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Kristin Westphal Stimme. Geste. Blick. - Universität Koblenz · Landau

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<strong>Kristin</strong> <strong>Westphal</strong><br />

<strong>Stimme</strong>. <strong>Geste</strong>. <strong>Blick</strong>.<br />

– Der Körper als Bezugspunkt für Lern- und Bildungsprozesse<br />

Einstimmung<br />

Angefragt haben Sie mich, Ihnen die phänomenologische Perspektive<br />

für eine pädagogische Forschung nahe zu bringen. Diese Perspektive<br />

fragt in personaler, sozialer wie kultureller Dimensionierung nach<br />

dem Verhältnis von Natur-Kultur, Individuum und Gesellschaft.<br />

Diese Dimensionierungen finden wir auch im Schulischen wieder.<br />

Dort werden die Erfahrungen der Beteiligten gebrochen und<br />

transformiert durch die Ordnung und Machtinstanz der Institution<br />

Schule. Unterricht ist ein höchst komplexes Geschehen, an dem<br />

viele Faktoren und Ebenen beteiligt sind, die sich wechselseitig<br />

bedingen und bestimmen. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass<br />

es bis heute nicht d i e Schultheorie gibt und die<br />

Erziehungswissenschaft über keine eigenständige Theorie verfügt.<br />

Erkenntnisse über diesen komplexen Zusammenhang können wohl nur im<br />

Verbund von mehreren wissenschaftstheoretischen und methodischen<br />

Zugängen möglich sein. Hier bespreche ich einen Zugang, der<br />

bislang eher am Rande schultheoretischer Erörterungen zu finden<br />

ist. Die nachfolgenden Ausführungen sind dann weniger auf<br />

normative, programmatische Sachverhalte hin ausgerichtet, sondern<br />

zielen auf die Frage nach einem Selbst- und Weltverhältnis des<br />

Individuums, das als miteinander verschränkt beschrieben wird in<br />

Unterscheidung zu Positionen, die das Subjekt als kognitiv<br />

sinnkonstituierend in den Mittelpunkt von Erfahrung stellen.<br />

Für eine Fundierung von Wirklichkeit und eine Erweiterung im<br />

Umgang mit Wirklichkeiten und Möglichkeiten kommt dem Leib/Körper<br />

– so die Behauptung – in pädagogischen Zusammenhängen eine<br />

grundlegende Rolle zu. Darüber rückt die performative Praxis eines<br />

pädagogischen und ästhetischen Geschehens in den <strong>Blick</strong>. An einem<br />

Beispiel wird der These nachgegangen, dass sich kulturelle Praxen<br />

in Körperhaltungen, in einem leiblichen Ausdrucksverhalten<br />

präsentieren und einen anderen Zugang als die diskursiven und<br />

kognitiv orientierten ermöglichen. Thematisiert werden neben einem<br />

Einblick in verschiedene Forschungsrichtungen die Grenzen des<br />

pädagogischen Verstehens in schulischen und außerschulischen


Bildungsprozessen. Ein Filmauschnitt zeigt uns, wie sich zwischen<br />

Lehrer und Schüler, Kind und Erwachsener Sinnstiftungsprozesse<br />

vollziehen. Die Beobachtung und Analyse der Szene soll dazu<br />

beitragen, die These zu veranschaulichen, dass unser Verhältnis<br />

zur Welt grundlegend medial, das meint vermittelt durch Andere und<br />

Anderes angelegt ist, hier festgemacht an Sprache, genauer: der<br />

Verflechtung von Körpersprache und Sprechen. Den Abschluss bildet<br />

ein kurzer Ausblick auf eine pädagogisch-anthropologisch<br />

orientierte Bildungstheorie. Als Impuls für die nachfolgende<br />

Abhandlung beginne ich mit einem Zitat, das beispielhaft<br />

kenntlich machen soll, worin die Schwierigkeiten und Defizite für<br />

eine Schul- und Unterrichtsforschung bestehen.<br />

Schuldefinitionen<br />

1. Der Schüler ist ein Kind, das zur Schule geht. Die Schule ist<br />

eine Institution, die aus Kindern Schüler macht. Die Schule ist<br />

auch eine Fiktion, aber sie hält sich für wirklich und wird für<br />

den Schüler zur Wirklichkeit. Der Schüler ist ein Kind, das in der<br />

Fiktion Schule lebt. Je besser es geschult ist, desto wirklicher<br />

wird die Schule. Schließlich wird die Schule zur Welt. Dann gibt<br />

es nur noch Schule, und in der Schule gibt es alles. In der Schule<br />

stimmt alles. Auf jede Frage gibt es eine Antwort. Zu jeder<br />

Tatsache gibt es die richtige Frage. Die Tatsachen werden in der<br />

Schule festgestellt. Alle Tatsachen zusammen heißen Stoff. Die<br />

Wirklichkeit der Welt wird in der Schule zu Stoff. Der Stoff wird<br />

in der Schule durchgenommen. Je öfter der Stoff durchgenommen ist,<br />

desto dünner wird er. Bald läßt er sich Jahr für Jahr mühelos<br />

durchdrehen. Jetzt ist die Wirklichkeit ganz zu Stoff geworden.<br />

Auf jede Frage gibt es nun eine Antwort. Alles stimmt nun. Jetzt<br />

hält die Schule die Schule für Schule.<br />

2. Der Schüler ist ein Kind, das zur Schule geht. Der Schüler sitzt am Schülerpult. Er sitzt ruhig.<br />

Der Schüler paßt auf. Der Schüler merkt auf. Er streckt die Hand auf, wenn der Lehrer eine Frage<br />

gestellt hat. Die Hand des Schülers streckt den Zeigefinger auf. Der Schüler antwortet. Er spricht<br />

deutlich. Er macht einen ganzen Satz. Immer bevor der Schüler den Mund aufmacht, streckt er die<br />

Hand auf ...<br />

(Ernst Eggimann: Die Landschaft des Schülers, Zürich 1973, 7–9)<br />

Diese Wortspiele, die an Wittgenstein oder Gertrude Stein erinnern<br />

lassen, haben neben dem humorvollen Anteil auch einen ernsten, der


für das, was ich im Folgenden erörtern möchte, zum Ausgangspunkt<br />

genommen wird. Der Text wurde von dem Lehrer und Autor Ernst<br />

Eggimann 1973 geschrieben. Seine Beschreibung von Schule und<br />

Schüler war für diese Zeit noch neu bzw. wieder neu und sicher<br />

provokativ. Aus heutiger Sicht spiegelt sich darin eine<br />

konstruktivistische bzw. systemtheoretische Sichtweise, wie sie in<br />

inzwischen in vielfältiger und ausdifferenzierter Weise die<br />

Diskussionen beherrscht. Ich möchte diese Position ergänzend mit<br />

der phänomenologischen Betrachtung verknüpfen, die nicht allein<br />

von der Schule und dem Schüler spricht. Diese thematisiert darüber<br />

hinaus, dass z. B. der Schüler immer ein auch konkretes Kind<br />

meint. Denn nicht allein die Schule steht repräsentativ für die<br />

Erwartungen an den Einzelnen, sondern umgekehrt ist auch zu<br />

berücksichtigen, dass der Einzelne dazu beiträgt, was und wie<br />

Schule ist. Das heißt, im Mittelpunkt meines Interesses stehen der<br />

Lehrer und der Schüler als soziale Akteure im pädagogischen<br />

Geschehen (vgl. Lippitz 1999, 42). Dieser <strong>Blick</strong> bleibt uns in<br />

diesem Text verwehrt. Interessant ist an dem Text die sehr<br />

konkrete Beschreibung eines – allerdings abstrakt gehaltenen –<br />

Schülerverhaltens unter Einbeziehung körperlicher Handlungsweisen.<br />

Diese lassen sich lesen, wie über Handlungen gesellschaftliche<br />

Normen und Werte einverleibt werden. Der Körper als leiblich-<br />

sinnliches Medium ist aber auch Vollzugssinn im Kontext<br />

schulischer Rituale und Inszenierungen, er ist aktiv mitwirkend am<br />

Geschehen zugleich, Handlungen vollziehen sich durch Bewegen,<br />

Wahrnehmen, Sprechen und tragen zu den Deutungen über und von<br />

Schule bei. Meyer-Drawe differenziert diese „Aktivität“ wie folgt:<br />

„Das Ich eignet sich seine Welt nicht an, indem es sie mit<br />

Konstruktionen überspannt. Es „empfängt“ sie und bringt sie in<br />

einer Art Reprise zum Ausdruck, zur Sprache. Der leiblichen<br />

Orientierung in der Welt gehört die sprachliche Organisation zu.<br />

Sprache drückt die Spannung zwischen Situiertheit und<br />

Objektivierung aus, da sie in der Lage ist, sich auf Anwesendes<br />

wie Abwesendes zu beziehen. Sprache ordnet die Situation, während<br />

die Wahrnehmung in ihr aufgeht.“ (Meyer-Drawe 2003, 2) Wenn man<br />

davon ausgeht, dass Erziehen, Bilden oder Unterrichten bedeutet,<br />

in der Ordnung eines pädagogischen Raums wie den der Schule, und<br />

in einer pädagogischen Sphäre – wie es Mollenhauer formuliert,<br />

wiederum Ordnungen herzustellen, in denen ein Gewebe von


Bedeutungen und Sinnzuschreibungen produziert wird, dann ergeben<br />

sich Fragen in zwei Richtungen:<br />

1. Auf der Makroebene: Welche Kultur, welche Symbolsysteme<br />

entwickelt eine Gesellschaft? Und wie spiegelt und<br />

transformiert sich die Kultur in der Schule?<br />

Wie wird in dieser hergestellt und verändert, was von außen<br />

als Kultur in die Schule mitgebracht wird?<br />

2. Auf einer Mikroebene: Welche Bedeutungszusammenhänge<br />

erschließt sich der Einzelne aus den pädagogischen<br />

Inszenierungen und Gegenständen und wie vollzieht sich das?<br />

Wie drückt sich dies nicht nur kognitiv, sondern auch<br />

körperlich-sinnlich aus? Wie vollzieht sich die Verflechtung<br />

der Außen- mit der Innenperspektive?<br />

Hintergrund des Themas: Kultur – Schule – Schüler<br />

Schule und Bildung sind in hochkomplexen Gesellschaften mit einer<br />

unüberschaubaren Medienkultur fast die einzige Instanz, die<br />

notgedrungener Weise Ordnungen schaffen muss, damit systematische<br />

Lernprozesse für eine nachwachsende Generation ermöglicht werden.<br />

Sie ist nicht nur inhaltlich, sondern auch im Vergleich zu<br />

gesellschaftlichen Systemen wie in Südamerika ohne eine<br />

institutionalisierte Bildungsinstitution – die Instanz, die in<br />

grundlegende Kultur- und Ordnungsmuster einführt. Damit meine ich<br />

auch Zeit-, Raum- und Ordnungsstrukturen und die systematische<br />

Auseinandersetzung zwischen den Generationen und die<br />

institutionalisierte Dauerreflexion über Sinn, Bedingungen und<br />

Ziele von Gesellschaft, Bildung und Kultur. Schule und Unterricht<br />

sind eine Institutionalisierung von Erziehung. Man kann bei aller<br />

Kritik nicht über die kulturelle Leistung und die<br />

Sozialisationsfunktion von Schule hinweggesehen.<br />

Die Ausrichtung der Erziehungswissenschaften auf<br />

sozialwissenschaftliche Fragestellungen im Kontext von Erziehung,<br />

Bildung und Unterricht führte mit den 70er Jahren dazu, die Frage<br />

nach einer kulturellen Perspektive abzuspalten. Das hat zu tun mit<br />

unserer an naturwissenschaftlichen Denkmodellen orientierten<br />

Kultur, die die Gegenüberstellung von Kultur und Gesellschaft wie<br />

auch andere Dualismen produziert hat, die weit zurückreichen und


auch in neueren Ansätzen zu einer einseitigen Rekonstruktion von<br />

Gesellschaft und Kultur beitragen (vgl. Duncker 1994, 47).<br />

Es ist derzeit ein großes Interesse in der Erziehungswissenschaft<br />

an kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu beobachten, ein<br />

Interesse an performativen Verfahren und an der Untersuchung von<br />

kulturellen Praxen (Fischer-Lichte, Wulf ). Diese kulturelle Wende<br />

hat ihre Wurzeln in den 50er Jahren, beeinflusst von der<br />

Ethnologie, die mit der Methode der Feldforschung zu einer<br />

Neubestimmung des Kulturbegriffs gelangte, die für die Erforschung<br />

kultureller Praxen auch im erziehungswissenschaftlichen Interesse<br />

neuerlich von Belang sind. Mit der Performativität richtet sich in<br />

der Folge der <strong>Blick</strong> auf eine kontextuell situierte Praxis, die als<br />

diskursiv verankerte Praxisorientierung erscheint. „Die Struktur<br />

eines Ereignisses ist nicht im Vorfeld geklärt, sondern entsteht<br />

erst im Diskurs selbst.“ (Roa/Köpping 2000, 2f.) Kultur lässt sich<br />

aus dieser Perspektive dann nicht mehr nur als Bestand, Stoff oder<br />

Inhalt – wie es Eggimann vorschwebt – beschreiben.<br />

Sinnbildungsprozesse in pädagogischen Inszenierungen<br />

Der kulturelle Forschritt liegt heute insbesondere darin, dass wir<br />

wissen, dass Handlungen verschiedene Bedeutungen haben können, die<br />

kontextgebunden sind, d. h phänomenologisch gesprochen in einer<br />

sozial-historischen Mit-welt und Ding-Welt leiblich/körperlich<br />

verankert sind. Ferner wissen wir, dass Erziehung auf einer<br />

Unterscheidung zwischen Kind und Erwachsenem beruht, die im Sinne<br />

von Elias eine kulturell erworbene Unterscheidung ist. Sie ist<br />

nicht von Natur aus gegeben, sondern Ergebnis eines<br />

Auseinanderrückens von Kindern und Erwachsenen – nach Mollenhauer<br />

mit dem 15. Jahrhundert einher gehend mit einer gesellschaftlichen<br />

Arbeitsteilung und dem Aufkommen der Naturwissenschaften – und<br />

ergänzend sei betont mit der Entwicklung der Schrift einher geht<br />

(vgl. Mollenhauer 1983, 77). In einem eigenen pädagogischen Raum<br />

zeigen die Erwachsenen Kindern die Welt nicht wie sie ist, sondern<br />

das, was sie dafür halten. (Scholz 2000, 10). Indem Schule die<br />

Kultur der Erwachsenen präsentiert, repräsentiert sie den in<br />

dieser Kultur als Kontext geltenden Bedeutungszusammenhang der<br />

Beziehung von Kind und Erwachsenen und von Individuum,<br />

Gesellschaft und Kultur. Die kulturell erworbenen<br />

Verhaltensmöglichkeiten von Erwachsenen zeigen sich selbst als


zentraler Inhalt institutionalisierten Lehrens. Die Institution<br />

präsentiert sie als Repräsentationen in Texten bzw. Bildern, Tönen<br />

oder, wie es Eggimann formuliert, in Form von „Stoffen“. Die<br />

Unterscheidung von Kind und Erwachsener wird jedoch auch in der<br />

Schule gelebt. Wulf drückt dieses Verhältnis von Repräsentation<br />

und Präsentation folgendermaßen aus:<br />

„In den institutionalisierten sozialen Räumen besteht die<br />

Erwartung, daß die in ihnen tätigen Menschen z. B. Rituale<br />

inszenieren, sie aufführen und sich dadurch als Mitglieder der<br />

jeweiligen Institution darstellen. Die sich dabei vollziehenden<br />

Prozesse bleiben partiell unbewußt und wirken daher nachhaltig.<br />

Der Schulraum ist dafür ein gutes Beispiel. Dieser in einer<br />

Institution geschaffene Raum ist mit spezifisch gesellschaftlichen<br />

Funktionen verbunden, deren Erfüllung an diesem Ort verlangt und<br />

durchgesetzt wird. Im Schulraum erfolgt das Lernen in rituellen<br />

Inszenierungen. Mit ihrer Hilfe werden neue Verhaltensformen<br />

entwickelt und in die Körper der Kinder eingeschrieben. Diese<br />

Bewegungen werden einerseits vom Schüler auf seine persönliche<br />

Weise vollzogen, andererseits orientieren sie sich an den im Raum<br />

der Schule vorgegebenen Verhaltensmodellen, Vorschriften und<br />

Normen.“ (Wulf 1999, 17)<br />

Die Art des Verhältnisses von Lehrendem und zu Belehrenden<br />

vollzieht sich in pädagogischen Situationen und Ritualen, an denen<br />

beide mitbeteiligt sind. Das umfasst die Sinndeutung von<br />

gesellschaftlichem Wissen, das auch den Körper, seine Haltungen<br />

und <strong>Geste</strong>n einbezieht. Das Bildungssubjekt handelt und antwortet<br />

aus dem Geschehen, aus der Begegnung mit dem Anderen und den<br />

Dingen heraus. „Es konstituiert und manifestiert sich hier eine<br />

bestimmte Weise des In-der-Welt-Seins, das schöpferische Prozesse<br />

der Gestaltung und Umgestaltung fokussiert, in denen die<br />

Generierung von Bedeutungen in Abhängigkeit von Veränderungen<br />

erfolgt, die durch Handlungen – sich bewegen, sprechen, wahrnehmen<br />

– hervorgebracht werden.“ (vgl. Fischer-Lichte, die Joas zitiert;<br />

1998, 22) Scholz versteht pädagogische Situationen sogar als<br />

ästhetische Gebilde, die von den Beteiligten geschaffen werden und<br />

die gleichzeitig wieder ihre Interaktion bestimmen. Als<br />

ästhetische Gebilde richte sich die Aufmerksamkeit nicht auf die<br />

bewussten Intentionen, die Programme, die Normen, die Kognition<br />

etc., sondern auf eine Leiblichkeit, die all diese Momente<br />

integriere (vgl. Scholz 2000). Handlungsvollzüge beziehen


akustische, haptische, visuelle, leibliche bzw. körperliche,<br />

atmosphärische also materielle Gegebenheiten in die<br />

Auseinandersetzung mit Welt bzw. Wirklichkeit ein. Dabei wird aus<br />

der Sicht des Subjekts das Selbst- und Weltbild gleichermaßen<br />

berührt. Welt steht demzufolge dem Lernenden nicht mehr gegenüber<br />

im Sinne einer Repräsention eines Symbols, sondern wird als Teil<br />

von Wirklichkeit anerkannt, indem er selbst spricht, sich selbst<br />

zum Beispiel in der Rede, in der Bewegung, in der <strong>Geste</strong> oder als<br />

Gegenstand anzeigt.<br />

Der Psychologe Bruner bemerkt in seinem Buch The culture of<br />

education, „that meanings provide a basis for cultural exchange.<br />

It ist the culture that provides the tools for organizing and<br />

understanding our worlds in communicable way. Without those tools,<br />

wether symbolic or material, man is not a naked ape but an empty<br />

abstraction.“ (1996, 3) Sinngemäß heißt das, ... dass<br />

Sinnbildungsprozesse die Voraussetzung für eine kulturelle<br />

Veränderung oder Bewegung seien. Und es sei die Kultur, die uns<br />

das Werkzeug zur Verfügung stellt, um die Wege für den Umgang und<br />

für ein Verständnis unserer Welten (man achte auf den Plural! d.<br />

A.) zu kommunizieren. Ohne diese Werkzeuge, weder symbolische noch<br />

materielle, wäre der Mensch eine leere Abstraktion. Bruner setzt<br />

in Hinsicht auf das Potential zu lernen auf die Kreativität und<br />

Aktivität des Individuums auf seinem jeweils kontextgebundenen<br />

kulturellen Hintergrund. „Lerarning and thinking are always<br />

situated in a cultural setting and always dependant upon the<br />

utilization of cultural resources.“ (Bruner 1996, 4)<br />

Einige dieser Äußerungen machen deutlich, dass Kulturen etwas<br />

sind, das sich die Menschen selbst geschaffen haben: also einen<br />

geschichtlichen, kontextualen, veränderlichen und intentionalen<br />

Zusammenhang darstellt. Kulturen sind aber nicht allein nur das,<br />

worüber wir sprechen, sondern sie umfassen vor allem das, womit<br />

und wie wir kommunizieren. Wimmer kennzeichnet Kulturen als eine<br />

Sphäre diskursiver Ordnungen und symbolischer Praktiken, die die<br />

Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft und dieser in<br />

die Umwelt erst ermögliche und strukturiere. (Wimmer 2002).<br />

Kulturen sind weder als absolut noch als abgeleitet zu verstehen<br />

oder als Vorhandene, der man abgelöst davon – gegenübersteht.<br />

Kulturen sind vielmehr fortlaufende Kommunikationsprozesse und als<br />

solche beschreibbar. Sie beziehen die Erfahrungswirklichkeiten der<br />

am Erziehungsgeschehen Beteiligten mit ein und werfen die Frage


auf, wie wir wissen, was wir wissen (vgl. Meyer-Drawe 1996, S.<br />

85f). Geht die Unterrichtsforschung dieser Möglichkeit nach? Ich<br />

möchte diese Frage am Beispiel der Interpretativen<br />

Unterrichtsforschung überprüfen.<br />

Unterrichtsforschung<br />

Eines lässt sich zunächst positiv vermerken. Es gibt bereits die<br />

verschiedenen Forschungsrichtungen wie die Kindheits- und<br />

Jugendforschung, Biografie- und Unterrichtsforschung etc., die<br />

längst Erziehungswissenschaft unter kultureller Perspektive<br />

betreibt und sich dem Wandel der Sozialisationsbedingungen von<br />

Kindheit und Jugend, den Strukturen von Subjektivität und<br />

Intersubjektivität, mithin allen Rahmenbedingungen von Erziehungs-<br />

und Bildungsprozessen zuwendet als Voraussetzung für weitergehende<br />

Konzepte und Stellungnahmen (vgl. Wimmer 2001, 293) Die Frage nach<br />

der Qualität der sich neu formierenden Verhältnisse und ihrer<br />

Logik stehe allerdings noch aus, stellt Wimmer fest.<br />

„Die Nebenwirkungen der Handlungen in pädagogisch-praktischem<br />

Mikro – wie in wissenschaftlich-technischen Weltmaßstab zeigen,<br />

daß sich die Welt nicht die Gesetze durch unseren Verstand<br />

vorschreiben läßt, daß die Menschen von ihren Handlungen selbst<br />

überrascht werden.“ (ebd).<br />

Am Beispiel der Interpretativen Unterrichtsforschung möchte ich<br />

diese angedeutete Problematik vertiefen. Zwei Hauptperspektiven<br />

tragen diesen Forschungsansatz nach Krummheuer: Unterricht als<br />

Kontexte kognitiver Prozesse zu erfassen in Hinsicht auf die<br />

Situativität dieser Prozesse und die Frage, wie die Bedeutungen<br />

von Handlungen die Interaktionen den Unterrichtsalltag selbst<br />

mitkonstituieren (Krummheuer 1999, 15f.) Doch was auffällt ist,<br />

dass die Interpretative Unterrichtsforschung wie es auch von der<br />

Objektiven Hermeneutik bekannt ist, ihre Daten immer erst dann<br />

aufnimmt, wenn gesprochen wird. D.h. ihre Forschungsmethoden sind<br />

kognitiv und diskursiv orientiert, und sie arbeitet mit Modellen<br />

einer rationalen Verlust- und Gewinnrechnung. Deutlich wird diese<br />

Zielbestimmung an folgendem Zitat:<br />

„Schule ist eine Institution, in der es zentral um Verbesserungen<br />

geht, und zwar um die Verbesserung von Fähigkeiten und<br />

Fertigkeiten der Schüler, d. h. um bessere Lernergebnisse. Das


soll durch eine Optimierung der Lernprozesse, durch einen<br />

„besseren“ Unterricht erreicht werden. (Krummheuer 1999, 14)<br />

Diesem Ansatz ist entgegenzuhalten, dass Situationen nicht allein<br />

diskursiv, sondern auch präsentativ zu erfassen sind. Das bedeutet<br />

für die Unterrichtsforschung, sich viel stärker als bisher auf den<br />

Körper und seine Haltungen einzulassen und damit einerseits auf<br />

die Bilder, Metaphern und Erzählungen und andererseits daraus<br />

hervorgehend auf beschreibbare Griffe, Konzeptionen. Mit anderen<br />

Worten, Kulturen sind nicht allein aus den in ihnen dominierenden<br />

Kalkülen heraus zu verstehen, als vielmehr über ihre Rückbindung<br />

an die Wünsche, Ängste, Erwartungen als deren bewegendes Motiv von<br />

und in Sozietäten. Emotionen, Leiblichkeit sind dann nicht als<br />

defizitäre Modi von Rationalität, sondern als deren Basis zu<br />

begreifen. Situationen sind dann von den Beteiligten durch<br />

Deutungen gestaltete soziale und emotionale Räume, die durch<br />

unsere Leiblichkeit in Bewegung gehalten wird.<br />

Scholz bemerkt: „Die Art und Weise der Beziehung zwischen den<br />

Personen und Dingen konstituiert wiederum eine Atmosphäre, die von<br />

dem einzelnen Individuum her gesehen von dem bestimmt wird, was<br />

die Dinge und die anderen mitbringen, mit welcher Konstruktion der<br />

Situation man die Situation selbst wahrnimmt und was man an nicht<br />

verfügbaren, z. B. biografischen Momenten selbst einbringt.“<br />

(Scholz, 2000, 10.)<br />

Hier hat die neuere Pädagogische Phänomenologie erhebliche<br />

Vorarbeiten geleistet. Mit dem Konzept Lebenswelt und<br />

Leiblichkeit, Atmosphäre hat sie in den letzten Jahrzehnten ein<br />

wissenschaftliches Instrumentarium erarbeitet, mit dem sie für<br />

einen inhaltlichen Ertrag für Theorie und Praxis der Erziehung und<br />

Unterricht den Boden bereitet hat. 1 Einige Begrifflichkeiten möchte<br />

ich, bevor ich fortfahre, an dieser Stelle klären:<br />

1 Zu erwähnen ist Van Manen und Levering, die in der Tradition der Utrechter<br />

Schule zahlreiche phänomenologisch orientierte Einzelfallstudien auf der<br />

methodologischen Grundlage der Integration von geisteswissenschaftlichhermeneutischen<br />

und narrativen Methoden vorstellen. In der nach-Husserlschen<br />

Tradition bewegen sich Forschungen von Lippitz, Meyer-Drawe, Rittelmeyer,<br />

Loch und Bräuer, indem sie den Erfahrungsbegriff aufnehmen und eine kritische<br />

Rekonstruktion der Genealogie menschlicher Rationalitätsformen vornehmen<br />

(vgl. Lippitz, 1999, 2001) Mit <strong>Blick</strong> auf empirische Forschung in der<br />

Musikpädagogik sind die Ansätze von Kreutz, der Musikunterricht unter<br />

emotionalen Aspekten untersucht, hervorzuheben. Vgl. auch Bastians Studien,<br />

die allerdings auch dieser hier vorgetragenen Kritik anheim fallen. Bastian,<br />

H.G. (2000). Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an<br />

Berliner Grundschulen. Mainz: Schott International. Bastian, Hans Günther &<br />

Kreutz, Gunter (Hg.) (im Druck) Musik und Humanität. Mainz: Schott-<br />

International. Kreutz, Gunter (2000). Wie kommt das Gefühl in die Musik?


Lebenswelt – Waldenfels spricht von Lebenswelt auch als Hörwelt -<br />

meint, dass sie immer schon auf bestimmte Weise interpretiert und<br />

praktisch verfügbar gemacht ist (Waldenfels 2000, 100).<br />

Leiblichkeit meint hier kurz zusammengefasst im Sinne von Merleau-<br />

Ponty die zweideutige Seinsweise des Leibes: Ambiguität nennt er<br />

das. Weder lässt sie sich eindeutig der Natur noch der Kultur<br />

zuordnen. Plessner fasst diese Doppelheit als „exzentrische<br />

Position“ des Menschen. Diese schließt gleichzeitig ein Körpersein<br />

und Körperhaben ein. Er ist weder allein Leib, noch hat er allein<br />

Leibkörper. Die Äußerung „Ich bin mein Leib“ thematisiert das<br />

Fungieren des Leibes in dem, was ich selber bin. Und „Ich habe<br />

einen Körper“ bedeutet, ich kann von mir Abstand nehmen, soweit,<br />

dass ich mich selber wie ein Naturding betrachte. Er ist beteiligt<br />

an der Konstitution von Welt. Dieses Verständnis vom LeibKörper<br />

sind Selbstdifferenzierungsprozesse und keine Außenbeschreibung<br />

(vgl. Waldenfels 2000).<br />

Das prominente Beispiel von Merleau-Ponty mit dem Würfel, den ich<br />

nie von allen Seiten gleichzeitig betrachten kann, macht deutlich,<br />

dass unsere Wahrnehmung immer unvollständig und perspektivisch<br />

ausgerichtet ist und eine Strukturierungsleistung darstellt. Das,<br />

was fehlt, muss ich mir mit Hilfe meiner Erfahrungen vorstellen.<br />

Ich kann immer nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen und bin<br />

durch meinen Standort gebunden. Das trifft auch auf die Erfahrung<br />

mit einem Medium bzw. Gegenstand wie Musik zu.<br />

„Wirklichkeit“ begreife ich nicht als positivistisches Faktum,<br />

sondern als Phänomenbereich, in dem sich etwas als etwas in einer<br />

bestimmten Hinsicht zeigt. Sinn und Bedeutungen erweisen sich als<br />

Artikulationen von Wirklichkeit. Demzufolge sind wir nicht zwei<br />

Wirklichkeiten ausgesetzt, einer praktischen und einer kognitiven,<br />

sondern einer einzigen Wirklichkeit, die zugleich vorgegeben ist<br />

und hervorgebracht wird (Waldenfels 1998, 216). Menschliche<br />

Erfahrung widerfährt mir, sie bleibt offen und ist nicht im voraus<br />

Emotionen als Gegenstand von empirischer Forschung und Musikunterricht.<br />

Diskussion Musikpädagogik, 6(2), 66-77. Kreutz, Gunter, Bongard, Stephan &<br />

von Jussis, Julia (2002). Kardiovaskuläre Wirkungen beim Musikhören. Zur<br />

Bedeutung von musikalischer Expertise und Emotion. Musicae Scientiae, 257-<br />

278. Kreutz, Gunter (in Vorbereitung). Lernbereich Musik. In J. Kahlert, S.<br />

Binder & G. Lieber (Hrsg.). Ästhetische Bildung in der Grundschule – Zugänge<br />

zum begegnungsintensiven Lernen (Arbeitstitel) (erscheint beim Verlag<br />

Westermann, Braunschweig)


egelbar. Sie befindet sich in einem ständigen Umstrukturierungs-<br />

bzw. Verfestigungsprozess.<br />

Die pädagogische Forschung, Kindheits- und Jugendforschung hat bis<br />

heute sehr wenige Berührungspunkte mit der Unterrichtsforschung.<br />

Die Gründe hierfür sind schon benannt. Letztere berücksichtigt<br />

prinzipiell nicht bzw. nur eingeschränkt die Perspektive von<br />

Kindern. Der Fokus dieser Forschung richtet sich auf Ergebnisse<br />

und Effektivität im Sinne: Wie mache ich einen besseren Unterricht<br />

und hat das allein kognitiv sinnkonstituierende Subjekt im <strong>Blick</strong>.<br />

Es wäre wünschenswert, wenn die Unterrichtsforschung aus dieser<br />

Einengung heraus die Impulse, wie sie in der pädagogischen<br />

Forschung entwickelt worden sind, aufgreifen könnte.<br />

Kinder aus der Perspektive von Erwachsenen<br />

Perspektiven von Kindern aus Forschersicht erfassen zu wollen,<br />

führt uns im Sinne von Husserl von vornherein zu einem Paradoxon:<br />

zu der Erfahrung, dass mir der Andere nur in der Weise zugänglich<br />

wird, indem ich ihn als unzugänglich erfahre. Wenn Erwachsene sich<br />

über die Kindheit Gedanken machen, so impliziert das, dass das<br />

Kind nicht in der Perspektive des Erwachsenen aufgeht. Kinder in<br />

ihrer anderen sinnlich-leiblich bedingten Perspektivität erfahren<br />

Welt und Sozialität anders als Erwachsene. Der Andere wird nur in<br />

seiner Appräsenz präsent, die Beziehung zu Anderen ist<br />

gleichzeitig durch Entzug bestimmt. Pädagogisches Handeln bedeutet<br />

dann, neuen Handlungssinn aus der Differenz der Partner zu<br />

generieren (vgl. Lippitz 1999, 44).<br />

Kindheit als Mythos (Lenzen), Kindheit als Konstrukt von<br />

Erwachsenen (Scholz/Honig/Alan), Kinder als Fremde (Meyer-<br />

Drawe/Waldenfels/Lippitz), diese Sichtweisen haben in den letzten<br />

Jahrzehnten dazu geführt, ein Bewusstsein in ganz<br />

unterschiedlicher Weise im erziehungswissenschaftlichen Denken zu<br />

entwickeln, Kindheit als eine Entwicklungsphase – als Ausschnitt<br />

eines Erziehungsprozesses zu betrachten und zu differenzieren vom<br />

Erwachsenenalter. Sie lässt sich auch verstehen als Aspekt einer<br />

Kinderkultur (Scholz/Göhlich/Wulf/Zirfas). Wichtig ist in diesen<br />

neueren Ansätzen, Kindheit wird nicht mehr abgespalten oder als


Enklave betrachtet, Kinder werden nun als (Mit-)Produzenten ihrer<br />

Entwicklung untersucht (Honig u.a. 1999, 9). 2<br />

Vorläufer waren Forschungsansätze wie die von Muchow/Muchow, auch<br />

Piaget und nicht zuletzt die Säuglingsforschung und die<br />

nachhusserlschen phänomenologischen Ansätze (wie Utrechter<br />

Schule), die Kinder nicht nur als Forschungsobjekte sehen, sondern<br />

als sprachbegabte Subjekte mit eigenen Erfahrungen und<br />

Wissensformen (Alanen 1994, 93). In dieser These liegt für mich<br />

ein erster wichtiger Bezugspunkt zur pädagogischen Forschung mit<br />

Ausrichtung auf eine Rezeptions- bzw. Erwerbsforschung, wie sie<br />

auch für die Musikpädagogik interessant ist.<br />

Im Kontext der Diskurse um das Generationsverhältnis wird nicht<br />

zuletzt immer wieder betont die Unvorhersehbarkeit/Unbestimmtheit<br />

– auf die Zukunft bezogen – im Erziehungsgeschehen, das offene,<br />

das dezentrierte, das fremde Moment ..., das auf uns selbst<br />

zurückzuführen ist. In der Pädagogik wird dies unterschiedlich<br />

gewertet und interpretiert. Einerseits als Mangel, wenn Kindheit<br />

als utopischer Ort und als kostbare Erinnerung an eine<br />

unwiderrufliche Vergangenheit gehütet wird: Kindheit als Metapher<br />

der Sehnsucht nach einem längst verlorenen und unerreichbaren<br />

Zustand der Ursprünglichkeit und Freiheit. Andererseits, wenn<br />

dieser Mangel als produktiv aufgefasst wird. Eine Auffassung, die<br />

ich teile. Sie beobachtet, dass das Verhältnis zwischen Kindern<br />

und Eltern oder allgemein zwischen Erwachsenen immer in<br />

asymmetrischer Form auftritt. Weder kann ein Kind seine Kindheit<br />

überspringen noch ein Erwachsener wieder Kind sein. Diese<br />

Beziehungsstruktur ist irreversibel und außerordentlich<br />

wirkungsvoll und dient der Einführung in die menschliche<br />

Gemeinschaft. Damit ist ein zweiter Bezugspunkt für eine<br />

2 Die oben genannten Forschungsrichtungen arbeiten mit unterschiedlichen<br />

Fragestellungen und Methoden. Fragt die sozialwissenschaftliche Ausrichtung nach<br />

den Bedingungen der Möglichkeiten, unter denen Kinder aufwachsen, verfolgt die<br />

Kultursemiotik – dazu gehört z. B. Christoph Wulf – den Werte- und Sinnwandel,<br />

dem Kindheit und Gesellschaft und ihre Institutionen unterliegt. Die<br />

nachhusserlsche Phänomenologie (Lippitz/Meyer-Drawe), mit der ich mich<br />

insbesondere auseinandergesetzt habe, fokussiert ihre Fragen auf die Genesis von<br />

Kommunikationsprozessen und beschreibt bzw. reflektiert, wie sich<br />

Bildungsprozesse vollziehen. Sie begreift ihre Vorgehensweise als offen,<br />

prozessual, dezentriert und dialogisch, als ein zukunftgerichtetes Projekt, das<br />

immer wieder neu zu beschreiben ist (vgl. <strong>Westphal</strong> 2002, Lippitz 2001).


pädagogischen Forschung genannt, der Fremderfahrung im<br />

zwischenmenschlichen Bereich insbesondere zwischen Kindern und<br />

Erwachsenen thematisiert. Der nachfolgende Exkurs greift diesen<br />

Aspekt genauer auf.<br />

Exkurs: „Wieweit kann man zählen?<br />

Eine Szene aus dem Film „Etre et Avoir“ „Sein und Haben“ von<br />

Nicolas Philibert (Europäischer Dokumentarfilmpreis 2002 PRIX<br />

ARTE)<br />

Vorbemerkungen zum Material<br />

Der Film „Etre et Avoir“, „Sein und Haben“ thematisiert<br />

insbesondere das dialogische Verhältnis zwischen Lehrer und<br />

Schüler als ein Ineinandergreifen von Selbst- und<br />

Fremdartikulationen, Sprechen und Handeln. Ein Schuljahr hat der<br />

Regisseur Philibert eine Landschule in der Auvergne in Frankreich<br />

mit 13 Schülern zwischen 4 und 11 Jahre Situationen zwischen<br />

Lehrer und Schülern und den Eltern, die Umgebung der Schüler und<br />

Landschaft sowie Portraits eingefangen und kunstvoll zu einem Film<br />

montiert. Zu bedenken ist: Der Film erzählt aus einem anderen<br />

Kulturkreis und einer anderen Unterrichtskultur. Die heterogene<br />

und kleine Besetzung der Schulgruppe ergibt sich durch die<br />

regionale und geografische Lage in der Auvergne, gekennzeichnet<br />

von eher Armut und Landflucht. Zu bedenken ist außerdem, der Film<br />

arbeitet mit starken ästhetischen Mitteln 3 : In einem ruhigen,<br />

langsamen Rhythmus und verweilenden Perspektiven wirken starke<br />

impressionistisch gehaltene Bilder auf den Zuschauer ein. Das<br />

führt dazu, sich eher eine romantische Vorstellung der<br />

französischen Schulverhältnisse auf dem Land zu machen. Ich<br />

unterstelle: Das Gegenteil dürfte der Fall sein.<br />

Eine kleine Szene soll hier zum Ausgangspunkt für unsere<br />

Beobachtung dienen. Der Lehrer ist mit seinen Schülern in der<br />

weiterführenden Schule zu Besuch. Sie befinden sich in der<br />

Bibliothek dieser Schule. Der kleine Jo-Jo, 5 Jahre hat sich ein<br />

3 Der Anspruch eines Dokumentarfilmes ist, die Bilder sprechen zu lassen, möglichst unverfälscht zu transportieren,<br />

was im schulischen Alltag einer kleinen französischen Dorfschule passiert. Konstantin Mitgutsch hebt hervor, dass<br />

Philibert die Kinder wie ein Maler beobachtet. „Der Maler aber projiziert das Bild, welches er wahrnimmt auf ein neues<br />

Objekt und stellt seine Sicht dar. Im Transformieren und Transportieren liegt die Kunst des filmischen Malers<br />

Philibert.“ (Mitgutsch, <strong>Universität</strong> Wien, unv. Manuskript. Bildung als Phänomen in Theorie und Praxis. 2003) Und die<br />

ist subjektiv.


Buch mit Tieren ausgesucht und entdeckt mit seinem Lehrer, dass<br />

das Buch 100 Seiten hat: Anlass für den Lehrer mit Jo-Jo ins<br />

Gespräch zu kommen zu der Frage: Wie weit kann man zählen? Nachdem<br />

Jojo an Hand des Buches die Zahlen überprüft, meint er, man könne<br />

bis 100 zählen. Auf die Frage, ob es Zahlen gebe, die über die<br />

Hundertergrenze hinausschreiten, meint der Schüler, dass es die<br />

Zahl 1000 ebenfalls gebe. Als Herr Lopez wissen will, ob diese<br />

Zahl ebenfalls überschritten werden könnte, kommentiert Jojo die<br />

Idee des Lehrers mit einem einfachen „Non“. Als der Lehrer<br />

beginnt, die Zahlen 1001 und 1002 aufzuzählen, verändert sich<br />

Jojos Meinung. Er beginnt mitzuzählen: „1003 und 1005.“ Als der<br />

Lehrer fragt, ob man auch die Zahl 2020 verbalisiert werden könne,<br />

blickt dieser auf das Heft seiner Sitznachbarin und deklariert mit<br />

einem „Non“ die Frage des Lehrers. Als der Lehrer andeutet, dass<br />

es sehr wohl weiter ginge, sieht Jojo diesen vermeidlichen<br />

Tatbestand ein und beginnt wieder weiterzuzählen. Als er bei<br />

Hunderttausend aufhört, postuliert er wiederum, dass hiermit die<br />

höchste Zahl erreicht sei. Nach einer kurzen Nachdenkpause, sagt<br />

Jojo: „Eine Milliarde“ und beginnt weiter zu zählen, bis er von<br />

seinem Umfeld abgelenkt aufhört zu zählen und nicht mehr weiter<br />

zählen will.<br />

Vorbemerkungen zum Beobachten der Beobachtung<br />

Wir beobachten im Folgenden eine Beobachtung, die sich selbst zum<br />

Ziel gesetzt hat zu beobachten. Das „Sein“ der Kinder im<br />

Schulalltag einer französischen Dorfschule soll möglichst<br />

unverfälscht dokumentiert werden. Die Kamera verweilt von daher<br />

bei den Gesichtern, den <strong>Geste</strong>n, bei der Atmosphäre sowie der<br />

Umgebung der Kinder. Doch zeigt uns der <strong>Blick</strong> von Philibert durch<br />

die Kamera ein subjektives, ein spezifisches „Sein“, welches für<br />

diesen Film transformiert und modelliert wurde. Zwischen „Sein“<br />

und „Haben“ tut sich eine Lücke auf, die für unsere Analyse dieser<br />

Beobachtung zu berücksichtigen ist. An die Wirklichkeit als solche<br />

gelangen wir sicher nicht. Nach mehrmaligem Sehen dieser<br />

ausgewählten Interaktion zwischen dem Lehrer und Jo-Jo schält sich<br />

heraus, dass die Beobachtung der <strong>Stimme</strong> und <strong>Geste</strong> wie der <strong>Blick</strong><br />

als ein Zugang für die Interpretation dienen können. <strong>Stimme</strong>,<br />

<strong>Geste</strong>, <strong>Blick</strong> sind in ganz besonderer Weise daran beteiligt, den<br />

zwischenmenschlichen, pädagogischen oder ästhetischen Raum zu


strukturieren. Es zeigt sich, dass der Körper mehr als ein<br />

Vermittler von Information ist, er ist gleichzeitig Empfindungs-<br />

und Handlungsträger von Wahrnehmungen und Ausdrucksorgan. Der<br />

Dialog in der Szene zwischen Jo-Jo und seinem Lehrer lässt nach<br />

mehrmaligen Sehen da aufmerken, wo er unterbrochen bzw. aufgestört<br />

zu sein scheint? Hierzu einige Anmerkungen:<br />

<strong>Blick</strong>richtungen<br />

Hiersein bedeutet zugleich Dortsein, wo die Anderen sind, wo sich<br />

etwas Wichtiges abspielt. Festmachen lässt sich dies an den<br />

<strong>Blick</strong>richtungen des kleinen Jo-Jos. Eine <strong>Blick</strong>richtung nimmt er<br />

zum Buch hin ein, die zweite zum fragenden Lehrer und eine dritte<br />

bewegt sich in den Raum insbesondere in Richtung zweier<br />

Mitschüler, die sich streiten.<br />

Der Lehrer verfolgt die Absicht, Jo-Jo den Zahlenraum – ein Thema,<br />

das an ein zuvor gezeigtes Gespräch in der Schule anknüpft – als<br />

unendlichen verständlich zu machen, in einer neuen Situation das<br />

Gelernte zu zeigen. Das Sprechen entfaltet sich im Hören, im<br />

Antworten auf das, was der Andere sagt bzw. fragt. Was der Lehrer<br />

sagt und fragt, ist bestimmt durch die Gesprächssituation. Elias<br />

benutzt zur Beschreibung dieser Zwischensphäre, die sich hier<br />

zwischen Lehrer und Schüler im Sprechen entfaltet – das Bild der<br />

Verflechtung, bei der verschiedene Linien ineinander laufen<br />

(Elias, 1987, 53f.). Der Lehrer nimmt die Aufmerksamkeit, die das<br />

Buch und der Streit der Mitschüler für den kleinen Jo-Jo bedeuten<br />

wahr und bezieht diese Geschehnisse in das Gespräch mit ein.<br />

Zweimal berührt er Jo-Jo mit der Hand an dessen Schulter, um ihn<br />

im Gespräch zu halten. Oder an einer anderen Stelle spricht er mit<br />

Jo-Jo die Zahlen zusammen, zum Teil die Antwort vorgebend, zum<br />

Teil mittragend. Es entsteht auf diese Weise ein insbesondere vom<br />

Lehrer initiiertes Zusammenspiel, in dem der Lehrer in das Spiel –<br />

in das Antworten des kleinen JoJos „einstimmt“, aber auch<br />

bestimmt, aber auch im Bestimmen wieder von Jo-Jo bestimmt wird.<br />

Es ist dann nicht immer ganz klar, was auf das Konto der eigenen<br />

Handlung von Jo-Jo geht und was auf das Konto der fremden<br />

Handlung, also des Lehrers geht (vgl. Waldenfels 2000, 290). Das<br />

Zwischen differenziert sich und setzt sich im Sinne von Elias<br />

nicht aus Einzelleistungen zusammen. Handeln bedeutet ein<br />

Ineinandergreifen von eigenem und fremden Tun, es ist nicht<br />

deckungsgleich, es findet immer auch ein Entzug statt, eine


Überlagerung bzw. Verschiebung von Verdecken und Entdecken. Der<br />

Dialog entsteht und besteht aus Lücken und produziert auf diese<br />

Weise Überschüsse. Mal kommen die beiden zusammen, mal stockt und<br />

entgleitet der Dialog und fängt sich wieder neu, bis er sich in<br />

einer neuen Situation auflöst.<br />

<strong>Stimme</strong><br />

In dieser kleinen Sequenz sagt Jo-Jo neunmal „Non“. Würde man nur<br />

die Transkription lesen, wäre das „Non“ im semantischen Sinne<br />

immer oder fast immer gleich zu deuten sein. Kommt die sichtbare<br />

Körpersprache hinzu, die Intonation, wie Jo-Jo das „Non“ sagt und<br />

in Verbindung mit welcher Mimik, erweitert sich die Möglichkeit<br />

der Deutung.<br />

Das „Non“ erfährt unter Hinzuziehung von Mimik und Intonation<br />

gänzlich unterschiedliche Aussagen. Mal ist es ein „Non“, das<br />

meint: „Nein, lass mich mit den Zahlen in Ruhe, „Schauen Sie Herr<br />

Lehrer, die Tiere...“ Mal ist es ein „Non“, das fragend ist oder<br />

Unsicherheit ausdrückt bzw. nach Sicherheit sucht, ob die Zahlen<br />

denn wirklich schon zu Ende sind. Auch kann an einer Stelle das<br />

„Non“ sogar als „Oui“ gedeutet werden.<br />

Die Mimik des kleinen Jo Jos verändert sich, wenn die<br />

Aufmerksamkeit auf die Anstrengung geht, die Zahlen zu benennen,<br />

dann ziehen sich seine Augen zusammen. Geht die Aufmerksamkeit in<br />

den Raum, zu dem Streit seiner Mitschüler und entzieht sich Jo-Jo<br />

den Fragen des Lehrers, hebt er die Augenbrauen angestrengt hoch<br />

angesichts der Kontakte Lehrer-Buch-Mitschüler.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen. Der Dialog zwischen dem Lehrer<br />

und Schüler kennzeichnet sich durch Bezug und Entzug. Die<br />

Körpersprache des Lehrers ist zu großen Teilen bestimmend,<br />

vereinnahmend. Die körperliche Nähe, die gleiche Augenhöhe, der<br />

Handkontakt des Lehrers lässt darauf deuten, dass sich hier der<br />

Lehrer im Bewusstsein seiner Rolle als Lehrer durchsetzen möchte.<br />

Der Lehrer ist in seiner Körperlichkeit dem 5-jährigen Jo-Jo weit<br />

überlegen, er ist schlicht größer, älter (kurz vor seiner Pension)<br />

und sprachgewandter. Indem er sich auf die gleiche Höhe setzt,<br />

also Nähe herstellt, entsteht eine doppelte, eine paradoxe Aussage<br />

bzw. Situation: ich bin der Stärkere, wende mich aber dir auf<br />

gleicher Höhe zu. Jo-Jo ist in dieser Hinsicht durchaus als ein


Opfer zu sehen. Er ist dem Lehrer ausgesetzt, er muß dem Lehrer<br />

zuhören. Es ist sein Lehrer. Aber: er weiß damit auch umzugehen.<br />

Zum Lachen bringen uns die Versuche des kleinen Jo-Jos, sich – wie<br />

auch an anderen Stellen des Films – dem zu entziehen. Er führt in<br />

solchen Momenten sozusagen die Situation, indem er den Führenden<br />

führt (vgl. Foucault 1999, 306). Das wird insbesondere an der<br />

Sprechweise von Jo-Jo wie er das Nein sagt, dass ganz<br />

unterschiedlich gedeutet werden kann, an der Inszenierung der<br />

Rede, an der Sprache wie sie selbst spricht, hörbar und nicht<br />

zuletzt an der Mimik und den <strong>Blick</strong>richtungen, die seine<br />

Aufmerksamkeit, sein Interesse an dem Geschehen herum wie an den<br />

vielen Tieren im Buch kenntlich machen.<br />

Der Körper im pädagogischen Kontext, in der Schule ist auch der,<br />

der diszipliniert und<br />

sozialisiert wird. Das Zuhören, das Zählen, das Nach- und<br />

Mitsprechen spielt dabei eine große<br />

Rolle. Zähle ich nicht im Takt, falle ich aus dem gemeinsamen<br />

Musizieren z. B. heraus. Es ist<br />

eine notwendige, zu übende, zu disziplinierende Maßnahme, um<br />

miteinander kommunizieren<br />

zu können. Die Frage ist nur, ob dem kleinen Jo-Jo auf diese Art<br />

und Weise das Zählen nicht<br />

eher ausgetrieben wird. Bzw. es stellt sich die Frage, was lernt<br />

er hier stattdessen?<br />

Den Film habe ich bereits vielen Studierenden gezeigt. Er wurde<br />

fast durchweg positiv aufgefasst.<br />

Warum? Der Lehrer wird gerade auf Grund der <strong>Geste</strong>, sich auf die<br />

Höhe des kleinen Jungen zu<br />

begeben, als Mensch wahrgenommen, der sich dem Jungen zuwendet und<br />

sich auf ihn einlässt,<br />

der Verständnis und Offenheit für das eigene „Sein“ von Jo-Jo<br />

zeigt. Wahrgenommen wird er<br />

weniger in der Rolle als Lehrer, der hier möglicherweise ein eher<br />

tradiertes Autoritätsverhältnis<br />

vorstellt. Ein zentriertes Machtverhältnis zwischen Lehrer und<br />

Schüler liegt nicht vor. Doch<br />

stellt sich schon die Frage: Welche latenten<br />

Sozialisationsprozesse laufen ab, wie sie sich im eher<br />

subtilen Zusammenspiel des Aufeinanderabstimmens von Unterschieden<br />

im Lehrer-Schüler


Verhältnis typisch sind? Ich denke, hier zeigt sich die<br />

pädagogische Kommunikation als ein<br />

differentes Kräfteverhältnis, das sich überkreuzt, aufeinander<br />

bezieht, konvergiert oder sich im<br />

Gegenteil zu widersprechen und aufzuheben trachten. Die<br />

Wirkungsweisen dieser Handlungen<br />

bedeuten hier eine Veränderung der Situation oder Führen der<br />

Führungen (Ricken 2002, 169).<br />

Nicht zu unterschätzen ist, wie die ästhetische Formgebung auf die<br />

Rezeption wirkt. Die Frage<br />

ist, inwiefern die Perspektive des Films das Verhältnis von Lehrer<br />

und Schüler als differentes<br />

Machtverhältnis eher einebnet, statt transparent zu halten. Die<br />

Sehnsucht nach einer Instanz<br />

eher schürt, die die Verantwortung trägt. Die Reaktionen der<br />

Zuschauenden lässt das vermuten.<br />

Die Wünsche und Vorstellungen eines Lehrer-Schülerverhältnisses<br />

als Utopie werden geweckt.<br />

Utopie als Zukunftsbezug bedeutet nach de Haan: „Die Schule als<br />

gesellschaftlich ausdifferenziertes<br />

System ist der Ort, an dem diese utopischen Entwürfe angeregt,<br />

ausphantasiert und durchgespielt werden<br />

könnten.“ (de Haan 1996, 231f.) Doch setzt das den <strong>Blick</strong> auf die<br />

Gegenwart – als wünschbare<br />

und nicht wünschbare – und die Vergangenheit voraus.<br />

Scholz schreibt: „Schüler und Lehrer handeln gemeinsam im Sinne<br />

eines sozialen Handelns im Rahmen sozialer und politischer<br />

Gegebenheiten in einer Gesellschaft. Von daher stellt sich die<br />

Frage, wie Schüler lernen können, die Gegebenheiten, in denen sie<br />

leben zu verstehen, lernen können, darin zu handeln und lernen<br />

können, über ihre Handlungen zu reflektieren. Voraussetzung dafür<br />

ist, dass die Beziehung zwischen Individuen und Rahmen zum<br />

Gegenstand der Betrachtung werden.“ (2003, S.9) Diese<br />

Diskursfähigkeit ist eine wichtige Kompetenz, um sich als<br />

Individuum in einem kulturellen und sozialen Raum wie den der<br />

Schule zurecht zu finden. Und diese Diskursfähigkeit, in die sich<br />

auch der kleine Jo-Jo schon mit seinen 5 Jahren zielsicher einübt<br />

hat einen doppelten Boden. Sie bedeutet mehr als die<br />

Verwirklichung von Intentionen. „Dieses Mehr besteht in der Art


und Weise, in der Handelnde ihre Ziele realisieren.“ Im Wie. (Wulf<br />

2001a, 9)<br />

In dieser kleinen Kommunikation einer Lernsituation überlagern<br />

sich diesen Beobachtungen und Reflexionen zufolge mehrere<br />

Sinnstrukturen, die am Lernprozess mitwirken. So ist das Lernen<br />

unter den gesellschaftlich gegebenen Rahmungen abhängig von der<br />

Situation und dem Horizont, in dem es sich zeigt. Im Weiteren ist<br />

der Gegenstand der Betrachtung, das Buch mit den vielen Tieren für<br />

das Kind von Bedeutung im Gegensatz zu der Bedeutung der Zahlen,<br />

die der Lehrer ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Außerdem<br />

spielen die leibliche Verfasstheit und die Atmosphäre eine Rolle<br />

ebenso wie die Handlungen der Beteiligten, wie sie die<br />

Möglichkeiten aufgreifen und dadurch die Situation bestimmen. Und<br />

nicht zuletzt wirkt die Selbst- und Fremdwahrnehmung auf die<br />

gestellte Lernaufforderung ein. Die Sprache wiederum benennt und<br />

ordnet und weist zugleich über die Erfahrung und über ihre eigene<br />

Objektivierung hinaus. (vgl. Stieve 2003, 91f.)<br />

Ausblick<br />

Welche Paradigmen eröffnen sich aus den Beobachtungen für einen<br />

Lern- und Bildungsbegriff? Die Überlegungen machen deutlich, dass<br />

nicht von einem Subjekt ausgegangen wird. Das Sprechen und Hören<br />

stellt sich als ein Vorgang und ein Ereignis zwischen Menschen<br />

dar, die im responsiven Feld aktiv werden können, deren Teil und<br />

nicht deren Initiator sie sind. Das Geschehen unterliegt<br />

verantwortend den einzelnen Individuen und wird mehr als nur von<br />

einem Individuum ausdifferenziert. Jede soziale Beziehung ist in<br />

diesem Sinne Fremderfahrung. Wird die Aufmerksamkeit auf das<br />

Geschehen in pädagogischen Interaktionen gelenkt, so gelangt die<br />

Verwobenheit des Subjekts mit seiner Welt in den Vordergrund und<br />

wie ein Ereignis auf die Subjekte zu einwirkt. Im Wahrnehmungsakt<br />

stoßen wir auf die Differenz zwischen dem Wahrgenommenen und dem<br />

Wahrnehmenden, d. h. eine Verflechtung von Subjekten mit ihren<br />

„Gegenständen“ in Zwischenwelten des Sinns und Bedeutens. Die<br />

Artikulationsweisen im Spiel dieser Differenzen basieren nicht auf<br />

fassbaren Identitäten und eindeutigen Positionierungen. In dieser<br />

Theorie sind die Rollen zwischen den am Dialog Beteiligten nicht<br />

eindeutig zwischen Hörer und Sprecher verteilt. Von daher erleben<br />

die Beteiligten auf wechselnde Weise das Sehen und Tun als


Eingriff und Widerfahrnis. Passivität und Aktivität treten dann<br />

nicht mehr als Gegensatzpaar auf, sondern artikulieren sich als<br />

ein verschränktes Verhältnis in vielfältigen Dosierungen. Wir<br />

haben es in diesem Denkmodell nicht mehr mit einem Subjekt zu tun,<br />

das als aktives Zentrum aller Konstituierungen gedacht wird und<br />

einer Welt gegenüber steht, sondern als eines, das mit Welt<br />

verschränkt ist. 4<br />

Die soziale Kontextgebundenheit sprachlicher Äußerungen und die<br />

konkrete Erfüllung ihres Redesinns in einer inter-subjektiven<br />

Praxis bedeutet demzufolge mehr als Nachahmung. Erst über konkrete<br />

Sprecherfahrungen, die mit der Kopräsenz eines Anderen<br />

einhergehen, erfahren wir über die Worte hinausgehend andere<br />

Ausdrucksgestalten wie den <strong>Blick</strong>, die Hände, die Haltung des<br />

Körpers, den Klang der <strong>Stimme</strong>, die Lautgebung etc. Mit anderen<br />

Worten, es treten bestimmte <strong>Geste</strong>n als Fundament der Kommunikation<br />

in Erscheinung. Die Sprache ist so gesehen selbst als eine<br />

bestimmte Ausdrucksgebärde zu verstehen (vgl. MEYER-DRAWE 1984,<br />

201). Diese Grundannahmen bestimmen das Verstehen von <strong>Geste</strong>n, wie<br />

es an dem Filmausschnitt exemplifiziert werden sollte. 5 Im<br />

pädagogischen Geschehen verweisen Einmaligkeit und<br />

Wiederholbarkeit von <strong>Geste</strong>n und Sprache aufeinander. Sie tragen<br />

zur Gemeinschaftsbildung in der Weise bei, indem die sprachlich-<br />

interaktiven Formen des sozialen Austauschs jeden egologischen<br />

Bewussteinsraum sprengen. Handeln, Sprechen und andere soziale<br />

Spielarten von Erfahrungen sind vielmehr in einem Zwischenreich<br />

der Interaktion angesiedelt (vgl. LIPPITZ 2001b, 147). Sie sind<br />

heterogen und dezentriert verfasst und gehen aus verschiedenen<br />

Lebenszusammenhängen hervor. Die hier vorgestellte Perspektive auf das<br />

Verhältnis von Individuum und Gesellschaft begreift Sozialität<br />

ausgehend vom Verhältnis zum Anderen. Meyer-Drawe spitzt die Frage<br />

nach der Alterität in Anbindung an die Doppeldeutigkeit unserer<br />

leiblichen Existenz und die Leibgebundenheit der Vernunft,<br />

derzufolge die Fremdheit nicht von außen auf uns einbricht,<br />

4 Diese Position setzt sich ab zu postmodernen und posthistorischen Entwürfen des Menschen. Das Subjekt existiert<br />

nicht mehr als Akteur, es geht ins Objekt über. (vgl. Baudrillard 1987, 74)<br />

5 Ausdruck läßt sich nicht allein an diskriminerbaren Merkmalen festmachen, er beruht auf komplexen<br />

Gesamteindrücken. „Die Elemente, die die Kamera darstellt, sind nicht die Elemente, die die Sprache darstellt. Sie sind<br />

tausendmal zahlreicher.“ schreibt Susanne Langer. Die formalen Merkmale des Bildes gehören nach Langer einer<br />

präsentativen Ordnung an. Ihre Struktur sei ganzheitlich, beruhe auf Simultanietät der Erfassung, Konkretheit,<br />

Unübersetzbarkeit, konnotativer Semantik und Indifferenz gegenüber den Worten mit ihrem Anspruch auf Wahrheit.


sondern unserer eigenen Leiblichkeit selbst bereits inhärent ist,<br />

folgendermaßen zu:<br />

„Bildung bedeutet in dieser Perspektive gerade nicht<br />

Identitätsfindung, sondern Gestaltung einer unausweichlichen<br />

Fremdheit mit uns selbst, also eine konflikthafte Lebensformung<br />

unter historischen, gesellschaftlichen, aber auch naturgegebenen<br />

Bedingungen.“ (Meyer-Drawe 1999, 154)<br />

Der Zusammenhang von Schule, Schüler und Kultur, wie er uns<br />

eingangs im Zitat von Eggimann vorgestellt wird, zeigt uns ein<br />

Verständnis im Sinne einer solchen Identitätsfindung. Dem Schüler<br />

wird über die „Stoffe“ Kultur vermittelt. In schulischen<br />

Inszenierungen wird die <strong>Geste</strong>nsprache der Kinder überformt. Dem<br />

habe ich nun ein Konzept gegenüberstellt, das pädagogische<br />

Inszenierungen als Sinnstiftungsprozesse begreift. Kultur und<br />

Schule werden in dieser Theorie als Geschehen – ein Zwischen- und<br />

Antwortgeschehen – in einem Kontext verstanden, der durch die<br />

Beteiligten nicht nur kognitiv, sondern auch leiblich konstituiert<br />

wird. Von da aus stellen sich Verweisungsbezüge auf die Inhalte,<br />

Bestände und Stoffe unserer Kultur her. In diesem Verständnis geht<br />

es nicht darum, Kultur von außen an die Individuen heranzutragen.<br />

Sinnprozesse erfolgen vielmehr in Handlungsvollzügen, in denen<br />

Ereignisse oder pädagogische Situationen auf ihre Veränderbarkeit<br />

hin erfahren, eigene Gewissheiten relativiert werden können. Wir<br />

haben es mit einem komplexen, responsiven Geschehen zu tun, das<br />

subjektdezentriert verläuft: zwischen Sinnstiftung, Sinnvorgabe<br />

findet eine Auseinandersetzung ein. Merleau Ponty drückt dies so<br />

aus: Die Verwirklichung von Sinn, dessen Verflüssigung im<br />

körperlichen Ausdruck einer Gebärde, Stimmlichkeit oder<br />

Räumlichkeit sei dann eine wahrhaftige Neuschöpfung (Merleau-Ponty<br />

1994, 432). Die phänomenologische Vorgehensweise ist selbst ein<br />

Prozess, der sich immer wieder neu beschreibt und am konkreten<br />

Fall, in einem spezifischen Kontext auf seinem jeweiligen<br />

Hintergrund und Horizont neu reflektiert und überprüft. Das<br />

traditionelle Denken der Repräsentation, das von einer<br />

dichotomischen Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht, wird<br />

von kritischer Seite aus befragt. Die kommunikative Funktion von<br />

Sprache hier insbesondere in der Verflechtung von von Körper und<br />

Wie tonale Elemente gewinnt ein Bild erst durch den Zusammenhang der Teile an Bedeutung. Langer, in: Seewald<br />

1997, 108.


Sprache – und das gilt in ganz besonderer Weise für die<br />

musikalische Sprache – und die Bedingung der Rezeption und<br />

Produktion rücken bei dieser Vorgehensweise in den Vordergrund.<br />

(vgl. <strong>Westphal</strong> 2002, 98)<br />

Mehrperspektivität, Pluralität, die Frage nach Eigenem und<br />

Fremden, Differenz und Kontingenz schälen sich als Paradigmen für<br />

die Beschreibung einer Schul- und Kulturtheorie als fortlaufenden<br />

Prozess heraus, die aus der Re/Konstruktion und Reflexion<br />

kultureller Praxen selbst für Forschung und Praxis leitend sein<br />

können, und aus der Begrenzung, Bildung als Funktion – wie es die<br />

systemtheoretischen Analysen verfolgen – allein zu definieren oder<br />

als normatives Legitimationsinstrument – wie es die klassische<br />

Bildungstheorie versucht – zu bestimmen, den Diskurs bereichern,<br />

erweitern oder gar vorantreiben kann.<br />

Literatur<br />

ALANEN, L.: Zur Theorie der Kindheit. In: Sozialwissenschaftliche<br />

Literatur Rundschau Heft 28/1994, S. 93–112<br />

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Dt.: Zur Theorie der Sprechakte, übers. von E. v. Savigny,<br />

BRUNER, Jerome: The Culture of Education. Cambridge, London 1996<br />

DUNCKER, Ludwig: Lernen als Kulturaneignung. Weinheim 1994<br />

EGGIMANN, Ernst: Die Landschaft des Schülers. Zürich 1973<br />

ELIAS, N.: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt/M. 1987<br />

FISCHER-LICHTE, Erika: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur.<br />

In: Fischer-Lichte (Hg.): Kulturen des Performativen.<br />

Paragrana, Band 7 Berlin 1998, Heft 1, S. 13–29<br />

FOUCAULT, Michel: Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert<br />

L./Rabinow, Paul: Michel Foucault: Jenseits von<br />

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In: S. George/I. Prote (Hrsg.): Handbuch zur politischen<br />

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HONIG, Michael-Sebastian/LANGE, Andreas/LEU, Hans Rudolf: Eigenart<br />

und Fremdheit. In: Dies. (Hrsg.): Aus der Perspektive von Kindern?<br />

Zur Methodologie der Kindheitsforschung. Weinheim und München<br />

1999.


HONIG, M.-S./LEU, H.R., NISSEN, U.: Kindheit als Sozialisationsphase<br />

und als kulturelles Muster. Zur Strukturierung eines<br />

Forschungsfeldes. In: Dies. (Hrsg.): Kinder und Kindheit.<br />

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JOAS, Hans: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt/M. 1996<br />

KRÄMER, Sybille: Sprache, <strong>Stimme</strong>, Schrift. Sieben Thesen über<br />

Performativität als Medialität. In: Paragrana 7, Berlin 1998,<br />

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KRUMMHEUER, Goetz: Grundlagen und Beispiele interpretativer<br />

Unterrichtsforschung. Opladen 1999<br />

LIPPITZ, Wilfried: Lebenswelt oder die Rehabilitierung<br />

vorwissenschaftlicher<br />

Erfahrung. Weinheim 1980<br />

Aspekte einer phänomenologisch orientierten pädagogisch-<br />

anthropologischen Erforschung von Kindern. Anmerkungen zur<br />

aktuellen These der Kindheitsforschung: das Kind als „sozialer<br />

Akteur“. In: Vierteljahreszeitschrift für wissenschaftliche<br />

Pädagogik, Heft 2/99, S. 238–247<br />

Phänomenologische Forschungen in der deutschen<br />

Erziehungswissenschaft. In: Bauer, W./Lippitz, W./Marotzki,/<br />

W./Ruhloff, J./Schäfer, A./Wulf, Ch. (Hg.): 3. Jahrbuch<br />

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199<br />

Die biografische Perspektive auf das Kind – aus<br />

phänomenologisch-erziehungswissenschaftlicher Sicht. In:<br />

Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen (Hg.): Kinder – Kindheit –<br />

Lebensgeschichte. Ein Handbuch, Seelze-Velber 2001b<br />

Fremdheit und Differenz. Frankfurt/M. 2003<br />

MEYER-DRAWE, Käte: Sozialität und Leiblichkeit. München 1984<br />

Vom anderen lernen. In: Borelli, M./Ruhloff, R.:<br />

Gegenwartspädagogik Bd. 2, Opladen 1996, S. 85–98<br />

/WALDENFELS, B.: Das Kind als Fremder. In:<br />

Vierteljahreszeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik<br />

64, 1988, 271–287<br />

Die Not der Lebenskunst. Phänomenologische Überlegungen zur<br />

Bildung als Gestaltung exzentrische Lebensverhältnisse. Fünf<br />

Überlegungen. In: Dietrich/Müller (Hg.): Bildung und<br />

Emanzipation. München 1999, S. 147–154<br />

Stimmgewalten. In: Mensik, Dagmar/Liebsch, Burkhard: Gewalt<br />

verstehen. 2003


Vorwort. In: Stieve, Claus: Vom intimen Verhältnis zu den<br />

Dingen. Würzburg 2003<br />

MERLEAU-PONTY, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966<br />

Keime der Vernunft. München 1994<br />

MOLLENHAUER: Vergessene Zusammenhänge. München 1983<br />

/Wulf: Ästhetik/Aisthesis. Wahrnehmung und Bewußtsein.<br />

Weinheim 1996<br />

MUCHOW, M./MUCHOW, H.-H.: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Mit<br />

einer Einführung von Jürgen Zinnecker. Bensheim 1978 (reprint<br />

Martin Riegel Verlag, Hamburg 1935)<br />

RICKEN, Norbert: Bruch mit dem Einen: Differenz, Pluralität,<br />

Sozialität. In: Bauer. W./Lippitz, W. et al: Weltzugänge.<br />

Hohengehren 2002<br />

ROA, Ursula/Köpping, Klaus Peter: Die performative Wende: Leben–<br />

Ritual–Theater. In: Im Rausch des Rituals. 2000, S.3–31<br />

SCHOLZ, Gerold: Die Konstruktion des Kindes. Über Kinder und<br />

Kindheit Opladen 1994<br />

Konkrete Kinder – Überlegungen einer Kindheitsforschung aus<br />

der Perspektive von Kindern. MS 2000<br />

STIEVE, Claus: Vom intimen Verhältnis zu den Dingen. Würzburg 2003<br />

WIMMER, Michael: Pädagogik als Kulturwissenschaft. Programmatische<br />

Überlegungen zum Status der Allgemeinen Erziehungswissenschaft.<br />

In: ZfE Beiheft 1/02, Opladen 2002, S.109–122<br />

WALDENFELS, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt/M. 1994<br />

Grenzen der Normalisierung, Frankfurt/M. 1998<br />

Das leibliche Selbst. Frankfurt/M. 2000<br />

Lebenswelt als Hörwelt. In: Ehrenforth, Karl-Heinrich (Hrsg.):<br />

Musik. Unsere Welt als Andere. Würzburg 2001<br />

WESTPHAL, K.: Wirklichkeiten von <strong>Stimme</strong>n. Grundlegung einer Theorie<br />

der medialen Erfahrung. Frankfurt/M. 2002<br />

Woher kommen die Bedeutungen? Sprechen und Zu/Hören als Geben<br />

und Nehmen in schulischen Ritualen. Beitrag zum Symposium von<br />

Wulf, Christoph: Innovation und Ritual. Familie, Jugend und<br />

Schule. In: ZfE, Beiheft 1 Berlin 2004<br />

WULF, Christoph /GÖHLICH, Michael/ZIRFAS, Jörg: Grundlagen des<br />

Performativen. Weinheim 2001<br />

Wulf, Christoph: Mimesis in <strong>Geste</strong>n und Ritualen. In: Paragrana 7,<br />

Berlin 1998, Heft 1, S. 241–263


Zeit und Ritual. In: Bilstein/Miller-Kipp/Wulf:<br />

Transformationen der Zeit. Weinheim 1999, S. 112–122<br />

Filmausschnitt<br />

PHILIBERT, Nicolas: Sein und Haben. Europäischer Dokumentarfilmpreis<br />

2002 Prix Arte.<br />

Eine Produktion der Maia Film in Koproduktion mit Arte Cinema,<br />

Les Films d`Ici. Centre National de Documentation Pedagogique<br />

etc. und Unterstützung von Ministère de L`Education Nationale.<br />

Pädagogische Chancen liegen sowohl im Bereich individuell-biographischer wie auch in<br />

Gruppenprozessen, wobei idealer Weise individuelles und gemeinschaftliches Erleben als optimale<br />

Grundlage zur Entfaltung musikalisch-emotionaler Erfahrungen miteinander verbunden sind. Es<br />

sollte pädagogisches Ziel sein, Schülerinnen und Schülern die selbstregulatorischen Wirkungen von<br />

Musik zu verdeutlichen und die Reflexion emotionaler Bedeutungen von Musik in ihren sowohl<br />

soziokulturellen als auch psychobiologischen Prägungen zu ermöglichen. Ausgangspunkt können<br />

Untersuchungen der Ausdruck/Eindruck-Beziehungen sein, in denen musikalische Strukturen mit<br />

intendierten (stereotypen) emotionalen Bedeutungen verbunden sind. Dem müsste sich eine<br />

Ausweitung der Perspektive auf psychologische, physiologische und soziale Ebenen musikalischer<br />

Gefühlswirkungen anschließen. Musikpräferenzen, subjektive Bewertungen von Musik, Stilen oder<br />

Genres, trennen beispielsweise vielerorts Unterrichtskonzepte der Lehrer von den Erwartungen an<br />

den Unterricht seitens der Schülerinnen und Schüler. Eine Auflösung dieser Opposition kann nur<br />

von zwei Seiten gelingen, nämlich einerseits die Bereitschaft, objektiv valente musikalische<br />

Kunstwerke der Individuation des musikalischen Geschmacks unterzuordnen; andererseits durch<br />

die Integration von Klassenverbänden in gemeinschaftliches musikalisches Handeln, um<br />

entsprechende Musikerfahrungen zu ermöglichen.<br />

Die Vermittlung von Grundlagen psychologischer Vorgänge, die spezifisch sind für musikalische<br />

Tätigkeiten, könnte im Rahmen geeigneter didaktischer Vorgehensweisen den Prozess des<br />

Musiklernens wesentlich bereichern. Die Entstehung von musikbezogenen Emotionen und ihre<br />

Verquickung mit sowie auch Abgrenzung von der alltäglichen Gefühlswirklichkeit kenntlich zu<br />

machen, könnte sich nicht allein zur Formulierung neuer, äußerst relevanter Lernziele, sondern auch<br />

im Interesse des pädagogischen Prozesses insgesamt als nützlich erweisen.<br />

Kritisch zu bemerken bleibt, dass wesentliche Bereiche musikalischer Erfahrung, nämlich eben<br />

Stimmungen, Gefühle und Emotionen, auch nach diesen Untersuchungen noch weit unterforscht<br />

sind. Übersichten zu den einzelnen Themenfeldern in den hier vorgelegten Studien legen nahe, dass<br />

eine tatsächlich ausgewogene Musikdidaktik, in die kognitive und emotive Elemente musikalischer<br />

Erfahrung einfließen und mit Bewusstheit über die hiermit assoziierten Vorgänge reflektiert werden<br />

können, erst in einem eigenständigen Forschungs- und Evaluationsprozess zu erarbeiten wäre.<br />

Allerdings könnten die vorliegenden Studien durchaus Anregung sein, dem integrativen Ansatz der


Musikpädagogik (Reinecke, Rauhe, & Ribke, 1975; Kleinen, 1994) als Modell einer solchen,<br />

ausgewogenen Didaktik, entsprechende Grundlagen zuzuführen.

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