Heft 4 (PDF, 4,39 MB) - Speyer
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Kultur 31<br />
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Graffitis, grelle, als Muntermacher auf<br />
den<br />
dunkelroten Backsteinwänden. Die davor<br />
gestapelten, von Rost zerfressenen<br />
Schienen haben nur noch einander zu<br />
tragen.<br />
Hauptperson ist das zerfallende alte Stell<br />
werk mit seinen Backsteinwänden an<br />
den von Rost zerfressenen Schienen.<br />
Aber seine Trauer über eine Vergangenheit,<br />
in der dort noch Weichen für „Begrüßungsumarmungen“<br />
gestellt wurden,<br />
wird konterkariert von den heutigen, banalen<br />
Zukunftsversprechen der Lidlreklame<br />
und Graffitis. Deren Zeichen machen<br />
mich jedoch kaum munter, vielmehr<br />
bin ich versucht, mich zu ducken<br />
vor ihren Gesten der Gewalt.<br />
Dieses Mit-, Neben- oder Gegeneinander<br />
von Vergangenheiten der Stadtbilder bestimmt<br />
viele Gedichte des Bandes. Besonders<br />
hat mich das folgende Gedicht<br />
angesprochen:<br />
Kein Schwanengesang<br />
Ihr rostigen Kähne „Tau“ und „Iskele“<br />
Mit den zersplitterten Bullaugen<br />
Am Ufer des Landwehrkanals,<br />
grell beschmiert, mit Botschaften<br />
[bekritzelt.<br />
Euer morbider Charme<br />
Für die meisten nur Schrott.<br />
Ihr holden Schwäne!<br />
Schon immer einhellig gepriesen<br />
der edle Halsschwung, der wachsame<br />
[Blick.<br />
Einen Lohengrin aber, damit er<br />
In die Bresche springe für zwei Gequälte,<br />
hat keiner heranziehen können<br />
an jenem Januartag.<br />
Geflüchtet seid ihr natürlich, gestartet<br />
Mit klatschenden Flügeln, als eine Horde<br />
Soldaten die Leiche der kleinen Frau mit<br />
dem kürzeren Bein ins Wasser schmiss.<br />
Wo immer die Stelle genau gewesen,<br />
die Paddelboote, die Kähne, die Enten, die<br />
[Schwäne<br />
sie kommen so leicht darüber weg.<br />
Ehe in der zweiten Strophe die berühmte<br />
Zeile aus dem Gedicht „Hälfte des Lebens“<br />
von Friedrich Hölderlin zitiert wird, nimmt<br />
schon die erste Zeile „Ihr rostigen Kähne“<br />
deren Rhythmus und Melodie auf. Zunächst<br />
jedoch sind es nicht Schwäne sondern<br />
„rostige Kräne“ am Landwehrkanal. Auch<br />
sie sind mit Graffitis nicht verziert, sondern<br />
beschmiert. Obwohl für die meisten nur<br />
Schrott, empfindet das lyrische Ich einen<br />
„morbiden Charme“. Er führt schließlich<br />
doch zu Hölderlins Schwänen. Deren<br />
„wachsame Blicke“ jedoch Grausames sehen<br />
müssen. Kein Schwanenritter Lohengrin<br />
ist helfend zur Stelle. Es bleibt ihnen<br />
nichts, als „mit klatschenden Flügeln“ zu<br />
fliehen: Mitglieder eines rechtsradikalen<br />
Garde-Regiments haben am 15. Januar<br />
1919 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg<br />
gefangen und noch am gleichen Abend ermordet.<br />
Noch einmal klingen an diesem<br />
„Januartag“ die Wintertöne an, die metallisch<br />
klirrenden Fahnen, die das Hölderlingedicht<br />
beenden, als eine Frauenleiche in<br />
den Landwehrkanal geworfen wurde. Erst<br />
am 31. Mai wurde sie gefunden und identifiziert.<br />
Die letzte Strophe des Gedichts mündet<br />
wieder, wie in „Abgeschrieben“, in die Gegenwart:<br />
Die genau Stelle des Ereignisses<br />
kennt man nicht. In der idyllischen Szene<br />
von heute kommen Paddelboote, Kähne,<br />
Enten und selbst Schwäne „leicht darüber<br />
weg“.<br />
Das Gedicht „Hier also“ bezieht sich auf ei