin<strong>de</strong>r, auch GZSZ-Darstellerinnen stellen<br />

manchmal verblüffen<strong>de</strong> Fragen, dachte ich.<br />

Und: Ja, wo wohnen sie <strong>de</strong>nn nun wirklich, die<br />

Vietnamesen? Wo gehen sie selber einkaufen? Wo<br />

trinken sie Kaffee? Prüfend sah ich mich im Straßenbild<br />

um. Ein paar schwarzgeklei<strong>de</strong>te Musiker<br />

hetzten auf <strong>de</strong>m Weg zur Probe vorbei. Die Grafikerin<br />

aus meinem Haus machte mit ihrem <br />

LSD<br />

7


LISKES SPAZIERGÄNGE<br />

Zwillingskin<strong>de</strong>rwagen Jagd auf unachtsame Passanten.<br />

Und vor <strong>de</strong>m Biola<strong>de</strong>n gegenüber lümmelten<br />

ein paar Öko-Avantgardisten, um sich bei überteuertem<br />

Grüntee über die Lidl-Tüten <strong>de</strong>r vorbeischlurfen<strong>de</strong>n<br />

Hartz IV-Lebenskünstler zu mokieren.<br />

Kein Türke, Araber o<strong>de</strong>r Afrikaner weit und breit.<br />

Kopftuchprozess und Asylrecht – Polit<strong>de</strong>batten einer<br />

fernen, frem<strong>de</strong>n Welt. Wohin ich auch blickte:<br />

Bleichgesichter. Und <strong>de</strong>r einzige Vietnamese<br />

außerhalb <strong>de</strong>s Gemüsela<strong>de</strong>ns verkaufte zwischen<br />

<strong>de</strong>n Kaisers-Mülltonnen russische West-Zigaretten.<br />

Multi-Kulti sieht an<strong>de</strong>rs aus.<br />

Es muss ja nicht gleich Kreuzberg o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Wedding sein, aber wie ich da so stand, erinnerte<br />

ich mich an die Geschichte einer Potsdamer Bekannten.<br />

Die war von einem Schwarzwald-Trip mit<br />

<strong>de</strong>n Worten heimgekehrt: „Da laufen ja selbst im<br />

kleinsten Kaff überall Türken rum. Total irre!“ Ich<br />

glaube ‚Türken’ war ihr Sammelbegriff für Menschen<br />

mit irgendwie bräunlicher Haut,und sie meinte<br />

es bestimmt nicht böse. Sie war eher fasziniert.<br />

Denn tatsächlich gibt es ein solches Bild in ost<strong>de</strong>utschen<br />

Kleinstädten – zu <strong>de</strong>nen ich an dieser<br />

Stelle auch Potsdam zählen möchte – einfach<br />

nicht. Das ist einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> warum ich dort nicht<br />

wohnen könnte, warum ich mein Berlin liebe. Abermals<br />

sah ich mich im um. War das überhaupt noch<br />

Berlin hier? Selbst Zehlendorf hat ein bunteres<br />

Straßenbild. Nicht was Frisuren betrifft natürlich,<br />

aber in Sachen Hautfarbe. Die drei indischen Restaurants<br />

in <strong>de</strong>r Nebenstraße fielen mir ein. In<strong>de</strong>r<br />

beim Einkaufen? Pustekuchen. Trippelten nicht bei<br />

<strong>de</strong>r täglichen Szene-Massenmo<strong>de</strong>nschau auch zu-<br />

8 LSD<br />

weilen ein paar Schwarze die Showtreppe am U-<br />

Bahnhof Eberswal<strong>de</strong>r Straße hinab? Ja, aber die<br />

hatten immer Instrumente dabei. Das war ihr Gemüsela<strong>de</strong>n.<br />

Nicht mal <strong>de</strong>r bayrische Innenminister<br />

hätte gegen diese Form von Multikultur etwas einzuwen<strong>de</strong>n.<br />

Tatsächlich: Ohne es zu merken, war<br />

ich in einer ost<strong>de</strong>utschen Kleinstadt gestran<strong>de</strong>t,<br />

die zu allem Überfluss auch noch hauptsächlich<br />

von Schwaben, Bayern, Hessen und an<strong>de</strong>ren Germanen-Stämmen<br />

aus <strong>de</strong>m Westen bevölkert wur<strong>de</strong>!<br />

All das Metropolengetue, all die nie zuvor gehörten<br />

Namen dieser DJ’s aus New York und Tokio<br />

die von <strong>de</strong>n kryptischen Plakaten mir unbekannter<br />

Tanzclubs dräuten, waren nur Tünche. Ich war ein<br />

Deutscher unter Deutschen. Es schau<strong>de</strong>rte mich.<br />

Meine Finger hörten auf, die Avocados zu betasten.<br />

Blondi und König Frisur verließen <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n.<br />

„Gehst Du heut abend auch zu Dr. Kinio und Kazzo-Beat?“<br />

fragte er. „Oh nein! Ist das heute? Ich<br />

wollte eigentlich zu Sergeant Dickmaster,“ antwortete<br />

sie, fiepste unvermittelt laut auf und we<strong>de</strong>lte<br />

mit ihren bunt bepinselten Klauen in <strong>de</strong>r Luft herum.<br />

„Iiiiiiiih! Das ist schrecklich! Nie weiß ich wo ich<br />

hingeh’n soll. Hier ist immer so viel gleichzeitig.<br />

Und irgendwie ist das alles so .... kulti!“ Sie sagte<br />

tatsächlich ‚kulti’ ...<br />

Ich beschloss <strong>de</strong>n Tag aufzugeben, nahm ein<br />

paar Äpfel und griff mir drinnen noch eine Flasche<br />

rheinhessischen Dornfel<strong>de</strong>r. Die Vietnamesin und<br />

ich wünschten uns ein schönes Wochenen<strong>de</strong>. Ich<br />

wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Versuchung, sie nach ihrer Wohnung<br />

zu fragen.<br />

Text: Markus M. Liske, Illustrationen: Christian Hückstädt


10 LSD


LSD<br />

11


Wohnst du nur<br />

o<strong>de</strong>r bleibst du schon ?<br />

12 LSD<br />

Fotos von Denis Engel


DISKUSSION<br />

Berlin, Berlin ick hab` Dir wie<strong>de</strong>r –<br />

<strong>Endstation</strong> <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>?<br />

Egal ob man erst ein Jahr hier wohnt o<strong>de</strong>r zehn: Der <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> übt auf die meisten seiner Bewohner<br />

und Bewohnerinnen eine eigentümliche Anziehungskraft aus. Vieles scheint hier möglich, ein ganz beson<strong>de</strong>rer<br />

Kosmos im Herzen Berlins. Einige ziehen weg, raus ins Grüne meist, ganz viele jedoch bleiben und<br />

können sich erstmal gar nicht vorstellen, woan<strong>de</strong>rs zu leben. Ob aus Schöneberg, Nie<strong>de</strong>rbayern o<strong>de</strong>r aus<br />

aller Herren Län<strong>de</strong>r: Hängt unser Herz am Prenzelberg wie an einem Stückchen Heimat? LSD ist dieser Frage<br />

nachgegangen und hat eine kleine Diskussion angestoßen…<br />

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren:<br />

Robert aus Nie<strong>de</strong>rbayern, seit 1996 (prenzelbergnah)<br />

im Wedding; Ilona seit 15 Jahren in <strong>de</strong>r Lychener<br />

Straße; Marie seit 1930 in Berlin; Jasmin<br />

aus <strong>de</strong>r Türkei seit 1980 in Berlin, seit 5 Jahren im<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>; Thea aus Österreich, seit 10 Jahren<br />

in Berlin, 7 Jahre in <strong>de</strong>r Raumer Straße; Kathrin<br />

aus England, seit 1998 im Kiez; Thomas Z.<br />

Westberliner seit 5 Jahren hier; Susanne aus<br />

Österreich, 7 Jahre in Berlin; Martin, ursprünglich<br />

aus Tschechien, in <strong>de</strong>r BRD aufgewachsen; viele<br />

Jahre im Kiez; Thomas aus Ostberlin, 8 Jahre im<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>.<br />

Robert: Land, Stadt, Stadtteil, eine Landschaft…<br />

was ist Heimat überhaupt?<br />

Ilona: Ich <strong>de</strong>nke, man kann es so einfach nicht<br />

<strong>de</strong>finieren. Wo man sich wohlfühlt ist Heimat.<br />

Robert: Heimat hat vielleicht mehr mit <strong>de</strong>n Menschen,<br />

die einen umgeben zu tun, dieses Zuhausegefühl,<br />

die nächste Umgebung, die Straßen, das<br />

blö<strong>de</strong> Wort „Atmosphäre“, wie die Leute miteinan<strong>de</strong>r<br />

umgehen, wie sie re<strong>de</strong>n, die Häuser, wie sie<br />

aussehen… Bezogen auf <strong>de</strong>n <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> haben<br />

wir uns gefragt, wie ist dieses Gefühl für Leute,<br />

die schon 20 o<strong>de</strong>r 30 Jahre o<strong>de</strong>r noch länger<br />

hier leben? Wie ist dieses Gefühl für sie in Anbetracht<br />

<strong>de</strong>r großen Verän<strong>de</strong>rungen innerhalb <strong>de</strong>s<br />

Bezirkes. Ich will jetzt nicht unbedingt die Ost-<br />

West Schiene in die Diskussion bringen und wie<br />

die ganzen Schicki-Micki Leute hier eingefallen<br />

sind…<br />

Thomas: Wenn es aber doch so ist…<br />

Robert: Die Frage ist, hat <strong>de</strong>r <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong><br />

immer noch die Kraft von <strong>de</strong>n Leuten, die hier heimisch<br />

sind. Kann man hier selbst als<br />

Zugezogener heimisch wer<strong>de</strong>n?<br />

Marie: Ich <strong>de</strong>nke schon dass die Alten, die hier<br />

geblieben sind, sich noch heimisch fühlen…Viele<br />

14 LSD<br />

sind ja schon weggestorben. Wir waren ja ein Viertel,<br />

das sehr überaltert war…es war furchtbar, nur<br />

Alte auf <strong>de</strong>n Plätzen. Die jungen Leute sind in <strong>de</strong>r<br />

DDR Zeit alle weggezogen in die Neubauten, nach<br />

Marzahn, Hellersdorf…Da war mehr Komfort. Viele<br />

Wohnungen hier hatten keine Bä<strong>de</strong>r, Außentoiletten<br />

und so…In <strong>de</strong>r Göhrener Straße bin ich nun<br />

die letzte Alte, die da schon immer haust…Naja,<br />

weil ich aber schon immer ein Ausreisser war, habe<br />

ich die halbe Welt gesehen und weiß auch wie`s<br />

woan<strong>de</strong>rs aussieht.<br />

Thea: Aber die Heimat ist für Dich hier in Berlin?<br />

Marie: Ursprünglich wollte ich gar nicht bleiben.<br />

Aber dann war ja die Mauer, was sollte ich machen<br />

außer hier bleiben? Abgehauen bin ich immer wie<strong>de</strong>r,<br />

bis dann die Kin<strong>de</strong>r kamen, da wur<strong>de</strong> ich dann<br />

sesshafter. Jetzt bleibe ich, das Reisefieber ist vorbei.<br />

Ich habe mir ein kleines Paradies in meinem<br />

Haus geschaffen, mit meinem Garten unten fühle<br />

ich mich wohl.<br />

Robert: Das heißt, Du hast keine sentimentalen<br />

Gefühle, von wegen vor 20 Jahren war alles<br />

irgendwie besser…<br />

Marie: Um Gottes willen, es muß sich doch verän<strong>de</strong>rn!<br />

Wie gut, dass so viele junge Leute gekommen<br />

sind. Die Gespräche <strong>de</strong>r Alten drehten sich<br />

doch nur um Krankheiten, mir tut`s da weh, mich<br />

zwickt`s dort…Nein, die Entwicklung war schon<br />

gut. Es war ja alles so dreckig hier, das Göhrener<br />

Eck völlig verwahrlost. Ich kenne die Häuser ja<br />

noch, als sie ganz neu erbaut waren, Anfang <strong>de</strong>s<br />

letzten Jahrhun<strong>de</strong>rts, da sahen sie aus wie heute.<br />

Nein, die Entwicklung gefällt mir.<br />

Thea: Jasmin, Deine Familie kommt ursprünglich<br />

aus <strong>de</strong>r Türkei, Du hast lange in Schöneberg gelebt<br />

und bist seit fünf Jahren hier im Bezirk. Kannst<br />

Du uns beschreiben, was für Dich im Prenzelberg<br />

Heimat ist?<br />

Jasmin: Eigentlich alles, die Sprache, die Men-


schen, wo ich lebe, d.h. die Möglichkeiten, die mir<br />

<strong>de</strong>r Ort anbietet, wo ich lebe, alleine aber auch mit<br />

Freun<strong>de</strong>n. Dass es meinem Kind hier gut geht...<br />

Thea: Nenn´ uns doch mal drei Grün<strong>de</strong>, warum<br />

es Dir hier total gut geht und vielleicht zwei warum<br />

nicht…<br />

Jasmin: Erstens weil <strong>de</strong>r Mensch, <strong>de</strong>n ich liebe<br />

hier lebt; zweitens die Arbeitsmöglichkeiten, die<br />

Selbstständigkeit habe ich hier geschafft und<br />

schließlich, dass es meinem Kind hier auch sehr<br />

gut geht…<br />

Thea: Dann bist Du hier zuhause?<br />

Jasmin: Ja.<br />

Robert: Könntest Du Dir auch vorstellen hier alt<br />

zu wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r gibt es vielleicht an<strong>de</strong>re Perspektiven<br />

für Dich? An<strong>de</strong>rs herum gefragt: Könnte <strong>de</strong>r<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> eine „Durchgangsstation“ sein?<br />

Jasmin: Naja, je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r ein Kind hat wünscht<br />

sich bestimmt, dass es in <strong>de</strong>r Natur groß wird.<br />

Thea: Du wür<strong>de</strong>st also schon mal irgendwann<br />

wegziehen?<br />

Jasmin: Schwierig, wenn das Kind zur Schule<br />

geht, dann ist es auch nicht mehr so einfach hinund<br />

herzuziehen…Ich wünsche mir schon, meinem<br />

Sohn auch eine an<strong>de</strong>re Welt zu zeigen, <strong>Berg</strong>e<br />

und Meer. Und das nicht nur für zwei Wochen,<br />

son<strong>de</strong>rn für eine längere Zeit…<br />

Thea: Kathrin, Du hast zwei Kin<strong>de</strong>r, drei und vier<br />

Jahre, alle hier geboren. Du wohnst seit sieben<br />

Jahren hier und kommst ursprünglich aus England.<br />

Dein Mann, auch Englän<strong>de</strong>r ist seit fast zehn<br />

Jahren hier. Was hat Euch hierhin „verschlagen“?<br />

Kathrin: Ja, wir haben bei<strong>de</strong> Deutsch in Berlin<br />

studiert. Waren zwischenzeitlich ein Jahr in Augsburg,<br />

kamen wie<strong>de</strong>r zurück und plötzlich sind<br />

neun Jahre vergangen…Dabei war <strong>de</strong>r Wechsel<br />

Augsburg-Berlin nicht leicht. Berlin empfand ich<br />

als grau, dreckig, überall Hun<strong>de</strong>kacke…Ich bin<br />

dann ein Jahr um die Welt gereist und danach war<br />

Illustration: Olaf Domroese, tshunx@web.<strong>de</strong><br />

das Ankommen in Berlin auch wesentlich einfacher.<br />

Wir diskutieren eigentlich immer hin und her,<br />

ob wir zurückgehen nach England, fragen uns<br />

aber auch, ob wir es da wirklich besser haben<br />

wür<strong>de</strong>n. An sich haben wir hier eine sehr gute Lebensqualität.<br />

Bei einem Wechsel käme es darauf<br />

an, wo man dann wohnen wür<strong>de</strong>, je nach Beruf<br />

usw.. Wir müssten nach London gehen, das wäre<br />

auch nicht unbedingt viel besser…<br />

Thea: Man hat auch das Gefühl, dass man das<br />

gar nicht so selbst entschei<strong>de</strong>t. Wenn man hier einen<br />

Job hat usw. dann bleibt man halt hier.<br />

Kathrin: Ja, wie Jasmin schon sagte, sobald die<br />

Kin<strong>de</strong>r neue Freun<strong>de</strong> haben, hast du auch neue<br />

Freun<strong>de</strong>…<strong>de</strong>in Kreis bil<strong>de</strong>t sich durch die Kita,<br />

durch die Arbeit. Mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn, das macht<br />

schon sehr viel aus. Hier sind die einfach sehr gut<br />

aufgehoben. Weil wir noch Kitakin<strong>de</strong>r haben, können<br />

wir außer<strong>de</strong>m immer noch ans Meer nach<br />

Hause, nach England.<br />

Thea: England ist also schon immer noch „nach<br />

Hause“…<br />

Kathrin: Ja. Für die Kin<strong>de</strong>r ist jedoch mit „we´re<br />

going home“ Berlin gemeint… Das ist halt so; wird<br />

immer so sein, <strong>de</strong>nke ich.<br />

Thea: Aber Du fühlst dich hier zuhause…<br />

Kathrin: Ja, doch. Berlin hat auch eine Son<strong>de</strong>rstellung<br />

innerhalb Deutschlands, man kann es<br />

nicht vergleichen… es ist nicht typisch <strong>de</strong>utsch<br />

o<strong>de</strong>r so. Ich könnte mir inzwischen auch nicht vorstellen,<br />

in einer an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>utschen Stadt zu leben.<br />

Thea: Könntest Du hier alt wer<strong>de</strong>n?<br />

Kathrin: Nein, ich möchte schon mein Haus mit<br />

Gärtchen…Die Frage ist halt, gehen wir dann nicht<br />

gleich nach England zurück. Das ist alles noch unklar.<br />

<br />

LSD 15


1989 ALS ALLES BEGANN...<br />

Anarchie, Aufbruch,<br />

Anachronismus<br />

Die freie Kneipenszene begann in <strong>de</strong>n Wen<strong>de</strong>zeiten<br />

Text: Jürgen Oxenknecht, Fotos: T. West, JoX<br />

Robert und Andre arbeiteten viel im Winter<br />

89/90, trotz<strong>de</strong>m blieb Wochen später kaum Geld<br />

übrig. Das erste unabhängige Café <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>zeit<br />

im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> musste im Frühjahr 1990 vorübergehend<br />

schließen. „Mein Geschäftspartner fotografierte<br />

sehr viel“, sagt Andre. Später tauchten<br />

diese Fotos in seiner Stasiakte auf. Robert verschwand<br />

spurlos im April. Es war eine von vielen<br />

Enttäuschungen nach <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>r<br />

DDR. Viele Menschen verloren ein Stück ihrer Heimat.<br />

Gibt es noch Cafés, in <strong>de</strong>nen man spürt, dass<br />

<strong>de</strong>r <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> früher zur Hauptstadt <strong>de</strong>r DDR<br />

gehörte ?<br />

Stubbenkammerstrasse 6<br />

Ein Abend im April 2005, Donnerstag, 22 Uhr.<br />

Die Stubbenkammer Straße im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> ist<br />

überfüllt von parken<strong>de</strong>n Autos. Im fahlen Licht <strong>de</strong>r<br />

Straßenlaternen spaziert eine mü<strong>de</strong> drein blicken<strong>de</strong><br />

Frau an einem von Kletterpflanzen bewachsenem,<br />

unsaniertem Haus entlang. Im Erdgeschoss dieses<br />

Altbaus mit <strong>de</strong>r Hausnummer 6 beleuchtet das im<br />

Schaufenster installierte Aquarium <strong>de</strong>s Cafe Bumerang<br />

<strong>de</strong>n Bürgersteig. Ein Gast öffnet die braune<br />

Stahltür, tritt heraus und torkelt nachhause. Im Bumerang<br />

läuft wie so oft eine CD <strong>de</strong>r DOORS. Es<br />

singt Jim Morrison. Er scheiterte an seinen Illusionen,<br />

ähnlich wie die DDR. Bei<strong>de</strong>n fehlte am En<strong>de</strong><br />

die Kraft weiter zu leben.<br />

Im Cafe sitzen nur wenige Gäste. Links neben<br />

<strong>de</strong>r Theke führt ein dunkler Gang zum hinteren<br />

Raum. Dort spielt André Kriegel, <strong>de</strong>r Inhaber <strong>de</strong>s<br />

Bumerang, Billard. Während er sich über die Kugeln<br />

beugt, sagt er zu Jens, ohne ihn anzuschauen:<br />

„Mach Dir Dein Bier bitte alleine und störe mich<br />

nicht beim Spielen.“ Jens kehrt zur Theke zurück<br />

16 LSD<br />

und zapft sich ein Bier. Viele bedienen sich hier<br />

selbst – man kennt sich.<br />

Gewinner <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong><br />

Jens ist fast täglich hier, da er über <strong>de</strong>m Bumerang<br />

wohnt. Seine langen Haare hat er zu einem<br />

Zopf zusammengebun<strong>de</strong>n. 1994 kam er zum Studium<br />

nach Berlin und brach es nach <strong>de</strong>m Vordiplom<br />

ab. Jetzt betreibt er selbstständig eine mobile<br />

Mittelalterbäckerei. Zu DDR Zeiten arbeitete er<br />

als Landwirt in <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlausitz.. „Andrés Persönlichkeit<br />

zeichnet das Bumerang aus, er ist ein professioneller<br />

Dilettant“, sagt er. Jens genießt, dass<br />

er hier seine Ruhe hat, obwohl er <strong>de</strong>m Wirt <strong>de</strong>s<br />

Umsatzes wegen mehr Gäste gönnen wür<strong>de</strong>.<br />

„Hier triffst Du Menschen aus allen sozialen<br />

Schichten. Stu<strong>de</strong>nten, Hausfrauen, Doktoren, was<br />

Du willst. Ist schon irgendwie ein kultureller Mittelpunkt.<br />

Ja, kann man schon sagen.“. Die Geschäfte<br />

von Jens laufen gut. „Ich fühle mich als Gewinner<br />

<strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>“, sagt er um dann nach<strong>de</strong>nklich<br />

einzuwen<strong>de</strong>n: „Aber im Osten wäre ich auch<br />

glücklich gewor<strong>de</strong>n.“ Er bestellt ein Bier bei André,<br />

<strong>de</strong>r keine Lust mehr auf Billard hat. Er hat das letzte<br />

Spiel verloren. Das passiert <strong>de</strong>m Chef selten.<br />

VEB Elektro Kohle Lichtenberg<br />

André Kriegel, ein großer, schlaksiger Typ, hat<br />

kurze schwarze Locken, die zunehmend lichter<br />

wer<strong>de</strong>n. Seit 1990 führt er das Cafe Bumerang.<br />

Ursprünglich kam er aus Nauen, doch 1985 zog er<br />

in <strong>de</strong>n <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>, da er bei VEB Elektro Kohle<br />

Lichtenberg als Werkzeugmacher zu arbeiten<br />

begann. Er verdiente für Ostverhältnisse sehr gut.<br />

„1.200 Mark erhielt ich monatlich. Ich war dafür


Viele bedienen sich hier selbst – man kennt sich.<br />

verantwortlich, westliche Maschinen im Betrieb aufzubauen“,<br />

sagt er, „doch im September 1989 sollte<br />

ich in Polen wegen eines Streiks <strong>de</strong>r Arbeiter<br />

Montagearbeiten ausführen. Ich weigerte mich und<br />

wäre wegen Arbeitsverweigerung vor Gericht gekommen.<br />

Deshalb habe ich gekündigt und war<br />

zum zweiten Mal in <strong>de</strong>r DDR ohne Job.“ Er wollte<br />

darauf im Tierpark Friedrichsfel<strong>de</strong> im Reptilienhaus<br />

arbeiten, doch die Stasi ließ es nicht zu. André galt<br />

als politisch subversiv. En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Achtziger Jahre<br />

saß er mehrmals in Untersuchungshaft, weil er <strong>de</strong>n<br />

Dienst in <strong>de</strong>r Nationalen Volksarmee verweigerte.<br />

„Wehrkraftzersetzung nannte man das damals“,<br />

sagt André lächelnd. Amnesty International bezahlte<br />

sein Gerichtsverfahren.<br />

Heimweh nach Berlin<br />

Die Stahltür <strong>de</strong>s Cafés öffnet sich, ein weiterer<br />

Gast kommt herein und gesellt sich zu André an die<br />

Theke. Es ist Thorsten, <strong>de</strong>n hier alle Fischi nennen.<br />

„Das Bumerang ist eines <strong>de</strong>r letzten Cafes aus <strong>de</strong>r<br />

Wen<strong>de</strong>zeit. Drumherum gibt es nur Geldschup-<br />

pen“, erzählt Thorsten, von Beruf Physiotherapeut,<br />

Fotograf und Spieleerfin<strong>de</strong>r. Er wohnte wegen seiner<br />

dreijährigen Tochter eine Zeitlang in Ba<strong>de</strong>n<br />

Württemberg. „Das ’schaffe, schaffe Häusle baue’<br />

ging mir auf die Nerven.“ Er verdiente im Sü<strong>de</strong>n<br />

Deutschlands 40 Prozent mehr als in Berlin, doch<br />

nach einem Jahr hatte er Heimweh nach seinem<br />

Kiez. „Das Bumerang hat einen familiären Charakter.<br />

Es ist eine Zufluchtsstätte für Romantiker und<br />

Nostalgiker. Hier treffe ich plötzlich alte Bekannte,<br />

die ich jahrelang nicht gesehen habe. Gäbe es das<br />

Bumerang nicht, wüsste ich nicht, wo ich noch<br />

hingehen sollte.“<br />

Cafe ZK<br />

Im Januar 1990 nannte sich das Cafe Bumerang<br />

noch Cafe ZK. „Alle dachten es be<strong>de</strong>utete<br />

Zentralkomitee, nee – ZUM KOTZEN war die Situation<br />

in <strong>de</strong>r DDR“, sagt André. „Wir waren Anarchisten<br />

und wollten <strong>de</strong>n spießigen Stasiapparat<br />

loswer<strong>de</strong>n.“ Das Cafe ZK existierte schon vor <strong>de</strong>m<br />

Cafe Schliemann und <strong>de</strong>m Cafe Westphal,<br />

LSD 17


1989 ALS ALLES BEGANN...<br />

die ihm erst Wochen später folgten. Im Hausdurchgang<br />

hatten sie die Tür <strong>de</strong>r linken Erdgeschosswohnung<br />

aufgebrochen. Dahinter trafen sich Ossis,<br />

die mit <strong>de</strong>m alten System abgeschlossen hatten.<br />

Keiner rechnete damit, dass nur kurze Zeit später<br />

<strong>de</strong>r Westen alles was sie kannten einnebeln wür<strong>de</strong>.<br />

Die Räume <strong>de</strong>s Cafes beherbergten in <strong>de</strong>n siebziger<br />

Jahren eine Fleischerei. Einige Zwischenwän<strong>de</strong><br />

hatten die Betreiber mit <strong>de</strong>m Vorschlaghammer geöffnet.<br />

Überall stan<strong>de</strong>n zerborstene Sessel und Sofas<br />

aus DDR Produktion. Die Luft roch streng nach<br />

KARO Zigaretten, einer Marke, die Jugendliche aus<br />

<strong>de</strong>m Westen stolz in <strong>de</strong>r Heimat ihren Freun<strong>de</strong>n<br />

präsentierten. Sie war härter als eine ROTH HÄND-<br />

LE. So schmeckte <strong>de</strong>r Osten. „Es war ein nichtkommerzielles<br />

Infocafe“, sagt André lachend, „von<br />

<strong>de</strong>n Wessis haben wir 1:1 abkassiert, harte Devisen<br />

eben“.<br />

Der zweite Anlauf<br />

Nach<strong>de</strong>m das Café ZK im Juni 1990 zugemacht<br />

hatte, eröffnete André im Dezember 1990 in<br />

<strong>de</strong>n selben Räumen ein neues Café. Er nannte es<br />

Bumerang. „Ich wollte mit <strong>de</strong>m Namen ausdrücken,<br />

dass wir wie<strong>de</strong>r da sind und einen zweiten Anlauf<br />

nehmen.“ Mitte <strong>de</strong>r Neunziger Jahre liefen die<br />

Geschäfte sehr gut. Es waren immer noch die<br />

Nachwen<strong>de</strong>jahre. Der Westen war bislang nur zum<br />

Teil im Helmholtzkiez angekommen. Alles war in<br />

Bewegung und immer noch neu und aufregend.<br />

Penner und Punks mit ihren Hun<strong>de</strong>n gehörten zum<br />

Straßenbild. „Ich habe damals mit <strong>de</strong>m verdienten<br />

Geld zeitweilig die Hamburger Hafenstrasse und<br />

weitere linke Projekte unterstützt“, sagt André. „Damals<br />

war ich I<strong>de</strong>alist.“ Doch es wur<strong>de</strong> schwieriger.<br />

Alte Bewohner zogen weg und das Ausgehklientel<br />

<strong>de</strong>s <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>es glich immer mehr <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

bayerischen Hauptstadt. „Rund um <strong>de</strong>n Kollwitzplatz<br />

wohnen Besserverdienen<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>m Helmholtzplatz<br />

tummeln sich studierte Mütter mit ihren<br />

Kin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>ren Männer im Medienbereich anschaffen<br />

und die Kastanienallee verkommt zum Ball <strong>de</strong>r<br />

Eitelkeiten“, sagt André teilnahmslos, „meine frühere<br />

Kundschaft kann sich das Leben im Kiez kaum<br />

noch leisten. Viele grün<strong>de</strong>ten eine Familie und mussten<br />

wegen <strong>de</strong>r hohen Mieten in angrenzen<strong>de</strong> Bezirke<br />

umziehen.“<br />

Der Unfall<br />

18 LSD<br />

Im Sommer 2000 krachte es. Die Umsätze wa-<br />

ren schlecht und seine Liebesbeziehung zerbrach.<br />

André floh nach Kreta. Er hatte vor, niemals nach<br />

Berlin zurück zu kehren, doch auf <strong>de</strong>r Insel traf er<br />

eine <strong>de</strong>utsche Touristin. Sie flogen gemeinsam<br />

Richtung Indien. Nach einem halben Jahr vermisste<br />

er seinen Sohn Paul. Deshalb kam er wie<strong>de</strong>r<br />

nach Hause.<br />

Das Bumerang war während seiner Abwesenheit<br />

abgewirtschaftet wor<strong>de</strong>n. Er kämpfte gegen<br />

die Schul<strong>de</strong>n an und stürzte im Juli 2001 beim<br />

Sportklettern ab. Das kostete ihn vier Wochen<br />

André Kriegel - seit über 15 Jahren Wirt im<br />

Cafe Bumerang<br />

Krankenhaus und vier Wochen Reha-Klinik. Danach<br />

musste er mit Krücken hinter <strong>de</strong>r Theke stehen.<br />

Aus <strong>de</strong>n Armen und Beinen hingen Schläuche,<br />

die das Wundwasser <strong>de</strong>r zurückliegen<strong>de</strong>n<br />

Operationen abtransportierten. Er kämpfte um das<br />

Überleben seines La<strong>de</strong>ns, um seine finanzielle Existenz<br />

.<br />

Das Bumerang existiert seit 15 Jahren. Viel<br />

Geld wur<strong>de</strong> hier nie verdient. Das Mobiliar hat <strong>de</strong>r<br />

Wirt in <strong>de</strong>n Jahren nach und nach zusammengetragen.<br />

Auf <strong>de</strong>n Tischen stehen Kerzen, die sich im<br />

Aquarium <strong>de</strong>r Fensterfront spiegeln. Die RAF-Plakate<br />

aus Nachwen<strong>de</strong>zeiten sind verschwun<strong>de</strong>n.<br />

Nur das Schwarzweiß-Poster von Erich Honecker<br />

mit Kapitänsmütze erinnert an frühere Zeiten. En<strong>de</strong>


1989 hofften viele, dass sich etwas Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s<br />

än<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>.<br />

Der Mikrokosmos<br />

Während <strong>de</strong>r <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> sich seit <strong>de</strong>r<br />

Wen<strong>de</strong> völlig verän<strong>de</strong>rt hat, scheint im Bumerang<br />

die Zeit still zu stehen. „Ich liebe und hasse das Bumerang“,<br />

sagt Katrin, von Beruf Baumpflegerin und<br />

studierte Kunstpädagogin. „Diese Straße ist mein<br />

Zuhause und im Sommer trifft sich die Nachbarschaft<br />

an <strong>de</strong>n Biertischen <strong>de</strong>s Bumerang. Es ist wie<br />

ein Dorf“. Sie kam 1996 aus Westberlin in <strong>de</strong>n<br />

Helmholtzkiez, zurück will sie nicht mehr. Als sie vor<br />

zwei Jahren für ihren Studienabschluss lernte, reduzierte<br />

sie ihre Besuche. „Ich stellte plötzlich fest,<br />

dass mir <strong>de</strong>r Mikrokosmos <strong>de</strong>s Bumerang zu klein<br />

gewor<strong>de</strong>n war.“, sagt sie, „Was ich aber immer<br />

noch einzigartig fin<strong>de</strong> ist, dass es wahrscheinlich<br />

die einzige Kneipe Berlins ist, in <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Gast<br />

manchmal entschuldigen muss, wenn er ein Bier<br />

bestellt.“ „Hier ist <strong>de</strong>r Gast noch König, doch <strong>de</strong>r<br />

Wirt ist Kaiser“, pflegt André zu sagen. Kommt jemand<br />

Neues in seine Räume, taxiert er ihn manchmal<br />

danach, ob er Wessi o<strong>de</strong>r Ossi sei. „Die Wessis<br />

sind einfach cleverer, als wir“, gibt er zu, „sie<br />

verkaufen sich besser, nehmen sich was sie brauchen<br />

und fragen nicht lange, ob es OK ist. Im<br />

Osten war <strong>de</strong>r Zusammenhalt stärker. Wir brauchten<br />

einan<strong>de</strong>r mehr und Geld hatte eine geringere<br />

Be<strong>de</strong>utung.“<br />

Das Leben war ein Traum<br />

Manchmal sehnt sich André „seine“ DDR zurück.<br />

Nicht weil damals alles besser war, son<strong>de</strong>rn<br />

weil die Regeln, gegen die er kämpfte, übersichtlicher<br />

waren. Nun kämpft je<strong>de</strong>r für sich, um Geld,<br />

Erfolg, sozialen Status o<strong>de</strong>r einfach nur um das<br />

nackte Überleben. „Keine Existenzprobleme haben<br />

– ist das nicht Freiheit?“, fragt sich André. „Wir<br />

träumten vom Sozialismus, jetzt leben wir im real<br />

existieren<strong>de</strong>n Kapitalismus. Je<strong>de</strong>r Idiot, <strong>de</strong>r Geld<br />

o<strong>de</strong>r Macht hat, gilt als erfolgreich. Ist das <strong>de</strong>r Maßstab<br />

dafür, ob wir glücklich und sinnvoll leben?“ Jochen,<br />

<strong>de</strong>r neben ihm sitzt, nickt zustimmend. Er ist<br />

einer <strong>de</strong>r wenigen, die seit 15 Jahren das Bumerang<br />

besuchen. „Ich wur<strong>de</strong> in West<strong>de</strong>utschland geboren<br />

und war immer auf <strong>de</strong>r Jagd nach <strong>de</strong>m<br />

Außergewöhnlichen, da mich das Normale seit jeher<br />

anwi<strong>de</strong>rte. Im Dezember 89 zog ich als Hausbesetzer<br />

in <strong>de</strong>n <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> und genoss <strong>de</strong>n<br />

1989 ALS ALLES BEGANN...<br />

Zwischenraum, die Zeit in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Osten aufhörte<br />

zu existieren und <strong>de</strong>r Westen hier noch nicht angekommen<br />

war. Damals bekam ich eine Vorstellung<br />

davon, wie es sich anfühlt, wenn sich Strukturen<br />

auflösen. Das Leben war ein Traum. Alles schien<br />

möglich. Ich glaube, ich war damals glücklich.“ Jochen<br />

kommt oft ins Bumerang, um sich <strong>de</strong>r alten<br />

Zeiten zu erinnern. „Ich lernte auch Stasi-Mitarbeiter<br />

kennen und stellte fest, dass sie <strong>de</strong>n West-Kar-<br />

rieristen charakterlich ähnelten. Scheiße schwimmt<br />

immer oben, das war und ist im Osten nicht an<strong>de</strong>rs<br />

als im Westen.“, sagt er mit einem diebischen<br />

Lächeln im Gesicht. Er versuchte zeitweilig in Cuba<br />

zu fin<strong>de</strong>n, was er in Berlin vermisst. „Wenn Castro<br />

stirbt bin ich sofort in Havanna – dort wird es<br />

dann erneut zeitlose Zwischenräume geben. Ich<br />

liebe es, wenn zwei Systeme aufeinan<strong>de</strong>r treffen.<br />

In solchen Momenten zählt nur <strong>de</strong>r Augenblick, da<br />

je<strong>de</strong>r Plan am nächsten Tag von <strong>de</strong>r sich rasant<br />

verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Realität über <strong>de</strong>n Haufen geworfen<br />

wird.“<br />

Wen<strong>de</strong>kultur<br />

Es ist 2.00 Uhr nachts. Manchmal bereut André<br />

ein wenig, dass er früher Geld aus seinen Einnahmen<br />

an soziale Projekte gespen<strong>de</strong>t hat. Dank erhielt<br />

er dafür nur selten. „Ich habe aus sehr vielen<br />

Fehlern lernen müssen. Oft wur<strong>de</strong> ich getäuscht.<br />

In <strong>de</strong>r Zukunft will ich nur noch drei bis vier Tage<br />

pro Woche hinter <strong>de</strong>m Tresen stehen.“ Sein I<strong>de</strong>alismus<br />

<strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>zeit scheint verflogen. Im Kapitalismus<br />

will er trotz<strong>de</strong>m nicht ankommen. Er genießt<br />

es, in seinem La<strong>de</strong>n ein Stück Wen<strong>de</strong>kultur konserviert<br />

zu haben. „Ich wer<strong>de</strong> das Bumerang sicherlich<br />

noch weitere zehn Jahre führen, das bin<br />

ich meinem Kiez schuldig.“ Er greift nach <strong>de</strong>n Gläsern<br />

und schenkt Bier ein. Seine Gäste haben<br />

Durst - wie damals in <strong>de</strong>n Wen<strong>de</strong>zeiten………<br />

LSD 19


HELDEN<br />

3.000 Kilometer<br />

zu Fuß quer durch Europa<br />

Vom <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> bis Santiago <strong>de</strong> Compostela<br />

Klaus (53) sitzt lässig in seinem Sessel und nippt<br />

an einer Tasse Kaffee. „Ich möchte wissen, wohin<br />

die sinnliche Erfahrung <strong>de</strong>s Gehens führen kann<br />

und neue Eindrücke gewinnen“, sagt er. Sein Blick<br />

schweift über die vielen Bücher, die verstreut auf<br />

<strong>de</strong>m Tisch liegen. Er las sie in <strong>de</strong>n Wintermonaten.<br />

An <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n seiner Altbauwohnung in <strong>de</strong>r Kollwitzstrasse<br />

hängen gerahmte Fotos <strong>de</strong>r letzten<br />

Wan<strong>de</strong>rung, die er gemeinsam mit seiner Freundin<br />

bewältigte. Diesmal geht er allein. Klaus steht vor<br />

<strong>de</strong>r bisher größten Aufgabe seines Lebens. Am 10.<br />

April wird er <strong>de</strong>n <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> verlassen – zu<br />

Fuß. Sein Ziel heißt Fisterra, nahe <strong>de</strong>r Stadt Santiago<br />

<strong>de</strong> Compostela. Dort en<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Jakobsweg (siehe<br />

Infokasten). „Ich <strong>de</strong>nke, dass ich siebzehn Wochen<br />

für die 3.000 Kilometer benötigen wer<strong>de</strong>“, betont<br />

er. 25 Kilometer, sechs bis acht Stun<strong>de</strong>n will er<br />

durchschnittlich je<strong>de</strong>n Tag wan<strong>de</strong>rn. Sein Budget<br />

für diese Reise beläuft sich auf täglich 33 Euro. Einen<br />

Schlafsack nimmt er mit, ein Zelt nicht. „Ab<br />

und zu wer<strong>de</strong> ich draußen übernachten müssen.<br />

Es gibt an <strong>de</strong>n europäischen Wan<strong>de</strong>rwegen einige<br />

Pensionen, die nicht sehr teuer sind“, fügt Klaus<br />

hinzu. Vor ihm liegt eine Wan<strong>de</strong>rkarte von Europa.<br />

Mit <strong>de</strong>m Finger zeigt er auf <strong>de</strong>n Jakobsweg, <strong>de</strong>n er<br />

im Sommer 2004 schon einmal gegangen war. Damals<br />

hatte er die I<strong>de</strong>e, in diesem Jahr eine größere<br />

Herausfor<strong>de</strong>rung zu suchen.<br />

Tokio<br />

Klaus kam 1969 nach West-Berlin. „Damals<br />

feierte ich viele Partys“, schmunzelt er. Er machte<br />

das Abitur und studierte später Maschinenbau und<br />

Pädagogik, er wollte Berufsschullehrer wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Geld für das Studium erjobbte er sich als Taxifahrer.<br />

Anfang <strong>de</strong>r Achtziger Jahre lebte er für drei<br />

Jahre in Tokio. Dort erlangte er <strong>de</strong>n schwarzen<br />

20 LSD<br />

Gürtel in Karate. In dieser Zeit bereiste er Südkorea,<br />

Taiwan, Thailand, Malaysia und die Philippinnen.<br />

„Eigentlich hatte ich vor, ein Urlaubssemester in<br />

Japan zu verbringen. Ich hatte Glück und fand<br />

schnell Arbeit als Deutschlehrer und Übersetzer.<br />

Ich blieb, lernte Japanisch und plötzlich waren einige<br />

Jahre vergangen.“ Klaus beherrschte 800 japanische<br />

Schriftzeichen. „Lei<strong>de</strong>r habe ich wegen<br />

fehlen<strong>de</strong>r Sprachpraxis vieles vergessen“, bedauert<br />

er. Als Klaus 1983 nach Berlin zurückkam, hatte<br />

ihn mittlerweile die Technische Universität<br />

zwangsexmatrikuliert. So begann er als LKW-Fahrer<br />

zu arbeiten. „Ich fuhr zuerst in viele osteuropäische<br />

Län<strong>de</strong>r und später je<strong>de</strong> Woche 5.000 Kilometer<br />

nach Kalabrien in Italien und zurück.“<br />

Wegen berufstypischer Bandscheibenprobleme<br />

ließ er sich 1989 zum Grundstücks- und Hausverwalter<br />

umschulen. 1992 lan<strong>de</strong>te er im Öffentlichen<br />

Dienst. Wegen <strong>de</strong>r Scheidung von seiner Frau benötigte<br />

er eine neue Wohnung. „Ich suchte in ganz<br />

Berlin und fand eine zweieinhalb Zimmer Wohnung<br />

in einem Haus in <strong>de</strong>r Kollwitzstrasse, dass erst<br />

1988 zu DDR-Zeiten renoviert wor<strong>de</strong>n war. Heute<br />

ist es fast das schäbigste Haus in <strong>de</strong>r ganzen<br />

Strasse“, lacht Klaus.<br />

Kein TV, kein Radio, keine Zeitung, kein Handy<br />

En<strong>de</strong> 2003 ließ er seinen Arbeitsvertrag auflösen<br />

und kassierte eine Abfindung. „Ich hatte keine<br />

Lust mehr auf Schreibtischarbeit, obwohl ich vernünftig<br />

bezahlt wur<strong>de</strong>.“ Wie schon so oft in seiner<br />

Vergangenheit will er es noch einmal wissen. „Viele<br />

Menschen re<strong>de</strong>n immer davon, was sie gerne<br />

tun wür<strong>de</strong>n, wenn sie Zeit hätten.“ Klaus re<strong>de</strong>t<br />

nicht, er han<strong>de</strong>lt.<br />

Siebzehn Wochen lang wird er alles hinter sich


lassen. Er verzichtet auf jeglichen Luxus, jegliche<br />

Informationen – kein TV, kein Radio, keine Zeitung,<br />

kein Handy. „Ich wer<strong>de</strong> mich auf das Wesentliche<br />

beschränken: Laufen, essen, schlafen und nach<strong>de</strong>nken.<br />

Langes Gehen versetzt einen in einen<br />

gleichförmigen Geisteszustand“, sagt er. „Außer<strong>de</strong>m<br />

behauptet mein Arzt, dass so eine Wan<strong>de</strong>rung<br />

sehr gesund sei.“ Er ahnt, dass das En<strong>de</strong> seiner<br />

Wan<strong>de</strong>rung sehr banal sein wird. Er weiß noch<br />

nicht, was er nach dieser Reise beginnen wird. Pläne<br />

hat er nicht. Wie so oft, bevor er sich auf die Suche<br />

begeben hat. „Das Leben ist ein Abenteuer, je<strong>de</strong>r<br />

ist seine eigene Selbsterfahrungsgruppe“,<br />

schmunzelt Klaus. Von seiner Angst, an dieser großen<br />

Aufgabe zu scheitern, spricht er selten.<br />

„Ängste sind dazu da überwun<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n“,<br />

fügt er lächelnd hinzu. Er ist davon überzeugt, immer<br />

irgendwo anzukommen. Der Weg ist das Ziel.<br />

Klaus weiß das, schließlich lebte er früher in Japan.<br />

Hit the road Klaus !<br />

A. Zelig<br />

HELDEN<br />

Wan<strong>de</strong>rroute:<br />

Wan<strong>de</strong>rroute: <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> – Halle – Erfurt –<br />

Fulda – Saarburg – Luxemburg – Paris – St. Etienne<br />

– Toulouse – Pamplona – Burgos – Leon – Santiago<br />

<strong>de</strong> Compostela<br />

Jakobsweg:<br />

Der Jakobsweg ist eine Pilgerstrasse <strong>de</strong>r Wallfahrer<br />

im Mittelalter. Er gehört zum UNESCO Weltkulturerbe<br />

und führt auf mehreren Routen von<br />

Mittelfrankreich über die Pyrenäen an das Grab<br />

<strong>de</strong>s Apostels Jakobus d. Ä. in Santiago <strong>de</strong> Compostela.<br />

Entlang <strong>de</strong>s Weges errichtete man neben<br />

Herbergen und Hospitälern monumentale Kirchen.<br />

LSD 21


BABY BERG BOOMERS<br />

KOLLE 37<br />

Die Stadt als Spiellandschaft<br />

22 LSD<br />

Es ist ein sonniger Tag auf <strong>de</strong>m Bau- und<br />

Abenteuerspielplatz an <strong>de</strong>r Kollwitzstrasse. Die<br />

Luft duftet nach Frühling. Wir laufen über <strong>de</strong>n<br />

Platz, schauen uns die selbstgebauten Hütten an<br />

und besuchen die Meerschweinchen in ihrem<br />

Gehege.<br />

Im Kolle 37 können Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche mit<br />

Er<strong>de</strong> und Lehm bauen, Kompost anlegen und im<br />

Sommer nach Lust und Laune mit Wasser planschen.<br />

Wir betrachten die Feuerstelle, die die<br />

Kin<strong>de</strong>r vor allem im Sommer häufig nutzen. Eine<br />

Seltenheit – wo sonst kann man mitten im<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> noch ein Lagerfeuer anzün<strong>de</strong>n?<br />

Im Spiel-Haus begrüßt uns Martyn Sorge, einer<br />

<strong>de</strong>r Leiter und Initiatoren <strong>de</strong>s Projektes. Martyn ist<br />

ein Urgestein <strong>de</strong>s <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>es, einer <strong>de</strong>r<br />

dieses Projekt mit aufgebaut hat. Wir wollen mehr<br />

über die Geschichte <strong>de</strong>s Platzes erfahren und fragen<br />

Martyn, wie alles angefangen hat.<br />

Er erzählt uns, dass lange vor <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>, im<br />

Jahre 1979, in mehreren Städten <strong>de</strong>r DDR so<br />

genannte Spielwagen entstan<strong>de</strong>n, die mit<br />

Spielaktionen und Bauspielfesten auf Schulhöfen,<br />

Straßen und Spielplätzen auf sich aufmerksam<br />

machten. Anliegen <strong>de</strong>r Spielwagengruppen war<br />

es, die Stadt als Spiellandschaft zu ent<strong>de</strong>cken. So<br />

veranstalteten sie Feste, Zirkusse und Theater,<br />

wobei <strong>de</strong>r Kreativität und Improvisation viel Raum<br />

gelassen wur<strong>de</strong>. Da die Aktionen zeitlich begrenzt<br />

waren und entstan<strong>de</strong>ne Bauwerke immer wie<strong>de</strong>r<br />

abgerissen wer<strong>de</strong>n mussten, entstand jedoch bald<br />

<strong>de</strong>r Wunsch nach einem festen Platz, <strong>de</strong>r sich aber<br />

erst nach <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong> mit öffentlicher För<strong>de</strong>rung auf<br />

über 1000m² an <strong>de</strong>r Kollwitzstrasse realisieren ließ.<br />

Seit<strong>de</strong>m ist viel geschehen: Heute reichen die<br />

Angebote <strong>de</strong>s Platzes, die sich an Kin<strong>de</strong>r und<br />

Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren richten,<br />

von Hütten- und Lehmbau über Korbflechten,<br />

Filzen und Weben bis hin zu Tischlern und<br />

Schmie<strong>de</strong>n. Auf die eigene Schmie<strong>de</strong>werkstatt ist<br />

Martyn beson<strong>de</strong>rs stolz. Darüber hinaus gibt es ein


Musikprojekt und einen Sandspielplatz mit<br />

Wasserpumpe, <strong>de</strong>r im Sommer beson<strong>de</strong>rs für die<br />

Kleinen <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ale Aufenthaltsort ist.<br />

Das Kolle 37 ist jedoch mehr als nur eine normale<br />

Freizeiteinrichtung. Zunächst als solche<br />

konzipiert, zeigte sich bald, dass die Situation vieler<br />

Jugendlicher aus schwierigen Verhältnissen<br />

eine Erweiterung notwendig machte. So entwickelten<br />

sich verschie<strong>de</strong>ne Angebote, wie zum<br />

Beispiel Hilfen bei familiären o<strong>de</strong>r Schulproblemen,<br />

soziale Gruppenarbeiten als Betreuungsform<br />

für Stammkin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Platzes, ein<br />

pädagogischer Mittagstisch und ein Mo<strong>de</strong>llprojekt<br />

zum Schutz vor sexuellen Übergriffen. Die<br />

Grundprinzipien <strong>de</strong>s Platzes wie Offenheit, kompetente<br />

Betreuung und <strong>de</strong>r gleichberechtigte<br />

Umgang mit <strong>de</strong>n Jugendlichen wer<strong>de</strong>n sehr ernst<br />

genommen. Der Platz kooperiert als Teil <strong>de</strong>s<br />

Netzwerks Spiel/Kultur mit zahlreichen sozialen<br />

Einrichtungen und trägt somit wesentlich zum<br />

Gemeinwesen bei.<br />

Achtung – Kids und Eltern!<br />

BABY BERG BOOMERS<br />

Im August gibt es eine zehntägige<br />

Gruppenfahrt nach Slowenien zu einem internationalen<br />

Spiel- und Begegnungstreffen <strong>de</strong>r<br />

European Play Association. Jugendliche im Alter<br />

von ca. 14 bis 16 Jahren können daran teilnehmen.<br />

Es sind noch freie Plätze frei.<br />

Der Kolle 37 wird fünfzehn Jahre alt! Deshalb fin<strong>de</strong>t<br />

ab <strong>de</strong>m 9. Mai 2005 ein vierwöchiges<br />

Hüttenbaufestival statt. Die schönste, größte,<br />

schrägste und phantasievollste Hütte erhält beim<br />

großen Geburtstagsfest am 11. Juni einen Preis.<br />

Kontakt:<br />

Abenteuerlicher Bauspielplatz Kolle 37<br />

Netzwerk Spiel/Kultur <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> e. V.<br />

Kollwitzstrasse 35, 10435 Berlin<br />

Telefon: 4428122 Öffnungszeiten: 13.00 – 19.00 Uhr<br />

www.kolle37.<strong>de</strong> Text: Thomas Zerbst, Fotos: mrs hippi<br />

LSD 23


BABY BERG BOOMERS<br />

Neue europäische Regelung<br />

zum Schutz von Kin<strong>de</strong>rn<br />

Es ist Sonntagabend, kurz vor sieben Uhr. Philippa ist noch immer nicht zu Hause. Vor einer Stun<strong>de</strong><br />

hätte sie - mü<strong>de</strong> und zufrie<strong>de</strong>n - vom Wochenendbesuch bei ihrem Vater zurück sein müssen. Ein<br />

Albtraum für Philippas Mutter. Endlich klingelt das Telefon. Philippas Vater ist am Apparat. Er hat sie<br />

nach Wien zu seinen Eltern gebracht. Dort will er in Zukunft wie<strong>de</strong>r leben. Philippa soll bei ihm bleiben.<br />

Er will sich endgültig von <strong>de</strong>r Mutter trennen und das Sorgerecht für Philippa in Wien beantragen.<br />

Philippas Mutter will das Sorgerecht in Berlin erstreiten. Beginnt nun ein Wettstreit <strong>de</strong>utscher<br />

und österrreichischer Gerichtsurteile um das Sorgerecht? Nicht mehr:<br />

Dank einer neuen Verordnung <strong>de</strong>s EU-Ministerrates<br />

stehen die Rechte von Trennungs- und Scheidungskin<strong>de</strong>rn<br />

in <strong>de</strong>r Europäischen Union jetzt auf<br />

einem festeren Fundament.<br />

Kein Wettstreit <strong>de</strong>r Gerichtsurteile<br />

Seit <strong>de</strong>m 1. März 2005 wer<strong>de</strong>n Gerichtsentscheidungen<br />

zur elterlichen Sorge und zum Umgang<br />

in allen Mitgliedsstaaten <strong>de</strong>r EU (mit Ausnahme<br />

Dänemarks) anerkannt.<br />

Die neuen Bestimmungen sollen das Problem<br />

<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>sentführung durch einen Elternteil lösen.<br />

War bislang ein Elternteil versucht, das Kind zu entführen<br />

und eine Entscheidung zum Sorgerecht eines<br />

Gerichts seines Mitgliedsstaates herbeizuführen,<br />

so ist dies seit <strong>de</strong>m 1. März nicht mehr Erfolg<br />

versprechend. Zuständig für die Entscheidung über<br />

Sorge und Umgang ist das Gericht <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, in<br />

<strong>de</strong>m das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat.<br />

Die Zeit läuft<br />

Das Gericht <strong>de</strong>s Staates, in <strong>de</strong>n das Kind entführt<br />

wur<strong>de</strong>, muß innerhalb von sechs Wochen die<br />

Rückgabe <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s anordnen, sofern das Wohl<br />

<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s im Herkunftsland nicht gefähr<strong>de</strong>t ist.<br />

Die endgültige Entscheidung über die elterliche<br />

Verantwortung trifft jedoch in je<strong>de</strong>m Fall das zuständige<br />

Gericht <strong>de</strong>s Herkunftslan<strong>de</strong>s. Das Kind<br />

und <strong>de</strong>r nicht entführen<strong>de</strong> Elternteil haben ein<br />

Recht auf Anhörung. Und, wichtig: Die zentralen<br />

Behör<strong>de</strong>n sollen systematisch zusammenarbeiten<br />

und versuchen, durch<br />

Mediation o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Verfahren zu einer<br />

Einigung zwischen <strong>de</strong>n Eltern<br />

beizutragen.<br />

24<br />

LSD<br />

Schutz für alle Kin<strong>de</strong>r<br />

Bislang galten die Regelungen lediglich für solche<br />

Entscheidungen über die elterliche Verantwortung,<br />

die im Rahmen eines Ehescheidungsverfahrens<br />

ergingen. Nun sind auch Kin<strong>de</strong>r geschützt,<br />

<strong>de</strong>ren Eltern noch, nicht mehr o<strong>de</strong>r gar nicht miteinan<strong>de</strong>r<br />

verheiratet sind.<br />

Philippa hat <strong>de</strong>m Richter erzählt, dass sie zu<br />

ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Berlin<br />

zurück möchte. Ihr Lebensmittelpunkt ist in Berlin:<br />

hier ist sie aufgewachsen, hier geht sie zur Schule<br />

und hier leben ihre Freun<strong>de</strong>. Zwar sind ihre Eltern<br />

nicht miteinan<strong>de</strong>r verheiratet, aber sie haben das<br />

gemeinsame Sorgerecht, und somit wird <strong>de</strong>r Richter<br />

die neue Verordnung anwen<strong>de</strong>n und ihre Rükkkehr<br />

nach Deutschland anordnen. Wie es weitergeht,<br />

wird das Familiengericht in Berlin entschei<strong>de</strong>n.<br />

Recht auf Kontakt zu bei<strong>de</strong>n Eltern<br />

Die neue Verordnung soll jedoch nicht nur Entführungen<br />

verhin<strong>de</strong>rn. Sie gewährleistet auch,<br />

dass Kin<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Trennung Kontakt zu bei<strong>de</strong>n<br />

Eltern halten können. Der umgangsberechtigte Elternteil<br />

kann nun die Entscheidung zum Umgang<br />

in seinem Mitgliedsstaat vollstrecken lassen, als<br />

wäre sie dort ergangen. Ein geson<strong>de</strong>rtes Verfahren<br />

zur Erklärung <strong>de</strong>r Vollstreckbarkeit ist nicht mehr<br />

erfor<strong>de</strong>rlich. Dieses Verfahren war in <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />

mitunter langwierig.<br />

Die EU-Kommission will weitere unterschiedliche<br />

nationale Rechtsvorschriften im Familienrecht<br />

und im Erbrecht angleichen. Das LSD-Magazin<br />

wird berichten.<br />

Text : Alexandra Gosemärker, Rechtsanwältin in Berlin,<br />

www.ra-gosemaerker.<strong>de</strong>.


Hockey spielen<br />

und schön viel turnen für Kin<strong>de</strong>r<br />

ab 3 Jahre, Do. von 16 – 17<br />

Uhr, Sporthalle Sredzkistr.8,<br />

gegenüber <strong>de</strong>r Kulturbrauerei,<br />

obere Halle, Infos unter Tel.<br />

4451250, www.rotationhockey.<strong>de</strong><br />

Im „Mach mit Museum“<br />

gibt es noch bis zum 10. Juli eine<br />

Ausstellung für Kin<strong>de</strong>r ab 5<br />

Jahren rund um das Thema Paradies:<br />

Filme, Bil<strong>de</strong>r, Erzählecken,<br />

Garten E<strong>de</strong>n für Krabbelkin<strong>de</strong>r<br />

u.v.m.; Gruppen (Voranmeldung<br />

unter Tel. 74778200)<br />

Di. bis Fr. von 8.30 bis 18 Uhr,<br />

Einzelbesucher Mi.- Fr. von 9 -<br />

18 Uhr und Sa., So., Feiertags<br />

von 10 - 18 Uhr, Senefel<strong>de</strong>rStr. 6<br />

www.machmitmuseum.<strong>de</strong><br />

Ziegen streicheln,<br />

Häschen füttern, Tiere pflegen<br />

auf <strong>de</strong>r Jugendfarm Moritzhof.<br />

Für Kin<strong>de</strong>r von 6 bis 16 Jahren<br />

gibt’s außer<strong>de</strong>m Kurse in Töpfern,<br />

Spinnen, Filzen, Backen…Die<br />

Farm ist in <strong>de</strong>r Nähe<br />

Tipps und Termine für Kids<br />

Wie gut, daß im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> immer was los ist für Kin<strong>de</strong>r! Langeweile<br />

kommt eigentlich fast nie auf, <strong>de</strong>nn überall gibt’s super Sachen zu ent<strong>de</strong>cken.<br />

<strong>de</strong>s Gleimtunnels, Schwedter<br />

Str. 90, Öffnungszeiten: Mo. –<br />

Fr. von 11.30 – 18 Uhr, Sa. von<br />

13 – 18 Uhr; Tel. 44024220<br />

Family-Kletter-Days:<br />

je<strong>de</strong>n 2. und 4. Freitag im Monat<br />

können Familien (2 Erwachsene<br />

und bis zu 4 Kin<strong>de</strong>r) für 28 €<br />

<strong>de</strong>n ganzen Tag klettern. Ort:<br />

Magic Mountain, Böttger Straße<br />

20 – 26, Nähe Gesundbrunnen;<br />

offen: Mo. – Fr. von 12 - 24 Uhr;<br />

Do. ab 10 Uhr; Sa., So., Feiertag<br />

von 11 - 22 Uhr, Infos unter<br />

www.magicmountain.<strong>de</strong><br />

Großes Musikschulfest<br />

im Eliashof: am So., 5. Juni von<br />

14 – 16 Uhr: Musikinstrumente<br />

ausprobieren, beim Kin<strong>de</strong>rtanz<br />

reinschnuppern, tolle Aufführungen<br />

sehen: z.B. die Premiere<br />

„Die Moritat vom Kopfsalat“, eine<br />

Produktion <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r vom<br />

Bühnenkarussell…<br />

Es gibt eine Menge zu ent<strong>de</strong>kken<br />

für die ganze Familie!<br />

Ort: Senefel<strong>de</strong>r Str. 6, <strong>de</strong>r Eintritt<br />

ist natürlich frei.<br />

foto: mrs hippi<br />

Clown PatchoMo<br />

spielt das Entchen: Clownspiel<br />

mit Papierpuppen für Kin<strong>de</strong>r von<br />

3 – 7 Jahre. Die Kin<strong>de</strong>r im Publikum<br />

helfen <strong>de</strong>m Entchen, wenn<br />

<strong>de</strong>r Fuchs sich<br />

ranschleicht…Ort: Schaubu<strong>de</strong>,<br />

Greifswal<strong>de</strong>r Straße 81-84, am<br />

31.5. um 10 Uhr, am 4. und 5.6.<br />

um jeweils 15 Uhr; Infos unter<br />

Tel. 4234314<br />

www.schaubu<strong>de</strong>-berlin.<strong>de</strong><br />

„Volles Recht auf Spunk<br />

und Spiel“, eine von Astrid Lindgren<br />

inspirierte Mitmachausstellung<br />

ab <strong>de</strong>m 25.5. im Kin<strong>de</strong>rmuseum<br />

Labyrinth. Spielt Pippis<br />

Lieblingsspiel „nicht <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n<br />

berühren“ u.v.m. Ort: Osloer<br />

Straße 12, Öffnungszeiten: Di. –<br />

Sa von 13-18 Uhr, So. von 11-<br />

18 Uhr, Infos unter Tel.<br />

49308901 und www.labyrinthkin<strong>de</strong>rmusem.<strong>de</strong><br />

Text: Constanze Labrana<br />

LSD 25


ZEITREISE<br />

Strassenkunst o<strong>de</strong>r<br />

doch nur Schrott<br />

26 LSD<br />

Fotos von T.West<br />

<strong>Prenzlauer</strong> Allee<br />

Danziger Strasse


Danzigerstrasse<br />

Diesterweg<br />

Eberswal<strong>de</strong>r Strasse<br />

LSD 27


LSD - Spiel suchen fin<strong>de</strong>n helfen<br />

„Ich hatte mal einen blau-rot-gelben<br />

Strickpulli, <strong>de</strong>n mein damaliger Freund<br />

in die Waschmaschine geschmissen<br />

hatte. Lei<strong>de</strong>r ist er dabei geschrumpft.<br />

Jetzt trauere ich ihm schon seit acht<br />

Jahren hinterher, da er schön an <strong>de</strong>n<br />

Körper getrickt war. Ich möchte ihn<br />

einfach wie<strong>de</strong>r haben. Wer hat Zeit<br />

mir, unter Anleitung, <strong>de</strong>n Pulli ein zewites<br />

Mal zu stricken?”<br />

Spielort: Schliemannstrasse<br />

28 LSD<br />

Spielanleitung<br />

Je<strong>de</strong>r Spieler hat einen Wunsch.<br />

Seine Kontaktdaten bleiben<br />

ungenannt. Der angegebene<br />

Spielort zeigt an, wo sich <strong>de</strong>r<br />

jeweilige Spieler häufig aufhält.<br />

Ziel <strong>de</strong>s Spiels ist es sich im<br />

Kiez zu treffen. Derjenige <strong>de</strong>r<br />

einen Wunsch erfüllt,<br />

wird zum Spieler<br />

und darf sich in <strong>de</strong>r<br />

nächsten Run<strong>de</strong><br />

( Ausgabe)<br />

etwas<br />

wünschen<br />

„Ich möchte mich von meinem schönen rosa Sofa, <strong>de</strong>r Frima Ligne Roset, trennen. Es ist<br />

ein elefantenförmiges Original aus <strong>de</strong>n Achtziger Jahren. Für 200 Euro gehört es dir!”<br />

Spielort: Im Schaufenster von meinem Atelier ist eine Handglocke


„Ich wünsche mir, daß jemand meine Pumpdusche abmontiert,<br />

die alte Waschmaschine runter trägt und zum Abla<strong>de</strong>schrottplatz<br />

<strong>de</strong>r BSR schafft. Dafür wird je nach<br />

Wunsch kulinarisch verköstigt.”<br />

Spielort: Waschsalon Eco in <strong>de</strong>r Danzigerstrasse<br />

„Ich wünsche mir eine kundige<br />

Hand, die mir meine seit drei Jahren<br />

untätige Dunstabzugshaube an die<br />

Rehgipswand montiert.”<br />

Spielort: blaue Bank vorm<br />

Kaaswinckel<br />

„Ich möchte gerne einmal Batman kennen lernen.”<br />

Spielort: Abenteuerspielplatz Kolle 37<br />

I<strong>de</strong>e + Gestaltung: mrs hippi


BROT & SPIELE<br />

Anfang April im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>, die zaghaft<br />

warmen Tage schlagen noch in abendliche Kühlschrankatmosphäre<br />

um. Ich habe mich zum fast<br />

zweistündigen Rumstehen an einem zugigen Fußballplatz<br />

in <strong>de</strong>r Dunckerstraße verabre<strong>de</strong>t und bin<br />

ein<strong>de</strong>utig <strong>de</strong>m aufgesetzten, in diesem Falle angezogenen<br />

Frühlingsoptimismus erlegen. Einfach zu<br />

dünn angezogen. Egal, schließlich müssen die<br />

Spieler sogar in kurzen Hosen antreten. Wie sich<br />

kurz drauf herausstellt, spielen die Gäste aus Karlshorst<br />

freiwillig in kurzärmligen Trikots. Darin sehen<br />

sie zwar vor <strong>de</strong>m Anstoß gänsehäutig aus, zeigen<br />

damit aber eine wettertrotzen<strong>de</strong> Entschlossenheit.<br />

Etwa 100 Menschen haben sich auf <strong>de</strong>m Tesch-<br />

Platz eingefun<strong>de</strong>n. Die meisten Männer schmeißen<br />

bei diesen Temperaturen einfach <strong>de</strong>n Allesbrenner<br />

an und heizen mit Bier und Würstchen.<br />

Auf <strong>de</strong>m Platz spielt die 1. Mannschaft <strong>de</strong>s SG<br />

Rotation <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> gegen <strong>de</strong>n FC Karlshorst<br />

in <strong>de</strong>r Kreisliga A gegen <strong>de</strong>n Abstieg. „Setz dir<br />

durch, Paule!“ und „Meter machen, Roland, Meter<br />

machen!“, hallt`s vom Spielfeldrand. Das beschreibt<br />

ziemlich treffend, das technisch nicht unbeschlagene,<br />

aber vor allem rustikale Spiel, das auf <strong>de</strong>m<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> gepflegt wird. Keine schlimmen<br />

Fouls, aber es geht ganz schön zur Sache. Der<br />

Schiedsrichter wird immerhin nur von außerhalb<br />

<strong>de</strong>s Spielfel<strong>de</strong>s beschimpft. Rotation spielt in <strong>de</strong>r<br />

achten Liga und damit am Abgrund zum letzten<br />

Drittel <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Fußballs, es gibt noch 4 Li-<br />

30 LSD<br />

BROT & SPIELE<br />

Fußball-Ballett auf<br />

<strong>de</strong>m <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong><br />

von Oskar Krzykowski<br />

gen darunter. Repräsentativer als hier kann <strong>de</strong>utscher<br />

Fußball nicht sein.<br />

Es ist Mittwochabend. Wegen <strong>de</strong>r häufigen Absagen<br />

ganzer Spieltage während <strong>de</strong>s langen Winters,<br />

ist ein Nachholspiel angesetzt. Der Tesch-<br />

Sportplatz auf <strong>de</strong>m ehemaligen Trümmergrundstück<br />

an <strong>de</strong>r Dunckerstraße ist von drei Seiten eng<br />

von Gebäu<strong>de</strong>n eingefasst. Einerseits von einer beeindrucken<strong>de</strong>n<br />

100 Meter langen, blau-weiß verklei<strong>de</strong>ten<br />

Brandschutzmauer, die Gegengra<strong>de</strong> von<br />

einem angeschnittenen Schulgebäu<strong>de</strong>, die Kurve<br />

besteht aus Wohnhäusern. Ein dichter Zaun versperrt<br />

<strong>de</strong>n Blick auf diese einzigartige Sportinstallation<br />

an <strong>de</strong>r Dunckerstraße.<br />

Eine kru<strong>de</strong> urbane Arena, aber eine große Bühne<br />

an diesem Abend.<br />

Die meisten Zuschauer scheinen sich zu kennen,<br />

haben sich wegen <strong>de</strong>r Winterpause länger<br />

nicht gesehen. Der Umgangston ist volkstümlich<br />

berlinerisch, es wird sich herzlich angeschnauzt.<br />

Zur Begrüßung etwa: „Jab`s die Jacke ooch in<br />

<strong>de</strong>ener Jröße?“, darauf: „Jet`s noch?“ und bei<strong>de</strong><br />

lachen sich an. O<strong>de</strong>r ein untersetzter Mann haut<br />

während <strong>de</strong>s Spiels <strong>de</strong>n ehrenamtlichen Linienrichter<br />

in zivil an: „Jehma zum Frisör!“ Der lockenköpfige<br />

Mann an <strong>de</strong>r Linie schaut kurz irritiert, lächelt<br />

und rennt mit <strong>de</strong>r Fahne in <strong>de</strong>r Hand die<br />

Spielfeldbegrenzung entlang.<br />

Wenn sich auf <strong>de</strong>m Spielfeld was tut, zum Beispiel<br />

mal einer <strong>de</strong>r zu vielen langen Bälle aussichts


eich unter Kontrolle gebracht wird, ist das hun<strong>de</strong>rtköpfige<br />

Publikum sofort mit vielstimmiger Anfeuerung<br />

da; inklusive dreier im Mezzosopran kreischen<strong>de</strong>r<br />

und offensichtlich fußballverständiger<br />

Gören. Alle wissen dass heute ein Sieg her muss,<br />

um nicht das Nervenflattern im Abstiegskampf zu<br />

kriegen. Aber genau das haben schon <strong>de</strong>r Torwart<br />

und <strong>de</strong>r linke Verteidiger von Rotation gegen En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r ersten Halbzeit. Aus einem leichten Ball wird ein<br />

schweres Missverständnis, ein Karlshorster ist <strong>de</strong>r<br />

lachen<strong>de</strong> und jubeln<strong>de</strong> Dritte.<br />

Dann ist Halbzeit und alle können sich wie<strong>de</strong>r<br />

aufs Frieren konzentrieren. In <strong>de</strong>r zweiten Spielhälfte<br />

ist Rotation sehr bemüht, aber es passiert nichts<br />

Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s bis ein umstrittener Freistoß vor<br />

<strong>de</strong>m Karlshorster Strafraum gegeben wird. Es folgt,<br />

wie bei <strong>de</strong>n Profis, ein langes Maueraufstellritual<br />

und anschließend noch ein Pläuschchen mit <strong>de</strong>m<br />

Schiri. Schließlich laufen drei Rotatoren auf <strong>de</strong>n ruhen<strong>de</strong>n<br />

Ball los, zwei von ihnen rennen drüber hinweg,<br />

<strong>de</strong>r dritte schießt mit links <strong>de</strong>n Ball flach und<br />

scharf links an <strong>de</strong>r Mauer vorbei ins kurze Eck -<br />

verwirrend, überraschend, schön. Der Schütze<br />

schreit es heraus, die Zuschauer jubeln und die<br />

Stimmen hallen zwischen <strong>de</strong>n hohen nahen Mauern<br />

hin und her, verursachen sogar ein Echo. Die<br />

Akustik ist phantastisch, man stelle sich hier bloß<br />

einen hun<strong>de</strong>rtköpfigen Fanchor vor… Dieser Platz<br />

hat das Zeug zu einem echten Fußballtempel!<br />

Zehn Minuten später haben wir ernsthaft Angst<br />

um unsere Gesundheit. Wir sind einfach noch nicht<br />

soweit, für <strong>de</strong>n Klassenerhalt von Rotation alles zu<br />

geben.<br />

Von diesem Ausflug in das theatrale Fußballgeschehen<br />

<strong>de</strong>s <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>s beseelt, laufen wir<br />

die Dunckerstraße entlang. Nach einer ganzen Weile<br />

holt uns von hinten eine kleine Druckwelle, ein<br />

sanfter Bass ein, mehr ein Oberton als ein Lärm<br />

aus <strong>de</strong>r Ferne. Es ist klar, auf <strong>de</strong>m Platz ist ein Tor<br />

für Rotation gefallen. Wow, <strong>de</strong>r Platz ist ganz zufällig<br />

wie eine Verstärkerbox für Fußballakustik angelegt.<br />

Es müssten einfach nur zehn Mal so viele Leute<br />

hingehen, dann wäre die Akustik spektakulär.<br />

Dieses Spiel hat Rotation 2:1 gewonnen. Sie haben`s<br />

gebogen, diese Mannschaft hat Charakter in<br />

ihren sachlichen schwarz-weißen Trikots.<br />

Sie und <strong>de</strong>r Ort hätten es verdient, dass ein<br />

paar Prenzlberger mehr für diese authentischen Ereignisse<br />

hier vorbeischauen. Mit zwanzig stimmgewaltigen<br />

Mitstreitern macht man hier je<strong>de</strong>m englischen<br />

Stadion klanglich Konkurrenz. Der Rotationstrainer<br />

arbeitet je<strong>de</strong>nfalls schon an einer<br />

Erweiterung <strong>de</strong>s Unterhaltungsprogramms. „Sascha<br />

machma`n bisschen Ballet!“ schreit er, während<br />

seine Mannschaft im Karlshorster Strafraum<br />

einem Eckball entgegenfiebert. Und Sascha macht<br />

die Hüften locker, tänzelt auf <strong>de</strong>n Fußspitzen vor<br />

und zurück, schüttelt dabei sein schwarzes Höschen.<br />

Es folgt ein Szenenapplaus und es wer<strong>de</strong>n<br />

Haltungsnoten zwischen 5,1 und 5,3 diskutiert.<br />

Ballet o<strong>de</strong>r Samba, egal Hauptsache Fußball. Der<br />

Platz hat Groove!<br />

Die nächsten Heimspiele an <strong>de</strong>r Dunckerstraße:<br />

Samstag, 07.05.,<br />

14.00 h Rotation : FC Grunewald<br />

Samstag, 21.05.,<br />

14.00 h Rotation : Mahlsdorf Wal<strong>de</strong>sruh<br />

Samstag, 04.06.,<br />

14.00 h Rotation : FV Wannsee<br />

Fotos: mrs hippi<br />

LSD 31


MODE<br />

Endlich frei !<br />

mo<strong>de</strong>l: angela von www.<strong>de</strong>ebeephunky.<strong>de</strong><br />

make-up: miriam von www.maggie-b.<strong>de</strong>


mo<strong>de</strong>: www.lillililli.<strong>de</strong> foto: mrs hippi


FREIRAUM<br />

CUI BONO ?<br />

von Andreas Lenzmann<br />

K & K Konsolenz für Kultur und Kommunikation<br />

Mitteleuropa, Deutschland, Berlin, <strong>Prenzlauer</strong><br />

<strong>Berg</strong> – früher Abend. Das allseits beliebte<br />

Lokal war spärlich gefüllt, als drei unbekannte<br />

Schwarzafrikaner eintraten. Ohne<br />

sich vorzustellen or<strong>de</strong>rten sie Tee und gingen<br />

in <strong>de</strong>n hinteren Raum, <strong>de</strong>r bis auf eine<br />

Tischrun<strong>de</strong> unbesetzt war. Etwas später<br />

kam ein durchschnittlich wirken<strong>de</strong>s Pärchen<br />

hinzu und sieht ... was? Staatsgeheimnis.<br />

Cui bono? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

Das KOK & KUK (Kommunikation ohne Kommerz<br />

& Kunst und Kultur), welches in <strong>de</strong>r Straße<br />

von Troja befindlich, war <strong>de</strong>m Allgedanken <strong>de</strong>r integrativen<br />

Assimilation an <strong>de</strong>n teuer erkauften Mainstream<br />

zuwi<strong>de</strong>rlaufend. Weshalb dieses <strong>de</strong>s öfteren<br />

von Musterbeispielen <strong>de</strong>r integrativen Assimilation<br />

in Uniform zum Zwecke <strong>de</strong>r Demonstration <strong>de</strong>r<br />

Vorteile <strong>de</strong>r integrativen Assimilation, welche mit<br />

Anwesenheitspflicht verbun<strong>de</strong>n, heimgesucht wur<strong>de</strong>.<br />

Obschon dies disintegrative Folgen für die Gäste,<br />

ob familiär o<strong>de</strong>r beruflich, zeitigte (ein Gast verlor<br />

seinen Arbeitsplatz, da er die interessante Vorführung<br />

erst gegen vier Uhr früh verlassen durfte,<br />

weswegen er am nächsten Tag verschlief und gekündigt<br />

wur<strong>de</strong>), musste dies im Sinne <strong>de</strong>s Größeren,<br />

<strong>de</strong>s Volksganzen in Kauf genommen wer<strong>de</strong>n.<br />

So trennt man Spreu von Weizen zur integrativen<br />

Assimilation.<br />

Cui bono? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

So war auch an jenem Abend wie<strong>de</strong>r eine Überraschungsschau,<br />

die Uniformen betraten die Gaststätte<br />

um ihre Integrität zu beweisen, welches am<br />

leichtesten mittels Anschauung zu bewerkstelligen<br />

ist. Antagonismen eignen sich hierfür ausgezeichnet,<br />

wie schon Hegel <strong>de</strong>n Dreischluss als non plus<br />

ultra postulierte: Nor<strong>de</strong>n-weiss-clean, Sü<strong>de</strong>nschwarz-<strong>de</strong>adly<br />

dust =(schwarz+weiss) Weiß – vulgo<br />

integer. Alles zum Schutze <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n gefährlichen<br />

Gebieten hausen<strong>de</strong>n YUPs (Young Urban<br />

People).<br />

Cui bono? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

34 LSD<br />

Unerwarteterweise trafen die Uniformen auf<br />

Menschen, <strong>de</strong>ren Hautfarbe zwar weiß war, welche<br />

aber durch ihre penetrante Menschlichkeit ihre<br />

Zukunft zu schwärzen drohten. Bis spät in die<br />

Nacht wur<strong>de</strong> mit Engelsgeduldigkeit seitens <strong>de</strong>r<br />

Uniformen versucht Überzeugungsarbeit zu leisten<br />

– umsonst. Die Oberuniform bekam <strong>de</strong>n monolithischen<br />

Tunnelblick. Nur noch bunte Schwarze,<br />

o<strong>de</strong>r doch nur Schwarze umkreiste sie, schwin<strong>de</strong>lnd<br />

schloss sie die Augen und dann das Lokal.<br />

Cui bono? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

Die Uniformen machen per se die Welt bis in<br />

die paläontologischen Äonen leichter fasslich, nieman<strong>de</strong>n<br />

wun<strong>de</strong>rt mehr, dass Dinosaurier mit nussschalengroßen<br />

Gehirnen auskamen o<strong>de</strong>r es die<br />

Lemminge zur Klippe drängt. Das einzig be<strong>de</strong>nkliche<br />

war <strong>de</strong>r Vergleich, welcher sich mit Kafkas<br />

kleiner Fabel von <strong>de</strong>r Katze mit <strong>de</strong>r Maus aufdrängte<br />

(unfähig zur Richtungsän<strong>de</strong>rung wird die<br />

Uniformmaus von <strong>de</strong>r Wirklichkeitskatze verschlungen),<br />

dies war so be<strong>de</strong>nklich, dass sogar<br />

die Uniformen es zu be<strong>de</strong>nken begannen, worauf<br />

sie versuchten, sich frei nach Brecht nicht ein neues<br />

Volk, son<strong>de</strong>rn eine neue Wirklichkeit zu erwählen,<br />

welche die Qualität von wirbellosen Pantoffeltierchen<br />

besaß, worin sich sogar Mäuse überlegen<br />

einrichten können. Vorraussetzend hierfür war<br />

allerdings eine gewisse Biegsamkeit <strong>de</strong>r Mäuserückgrate,<br />

jener Grate, die aus Integrationsparagraphen<br />

gebil<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n waren, welche die Uniformen<br />

vor <strong>de</strong>m Absturz in die Zerrissenheit <strong>de</strong>r<br />

schwarzen Individualitätshölle zu bewahren trachteten,<br />

um die Assimilation an die Pantoffeltierchen<br />

zu erleichtern. Sie glaubten an die eine Zelle, welche<br />

<strong>de</strong>n Staat <strong>de</strong>r Uniformen bil<strong>de</strong>te, so sehr, dass<br />

sie vor dieser monotheistisch zu Kreuze krochen.<br />

Cui bono? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

Doch zurück zum Lokus, <strong>de</strong>m Tanz <strong>de</strong>r Uniformen.<br />

Sorgfältig einstudierte Belehrungstira<strong>de</strong>n<br />

wechselten mit aufwendigen Lichtspielen, samt<br />

Möbelparketttango. Das Ergebnis: Der Oberuniform<br />

schwin<strong>de</strong>lte, Desintegrationsvorwurfsüber


prüfung ohne Erfolg, hier wur<strong>de</strong> keine Gegenwelt<br />

erschaffen, hier wur<strong>de</strong> Bier getrunken und geplau<strong>de</strong>rt<br />

wie an<strong>de</strong>rswo, hie wie an<strong>de</strong>rswo hörten die<br />

Menschen Hans Söllner und gingen zur Arbeit,<br />

wenn die Uniformen es nicht verhin<strong>de</strong>rten, the same<br />

Proce<strong>de</strong>re as every year. In ihrer Freizeit entledigten<br />

sie sich zwar <strong>de</strong>r Uniformen, im Café, privat,<br />

so wie in jenem. Doch gemäß <strong>de</strong>r Akkumulation<br />

<strong>de</strong>r Uniform musste dieses Relikt <strong>de</strong>s unökonomisch<br />

Asozialen, wie <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>s Cafés es auch<br />

treffend verheißt, <strong>de</strong>r neuen Mitte weichen (getreu<br />

<strong>de</strong>m Johst´schen Motto aus Schlageter: ‚Wenn ich<br />

Kultur höre entsichere ich meinen Browning.’), welche<br />

sich zwischen Kreuz und Nelke im Nichts verwusch.<br />

Cui bono? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

Nach <strong>de</strong>r integralen Überprüfung, welche sich<br />

wegen oben erwähnter Verstocktheit <strong>de</strong>s Inhaltes<br />

<strong>de</strong>s trojanischen Pfer<strong>de</strong>s inmitten <strong>de</strong>r kapitalen<br />

Stadt aufzwängte, wur<strong>de</strong> trotz römischer Gründlichkeit<br />

nicht einmal ein Kochlöffel gefun<strong>de</strong>n, geschweige<br />

<strong>de</strong>n zwei Nebeneingänge, wodurch je<strong>de</strong>rzeit<br />

freier Durchzug hätte hergestellt wer<strong>de</strong>n<br />

können, welcher die flattrigen Uniformen weggeweht<br />

hätte, noch ein Keller, welcher mit Konspiration<br />

<strong>de</strong>r Demiurge gefüllt hätte sein können, geriet<br />

in ihr integrales Gesichtsfeld, wodurch sich ihre vermeintliche<br />

Hermeneutik als ein mehrfach ausgebessertes<br />

Uniformschnittmuster erwies, wodurch<br />

sie <strong>de</strong>m barocken carpe diem ansichtig wur<strong>de</strong>n.<br />

Was sie zu Beschränkungen veranlasste, damit<br />

sich die Uniformen nicht gegenseitig aufrieben und<br />

verschlissen. Windstille-Starre zwecks Langlebigkeit<br />

wur<strong>de</strong> Pflicht, das Korsett Teil <strong>de</strong>r Uniform und<br />

vieles mehr – davon <strong>de</strong>mnächst.<br />

Cui bono? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat.<br />

Das berichtet ihr treuer Augenzeuge, welcher<br />

anwesend doch nicht kontrolliert wur<strong>de</strong>. Er hätte<br />

hun<strong>de</strong>rte Antigloben um <strong>de</strong>n Leib geklebt haben<br />

und sie ungehin<strong>de</strong>rt in <strong>de</strong>r Pantoffelstierwelt als<br />

Spaltpilzmyzel wuchern lassen können. Doch<br />

nichts <strong>de</strong>rgleichen trug ich, bloß meine Wahrheit im<br />

Kopf in die Welt, welcher ich sie hiermit überantworte.<br />

Wem das nützt? Natürlich <strong>de</strong>m Rechtsstaat!<br />

K & K veranstaltet je<strong>de</strong>n Donnerstag, 21 h<br />

Lesungen im Cafe Schliemann<br />

Die<br />

Dechiffrierung<br />

<strong>de</strong>s Alltags<br />

eine Buchbesprechung von P. Mack<br />

Neunzehnhun<strong>de</strong>rtundachtzig.<br />

Berlin, Hauptstadt <strong>de</strong>r DDR. Die verschlampte<br />

Honecker-Diktatur im letzten Jahrzehnt ihres Bestehens.<br />

Der Arbeiter- und Bauernstaat so maro<strong>de</strong><br />

und in Agonie liegend wie ganze Straßenzüge und<br />

Bezirke. Ein Haus im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>. Wie viele an<strong>de</strong>re<br />

auch: Altbau, baufällig, eine Kastanie im<br />

Hinterhof, gleichsam pars pro toto für die ganze<br />

Republik.<br />

Irina Liebmann klingelt, pocht an die Türen eines<br />

Mietshauses und zeichnet auf, was die Bewohner,<br />

die durchweg anonymisiert sind und also Liselotte<br />

F., Mario M. o<strong>de</strong>r Angela S. heißen, ihr treppauf,<br />

treppab berichten.<br />

Die meisten geben bereitwillig Auskunft, einige<br />

sind wi<strong>de</strong>rständig: sie haben -vermeintlich- nichts<br />

zu sagen. Ein ausgefeiltes und durchdachtes Frageschema<br />

gibt es nicht, die Autorin kommentiert<br />

äußerst sparsam, bleibt stets diskret.<br />

Je<strong>de</strong>r teilt ihr mit, was er mag, was ihn umtreibt<br />

und beschäftigt. Schnörkellose Lebensgeschichten.<br />

Die älteren Mieter erzählen noch vom Kriege,<br />

an<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum sprechen über die Arbeit, die<br />

Kin<strong>de</strong>r. Über Wünsche, Hoffnungen, Erfahrungen,<br />

Beziehungen. Über Krankheiten, Alltäglichkeiten,<br />

Absurditäten. Eben Leben. Pur und unverfälscht.<br />

Politisches kommt beiläufig daher, es war auch<br />

nicht die Absicht <strong>de</strong>r Autorin, die DDR zu entlarven,<br />

son<strong>de</strong>rn zu verstehen, was Leben heißt. Dennoch<br />

bemängelte die Obrigkeit, das Leben in <strong>de</strong>r DDR<br />

sei grau und bedrückend dargestellt, es mangele<br />

am Optimismus.<br />

So entsteht ein exemplarischer Mikrokosmos<br />

<strong>de</strong>utscher Realität, Liebmann hat mit dieser gleichsam<br />

kleinformatigen soziologischen Feldforschung<br />

ein kostbares Werk von sprö<strong>de</strong>m Charme geschaffen,<br />

das Bestand haben wird und das man auch<br />

<strong>de</strong>shalb gerne liest, weil es <strong>de</strong>r perfekte Gegenentwurf<br />

zur Daily Soap und zur Telenovela ist.<br />

Irina Liebmann, Berliner Mietshaus. Berliner Taschenbuch<br />

Verlag, 218 Seiten, € 8,90 (ISBN 3-8333-0242-9)<br />

LSD 35


Domblick<br />

Aus <strong>de</strong>r Ferne betrachtet, sieht man manchmal<br />

mehr. Der Kölner Autor kennt <strong>de</strong>n Kiez<br />

seit 15 Jahren, wohnt aber nach wie vor mit<br />

Aussicht auf <strong>de</strong>n Dom.<br />

Hier neben meinem Schreibtisch auf <strong>de</strong>m Bücherbord<br />

liegen einige bunt bekleckste Betonbrösel<br />

„Ma<strong>de</strong> in DDR“. Ja, ich gestehe es: In <strong>de</strong>n Wirren<br />

jener 12 schicksalhaften Monate <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Geschichte zwischen November 1989 und 1990<br />

war ich Mauerspecht!<br />

Am 11.11.1989 (Beginn <strong>de</strong>r Karnevalsession in<br />

Köln!) war es, als ich auf <strong>de</strong>r bemalten Seite <strong>de</strong>r<br />

Mauer staunend durch das erste handgemachte<br />

Loch auf ein Stück Stoppelwiese schaute,<br />

das <strong>de</strong>n Namen Potsdamer Platz trug. In<br />

<strong>de</strong>m Bewusstsein, womöglich einer<br />

historischen Stun<strong>de</strong> beizuwohnen,<br />

ließ ich die Mauerbrösel vorsorglich<br />

in meine Jackentasche gleiten.<br />

Seit<strong>de</strong>m kehre ich min<strong>de</strong>stens<br />

zweimal im Jahr hierher zurück.<br />

Selbstverständlich nicht zum Potsdamer<br />

Platz. (Wer wohnt da<br />

schon?!) Der <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> ist meine<br />

zweite Heimat gewor<strong>de</strong>n und da<br />

macht man sich im Laufe <strong>de</strong>r Jahre so seine<br />

Gedanken ...<br />

1. „Funkenmariechen im Prenzlberg“<br />

Ein echter Einwohner <strong>de</strong>s <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>s<br />

wohnt nicht „auf“, son<strong>de</strong>rn „im“ o<strong>de</strong>r bestenfalls<br />

„am“ <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>; soviel wusste ich, als ich<br />

kürzlich zurecht gewiesen wur<strong>de</strong>, dass <strong>de</strong>r echte<br />

Prenzlberger niemals Prenzlberg sagt, son<strong>de</strong>rn immer<br />

<strong>Prenzlauer</strong>!<br />

Fragt sich, wie sich ausgerechnet hier, im Herzen<br />

Preußens, alpenländisches Idiom etablieren<br />

konnte? „Prenzlberg“ klingt in <strong>de</strong>r Tat viel authentischer,<br />

wenn man es mit diesem ge<strong>de</strong>hnten Wiener<br />

„e“ näselt, also etwa: „Präeenzlberg“. Und da Immigrationsbewegungen<br />

größeren Ausmaßes innerhalb<br />

<strong>de</strong>r letzten 60 Jahre als Ursache ausschei<strong>de</strong>n,<br />

bleibt nur eine logische Antwort: In <strong>de</strong>n Jahren zwischen<br />

<strong>de</strong>n Kriegen hat es wohl mehr als einen erfolg-<br />

und talentlosen österreichischen Kunstmaler<br />

aus <strong>de</strong>r Alpenregion an die Spree getrieben. Wahrscheinlich<br />

zog ein endloser Treck kleinwüchsiger<br />

Männer mit gestutztem Oberlippenbart und Staffe-<br />

36 LSD<br />

lei unterm Arm von Sü<strong>de</strong>n herauf. Neben ihnen ein<br />

Ochsenkarren mit ihren Habseligkeiten, von stämmigen<br />

Blondinen im Dirndl gezogen, die alle auffallen<strong>de</strong><br />

Ähnlichkeit mit Eva Braun aufwiesen.<br />

Welcher Art auch immer die Wan<strong>de</strong>rungsbewegungen<br />

waren, die <strong>de</strong>n „Präeenzlberg“ auf <strong>de</strong>n<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> brachten, fest steht: Noch heute<br />

enttarnt sich <strong>de</strong>r Ortsfrem<strong>de</strong> durch die Verwendung<br />

<strong>de</strong>sselben. Und natürlich weisen die vermeintlichen<br />

Ureinwohner ihn nur zu gerne auf seinen<br />

Fauxpas hin. Diejenigen, die eben erst <strong>de</strong>n<br />

Aufstieg zum „Ureinwohner“ geschafft haben, sind<br />

am Schlimmsten. Die wahre Herkunft dieser<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>er entpuppt sich bei genauerem<br />

Hinhören ziemlich schnell: Senftenberg o<strong>de</strong>r Reit<br />

im Winkel.<br />

Der echte Ureinwohner, <strong>de</strong>r Gebürtige,<br />

legt daher meist großen Wert auf<br />

die Feststellung, es gebe Unterschie<strong>de</strong>,<br />

die selbst <strong>de</strong>m Lernwilligsten<br />

auf immer verschlossen bleiben.<br />

Das ist in Berlin nicht an<strong>de</strong>rs<br />

als in Köln. Vermutlich ist diese<br />

stolze Distinktion <strong>de</strong>r wahrhaft Gebürtigen<br />

auch dadurch erklärbar,<br />

dass sie an <strong>de</strong>r Spree wie am Rhein<br />

in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit sind. Min<strong>de</strong>rheiten,<br />

beson<strong>de</strong>rs die ethnischen, stärken ihr<br />

Selbstbewusstsein nun mal gerne dadurch, dass<br />

sie alles, was auch nur ansatzweise als i<strong>de</strong>ntitätsstiftend<br />

durchgeht, exzessiv zelebrieren.<br />

Bleibt die Frage: Gibt es wirklich einen grundlegen<strong>de</strong>n<br />

Unterschied? Trägt <strong>de</strong>r Mensch vom<br />

<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> etwas im Herzen, dass <strong>de</strong>r<br />

Prenzlberger niemals fin<strong>de</strong>n wird?<br />

Was <strong>de</strong>n Kölner/die Kölnerin angeht, fällt die<br />

Antwort leicht: Je<strong>de</strong>s Kölner Mädchen möchte einmal<br />

im Leben Funkemariechen sein – und je<strong>de</strong>r<br />

Kölner möchte einmal im Leben mit einem echten<br />

Funkemariechen exzessiv ... ! Derlei Herzenswünsche<br />

sind für <strong>de</strong>n Auswärtigen kaum nachvollziehbar.<br />

Das liegt daran, dass diese in einer frühen Zeit<br />

<strong>de</strong>s sexuellen Erwachens geboren wer<strong>de</strong>n; und<br />

hat man die nicht in Köln verbracht – na ja!<br />

Gerne erkläre ich das Funkemariechen-Phänomen<br />

noch einmal genauer. Bis dahin mögen mir<br />

die im <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> gebürtigen Berliner aber<br />

bitte mal verraten: Was unterschei<strong>de</strong>t sie tief im<br />

Herzen vom ganzen Rest?<br />

Max Peters


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IMPRESSUM<br />

Redaktion: Barbi Mlczoch (V.i.S.d.P.),<br />

Jürgen Oxenknecht, Robert Standfest, Katharin Karouaschan.<br />

freie Mitarbeiter: H. Seefeld, M.Liske, J.Burggraf, C. Labrana<br />

(Familie+Kin<strong>de</strong>r), A. Gosemärker (Recht), P. Mack, T. Zerbst, A. Zelig,<br />

A. Lenzmann, O. Krzykowski (Brot&Spiele), M. Peters.<br />

Gestaltung: Katharin Karouaschan, Barbi Mlczoch, Julia Braun.<br />

Cover: struhlikat@web.<strong>de</strong>; das Cover können Sie käuflich erwerben.<br />

Herausgeber: Barbi Mlczoch, Katharin Karouaschan<br />

Anschrift: LSD Lychener/Schliemann/Duncker Stadtmagazin für <strong>de</strong>n<br />

Helmholtzkiez/<strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong>, Göhrenerstrasse 13, 10437 Berlin,<br />

T: 43739187, lsdmagazin@aol.com, www.lsd-stadtmagazin.<strong>de</strong><br />

Bildredaktion: Barbi Mlczoch, T: 44050308,<br />

barbi_mlczoch@hotmail.com<br />

Anzeigen: Katharin Karouaschan, T: 43739187,lsdmagazin@aol.com<br />

Vertrieb: Thomas Zerbst, T: 0170/3177393, thomaszerbst@web.<strong>de</strong>.<br />

Druck: Druckhaus Galrev, Lychenerstrasse 73, 10437 Berlin<br />

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