07.04.2013 Aufrufe

Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: Adorno, Theodor W ...

Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: Adorno, Theodor W ...

Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: Adorno, Theodor W ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

766<br />

<strong>Musik</strong>soziologisches<br />

Stelle <strong>der</strong> freien Konkurrenz ersehnt: wie es denn tatsächlich auf <strong>der</strong><br />

Festwiese nicht mehr zu einer Konkurrenz, son<strong>der</strong>n bloß <strong>der</strong>en<br />

Parodie in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen Junker und Beckmes-<br />

ser kommt. <strong>In</strong> dem ästhetischen Triumph Sachsens und des Junkers<br />

sind die Ideale des Privatiers und des Exporteurs noch gegeneinan-<br />

<strong>der</strong> ausbalanciert. Bei Richard Strauss, dem letzten bedeutenden<br />

bürgerlichen Komponisten, dessen <strong>Musik</strong> das Bürgertum konsu-<br />

miert, hat, wie bereits Ernst Bloch erkannte, die Weltwirtschaft die<br />

Oberhand gewonnen. <strong>In</strong>nerlichkeit und Pessimismus sind liqui-<br />

diert. Der >Schwung(, als Unternehmergeist, emanzipiert sich.<br />

Chromatik und Dissonanz, vordem Mittel <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> bür-<br />

gerlichen <strong>Musik</strong> aus einem vorgesetzten, irrationalen System und<br />

Träger einer Dialektik, die das Material angreift und verän<strong>der</strong>t,<br />

verlieren die revolutionär-dialektische Kraft und werden, wie<br />

Exotik und Perversität in den Sujets, zum bloßen Emblem welt-<br />

wirtschaftlicher Freizügigkeit; technisch beliebig als Kleckse ver-<br />

wandt, die in je<strong>der</strong> Sekunde vom gesunden Optimismus <strong>der</strong><br />

Quartsextakkorde getilgt werden können. Das Material, das in<br />

Straussens <strong>Musik</strong> schließlich hervortritt, ist gewissermaßen das<br />

Urmaterial aller bürgerlichen <strong>Musik</strong>, das diatonisch-tonale, das das<br />

Bürgertum trotz aller Strukturän<strong>der</strong>ungen in Wahrheit so treu fest-<br />

hielt wie das Prinzip <strong>der</strong> Profitrate und das bei Strauss, indem es<br />

sich die fremden Märkte Literatur, Orient, Antike und dix-hui-<br />

tihme unterwirft, mit einigem Zynismus auftritt. Die Divergenz<br />

zwischen dem phrasenhaft-vielberufenen >technischen Raffine-<br />

ment< Straussens, nämlich einer von außen gesetzten, nicht mate-<br />

rial-immanenten, son<strong>der</strong>n zufälligen und eigentlich irrationalen<br />

,Beherrschung< <strong>der</strong> Apparatur - und einer historisch unberührten,<br />

harmlosen, feuchtfröhlichen <strong>Musik</strong>substanz: diese Divergenz mag<br />

nicht bloß dem empirischen Bewußtseinsstand des großbürgerlich-<br />

industriellen Unternehmers um 1900 recht angemessen sein: sie<br />

zeichnet auch wie<strong>der</strong> deutlich die Selbstentzweiung des Bürgertums<br />

seiner ratio gegenüber ab, die es zugleich steigern und bremsen<br />

muß. Immerhin ist in <strong>der</strong> nachwagnerischen <strong>Musik</strong>situation, durch<br />

die gesellschaftliche Entwicklung und die immanente Dialektik des<br />

Wagnerschen Werkes, die Entfremdung von <strong>Musik</strong>material und<br />

Gesellschaft bereits so weit gediehen, daß eine Produktivkraft wie<br />

die Strauss’sche nicht umstandslos die materialen For<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>Zur</strong> <strong>gesellschaftlichen</strong> <strong>Lage</strong> <strong>der</strong> <strong>Musik</strong><br />

767<br />

ignorieren und <strong>der</strong> Gesellschaft sich gefügig zeigen konnte. <strong>In</strong><br />

seinen besten Werken, Salome und Elektra, ist zwar die Divergenz<br />

ebenfalls angelegt; in <strong>der</strong> Jochanaanmusik wie in den gesamten<br />

Schluflpartien <strong>der</strong> Elektra behauptet sich Banalität, aber am Anfang<br />

<strong>der</strong> Salome, im Elektramonolog und <strong>der</strong> Klytemnästraszene ver-<br />

selbständig sich gleichsam sein Kompositionsmaterial und stößt,<br />

gegen seinen Willen, hart an die Grenze des tonalen Raumes. Die<br />

Grenze ist zugleich die des Konsums: von beiden Werken fühlte das<br />

Publikum musikalisch wie stofflich sich chokiert und verweigerte<br />

ihnen, wenn schon nicht alle Opernhäuser, doch den sicheren Platz<br />

im Repertoire. Nach Strauss hat es Schluß gemacht und <strong>der</strong> Schluß-<br />

strich tangiert sein muvre. Aber er hat ihn selber gezogen. Von allen<br />

Komponisten des Bürgertums vielleicht <strong>der</strong> klassenbewußteste, hat<br />

er mit dem .Rosenkavalier«, seinem größten Erfolg, die materiale<br />

Dialektik selber von außen abgebrochen, die Diatonik von allen<br />

gefährlichen Fermenten gesäubert und den Jungen Herrn aus gro-<br />

ßem Hause, gerade eben noch eine Hosenrolle, mit <strong>der</strong> Tochter des<br />

Reichen Neugeadelten vermählt, während die Marschallin, Erbin<br />

Hans Sachsens und Isoldens zugleich, das Nachsehen hat und Trost<br />

im abstrakten Bewußtsein von Vergänglichkeit. Mit dem sacrifi-<br />

cium intellectus ans Konsumentenbewußtsein erlischt die Straussi-<br />

sche Produktivkraft: was auf den Rosenkavalier folgt, ist Kunstge-<br />

werbe. - Der Bruch von Produktion und Konsumtion, dem Strauss<br />

als Produzieren<strong>der</strong> zum Opfer fiel, hat zunächst nur in Deutsch-<br />

land die extreme Gestalt angenommen. <strong>In</strong> Frankreich, wo <strong>der</strong><br />

<strong>In</strong>dustrialisierungsprozeß min<strong>der</strong> weit getrieben war und damit die<br />

Antinomien <strong>der</strong> bürgerlichen Ordnung sich min<strong>der</strong> radikal aus-<br />

prägten, stimmen beide länger zusammen. Das musikalisch interes-<br />

sierte Bürgertum, im Besitz ausgiebigerer Freizeit und durch die<br />

Malerei des Impressionismus geschult, vermag <strong>der</strong> Bewegung wei-<br />

ter zu folgen; die <strong>Musik</strong>, nicht isoliert noch und nicht dialektisch in<br />

sich durch die Polemik zur Gesellschaft, kann ihre Mittel sublimie-<br />

ren, ohne sie substantiell anzugreifen. Noch Debussy, autonomer<br />

Künstler gleich den impressionistischen Malern, <strong>der</strong>en Technologie<br />

er in die musikalische transponiert, darf als Klang und Wohllaut<br />

Elemente <strong>der</strong> bürgerlichen Genuß- und selbst Salonmusik mitneh-<br />

men ins wählerischste artistische Verfahren. Freilich tritt bei ihm<br />

wie bei Strauss, auch theoretisch: im Dogma von den natürlichen

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!