Jana Hensel: Zonenkinder - Ur
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Hört mit! 2004/2005<br />
<strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong>: <strong>Zonenkinder</strong><br />
Programnr: 41415/ra5<br />
<strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong>: <strong>Zonenkinder</strong><br />
Intervju och manus: Dagmar Pirntke<br />
Sändningsdatum: 2004-10-26 kl 09.35 i P2<br />
Programlängd: 9.27<br />
Producent: Kristina Blidberg<br />
/Musik/<br />
Sprecher: <strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong> ist zu Besuch in Stockholm. Sie wurde 1976 in Leipzig<br />
geboren und lebt heute in Berlin. <strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong> war 13, als 1989<br />
die Mauer fi el. Die DDR mit ihren vertrauten Dinge verschwand<br />
sozusagen über Nacht. Von einem Tag zum anderen war damit <strong>Jana</strong><br />
<strong>Hensel</strong>s Kindheit zu Ende. Davon handelt ihr Buch „<strong>Zonenkinder</strong>“.<br />
/Musik/<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Das Buch erzählt die Geschichte einer Generation, deren Kindheit<br />
mit dem Jahr ’89 zu Ende ging, als auch die DDR zu Ende ging,<br />
und die ihre Jugend in einem anderen System, in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, erlebt hat. Und ich erzähle über die Erfahrungen,<br />
Probleme, Sehnsüchte dieser Generation.<br />
Sprecher: Die DDR war der sozialistische Teil Deutschlands und von der<br />
Bundesrepublik abgeriegelt. Mitten durch die Stadt Berlin ging<br />
eine Mauer. Denn für DDR-Bürger sollte es unmöglich sein, ins<br />
westliche Ausland zu fl iehen oder auch nur zu reisen. Es sollten keine<br />
Einfl üsse aus nicht-kommunistischen Ländern unkontrolliert in die<br />
DDR kommen, keine Nachrichten, Zeitungen und Bücher, aber auch<br />
keine Musik, Kleider und Lebensmittel. Die DDR und die anderen<br />
sozialistischen Länder waren wie eine eigene Welt.<br />
/Atmo: Die Mauer fällt/<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Im Jahre ’89, als die Mauer fi el, sind über Nacht alle Produkte,<br />
alle Kindheitshelden, der ganze Alltag der ehemaligen DDR ist<br />
verschwunden. Und für uns, die wir damals zwischen elf und<br />
15 Jahre alt waren, hieß das, dass wir uns ganz schnell von all<br />
unseren Kindheitsfreunden verabschieden mussten. Alle Bücher, die<br />
ich als Kind gelesen hatte, waren verschwunden. Und wenn man aus<br />
Schweden kommt und „Pippi Langstrumpf“ gelesen hat als Kind,<br />
dann kann man nach Frankreich fahren, oder man kann nach Italien<br />
fahren, man kann nach Deutschland fahren und wird dort immer<br />
Leute treffen, die auch von „Pippi Langstrumpf“ gehört haben. Meine<br />
Kinderbücher kennt niemand, und wenn ich nach Italien oder<br />
nach Frankreich fahre, dann ... dann fühle ich mich dort fremd,<br />
weil niemand die Helden meiner Kindheit kennt. Und das ist ein<br />
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Hört mit! 2004/2005<br />
<strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong>: <strong>Zonenkinder</strong><br />
Programnr: 41415/ra5<br />
/Musik/<br />
Beispiel dafür, dass die ganze Welt meiner Kindheit verschwunden<br />
ist. Und wenn man so etwas erlebt, dann muss man sich erstens<br />
an etwas Neues anpassen, und man muss quasi Westdeutsche oder<br />
Westeuropäer werden. Aber man muss sich auch von seiner gesamten<br />
Kindheit verabschieden, und das ist mitunter ein schmerzhafter<br />
Prozess.<br />
Sprecher: In totalitären Systemen ist die Schule sehr wichtig, denn hier<br />
werden Kinder und Jugendliche politisch beeinfl usst und ausgebildet.<br />
So auch in der DDR. Als die Mauer fi el, waren darum viele<br />
Lehrer verunsichert. Nun sollten sie die Schüler nicht mehr zu<br />
„sozialistischen Persönlichkeiten“ ausbilden. Aber wie sollten sich die<br />
Lehrer zu den politischen Veränderungen stellen? Was sollten sie den<br />
Schülern sagen? Doch nicht nur das Verhältnis zwischen Lehrern<br />
und Schülern war plötzlich kompliziert. Auch die alten sozialistisch<br />
geprägten Schulbücher durfte man nicht mehr benutzen.<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Also, unsere Schulbücher wurden weggeschmissen. Es gab dann große<br />
Container auf den Schulhöfen. Und alle Schulbücher aus der DDR<br />
wurden in diesen Container geschmissen, und es dauerte sehr lange,<br />
bis wir westdeutsche Schulbücher bekamen. Wir haben unglaublich<br />
lange mit Kopien gearbeitet. Ich erinnere mich an meine Schulzeit als<br />
eine Zeit, wo wir kiloweise Kopien aus westdeutschen Schulbüchern<br />
in die Schule schleppen mussten. Und später dann bekamen wir<br />
bereits gebrauchte Bücher aus Westdeutschland. Und es dauerte sehr<br />
lange, bis ich ein neues westdeutsches Schulbuch in den Händen hielt.<br />
Sprecher: Es dauerte auch sehr lange, bis <strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong> zum ersten Mal<br />
westdeutsche Jugendliche traf.<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Und es hat dann sehr lange gedauert, bis ich Vertrauen gefasst habe<br />
zu westdeutschen Mitschülern oder westeuropäischen Jugendlichen.<br />
Bis ich 13 Jahre alt war, hatte ich mir nie real vorgestellt, dass es<br />
wirklich hinter dieser Mauer auch Jugendliche geben könnte, die so<br />
sind wie ich, die ähnliche Probleme haben, die sich über ähnliche<br />
Dinge Gedanken machen.<br />
/Musik/<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Ich werde sehr oft gefragt, was ich am meisten vermisse, wenn ich<br />
an die DDR denke. Und dazu muss man sagen, dass das eine sehr<br />
schwierige Frage ist, weil ... weil alles verschwunden ist, weil die<br />
Straßen nicht mehr so aussehen wie früher, die Autos verschwunden<br />
sind, das Spielzeug verschwunden ist, die Zeitungen verschwunden<br />
sind, der ganze ... ganze Staat, ein ganzes Land ist verschwunden. Und<br />
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<strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong>: <strong>Zonenkinder</strong><br />
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dann ist es sehr schwierig, sich an ganz einzelne Dinge zu erinnern.<br />
Und wenn ich es mir genau überlege, dann wünsche ich mir, noch<br />
einmal durch dieses Land gehen zu können und noch einmal durch<br />
die Straßen gehen zu können und dabei so zu sehen, was ich gesehen<br />
habe, als ich ein Kind war, um mich dann auch noch mal besser<br />
an meine Kindheit erinnern zu können. Ich wünschte mir, noch<br />
einmal durch diese DDR laufen zu können, sie noch einmal sehen zu<br />
können. Und sie zu riechen und sie anfassen zu können. Das vermisse<br />
ich am meisten, also diese Sinne: sehen, hören, riechen.<br />
Sprecher: Aber für eine Jugendliche war 1989 alles Neue natürlich auch sehr,<br />
sehr spannend.<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Na ja, ich war damals 13, also, ich war ein Kind, und ich<br />
hatte mir immer unglaublich gewünscht, eine Musikzeitschrift zu<br />
lesen, die ”Bravo”. Also, ich hab’mir immer unglaublich gewünscht,<br />
westdeutsche Schokolade zu essen zu Weihnachten. Oder ich hab’ mir<br />
unglaublich gewünscht, westdeutsche Klamotten zu tragen. Es war so<br />
eine Lust, eine ganz große Lust, diese ganzen westdeutschen Produkte<br />
zu haben - Schokolade, Süßigkeiten, Klamotten, Zeitungen, alles.<br />
Sprecher: Und, war es dann in Wirklichkeit so toll wie in der Fantasie?<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Doch, das war war unglaublich toll.<br />
/Musik/<br />
Sprecher: <strong>Jana</strong> <strong>Hensel</strong> dokumentiert in ihrem Buch ”<strong>Zonenkinder</strong>” den Alltag<br />
in der DDR aus der Sicht einer13-Jährigen. Für wen hat sie das Buch<br />
geschrieben?<br />
J. <strong>Hensel</strong>: Ich habe dieses Buch für meine Generation geschrieben. Ich habe es<br />
für diese Leute geschrieben, die zwischen elf und 15 Jahre alt waren,<br />
als die Mauer fi el, die also ihre Kindheit in der DDR verbracht haben<br />
und in der Bundesrepublik erwachsen wurden. Ich hab’ sehr viel mit<br />
jungen Menschen gesprochen und mich sehr viel auch mit meinen<br />
Freunden über dieses Thema unterhalten und festgestellt, dass sie sehr<br />
viel vergessen haben aus ihrer Kindheit, weil eben alles verschwunden<br />
ist. Und dann wollte ich ihnen ihre eigene Geschichte erzählen. Ich<br />
wollte sie an all die Dinge erinnern, die sie vergessen hatten.<br />
Ich bekomme sehr viele Briefe, und es erzählen mir Leute, dass<br />
sie weinen mussten, als sie dieses Buch zu Ende gelesen hatten. Und<br />
es gibt Leute, die ... die sagen, es wäre gut, wenn dieses Buch nie<br />
geschrieben worden wäre, so schlecht, wie es ist. Und ... aber diese<br />
sehr emotionalen Reaktionen zeigen mir, dass ich in eine Wunde<br />
getroffen habe, oder dass ich etwas getroffen habe, was die Leute<br />
beschäftigt, was sie wirklich anrührt, und das ist als Schriftstellerin<br />
etwas sehr Schönes.<br />
/Musik/<br />
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