Arnold Hauser Stichwort Romantik Die Romantik ist ... - Theater Ulm
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<strong>Arnold</strong> <strong>Hauser</strong><br />
<strong>Stichwort</strong> <strong>Romantik</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Romantik</strong> <strong>ist</strong> ihrem Ursprung nach eine englische Bewegung, so wie das moderne<br />
Bürgertum selbst, das hier literarisch zum ersten Mal von der Ar<strong>ist</strong>okratie unabhängig zu<br />
Wort kommt, ein Ergebnis der englischen Verhältnisse <strong>ist</strong>. . . .<strong>Die</strong> militärischen Siege<br />
Englands, die geographischen Entdeckungen, die neuen Märkte und Wasserwege, die<br />
verhältnismäßig großen anlagesuchenden Kapitalien, all das gehört zu den<br />
Voraussetzungen dieser Revolution. <strong>Die</strong> Masse der neuen Erfindungen läßt sich mit dem<br />
bloßen Aufschwung der exakten Wissenschaften und dem plötzlichen Hervortreten von<br />
technischen Begabungen nicht erklären. <strong>Die</strong> Erfindungen werden gemacht, weil man sie<br />
verwerten kann, weil ein Massenbedarf an Industriewaren besteht, den man mit den alten<br />
Produktionsmethoden nicht zu befriedigen vermag, und weil die materiellen Mittel zur<br />
Durchführung des technischen Umbaus vorhanden sind. . . . Trotzdem bedeutet die<br />
Industrielle Revolution keinen vollkommen neuen Anfang. Sie <strong>ist</strong> vielmehr nur die<br />
Fortsetzung einer bereits am Ende des Mittelalters einsetzenden Entwicklung. Weder die<br />
Scheidung von Kapital und Arbeit noch die unternehmungsmäßige Organisation der<br />
Warenerzeugung <strong>ist</strong> neu; Maschinen gab es seit Jahrhunderten, und seitdem es überhaupt<br />
eine kapital<strong>ist</strong>isch orientierte Wirtschaft gab, war die Rationalisierung der Produktion im<br />
ständigen Fortschritt. <strong>Die</strong> Mechanisierung und Rationalisierung der Warenproduktion tritt<br />
jetzt aber in eine entscheidende, die Vergangenheit restlos liquidierende Phase ihrer<br />
Entwicklung. Der Abgrund zwischen Kapital und Arbeit wird unüberbrückbar, und die<br />
Herrschaft des Kapitals einerseits, die Unterdrückung und die Not der Arbeiterschaft<br />
andererseits erreichen einen Grad, mit dem sich die ganze Lebensatmosphäre der Zeit<br />
verändert. Wie alt also auch die Anfänge dieser Entwicklung sind, am Ende des 18.<br />
Jahrhunderts entsteht eine neue Welt.<br />
Jetzt erst verschwindet das Mittelalter mit allen seine Überresten, seinem korporativen<br />
Ge<strong>ist</strong>, seinen partikular<strong>ist</strong>ischen Lebensformen, seinen irrationalen, überlieferungsmäßigen<br />
Produktionsmethoden, um einer einzig und allein auf Planmäßigkeit und Kalkulierbarkeit<br />
beruhenden Arbeitsorganisation und einem rücksichtslosen Individualismus im Wettkampf<br />
Platz zu machen. Mit dem nach diesen Prinzipien geführten, vollkommen<br />
durchrationalisierten Großbetrieb beginnt im eigentlichen Sinne die „Neuzeit“ – das<br />
Maschinenzeitalter. Es entsteht eine neue, durch die mechanischen Mittel, die streng<br />
arbeitsteiligen Methoden und den auf die Herstellung von Massenartikeln zugeschnittenen<br />
Umfang der Produktion bedingte Betriebsform. Es entsteht eine Entpersönlichung der<br />
Arbeit, ihrer Emanzipation von den persönlichen Fähigkeiten des Arbeiters, eine<br />
weitgehende Versachlichung des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Es<br />
entstehen mit der Konzentration der Arbeiterschaft in den Industriestädten und ihrer<br />
Abhängigkeit von dem fluktuierenden Arbeitsmarkt härtere Lebensbedingungen und<br />
unfreiere Lebensformen. Es entsteht für den Kapital<strong>ist</strong>en mit seiner Bindung an einen<br />
festen Betrieb ein neues, strengeres Arbeitsethos; für den Lohnarbeiter dagegen, der sich<br />
in keiner Weise an den Betrieb gebunden fühlt, geht der ethische Wert der Arbeit verloren.<br />
Es entsteht plötzlich eine neue Gliederung der Gesellschaft: eine neue Kapital<strong>ist</strong>enschicht<br />
(das moderne Unternehmertum), ein neuer, in seiner Ex<strong>ist</strong>enz bedrohter städtischer<br />
Mittelstand (die Erben der kleinen und mittleren Händler und Gewerbetreibenden) und eine<br />
neue Arbeiterklasse (das moderne Industrieproletariat). <strong>Die</strong> Gesellschaft verliert die<br />
ehemalige Differenziertheit der Berufsarten und die Nivellierung <strong>ist</strong> besonders auf den<br />
unteren Stufen erschreckend.
Handwerker, Tagelöhner, besitzlose und entwurzelte Bauern, gelernte und ungelernte<br />
Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder, alle werden zu bloßen Handlangern in einem großen<br />
maschinell funktionierenden, kasernenartig reglementierten Betrieb (Anfangsszene!) Das<br />
Leben verliert seine Stetigkeit, alle seine Formen und Einrichtungen verschieben sich und<br />
bleiben in Bewegung. <strong>Die</strong> Mobilisierung der Gesellschaft <strong>ist</strong> vor allem durch den Zug zur<br />
Stadt bedingt. <strong>Die</strong> Einhegungen und die Kommerzialisierung der Landwirtschaft erzeugen<br />
Arbeitslosigkeit auf der einen Seite, die neuen Industrien schaffen dagegen neue<br />
Arbeitsgelegenheiten auf der anderen; die Folge davon <strong>ist</strong> die Entvölkerung des Dorfes und<br />
Überbevölkerung der Industrie, die mit ihren Maßstäben und ihrer Überbevölkerung für die<br />
entwurzelten Massen einen völlig ungewohnten und verwirrenden Lebenshintergrund<br />
darstellt. <strong>Die</strong> Städte gleichen großen Arbeitslagern und Gefängnissen, sind unbequem,<br />
unsauber, ungesund und über alle Begriffe häßlich. <strong>Die</strong> Lebensverhältnisse sinken auf ein<br />
so niedriges Niveau, daß die Ex<strong>ist</strong>enz der Leibeigenen im Mittelalter dagegen geradezu<br />
idyllisch erscheint.<br />
Da die Produktionsmittel nur mehr für den Kapital<strong>ist</strong>en erschwinglich sind, bleibt dem<br />
Arbeiter nichts übrig, als seine Arbeitskraft zum Markt zu tragen und seine Ex<strong>ist</strong>enz<br />
vollkommen von den Chancen der jeweiligen Konjunktur abhängig zu machen, mit anderen<br />
Worten, sich in eine Situation zu begeben, in der er von dem beständigen Fluktuieren der<br />
Löhne und der periodischen Arbeitslosigkeit bedroht <strong>ist</strong>. . . <strong>Die</strong> neue Produktionsweise<br />
bringt übrigens auch die besitzende Klasse um ihre Ruhe und Zuversicht. <strong>Die</strong> wichtigste<br />
Form des Reichtums war bisher der Bodenbesitz, der sich nur langsam und zögernd in ein<br />
Handels- und Bankkapital verwandelte; an der Industrie beteiligte sich aber auch das<br />
bewegliche Kapital nur zu einem geringen Teil. Erst seit den sechziger Jahren des 18.<br />
Jahrhunderts wird die Industrieunternehmung zu einer beliebten Form der<br />
Vermögensanlage. Der Betrieb einer Fabrik mit ihrer maschinellen Einrichtung, ihrem<br />
Materialverbrauch und ihrem Arbeiterheer setzt aber immer größere Mittel voraus und führt<br />
zu einer stärkeren Akkumulation des Kapitals als die bisherigen Formen der<br />
Warenproduktion. Mit dem nunmehrigen Zusammenschluß des Reichtums und seiner<br />
Investierung in Produktionsmittel beginnt erst die Zeit des Hochkapitalismus. Damit beginnt<br />
aber eine hochspekulative Phase der kapital<strong>ist</strong>ischen Entwicklung. <strong>Die</strong> ältere<br />
Agrarwirtschaft kannte überhaupt kein Kapitalrisiko und keine Spekulation, und selbst bei<br />
den Handels- und Geschäftshäusern gehörten die Hasardeure bisher zu den Ausnahmen;<br />
die neuen Industrien aber wachsen den Kapital<strong>ist</strong>en allmählich über den Kopf, und die<br />
Unternehmer spielen oft mit größeren Einsätzen, als deren Verlust sie ohne weiteres<br />
verschmerzen könnten. Eine derart gefährdete Ex<strong>ist</strong>enz erzeugt, bei aller tatsächlichen<br />
Prosperität, ein Lebensgefühl, aus dem der frühere Optimismus unrettbar verschwindet.<br />
Der neue Typus des Kapital<strong>ist</strong>en – der Industrieführer – entwickelt mit seiner neuen<br />
Funktion im Wirtschaftsleben neue Talente, vor allem auch eine neue Arbeitsdisziplin und<br />
eine neue Bewertung der Arbeit. Er läßt die kaufmännischen Interessen gewissermaßen<br />
zurücktreten und konzentriert sich auf die innere Organisation seines Betriebs. Das Prinzip<br />
der Zweckmäßigkeit, Planmäßigkeit und Kalkulierbarkeit, das in der Wirtschaft der<br />
führenden Länder seit dem 15. Jahrhundert maßgebend geworden <strong>ist</strong>, wird jetzt<br />
alleinherrschend. Der Unternehmer unterwirft sich diesem Prinzip ebenso rücksichtslos wie<br />
seine Arbeiter und Angestellten und wird ebenso zum Sklaven seines Betriebes wie sein<br />
Personal. <strong>Die</strong> Erhebung der Arbeit zu einer ethischen Macht, ihre Verherrlichung und<br />
Anbetung, <strong>ist</strong> im Grunde nichts als die ideologische Verklärung des Erfolgs- und<br />
Gewinnstrebens und ein Versuch, auch jene Elemente zum bege<strong>ist</strong>erten Mittun anzuregen,<br />
die an den Früchten ihrer Arbeit den geringsten Anteil haben. Zu der gleichen Ideologie<br />
gehört auch die Ideologie der Freiheit. Der Unternehmer muß bei der riskanten Natur<br />
seines Geschäftes vollkommene Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit genießen, er darf
durch keine staatlichen Maßnahmen seinen Konkurrenten gegenüber benachteiligt werden.<br />
In dem Sieg dieses Prinzips über die mittelalterlichen und merkantil<strong>ist</strong>ischen Regulierungen<br />
besteht das Wesen der Industriellen Revolution. Mit dem Prinzip des laissez-faire beginnt<br />
erst die moderne Wirtschaft, und die Idee der individuellen Freiheit setzt sich erst als die<br />
Ideologie dieses wirtschaftlichen Liberalismus durch. <strong>Die</strong>se Zusammenhänge verhindern<br />
freilich nicht, daß sowohl die Idee der Arbeit als auch die der Freiheit sich zu<br />
selbstständigen ethischen Mächten entwickeln und oft in einem wirklich ideal<strong>ist</strong>ischen Sinn<br />
ausgelegt werden. . . .<br />
Das Prinzip der freien Konkurrenz und das Recht zur persönlichen Initiative haben ihre<br />
Parallele in dem Wunsch des Autors, subjektives Gefühlsleben auszudrücken, seine eigene<br />
Persönlichkeit zur Geltung zu bringen und dem Leser zum unmittelbaren Zeugen eines<br />
intimen Seelen- und Gewissenskampfes zu machen. <strong>Die</strong>ser Individualismus aber <strong>ist</strong> nicht<br />
nur einfach die Übersetzung des wirtschaftlichen Liberalismus ins Literarische, sondern<br />
auch ein Protest gegen jene Mechanisierung, Nivellierung und Entpersönlichung des<br />
Lebens, die mit der sich selbst überlassenen Wirtschaft verbunden <strong>ist</strong>. Der Individualismus<br />
überträgt das laissez-faire auf das moralische Leben, protestiert aber zugleich gegen eine<br />
Gesellschaftsordnung, in welche der Mensch von seinen persönlichen Neigungen getrennt,<br />
zum Träger von indifferenten Funktionen, zum Abnehmer von standardisierten Waren und<br />
zum Figuranten in einer sich immer mehr uniformierenden Welt wird. <strong>Die</strong> zwei Grundformen<br />
der sozialen Kausalität, die Imitation und die Opposition, verbinden sich hier zur Erzeugung<br />
der romantischen Stimmung.<br />
Wie der Individualismus, so dient dem Bürgertum auch der Emotionalismus vor allem als<br />
ein Mittel, seine ge<strong>ist</strong>ige Unabhängigkeit von der Ar<strong>ist</strong>okratie zum Ausdruck zu bringen.<br />
Man beteuert und betont seine Gefühle , nicht weil man plötzlich stärker und inniger<br />
empfinden würde, sondern man suggeriert sich und übertreibt diese Gefühle, weil sie eine<br />
der ar<strong>ist</strong>okratischen Haltung gegensätzliche Attitüde darstellen. Der so lange verachtete<br />
Bürger bespiegelt sich im eigenen Seelenleben und kommt sich um so wichtiger vor, je<br />
ernster er seine Gefühle, Stimmungen und Regungen nimmt. In den mittleren und unteren<br />
Schichten des Bürgertums, wo dieser Emotionalismus die tiefsten Wurzeln hat, <strong>ist</strong><br />
allerdings der Kult der Gefühle nicht nur eine auf den Erfolg gesetzte Prämie, sondern<br />
zugleich eine Entschädigung für die Erfolglosigkeit im praktischen Leben. Sobald aber die<br />
Gefühlskultur einmal ihre künstlerische Objektivation gefunden hat, macht sie sich von<br />
ihrem Ursprung mehr oder weniger unabhängig und geht ihre eigenen Wege. Der<br />
Sentimentalismus, der ursprünglich der Ausdruck des bürgerlichen Klassenbewußtseins<br />
war und seine Erklärung in der Ablehnung der ar<strong>ist</strong>okratischen D<strong>ist</strong>anziertheit hatte, führt zu<br />
einem Kult der Sensibilität und Spontaneität, dessen Zusammenhang mit der<br />
antiar<strong>ist</strong>okratischen Ge<strong>ist</strong>esverfassung des Bürgertums. . .<br />
Auch die Sittenstrenge des Bürgertums <strong>ist</strong>, so wie seine Individualismus und<br />
Emotionalismus, eine Waffe, die es gen die Lebensanschauung der höfischen Kreise<br />
richtet. Sie <strong>ist</strong> ein Protest gegen die Frivolität und die Verschwendung einer<br />
Gesellschaftsschicht, für deren Leichtsinn andere aufzukommen haben.<br />
<strong>Die</strong> bürgerliche Literatur besteht nach der Jahrhundertmitte (18. Jh.9 auf einmal aus lauter<br />
Fluchtversuchen, dem Versuch vor allem, aus der strengen Vernünftigkeit und Bewußtheit<br />
in die unverantwortliche Emotionalität, aus der Kultur und Zivilisation in den unverbindlichen<br />
Naturzustand und der eindeutigen Gegenwart in die beliebig deutbare Vergangenheit zu<br />
fliehen. Spengler bemerkt einmal, wie sonderbar und beispiellos der Kult der Ruine im 18.<br />
Jahrhundert gewesen sei, ebenso sonderbar war aber auch die Sehnsucht des<br />
Kulturmenschen nach dem primitiven Naturzustand und ebenso beispiellos das
selbstmörderische Sichauflösen der Vernunft im chaotischen Gefühl. . . Im Gegensatz zur<br />
Sehnsucht nach der h<strong>ist</strong>orischen Vergangenheit, die erst ein Produkt der <strong>Romantik</strong> war,<br />
hatte die Sehnsucht nach der Natur als Zuflucht vor der Konventionalität der Zivilisation<br />
eine lange Vorgeschichte. <strong>Die</strong> Liebe zur Natur trägt auch im 18. Jahrhundert noch einen<br />
eher moralischen als ästhetischen Charakter. <strong>Die</strong> Generation der Vorromantik erlebt die<br />
Natur aber bereits, im Gegensatz zu früheren Zeiten, als die Offenbarung von sittlichen,<br />
nach menschlichen Moralbegriffen waltenden Mächten. <strong>Die</strong> wechselnden Jahres- und<br />
Tageszeiten, die stille Mondnacht und der tobende Sturm, die geheimnisvolle<br />
Gebirgslandschaft und die unergründliche See, all das bedeutet für sie ein großartiges<br />
Drama, ein Schauspiel, das die Wendungen des menschlichen Schicksals ins Große<br />
überträgt. . .<br />
Musik<br />
Bis zum 18. Jahrhundert war jede Musik mehr oder weniger Gebrauchsmusik; sie wurde im<br />
Auftrag eines Fürsten, der Kirche oder des städtischen Mag<strong>ist</strong>rats geschrieben und hatte<br />
die Aufgabe, eine Hofgesellschaft zu unterhalten, die Andacht des Gottesdienstes zu<br />
vertiefen oder den Glanz von öffentlichen Feierlichkeiten zu heben. <strong>Die</strong> Kompon<strong>ist</strong>en waren<br />
Hofmusiker, Kirchenmusiker oder städtische Ratsmusiker; ihre künstlerische Tätigkeit<br />
beschränkte sich auf die Erfüllung der mit ihrem Amt verbundenen Pflichten. Außer in der<br />
Kirche hatten die Bürger kaum Gelegenheit, Musik zu hören; den Darbietungen der Adels<br />
und Hofkapellen konnten sie nur ausnahmsweise beiwohnen. Ab Mitte des 18.Jahrhunderts<br />
Gründung von städtischen Konzertgesellschaften. <strong>Die</strong> Konzertgesellschaften mieteten<br />
immer größere Säle und musizierten gegen Entgelt bei steigendem Zulauf. Damit entstand<br />
ein freier Markt auch für musikalische Produkte, der dem literarischen Markt mit seinen<br />
Zeitungen, Zeitschriften und Verlagen entsprach.<br />
Das Bürgertum wird zum Hauptinteressenten für Musik und die Musik zur Lieblingskunst<br />
des Bürgertums, das sein Gemütsleben in keine andere Form so unmittelbar und<br />
ungehemmt zum Ausdruck bringen kann wie in dieser. Indem nun aber die Musik aus einer<br />
Zweckkunst zu einer Ausdruckskunst wird, beginnt der Kompon<strong>ist</strong> nicht nur gegen jede<br />
Gebrauchs- und Auftragsmusik eine Abneigung zu empfinden.<br />
Drama<br />
<strong>Die</strong> klassische Tragödie sieht den Menschen isoliert und stellt ihn als eine selbstständige,<br />
autonome ge<strong>ist</strong>ige Entität dar, die sich mit der materiellen Wirklichkeit nur äußerlich berührt<br />
und von ihr im Innersten unbeeinflußt bleibt. Das bürgerliche Drama faßt ihn dagegen als<br />
Teil und Funktion seiner Umgebung auf und schildert ihn als ein Wesen, das, statt die<br />
dingliche Realität wie einst in der Tragödie zu beherrschen, von ihr beherrscht und<br />
absorbiert wird. das Milieu hört auf, bloß Hintergrund und Rahmen zu sein, und gewinnt<br />
einen aktiven Anteil an der Gestaltung des menschlichen Schicksals. <strong>Die</strong> Grenzen<br />
zwischen Innen- und Außenwelt, Seele und Materie werden fließend und verwischen sich<br />
allmählich, so daß am Ende jedes Handeln, jeder Entschluß, jedes Gefühl etwas Fremdes,<br />
Äußerliches, Materielles enthält, etwas, das nicht im Subjekt seinen Ursprung hat und den<br />
Menschen als das Produkt einer ge<strong>ist</strong>- und seelenlosen Wirklichkeit erscheinen läßt. Erst<br />
eine Gesellschaft, die den Glauben sowohl an die Notwendigkeit und Gottgewolltheit der<br />
sozialen Unterschiede als auch an ihren Zusammenhang mit persönlichen Tugenden und<br />
Verdiensten verloren hat, die die täglich wachsende Macht des Geldes erlebt und nichts<br />
anderes um sich sieht, als das Menschen dazu werden, wozu sie die Verhältnisse machen,<br />
die aber diese soziale Dynamik dennoch bejaht, da sie ihr entweder den Aufstieg verdankt<br />
oder sich von ihr den Aufstieg verspricht, erst eine solche Gesellschaft konnte das Drama in
den Kategorien des realen Raumes und der realen Zeit aufgehen lassen und die<br />
Charaktere aus ihrer materiellen Umwelt entwickeln. . .<br />
<strong>Die</strong> <strong>Romantik</strong> hatte nicht nur eine epochale Bedeutung, sie hatte auch ein epochales<br />
Bewußtsein. Sie stellte eine der wichtigsten Wendungen in der Geschichte des<br />
abendländischen Ge<strong>ist</strong>es dar. Seit der Gotik hatte die Entwicklung der Sensibilität keinen<br />
stärkeren Anstoß erfahren, und das Recht des Künstlers, der Stimme seines Gefühls und<br />
seiner Natur zu folgen, wurde mit solcher Unbedingtheit wohl überhaupt noch nie betont.<br />
Der Rationalismus, der seit der Renaissance in beständigem Fortschritt begriffen war und<br />
durch die Aufklärung eine universale, die ganze Kulturwelt beherrschende Geltung gewann,<br />
erlitt den empfindlichsten Rückschlag seiner Geschichte.<br />
<strong>Romantik</strong> erwies sich als eine jener Richtungen, die ein dauernder Faktor der Entwicklung<br />
geblieben <strong>ist</strong>. Es gibt tatsächlich kein Produkt der neuern Kunst, keine Gefühlsregung,<br />
keine Impression oder Stimmung des modernen Menschen, die ihre Subtilität und<br />
Differenziertheit nicht jener Reizbarkeit der Nerven verdanken würde, die in der <strong>Romantik</strong><br />
ihren Ursprung hat. <strong>Die</strong> ganze Überschwenglichkeit, Anarchie und Wildheit der modernen<br />
Kunst, ihr trunkener und stammelnder Lyrismus, ihr hemmungsloser, schonungsloser<br />
Exhibitionismus geht auf die <strong>Romantik</strong> zurück. . .<br />
<strong>Die</strong> <strong>Romantik</strong> war die Ideologie der neuen Gesellschaft und drückte die Weltanschauung<br />
einer Generation aus, die an keine absoluten Werte mehr glaubt, an keine Werte mehr<br />
glauben konnte, ohne sich ihrer geschichtlichen Determiniertheit, ihrer Relativität zu<br />
besinnen. . . .<br />
<strong>Die</strong> Geschichte wird zum Zufluchtsort aller mit der Gegenwart zerfallenen, in ihrer ge<strong>ist</strong>igen<br />
oder materiellen Ex<strong>ist</strong>enz bedrohten Elemente; zur Zuflucht der Intelligenz vor allem, die<br />
sich jetzt nicht nur in Deutschland, sondern auch in en westeuropäischen Ländern in ihren<br />
Hoffnungen getäuscht und um ihre Rechte betrogen sieht. <strong>Die</strong> Einflußlosigkeit auf die<br />
politische Entwicklung, die bisher das Schicksal der deutschen Intelligenz war, wird zum<br />
abendländischen Schicksal. <strong>Die</strong> Aufklärung und die Revolution hatten das Individuum zu<br />
übermächtigen Hoffnungen ermutigt; sie schienen die unbeschränkte Herrschaft der<br />
Vernunft der Vernunft und die unbedingte Autorität der Dichter und Denker zu<br />
gewährle<strong>ist</strong>en. Im 18. Jahrhundert waren die Schriftsteller die ge<strong>ist</strong>igen Führer des<br />
Abendlandes; sie waren das dynamische Element, das hinter der Reformbewegung stand,<br />
und verkörperten das Persönlichkeitsideal, nach welchem die progressiven Schichten sich<br />
richteten. Das änderte sich mit dem Ausgang der Revolution. Sie wurden nun bald für das<br />
Zuviel, bald für das Zuwenig der revolutionären Neuerungen verantwortlich gemacht. . . .<br />
<strong>Die</strong> me<strong>ist</strong>en von ihnen waren aber zur vollkommenen Wirkungslosigkeit verurteilt und<br />
fühlten sich durchaus überflüssig. Sie nahmen ihre Zuflucht zur Vergangenheit, die sie zum<br />
Erfüllungsort all ihrer Wünsche und Träume machten und aus der sie jede Spannung von<br />
Idee und Wirklichkeit, ich und Welt, Individuum und Gesellschaft ausschalteten. . . . Das<br />
Gefühl der Heimatlosigkeit und der Vereinsamung wurde zum entscheidenden Erlebnis<br />
einer ganzen Generation; ihre ganze Weltanschauung war und blieb davon abhängig. Es<br />
nahm unzählige formen an und fand seinen Ausdruck in einer Reihe von Fluchtversuchen,<br />
von welcher die Wendung in die Vergangenheit nur die ausgeprägteste war. <strong>Die</strong> Flucht in<br />
die Utopie und das Märchen, das Unbewußte und Imaginäre, das Unheimliche und<br />
Geheimnisvolle, zur Kindheit und zur Natur, zum Traum und den Wahnsinn waren lauter<br />
solche verschleierten oder minder sublimierten Formen, desselben Gefühls, derselben<br />
Unverantwortlichkeit und Leidlosigkeit, - Fluchtversuche in jenes Chaos und jene Anarchie,<br />
gegen die der Klassizismus des 17. Und des 18.Jahrhunderts bald mit Ingrimm, bald mit<br />
Besorgnis, bald mit Ge<strong>ist</strong> und Grazie, doch stets mit gleicher Entschiedenheit kämpfte.
Sooft die <strong>Romantik</strong>er die Eigenart ihres Kunst- und Weltgefühls beschreiben, schleicht sich<br />
das Wort Heimweh oder die Idee der Heimatlosigkeit in ihre Sätze ein.<br />
Heimweh und Fernweh – das sind die Gefühle, von welchen die <strong>Romantik</strong>er hin- und<br />
hergerissen werden; sie vermissen die Nähe, leiden an ihrer Abgesondertheit von den<br />
Menschen, sie meiden sie aber zugleich und suchen mit Fleiß die Ferne, das Unbekannte.<br />
Sie leiden an der Entfremdung der Welt, sie bejahen und wollen aber diese Entfremdung.<br />
So definieret Novalis die romantische Poesie als „die Kunst, auf eine angenehme Art zu<br />
befremden, einen Gegenstand fremd zu machen, und doch bekannt und anziehend“, und<br />
behauptet, daß, daß alles romantisch wird, „wenn man es in die Ferne rückt“, daß man alles<br />
romantisieren könne, wenn man, „dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen, dem<br />
Bekannten die würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Sinn gebe.“ . . .<br />
<strong>Die</strong>se Romantisierung aber bedeutet vor allem, das Leben vereinfachen und<br />
vereinheitlichen, es von der quälenden Dialektik alles geschichtlichen Seins befreien, die<br />
unlösbaren Widersprüche aus ihm ausschalten und die rationalen Widerstände gegen die<br />
Wunschträume und Phantasien abschwächen. Jedes Kunstwerk <strong>ist</strong> ein Traumbild und eine<br />
Legende der Wirklichkeit, jede Kunst setzt eine Utopie an die Stelle des Daseins, nur<br />
kommt in der <strong>Romantik</strong> der utopische Charakter der Kunst reiner und ungebrochener zum<br />
Ausdruck als sonst.<br />
Nichts bot sich der <strong>Romantik</strong> konfliktlos dar; in allen ihren Äußerungen spiegelt sich die<br />
Problematik ihrer h<strong>ist</strong>orischen Stellung und die Zerissenheit ihrer Gefühle. Das moralische<br />
Leben der Menschen spielte sich von jeher in Konflikten und Kämpfen ab; je differenzierter<br />
ihr soziales Sein war, um so häufiger und heftiger waren die Zusammenstöße zwischen Ich<br />
und Welt, Trieb und Vernunft, Vergangenheit und Gegenwart. In der <strong>Romantik</strong> aber werden<br />
diese Konflikte zur Wesensform des Bewußtseins. Leben und Ge<strong>ist</strong>, Natur und Kultur,<br />
Geschichte und Ewigkeit, Einsamkeit und Sozietät, Revolution und Tradition erscheinen<br />
nicht mehr bloß als logische Korrelate oder als moralische Alternativen, zwischen denen<br />
man zu wählen hat, sondern als Möglichkeiten, die man gleichzeitig zu verwirklichen<br />
trachtet. Sie werden allerdings einander noch nicht dialektisch entgegengesetzt, es wird<br />
noch keine Synthese gesucht, in der ihre Interdependenz zum Ausdruck käme, es wird mit<br />
ihnen nur experimentiert und gespielt. Weder der Idealismus und Spiritualismus, noch der<br />
Irrationalismus und Individualismus herrschen widerspruchslos; sie alternieren vielmehr mit<br />
einer ebenso starken Tendenz zum Naturalismus und Kollektivismus. . . .Der menschliche<br />
Ge<strong>ist</strong> hat auch jenen letzten Rest der Spontaneität verloren, der dem 18. Jahrhundert noch<br />
eigen war. Der innere Zwiespalt und die Ambivalenz der seelischen Beziehungen geht so<br />
weit, daß man mit Recht behaupten konnte, daß die <strong>Romantik</strong>er, oder jedenfalls die<br />
deutschen Frühromantiker, gerade das Romantische von sich abzuhalten bestrebt<br />
waren. . . .<br />
In nichts spiegelt sich die Zerissenheit der romantischen Seele so unmittelbar und<br />
ausdrucksvoll wie in der Gestalt des Doppelgängers, der dem <strong>Romantik</strong>er stets<br />
gegenwärtig <strong>ist</strong> und in der romantischen Literatur in unzähligen Formen und Varianten<br />
auftritt. Der Ursprung dieser zur fixen Idee gewordenen Vorstellung <strong>ist</strong> unverkennbar: es <strong>ist</strong><br />
der unwiderstehliche Drang zur Reflexion, die manische Selbstbeobachtung und der<br />
Zwang, sich immer wieder als einen Unbekannten, Fremden, unheimlich Fernen zu<br />
betrachten. Auch das Doppelgängertum <strong>ist</strong> selbstverständlich nur ein Fluchtversuch und<br />
drückt die Unfähigkeit der <strong>Romantik</strong> aus, sich mit der eigenen geschichtlichen und sozialen<br />
Lage abzufinden. Der <strong>Romantik</strong>er stürzt sich in die Selbstverdopplung,, wie er sich in alles<br />
Dunkle und Vieldeutige, Chaotische und Ekstatische, Dämonische und Dionysische stürzt,<br />
und sucht auch in ihr nur eine Zuflucht vor der Realität, die er rational zu bewältigen nicht<br />
imstande <strong>ist</strong>. Auf der Flucht vor dieser Realität entdeckt er das Unbewußte, das vor der<br />
Vernunft Geborgene, die Quelle seiner Wunschphantasien und irrationalen Lösungen. Er
entdeckt, daß zwei Seelen in seiner Brust wohnten, daß in seinem Innern etwas fühlt und<br />
denkt, das nicht er selbst <strong>ist</strong>, daß er seinen Dämon und seinen Richter mit sich herumträgt,<br />
kurz, er entdeckt die Grundtatsachen der Psychoanalyse. Das Irrationale besitzt für ihn den<br />
unendlichen Vorteil der Unkontrollierbarkeit, darum pre<strong>ist</strong> er die unbewußten, dunklen<br />
Triebe, die traumhaften und rauschhaften Seelenzustände und sucht in ihnen die<br />
Genugtuung, die der kühle, kalte kritische Verstand nicht gewähren kann. ... Daher der Kult<br />
alles Geheimnisvollen und Nachtseitigen, Bizarren und Grotesken, Schauerlichen und<br />
Spukhaften, Diabolischen und Makabren, Pathologischen und Perversen.<br />
In d er <strong>Romantik</strong> vollendet sich die in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts begonnene<br />
Entwicklung: die Musik wird zum ausschließlichen Besitz des Bürgertums. Nicht nur die<br />
Orchester übersiedeln aus den Festsäen der Schlösser und Palais in die vom Bürgertum<br />
erfüllten Konzertsäle, auch die Kammermusik findet ihre Heimat statt in den<br />
ar<strong>ist</strong>okratischen Salons in den bürgerlichen Häusern. <strong>Die</strong> breiteren Schichten, di e an den<br />
musikalischen Veranstaltungen wachsenden Anteil nehmen, verlangen nun aber eine<br />
leichtere, einschmeichelnder, unkomplizierte Musik. <strong>Die</strong>ser Anspruch begünstigt von<br />
vornherein die Entstehung von kurzatmigeren, unterhaltsameren, abwechslungsreicheren<br />
Formen, führt aber zugleich zu einer Spaltung der Produktion in eine ernste und eine<br />
Unterhaltungsmusik.<br />
<strong>Die</strong> Zugeständnisse an das Publikum lösen bei den <strong>Romantik</strong>ern zugleich eine betonte<br />
Rücksichtslosigkeit und Willkürlichkeit des Ausdrucks aus. <strong>Die</strong> Kompositionen werden<br />
bewußter- und willkürlicherweise schwierige, und zwar sowohl in technischer als auch in<br />
ge<strong>ist</strong>iger Hinsicht: sie hören auf, für den Vortrag durch den bürgerlichen Dilettanten<br />
bestimmt zu sein. Schon die späten Klavier- und Kammermusikwerke Beethovens konnten<br />
nur von Künstlern ausgeführt und nur von einem musikalisch hochgebildeten Publikum<br />
gewürdigt werden. Bei den <strong>Romantik</strong>ern steigert sich vor allem die technische Schwierigkeit<br />
des Vortrags. Weber, Schumann, Chopin, Liszt komponieren für die Virtuosen der<br />
Konzertsäle. <strong>Die</strong> Bravour, die sie bei den Vortragenden voraussetzen, hat eine doppelte<br />
Funktion: sie beschränkt die Ausübung der Musik auf den Fachmann und verblendet den<br />
Laien. Bei den Virtuoso-Kompon<strong>ist</strong>en, deren Prototyp Pagannini <strong>ist</strong>, hat die brillante<br />
Schreibweise keinen anderen Zweck als die Verblüffung des Zuhörers, bei den wirklichen<br />
Me<strong>ist</strong>ern dagegen <strong>ist</strong> die technische Schwierigkeit nur der Ausdruck einer inneren<br />
Schwierigkeit und Komplikation.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Romantik</strong> feiert in der Musik ihre größten Triumphe. Der Ruhm Webers, Meyerbeers,<br />
Chopins, Liszts, Wagners erfüllt ganz Europa und überflügelt den Erfolg der erfolgreichsten<br />
Dichter. <strong>Die</strong> Musik <strong>ist</strong> bis zum Ende des 19.Jahrhundert romantisch geblieben, restloser,<br />
vorbehaltloser romantisch als die anderen Künste.<br />
Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Band 2, Verlag der Kunst Dresden 1987