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Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: Adorno, Theodor W ...

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770<br />

<strong>Musik</strong>soziologisches<br />

folkloristisch-befriedigte Konstatierung von >Urmotiven< ist man<br />

nicht hinausgelangt. Es käme aber gerade hier, wo die <strong>In</strong>varianten<br />

offen zutage liegen, weit weniger darauf an, sie herauszupräparieren,<br />

als sie funktionell zu deuten; zu zeigen, daß das gleiche, die<br />

identischen Triebstrukturen, denen die leichte <strong>Musik</strong> sich anpaßt,<br />

jeweils nach dem Stande des <strong>gesellschaftlichen</strong> Prozesses völlig<br />

verschiedene Bedeutungen annimmt; daß <strong>der</strong>selbe vulgäre Liedtyp<br />

etwa, mit dessen Profanität das junge Bürgertum des 17. und 18.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts die feudale Hierarchie enthüllen und verhöhnen<br />

mochte, heute gerade <strong>der</strong> Verklärung und Apologie <strong>der</strong> bürgerlich<br />

rationalen Profanwelt dient, <strong>der</strong>en Schreibmaschinen, aller Rationalisierung<br />

zum Trotz, sogar in <strong>Musik</strong> sich setzen und sich singen,<br />

also in >Unmittelbarkeit< verwandeln lassen; und es wären im<br />

Zusammenhang mit dem Funktionswechsel auch die Formverän<strong>der</strong>ungen<br />

aller Arten leichter <strong>Musik</strong> zu studieren. Wenn <strong>der</strong> apokryphe<br />

Charakter <strong>der</strong> leichten <strong>Musik</strong> ihre gesellschaftliche Erforschung<br />

erschwert, so würde sie erleichtert dadurch, daß eine autonome<br />

Dialektik <strong>der</strong> Produktion hier fortfallt; daß also die Enthüllung<br />

<strong>der</strong> Vulgärmusik nicht durch den technologischen Aufweis<br />

ihrer immanenten Wi<strong>der</strong>sprüche vermittelt zu sein braucht, weil<br />

sie, dem <strong>gesellschaftlichen</strong> Diktat gehorchend, <strong>gesellschaftlichen</strong><br />

Kategorien weit geringeren Wi<strong>der</strong>stand entgegensetzt als die selbständige<br />

Produktion und das gebildete <strong>Musik</strong>leben. Aber das<br />

dunkle Reich <strong>der</strong> leichten <strong>Musik</strong> ist noch unbetreten und über seine<br />

Topographie sollte um so weniger etwas präjudiziert werden, als<br />

die geringe Zahl <strong>der</strong> Grundtypen ebenso wie die drastische ideologische<br />

Funktion mancher Phänomene dazu verführen, die ganze<br />

Sphäre vorwegnehmend und ohne die gefor<strong>der</strong>te pragmatische<br />

Strenge aus ihrer ,Idee< auszukonstruieren - wodurch die gesellschaftiiche<br />

Deutung nicht bloß um die Zuverlässigkeit, son<strong>der</strong>n<br />

wahrscheinlich auch um die Fruchtbarkeit gebracht würde. Noch<br />

die überlegen-aperphafte Behandlung <strong>der</strong> leichten <strong>Musik</strong> bleibt ihr<br />

hörig, indem sie die zweideutige Ironie, mit <strong>der</strong> heutzutage die<br />

leichte <strong>Musik</strong> gleich vielen Filmen sich zu belächeln liebt, um<br />

unangefochten passieren zu dürfen, von ihr übernimmt und als<br />

Gegenstand des Spiels akzeptiert, was erst <strong>der</strong> unerbittlichen, vom<br />

Lachen ungerührten Betrachtung als die verhängnisvolle Macht des<br />

Truges vor Augen liegt, die in <strong>der</strong> leichten <strong>Musik</strong> sich konzentriert.<br />

<strong>Zur</strong> <strong>gesellschaftlichen</strong> <strong>Lage</strong> <strong>der</strong> <strong>Musik</strong> 771<br />

Ehe solche Betrachtung möglich wird, müssen fragmentarische<br />

Hinweise genügen.<br />

So alt die Spannung von Kunst- und Vulgärmusik ist: radikal wurde<br />

sie erst im Hochkapitalismus. <strong>In</strong> früheren Epochen hat die Kiinst-<br />

musik je und je durch Einbeziehung <strong>der</strong> Vulgärmusik ihren<br />

Umkreis zu erweitern, ihr Material zu regenerieren vermocht; die<br />

mittelalterliche Polyphonie, wenn sie sich ihre cantus firmi aus<br />

Volkslie<strong>der</strong>n holte, ebenso wie Mozart, als er die Guckkasten-<br />

Kosmologie <strong>der</strong> Zauberflöte mit <strong>der</strong> Vereinigung von Opera seria<br />

und Singspiel zustande brachte. Noch bei den Operettenmeistern<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, Offenbach und Johann Strauß, war die Diver-<br />

genz <strong>der</strong> beiden musikalischen Produktionsspharen zureichend<br />

beherrscht, Heute ist die Möglichkeit des Ausgleichs geschwunden<br />

und Versuche <strong>der</strong> Verschmelzung, wie sie manche beflissene<br />

Kunst-Komponisten zur Zeit <strong>der</strong> Jazzmode unternahmen, bleiben<br />

fruchtlos. Es gibt kein >Volk< mehr, dessen Gesang und Spiel von<br />

<strong>der</strong> Kunst aufgegriffen und sublimiert werden könnte; die Erschlie-<br />

ßung <strong>der</strong> Märkte und <strong>der</strong> bürgerliche Rationalisierungsprozeß<br />

haben die gesamte Gesellschaft auch ideologisch den bürgerlichen<br />

Kategorien unterstellt, und die Kategorien <strong>der</strong> gegenwärtigen Vul-<br />

gärmusik sind allesamt solche <strong>der</strong> bürgerlich-rationalen Gesell-<br />

schaft, die nur, um konsumfahig zu bleiben, in den Bewußt-<br />

seinsschranken gehalten sind, die die bürgerliche Gesellschaft den<br />

unterdrückten Klassen, aber auch sich selbst auferlegt. Das Material<br />

<strong>der</strong> Vulgärmusik ist das veraltete o<strong>der</strong> depravierte <strong>der</strong> Kunstmusik.<br />

Bei Johann Strauß noch ist es vom gleichzeitigen kunstmusikali-<br />

schen wohl durch das ,Genre

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