Endstation Prenzlauer Berg? - orlandodesign.de
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1989 hofften viele, dass sich etwas Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s<br />
än<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>.<br />
Der Mikrokosmos<br />
Während <strong>de</strong>r <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> sich seit <strong>de</strong>r<br />
Wen<strong>de</strong> völlig verän<strong>de</strong>rt hat, scheint im Bumerang<br />
die Zeit still zu stehen. „Ich liebe und hasse das Bumerang“,<br />
sagt Katrin, von Beruf Baumpflegerin und<br />
studierte Kunstpädagogin. „Diese Straße ist mein<br />
Zuhause und im Sommer trifft sich die Nachbarschaft<br />
an <strong>de</strong>n Biertischen <strong>de</strong>s Bumerang. Es ist wie<br />
ein Dorf“. Sie kam 1996 aus Westberlin in <strong>de</strong>n<br />
Helmholtzkiez, zurück will sie nicht mehr. Als sie vor<br />
zwei Jahren für ihren Studienabschluss lernte, reduzierte<br />
sie ihre Besuche. „Ich stellte plötzlich fest,<br />
dass mir <strong>de</strong>r Mikrokosmos <strong>de</strong>s Bumerang zu klein<br />
gewor<strong>de</strong>n war.“, sagt sie, „Was ich aber immer<br />
noch einzigartig fin<strong>de</strong> ist, dass es wahrscheinlich<br />
die einzige Kneipe Berlins ist, in <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Gast<br />
manchmal entschuldigen muss, wenn er ein Bier<br />
bestellt.“ „Hier ist <strong>de</strong>r Gast noch König, doch <strong>de</strong>r<br />
Wirt ist Kaiser“, pflegt André zu sagen. Kommt jemand<br />
Neues in seine Räume, taxiert er ihn manchmal<br />
danach, ob er Wessi o<strong>de</strong>r Ossi sei. „Die Wessis<br />
sind einfach cleverer, als wir“, gibt er zu, „sie<br />
verkaufen sich besser, nehmen sich was sie brauchen<br />
und fragen nicht lange, ob es OK ist. Im<br />
Osten war <strong>de</strong>r Zusammenhalt stärker. Wir brauchten<br />
einan<strong>de</strong>r mehr und Geld hatte eine geringere<br />
Be<strong>de</strong>utung.“<br />
Das Leben war ein Traum<br />
Manchmal sehnt sich André „seine“ DDR zurück.<br />
Nicht weil damals alles besser war, son<strong>de</strong>rn<br />
weil die Regeln, gegen die er kämpfte, übersichtlicher<br />
waren. Nun kämpft je<strong>de</strong>r für sich, um Geld,<br />
Erfolg, sozialen Status o<strong>de</strong>r einfach nur um das<br />
nackte Überleben. „Keine Existenzprobleme haben<br />
– ist das nicht Freiheit?“, fragt sich André. „Wir<br />
träumten vom Sozialismus, jetzt leben wir im real<br />
existieren<strong>de</strong>n Kapitalismus. Je<strong>de</strong>r Idiot, <strong>de</strong>r Geld<br />
o<strong>de</strong>r Macht hat, gilt als erfolgreich. Ist das <strong>de</strong>r Maßstab<br />
dafür, ob wir glücklich und sinnvoll leben?“ Jochen,<br />
<strong>de</strong>r neben ihm sitzt, nickt zustimmend. Er ist<br />
einer <strong>de</strong>r wenigen, die seit 15 Jahren das Bumerang<br />
besuchen. „Ich wur<strong>de</strong> in West<strong>de</strong>utschland geboren<br />
und war immer auf <strong>de</strong>r Jagd nach <strong>de</strong>m<br />
Außergewöhnlichen, da mich das Normale seit jeher<br />
anwi<strong>de</strong>rte. Im Dezember 89 zog ich als Hausbesetzer<br />
in <strong>de</strong>n <strong>Prenzlauer</strong> <strong>Berg</strong> und genoss <strong>de</strong>n<br />
1989 ALS ALLES BEGANN...<br />
Zwischenraum, die Zeit in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Osten aufhörte<br />
zu existieren und <strong>de</strong>r Westen hier noch nicht angekommen<br />
war. Damals bekam ich eine Vorstellung<br />
davon, wie es sich anfühlt, wenn sich Strukturen<br />
auflösen. Das Leben war ein Traum. Alles schien<br />
möglich. Ich glaube, ich war damals glücklich.“ Jochen<br />
kommt oft ins Bumerang, um sich <strong>de</strong>r alten<br />
Zeiten zu erinnern. „Ich lernte auch Stasi-Mitarbeiter<br />
kennen und stellte fest, dass sie <strong>de</strong>n West-Kar-<br />
rieristen charakterlich ähnelten. Scheiße schwimmt<br />
immer oben, das war und ist im Osten nicht an<strong>de</strong>rs<br />
als im Westen.“, sagt er mit einem diebischen<br />
Lächeln im Gesicht. Er versuchte zeitweilig in Cuba<br />
zu fin<strong>de</strong>n, was er in Berlin vermisst. „Wenn Castro<br />
stirbt bin ich sofort in Havanna – dort wird es<br />
dann erneut zeitlose Zwischenräume geben. Ich<br />
liebe es, wenn zwei Systeme aufeinan<strong>de</strong>r treffen.<br />
In solchen Momenten zählt nur <strong>de</strong>r Augenblick, da<br />
je<strong>de</strong>r Plan am nächsten Tag von <strong>de</strong>r sich rasant<br />
verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Realität über <strong>de</strong>n Haufen geworfen<br />
wird.“<br />
Wen<strong>de</strong>kultur<br />
Es ist 2.00 Uhr nachts. Manchmal bereut André<br />
ein wenig, dass er früher Geld aus seinen Einnahmen<br />
an soziale Projekte gespen<strong>de</strong>t hat. Dank erhielt<br />
er dafür nur selten. „Ich habe aus sehr vielen<br />
Fehlern lernen müssen. Oft wur<strong>de</strong> ich getäuscht.<br />
In <strong>de</strong>r Zukunft will ich nur noch drei bis vier Tage<br />
pro Woche hinter <strong>de</strong>m Tresen stehen.“ Sein I<strong>de</strong>alismus<br />
<strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>zeit scheint verflogen. Im Kapitalismus<br />
will er trotz<strong>de</strong>m nicht ankommen. Er genießt<br />
es, in seinem La<strong>de</strong>n ein Stück Wen<strong>de</strong>kultur konserviert<br />
zu haben. „Ich wer<strong>de</strong> das Bumerang sicherlich<br />
noch weitere zehn Jahre führen, das bin<br />
ich meinem Kiez schuldig.“ Er greift nach <strong>de</strong>n Gläsern<br />
und schenkt Bier ein. Seine Gäste haben<br />
Durst - wie damals in <strong>de</strong>n Wen<strong>de</strong>zeiten………<br />
LSD 19