Abschied von der Schreibschrift - Grundschulverband
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Deutschlandradio Kultur 05.08.2011<br />
An Hamburger Grundschulen wird künftig keine <strong>Schreibschrift</strong> mehr unterrichtet.<br />
<strong>Abschied</strong> <strong>von</strong> <strong>der</strong> <strong>Schreibschrift</strong><br />
Bayerischer Elternverband möchte, dass Grundschüler künftig in Druckschrift<br />
schreiben<br />
Ursula Walther im Gespräch mit Dieter Kassel<br />
Die Sprecherin des Bayerischen Elternverbandes, Ursula Walther, sieht im<br />
Verzicht auf die <strong>Schreibschrift</strong> keinen Kulturverfall. Die Druckschrift sei im<br />
Alltag viel weiter verbreitet. Laut einer Umfrage würden viele Eltern die<br />
<strong>Schreibschrift</strong> auch für nicht beson<strong>der</strong>s leserlich halten.<br />
Dieter Kassel: In Hamburg ist es ab Beginn des neuen Schuljahrs, das ist in einer<br />
knappen Woche, am nächsten Donnerstag schon, ab diesem neuen Schuljahr also<br />
möglich, an Grundschulen nur noch die sogenannte Grundschrift - eine schreibbare<br />
Variante <strong>der</strong> Druckschrift - zu unterrichten, und auf die Vermittlung einer echten<br />
<strong>Schreibschrift</strong> - das war bisher in aller Regel die sogenannte vereinfachte<br />
Ausgangsschrift - zu verzichten.<br />
Und wenn man in den letzten Wochen bundesweit in die Zeitungen geschaut hat,<br />
dann hatte man den Eindruck, dass deshalb ein Kulturkampf ausgebrochen ist, so<br />
erzürnt sind viele bei diesem Gedanken. Da liest man dann Stimmen <strong>von</strong><br />
Schriftexperten, Buchautoren, Schauspielern, Didakten und Kulturwächtern. Aber<br />
was sagen eigentlich die Eltern? Genau das hat <strong>der</strong> Elternverband Bayern wissen<br />
wollen, denn auch in Bayern ist <strong>der</strong> Verzicht auf das Vermitteln <strong>der</strong> <strong>Schreibschrift</strong><br />
grundsätzlich bald möglich. Am Telefon begrüße ich deshalb jetzt die Sprecherin<br />
des Bayerischen Elternverbands Ursula Walther. Schönen guten Morgen, Frau<br />
Walther!<br />
Ursula Walther: Guten Morgen, Herr Kassel!<br />
Kassel: Können sich denn die vielen Kritiker dieser Grundschrift auf die bayrischen<br />
Eltern verlassen? Sind die auch alle gegen einen Verzicht auf <strong>Schreibschrift</strong>?<br />
Walther: Hätten die Kritiker unsere erste kurze Umfrage im Vorstand miterlebt,<br />
dann hätten sie gesagt: Ja, die unterstützen uns! Die Reaktion war nämlich genau<br />
so: Oh Gott! Kulturverfall! Und als wir dann ein bisschen drüber gesprochen haben<br />
und nachgefragt haben, was, welche Kultur verfällt denn da gerade, da kamen die<br />
Eltern auf einmal drauf: Das ist möglicherweise doch ganz an<strong>der</strong>s! Und das war für<br />
uns <strong>der</strong> Grund, mal die Basis zu fragen. Wir konnten natürlich jetzt keine<br />
Erkenntnisse bereits erwarten, denn es kennt ja keiner die Grundschrift. Es hat ja<br />
keiner ein Kind, das die Grundschrift bereits in <strong>der</strong> Schule gehabt hätte. Wir haben<br />
also die Eltern gefragt: Wie stellt ihr euch vor, wie das sein würde, wenn eure<br />
Kin<strong>der</strong> nicht mehr gezwungen sind, die <strong>Schreibschrift</strong> zu lernen, son<strong>der</strong>n nur noch<br />
die Druckschrift lernen? Und da kamen ganz interessante Ergebnisse raus.<br />
Kassel: Was denn zum Beispiel?<br />
Walther: Die Tendenz ging zunächst dahin, zu vermuten, dass die Feinmotorik<br />
leidet. Und wenn man dann gefragt hat, wie schreiben denn eure Kin<strong>der</strong> jetzt, bei
<strong>der</strong> Druckschrift verwenden sie ja auch die Hand und den Stift. Ja, war dann die<br />
Reaktion, stimmt eigentlich. Also, die Feinmotorik könnte wohl nicht das Problem<br />
sein. Und die nächste Frage, die entscheidende, wenn es nämlich um eine leserliche<br />
Schrift geht, da waren alle Eltern einig: Das, was unsere Kin<strong>der</strong>, die älteren, bis<br />
jetzt gelernt haben in <strong>der</strong> Schule, leserlich ist das nicht! Und die haben ja alle<br />
<strong>Schreibschrift</strong> gelernt!<br />
Kassel: Haben denn die Eltern - und ich frage das aus einem sehr konkreten Grund<br />
- haben die Eltern denn wirklich begriffen, was mit diesen Verän<strong>der</strong>ungen, wie sie<br />
in Hamburg vorgesehen sind, wie sie in Bayern möglich sein werden, wie sie in<br />
Bremen, in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg vereinzelt getestet<br />
werden, was da wirklich passiert, haben die das begriffen?<br />
Walther: Die haben das sozusagen in <strong>der</strong> zweiten Runde begriffen. Die haben dann<br />
nämlich gemerkt: Es geht gar nicht drum, die <strong>Schreibschrift</strong> komplett abzuschaffen,<br />
son<strong>der</strong>n es geht nur drum, die nicht mehr zu erzwingen. Und dann kam die Idee:<br />
Na, das könnte man doch zum Beispiel als Wahlfach anbieten, man könnte die<br />
Alternative auch ... o<strong>der</strong> im Kunstunterricht, meinetwegen Kalligraphie o<strong>der</strong><br />
sonstige schöne Schriften; das alles ist ja nach wie vor möglich! Es geht ja nicht<br />
drum, das zu verbieten. Es geht nur einfach drum, eine Schrift zu haben, mit <strong>der</strong><br />
man gut und schnell leserlich schreiben kann.<br />
Kassel: Haben denn die Eltern Angst davor - weil darauf möchte ich hinaus -, das,<br />
was wir bisher an den meisten Schulen haben, ist die sogenannte vereinfachte<br />
Ausgangsschrift, alternativ dazu - das hat was mit <strong>der</strong> DDR-Geschichte zu tun - gibt<br />
es noch die sehr, sehr ähnliche Schulausgangsschrift. Man muss ja ein bisschen auf<br />
dieses Wort achten: Ausgangsschrift! Haben die wirklich verstanden, dass es darum<br />
geht, Menschen schreiben beizubringen, auf welche Art und Weise auch immer,<br />
damit die nachher ihren eigenen Schreibstil entwickeln?<br />
Walther: Das haben die dann schon - nach einer Weile haben sie es sozusagen<br />
begriffen und haben auch aus ihrer eigenen Erfahrung ... ich meine, wenn man die<br />
Eltern fragt: Wie schreibt ihr denn selber? Dann sagen die: Na ja, wenn ich schnell<br />
und leserlich schreiben muss, dann schreibe ich so was wie eine Mischung aus<br />
Druckschrift und <strong>Schreibschrift</strong>, das heißt, ich nehme drei Buchstaben, verbinde ich,<br />
und dann mache ich einen Absatz und dann verbinde ich wie<strong>der</strong> zwei Buchstaben.<br />
Im Grunde ist ihnen langsam klar, dass das einfach nur eine Vorstufe ist, um selber<br />
ne Handschrift zu entwickeln, und dass das nicht da<strong>von</strong> abhängt, ob ich das jetzt<br />
zwangsweise als verbundene Schrift in <strong>der</strong> Schule gelernt hab. Die haben auch ihre<br />
Kin<strong>der</strong> zum Beispiel befragt. Spontane Reaktion <strong>von</strong> Jugendlichen: Oh, wir ziehen<br />
nach Hamburg, dann müssen wir nicht diese blöde <strong>Schreibschrift</strong> schreiben!<br />
Kassel: Aber diese blöde <strong>Schreibschrift</strong> wird natürlich <strong>von</strong> einigen als Kulturgut<br />
hochgehalten. Schriftsteller zum Beispiel: Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff<br />
hat das Ganze in <strong>der</strong> "Welt", in <strong>der</strong> Tageszeitung "Die Welt" pure Idiotie genannt,<br />
<strong>der</strong> Verein deutsche Sprache sagt: Wenn die Grundschulen die Anweisung<br />
bekommen, die <strong>Schreibschrift</strong> nicht mehr lehren zu müssen, dann gibt es diese<br />
Schrift in einigen Jahrzehnten nicht mehr. Waren denn auch Eltern dabei, die solche<br />
Bedenken teilten?<br />
Walther: Am Anfang schon, aber sie haben dann eingesehen: Es schreibt ja kein<br />
Mensch mehr mit so einer Schrift. Ich glaube auch nicht, dass die Schriftstellerin<br />
ihre Werke mit dieser Schrift schreibt. Die schreibt wahrscheinlich mit einem<br />
Computer - vielleicht gibt es noch einige, die es nicht tun. Aber es kam öfter aus
<strong>der</strong> Elternschaft dann auch die Anregung: Ah, das ist ja klasse! Wenn wir jetzt die<br />
<strong>Schreibschrift</strong> nicht mehr als zeitfressenden Unterrichtsteil haben, dann könnten die<br />
ja - und das wäre genial! - einfach mal vernünftiges Tastaturschreiben lernen, dann<br />
würden die sich nicht <strong>der</strong>maßen quälen wie wir Erwachsenen, die dann vorm<br />
Rechner sitzen und nicht richtig schreiben können.<br />
Kassel: Das ist, auch wenn es vielleicht manchen überrascht, wahrscheinlich eine<br />
sehr naheliegende Idee. Ich darf aus dem Nähkästchen plau<strong>der</strong>n: Nach dem<br />
Gespräch mit dem Hamburger Schulsenator - das war vorgestern im Programm -<br />
hier geführt haben, haben viele auch im Haus gesagt: Na ja, aber wenn da Zeit ist,<br />
dann könnte man doch vielleicht mal - dauert ja nicht lange - zwei, drei Monate<br />
lang das Zehnfingersystem unterrichten, und dann können das die Schüler! Das<br />
heißt, auch ihre bayrischen Eltern wünschen sich da mehr Praxisnähe?<br />
Walther: Ja, auf jeden Fall, und es kam übrigens auch - das fand ich auch einen<br />
interessanten Aspekt - <strong>von</strong> verschiedenen Seiten <strong>der</strong> Hinweis, wenn wir zum<br />
Beispiel Legastheniker haben o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, die sich mit Lesen und Rechtschreiben<br />
schwertun, die haben es viel, viel leichter, Fehler an dem eigenen Geschriebenen zu<br />
erkennen, wenn das keine <strong>Schreibschrift</strong>, son<strong>der</strong>n eine Druckschrift ist, deswegen<br />
tun die sich auch am Rechner leichter.<br />
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit <strong>der</strong> Sprecherin des<br />
bayrischen Elternverbandes, Ursula Walther, über eine kleine, natürlich nicht ganz<br />
repräsentative Umfrage unter bayrischen Eltern, was die denn da<strong>von</strong> hielten, wenn<br />
man in Zukunft auf das Vermitteln echter <strong>Schreibschrift</strong> an den Schulen verzichtet<br />
und dafür nur die Grundschrift einführt. Es gibt, Frau Walther, was diesen Streit in<br />
Hamburg angeht, noch ein an<strong>der</strong>es Gegenargument, da wurde selbst <strong>der</strong><br />
Schulsenator auch ein bisschen nachdenklich, nämlich das Eltern oft sagen: Wir<br />
wollen nicht, dass mit unseren Kin<strong>der</strong>n ständig experimentiert wird. Seit Beginn des<br />
Pisadebakels wird ständig irgendwas geän<strong>der</strong>t und wie<strong>der</strong> zurückgenommen und<br />
jedes Schuljahr ist an<strong>der</strong>s. Gab es diese Bedenken bei Ihnen auch?<br />
Walther: Ja, die gibt es aber in je<strong>der</strong> Hinsicht, das bezieht sich nicht nur auf die<br />
Schrift. Die Eltern plädieren eigentlich immer dafür, dass möglichst viel Freiheit<br />
gegeben wird, und das sehen wir als Verband genau so. Wenn sich jetzt also eine<br />
Schule entschließt, eine Grundschule in Bayern entschließt, wir machen das eben in<br />
Zukunft mit <strong>der</strong> Grundschrift so, dann wäre es durchaus sinnvoll, wenn sich das<br />
Schulforum - so heißt bei uns das, was bei einigen an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n Schulkonferenz<br />
heißt - wenn sich das zusammensetzt, da sind die Eltern drin, da sind - wenn man<br />
Glück hat - auch in <strong>der</strong> Grundschule die Schüler drin, und dann beschießt<br />
gemeinsam: Machen wir das mit <strong>der</strong> Schrift so, o<strong>der</strong> machen wir das nicht? Und<br />
wenn das ein gemeinsamer Beschluss ist, dann ist das auch stressfrei!<br />
Kassel: Das heißt, so wie das übrigens in Hamburg tatsächlich gemacht wird, und<br />
zum Teil Nordrhein-Westfalen, dass man nur sagt: ihr könnt jede Schrift <strong>der</strong> Welt<br />
unterrichten, solange das funktioniert. Das ist das, was Sie sich wünschen, und<br />
nicht zum Beispiel in Bayern ein Gesetz, das ganz klar sagt: Es muss Grundschrift<br />
unterrichtet werden.<br />
Walther: Ja, genau das wäre das Richtige. Einfach genügend Freiheit geben, denn<br />
die Leute vor Ort wissen doch am Besten, was für sie passt.<br />
Kassel: Ich muss zugeben, dass <strong>der</strong> Grund, weshalb wir nun mit dem bayrischen<br />
Elternverband reden, ganz banal ist: Die an<strong>der</strong>en Elternverbände - meines Wissens
auch <strong>der</strong> in Hamburg - haben solche Umfragen nicht gemacht. Sind Sie eigentlich<br />
schnell drauf gekommen, o<strong>der</strong> haben Sie, so wie ich zum Beispiel, auch mal im<br />
Internet geguckt, was wissen wir denn wissenschaftlich über die Sache, und haben<br />
auch festgestellt: Eigentlich nichts?<br />
Walther: Genau so ist mir es gegangen. Ich wollte vor allem rauskriegen, weil wir<br />
unsere eigenen Erfahrungen natürlich eingebracht haben - ich habe noch mit <strong>der</strong><br />
lateinischen Ausgangsschrift gelernt, an<strong>der</strong>e im Vorstand haben gesagt, hey, ich<br />
habe gleich <strong>von</strong> Anfang an <strong>Schreibschrift</strong> geschrieben, an<strong>der</strong>e sagten, ich habe <strong>von</strong><br />
Anfang an Druckschrift geschrieben -, ich wollte einfach mal rauskriegen, wie das<br />
im Laufe <strong>der</strong> Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg in den verschiedenen Län<strong>der</strong>n<br />
überhaupt gehandhabt worden ist. Nichts! Sie finden nichts dazu! Sie müssen sich<br />
also hinsetzen, ins Archiv <strong>der</strong> Universitätsbibliothek gehen und alle Lehrpläne<br />
durchgucken o<strong>der</strong> so was. Und das ist viel Arbeit.<br />
Kassel: Ist eine faszinierende Tätigkeit! Es gibt eine kleine Studie aus <strong>der</strong> Schweiz,<br />
zum Trost für alle, die so ein bisschen in die Richtung geht: Man lernt schneller<br />
schreiben mit <strong>der</strong> Grundschrift, aber es ist eine einzige, und die ist nicht völlig auf<br />
Deutschland übertragbar. Haben Sie eigentlich Angst - weil das ist das beliebteste<br />
Argument <strong>der</strong> Gegner -, haben Sie eigentlich Angst, wenn Sie - ich weiß ja, Sie<br />
haben auch selber Kin<strong>der</strong>, obwohl die nicht mehr zur Grundschule gehen -, wenn<br />
Sie selber einen Einkaufszettel in Ihrer <strong>Schreibschrift</strong> schreiben, dass dann bald<br />
jüngere Kin<strong>der</strong> den Einkaufszettel nicht mehr lesen können?<br />
Walther: Ich schreibe nicht in <strong>Schreibschrift</strong>. Ich schreibe das ja in Druckschrift!<br />
Kassel: Aber dieser Kulturverlust, weil manche argumentieren damit: Die kommen<br />
dann aus <strong>der</strong> Grundschule und können auf <strong>der</strong> weiterführenden Schule nicht mehr<br />
lesen, was <strong>der</strong> Lehrer da an die Tafel schreibt.<br />
Walther: Ach, das können sie doch sowieso zum Teil nicht lesen. Wenn <strong>der</strong> Lehrer<br />
einen vernünftigen Tafelanschrieb macht, dann hat <strong>der</strong> sowieso gelernt, wie man<br />
das lesbar macht. Sehen Sie, ein Unternehmen, wenn es eine Präsentation macht<br />
und dann vernünftig auf die Flipchart schreiben, das kann man auch nicht - das<br />
muss man auch zusätzlich lernen! So was muss <strong>der</strong> Lehrer sowieso lernen. Man<br />
merkt ja richtig, wie schwierig die <strong>Schreibschrift</strong> ist, die gelernte, wenn man<br />
versucht, ein Rezept eines Arztes zu entziffern. Können Sie das? Ich nicht!<br />
Kassel: Ich habe mir extra einen Arzt gesucht, bei dem es geht, war aber nicht<br />
leicht! Eine pragmatische Meinung zur Frage: <strong>Schreibschrift</strong> o<strong>der</strong> die sogenannte<br />
Grundschrift? Aus Bayern, Ursula Walther war das, sie ist die Sprecherin des<br />
bayrischen Elternverbandes. Frau Walther, ich danke Ihnen sehr für dieses<br />
Gespräch!<br />
Walther: Gerne!