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Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: Adorno, Theodor W ...

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742 <strong>Musik</strong>soziologisches<br />

dentliche musikalische Qualität steht, einstweilen noch die größte<br />

Schwierigkeit bereitet und hier nicht einmal versucht werden darf:<br />

Anton Weberns. Einsamkeit und Entfremdung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

gegenüber, bei Schönberg durch die Formstruktur des Werkes<br />

bedingt, werden ihm thematisch und zum <strong>In</strong>halt: die Aussage des<br />

Unaussagbaren, also <strong>der</strong> vollkommenen Entfremdung ist mit jedem<br />

Laut seiner <strong>Musik</strong> gemeint. Wollte man den für die Schönberg-<br />

Schule konstitutiven Grundbegriff <strong>der</strong> immanenten Dialektik auf<br />

Webern anwenden: man müßte, mit einem Untertitel Kierke-<br />

gaards, <strong>der</strong> Webern nahe genug liegt, von »dialektischer Lyrik«<br />

reden. Denn hier wird die äußerste individuelle Differenzierung,<br />

eine Auflösung des vorgegebenen Materials, die musikalisch noch<br />

über Schönberg und expressiv noch über Berg hinausgeht, zu kei-<br />

nem an<strong>der</strong>en Zweck geübt als dem: eine Art Natursprache <strong>der</strong><br />

<strong>Musik</strong>, den reinen Laut freizumachen, wie er dem Rückgriff auf ein<br />

Naturmuteriul, also die Tonalität und die ,natürlichen< Oberton-<br />

Verhältnisse, unweigerlich sich versagte. Das Bild <strong>der</strong> Natur in<br />

geschichtlicher Dialektik zu produzieren: das ist die Absicht seiner<br />

<strong>Musik</strong> und das Rätsel, das sie aufgibt; das, als Rätsel, zu je<strong>der</strong><br />

positiven Natur-Romantik als Antwort gänzlich konträr steht. Es<br />

wird erst später sich dechiffrieren.<br />

<strong>Zur</strong> Meisterschaft Schönbergs und seiner Schule setzt die genaue<br />

Antithesis die Virtuosität Strawinskys und seines Gefolges; zur<br />

Scheinlosigkeit das Spiel; zur gebundenen Dialektik, <strong>der</strong>en Substrat<br />

umschlagend sich verwandelt, <strong>der</strong> verführerisch-beliebige Wechsel<br />

<strong>der</strong> Masken, <strong>der</strong>en Träger dafür identisch, aber nichtig bleibt. Die<br />

<strong>Musik</strong> des Objektivismus ist gesellschaftlich um soviel durchsichti-<br />

ger denn die <strong>der</strong> Schönberg-Schule, als sie sich technologisch weni-<br />

ger dicht in sich verschließt. Darum hat die gesellschaftliche <strong>In</strong>ter-<br />

pretation des Objektivismus gerade von dessen technischer Verfah-<br />

rungsweise auszugehen. Technisch wird in jeglicher objektivisti-<br />

schen <strong>Musik</strong> <strong>der</strong> Versuch gemacht, die Entfremdung <strong>der</strong> <strong>Musik</strong> von<br />

innen her, also ohne Ausblick auf die gesellschaftliche Realität zu<br />

korrigieren: nicht aber durch Weiterverfolgung ihrer immanenten<br />

Dialektik, die als individualistisch-überdifferenziert - Strawinsky<br />

hat, absurd genug, Schönberg einmal mit Oscar Wilde verglichen -,<br />

intellektualistisch-abstrakt und naturentfremdet gescholten wird.<br />

Son<strong>der</strong>n die musikimmanente Korrektur <strong>der</strong> Entfremdung wird<br />

’<br />

<strong>Zur</strong> <strong>gesellschaftlichen</strong> <strong>Lage</strong> <strong>der</strong> <strong>Musik</strong><br />

erhofft von einem Rückgriff auf ältere, durchwegs vorbürgerliche<br />

<strong>Musik</strong>formen, in denen man einen urtümlichen Naturstand <strong>der</strong><br />

<strong>Musik</strong>, man könnte sagen: eine musikalische Anthropologie<br />

behaupten möchte, <strong>der</strong>, zugehörig dem Wesen Mensch und seiner<br />

leibhaften Konstitution - daher die Neigung alles Objektivismus zu<br />

Tanzformen und im Tanz entspringen<strong>der</strong> Rhythmik -, dem<br />

geschichtlichen Wechsel enthoben und je<strong>der</strong>zeit zugänglich sein<br />

soll. Vom stilhistorisch prägnanten Begriff <strong>der</strong> Romantik, mit einer<br />

extremen Formel: dem >Legendenton< Schumanns unterscheidet<br />

<strong>der</strong> Objektivismus sich dadurch, daß er nicht sowohl einen vergan-<br />

genen musikalischen Zustand als positiv dem negativen gegenwärti-<br />

gen gegenübergestellt und sehnsüchtig ihn wie<strong>der</strong>herzustellen<br />

trachtet, als vielmehr im Vergangenen das Bild eines schlechter-<br />

dings Gültigen konstruiert, das heut und hier wie je<strong>der</strong>zeit zu<br />

realisieren sei. Darum hat <strong>der</strong> Objektivismus in seinen theoreti-<br />

schen Äußerungen gerade die Romantik aufs heftigste befehdet.<br />

Das besagt aber praktisch-musikalisch nichts an<strong>der</strong>es, als daß <strong>der</strong><br />

Rückgriff des Objektivismus auf seine historischen Modelle, sei es<br />

nun echte und falsche bäuerliche Volksmusik, mittelalterliche Poly-<br />

phonie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> )vorklassische* Konzertatstil, nicht einfach auf<br />

Wie<strong>der</strong>einsetzung jener Modelle abzielt: nur in Ausnahmefällen hat<br />

<strong>der</strong> Objektivismus, als Stilkopie, um solche Wie<strong>der</strong>einsetzung sich<br />

bemüht. <strong>In</strong> <strong>der</strong> Breite seiner Produktion aber strebt <strong>der</strong> Objektivis-<br />

mus, als »neue Sachlichkeit« seine Arriviertheit und Zeitgemäßheit<br />

geflissentlich betonend, die alten und vermeintlich ewigen Modelle<br />

gerade auf das aktuelle Material anzuwenden: das gleiche harmo-<br />

nisch-freizügige, zur Polyphonie prädisponierte, vom Ausdrucks-<br />

zwang emanzipierte Material, wie es aus <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Schön-<br />

bergschule hervorgeht und undialektisch vom Objektivismus über-<br />

nommen wird. Die vor-arbeitsteilige, statisch-naturhafte Formung<br />

eines höchst differenzierten, in sich alle Merkmale <strong>der</strong> Arbeitstei-<br />

lung aufweisenden Materials: das ist das Ideal des musikalischen<br />

Objektivismus.<br />

Damit drängen unabweislich aktuelle gesellschaftliche Analogien<br />

sich auf. Die ständisch-korporative Glie<strong>der</strong>ung eines hochindu-<br />

striellen Wirtschaftszusammenhanges: sie scheint in <strong>der</strong> objektivi-<br />

stischen <strong>Musik</strong> konform abgebildet, und wie im Faschismus über<br />

den >Organismus< <strong>der</strong> Gesellschaft eine ,Führerehe

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