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Der Übergang von der Jungfrau zur Braut - Lenbachhaus

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<strong>Der</strong> <strong>Übergang</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong><br />

<strong>zur</strong> <strong>Braut</strong><br />

Le Passage de la Vierge à la Mariée, Juli–August 1912<br />

<strong>Der</strong> <strong>Übergang</strong> <strong>von</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> <strong>zur</strong> <strong>Braut</strong><br />

Öl auf Leinwand<br />

59,4 × 54 cm<br />

The Museum of Mo<strong>der</strong>n Art, New York


«Dies ist nicht die realistische<br />

Interpretation einer <strong>Braut</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n mein Konzept einer <strong>Braut</strong>,<br />

dargestellt durch ein Nebeneinan<strong>der</strong><br />

<strong>von</strong> mechanischen Elementen<br />

und Eingeweideformen.»<br />

Marcel Duchamp<br />

‹<strong>Der</strong> <strong>Übergang</strong> <strong>von</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong><br />

<strong>zur</strong> <strong>Braut</strong>› mutet zwar wie ein<br />

kubistisches Gemälde an, doch<br />

geht es in ihm nicht mehr in erster<br />

Linie um die für den Kubismus<br />

charakteristische Formzersplitterung.<br />

Vielmehr sind die einzelnen<br />

Formen durch Schattierungen<br />

plastisch herausgearbeitet. Fleisch-<br />

und metallfarbene Partien wirken<br />

wie miteinan<strong>der</strong> verschweißt:<br />

Mechanik und Eingeweide — so<br />

Duchamps Aussage. Im Gemälde<br />

‹<strong>Braut</strong>› fügt Duchamp die Formen<br />

noch fester zusammen und<br />

modelliert sie rundlicher: Die <strong>Braut</strong><br />

wird zum Motor, ja sogar zu<br />

dessen «Eingeweiden» im Inneren<br />

des Gehäuses. Duchamp selbst<br />

sprach über seine ‹<strong>Braut</strong>› als eine<br />

«Maschinerie», die «Liebesbenzin»<br />

produziere. Das Münchner Deutsche<br />

Museum zeigte bereits <strong>zur</strong> Zeit<br />

<strong>von</strong> Duchamps Besuch aufgeschnittene<br />

Motoren, um den Besuchern<br />

den Aufbau <strong>der</strong> Maschine anschaulich<br />

zu machen, o<strong>der</strong> setzte sie bei<br />

Vorführungen in Betrieb.<br />

Aufgeschnittener Zylin<strong>der</strong> des<br />

Viertakt-Hochdruck-Benzinmotors<br />

<strong>von</strong> Donat Banki, 1894,<br />

Deutsches Museum, München


Besichtigung <strong>der</strong> Baustelle<br />

des Deutschen Museums am<br />

23. August 1912 u.a. durch<br />

Baurat Oskar <strong>von</strong> Miller und die<br />

Architekten Gabriel <strong>von</strong> Seidl<br />

und Gelius.<br />

Mitte Juni 1965 besuchte<br />

Duchamp gemeinsam mit seiner<br />

Frau Teeny die Stadt München<br />

nach 53 Jahren ein zweites Mal.<br />

Auf dem Programm stand<br />

auch ein Besuch des Deutschen<br />

Museums. Marcel, so Teeny<br />

Duchamp, liebte diese Art <strong>von</strong><br />

«hands-on»-Museen. Schon<br />

1912 war das Deutsche Museum<br />

eine <strong>der</strong> Hauptattraktionen <strong>der</strong><br />

Stadt: Die Münchner Neuesten<br />

Nachrichten beschrieben es<br />

als «das rühmlich bekannte<br />

Deutsche Museum in München,<br />

dessen Besichtigung kein<br />

Besucher Münchens versäumen<br />

sollte». Am 18. Juni — kurz bevor<br />

Duchamp in München eintraf —,<br />

berichtet die Münchner Zeitung,<br />

dass <strong>der</strong> Rohbau des Turms<br />

des Deutschen Museums fertig<br />

gestellt wurde. Während des<br />

Baus standen für die Besucher<br />

die seit 1906 genutzten provisorischen<br />

Ausstellungsräume in<br />

<strong>der</strong> Maximilianstraße 26 <strong>zur</strong><br />

Verfügung, sowie seit 1909 eine<br />

Zweigstelle in <strong>der</strong> Zweibrückenstraße<br />

12.<br />

Für Technik hatte sich Duchamp<br />

bereits vor dem München-Besuch<br />

interessiert. Er war sehr stolz auf die<br />

«Erfindung» eines Bildelements im<br />

Jahr 1911, das bewegte Motive<br />

völlig an<strong>der</strong>s gestaltete als es bisher<br />

üblich war. Seine Einführung <strong>von</strong><br />

gepunkteten Linien und Pfeilen,<br />

die sich auch durch die Münchner<br />

Werke ziehen und an Elemente des<br />

technischen Zeichnens erinnern,<br />

empfand er als einen «dieser<br />

Momente, die den Erfin<strong>der</strong> für sein<br />

Warten und seine Irrtümer entschädigt...».<br />

Ingenieur und bilden<strong>der</strong><br />

Künstler, Erfin<strong>der</strong> und Techniker<br />

rücken bei Duchamp einan<strong>der</strong><br />

näher. Technik und Wissenschaften<br />

bedienen sich des Begriffs des<br />

«Meisterwerks» aus <strong>der</strong> bildenden<br />

Kunst. In dem Führer des Deutschen<br />

Museums, <strong>der</strong> 1912 erhältlich war,<br />

wird das Ziel <strong>der</strong> Institution formuliert:<br />

«Die historische Entwicklung<br />

<strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />

Forschung, <strong>der</strong> Technik und <strong>der</strong><br />

Industrie in ihrer Wechselwirkung<br />

darzustellen und ihre wichtigsten<br />

Stufen durch hervorragende und<br />

typische Meisterwerke zu veranschaulichen».<br />

Entsprechend wurden<br />

die Objekte in eleganten Vitrinen<br />

in Szene gesetzt o<strong>der</strong> auf Sockeln<br />

einzeln hervorgehoben. Ab 1913<br />

beginnt Duchamp industriell gefertigte<br />

Ojekte/Gegenstände durch<br />

Auswahl, Präsentation und Kontext<br />

in den Rang eines Kunstwerks zu<br />

erheben — eine Praxis, die er einige<br />

Jahre später als die Herstellung <strong>von</strong><br />

«Readymades» definierte.


Beson<strong>der</strong>s ‹<strong>Braut</strong>› erinnert nicht<br />

nur an das Innere einer Maschine,<br />

son<strong>der</strong>n zugleich an Organisches,<br />

an Eingeweideformen.<br />

Während Duchamps Münchner<br />

Zeit unterhielt <strong>der</strong> Bildhauer Emil<br />

Eduard Hammer, «Meister <strong>der</strong><br />

Wachsplastik und einziger Universalplastiker<br />

Deutschlands», ein<br />

Atelier in <strong>der</strong> Schwanthalerstraße.<br />

Hammers Präparate und Wachsfiguren<br />

wurden an medizinischen<br />

Fakultäten verwendet und in<br />

Ausstellungen, Jahrmärkten, ja<br />

sogar in Volksgärten gezeigt —<br />

erst nach dem Ersten Weltkrieg<br />

verarbeitete man sie zu Seife.


Im frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t und noch bis in die 1950er Jahre konnte man in München in<br />

Panoptiken und Wachsfigurenkabinetten als «Aufklärung verpackten Voyeurismus» erleben.<br />

«Weibliche Geschlechtsteile im jungfräulichen Zustande, das Jungfernhäutchen (Hymen)<br />

ist noch unverletzt» o<strong>der</strong> «Weibliche Geschlechtsteile im entjungferten Zustand» gab es in<br />

E.E. Hammers Internationalem Handelspanoptikum zu sehen. Nach dessen Schließung<br />

in Folge eines Brandes 1902 schuf Hammer eine große anatomische Ausstellung, für die<br />

er in 40 Jahren mehrere tausend Modelle schuf, und die dann 1931 verbrannte.


und Gabrielle Buffet-Picabia; Stadtarchiv München:<br />

Besichtigung <strong>der</strong> Baustelle des Deutschen Museums<br />

(Pett2-0063); Anatomische Kunstanstalt E.E. Hammer<br />

(Broschüre: Rückseite); Hannes König und Erich<br />

Ortenau, Panoptikum. Vom Zauberbild zum Gaukelspiel<br />

<strong>der</strong> Wachsfiguren, München 1962, S. 94: Atelier des<br />

Wachsbossierers E.E. Hammer, München,<br />

Schwanthalerstraße<br />

Dank an<br />

Steffen Bogen für wertvolle Informationen.<br />

© 2012 <strong>Lenbachhaus</strong> München und die Autoren<br />

© 2012 für die abgebildeten Werke <strong>von</strong> Marcel Duchamp:<br />

Succession Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn<br />

Fotonachweis:<br />

Centre Pompidou – MnamCci – Bibliothèque<br />

Kandinsky: Postkarte ‹Die <strong>Braut</strong>›; Deutsches Museum,<br />

München: Aufgeschnittener Zylin<strong>der</strong>, Motor (BN 8804),<br />

Abteilung Elektrotechnik, ca. 1912 (BN 33081);<br />

Museum of Mo<strong>der</strong>n Art, New York / Scala, Florenz:<br />

<strong>Der</strong> <strong>Übergang</strong> <strong>von</strong> <strong>der</strong> <strong>Jungfrau</strong> <strong>zur</strong> <strong>Braut</strong>; Philadelphia<br />

Museum of Art: <strong>Braut</strong>; Privatbesitz: Francis Picabia<br />

Mobiliar:<br />

‹Stuhlhockerbank› / ‹Hockerbank›<br />

Design Y<strong>von</strong>ne Fehling & Jennie Peiz / www.kraud.de<br />

Leihgeber Mobiliar:<br />

Designerinnen (Modelle 3, 4, 5, 6, 13, 15)<br />

Arp Museum Bahnhof Rolandseck<br />

Modelle 2, 3, 8, 10, 11, 12, 14)<br />

Leuchten:<br />

mit freundlicher Unterstützung <strong>von</strong><br />

Sammode Lichttechnik GmbH,<br />

www.sammode.de<br />

Diese Zeitung erscheint anlässlich <strong>der</strong> Ausstellung<br />

‹Marcel Duchamp in München 1912›<br />

31. März – 15. Juli 2012<br />

Herausgeber:<br />

Städtische Galerie im <strong>Lenbachhaus</strong><br />

und Kunstbau, München<br />

Texte:<br />

Susanne Böller, Thomas Girst, Matthias Mühling,<br />

Helena Pereña, Felicia Rappe<br />

Grafik Design und Ausstellungsdesign:<br />

Thomas Mayfried und Swantje Grundler<br />

Noch im Jahr <strong>der</strong> Entstehung des<br />

Gemäldes schenkte Duchamp<br />

‹<strong>Braut</strong>› seinem guten Freund, dem<br />

Maler Francis Picabia. In dessen<br />

Frau Gabrielle war er während<br />

seiner Münchner Zeit leidenschaftlich<br />

und unerfüllt verliebt.<br />

Das Thema «<strong>Braut</strong>» verweist auf<br />

den gesellschaftlich normierten<br />

Ort <strong>der</strong> Sexualität: die Konvention<br />

<strong>der</strong> Ehe. Vor allem in dieser<br />

Institution ist <strong>der</strong> «<strong>Übergang</strong><br />

zwischen <strong>Jungfrau</strong> und <strong>Braut</strong>»<br />

<strong>von</strong> Bedeutung.<br />

Diese Postkarte des Gemäldes<br />

‹<strong>Braut</strong>› war ein Geschenk <strong>von</strong><br />

Marcel Duchamp an Wassily<br />

Kandinsky. Duchamp besuchte<br />

ihn 1929 in Dessau am Bauhaus,<br />

wo Kandinsky damals tätig war.<br />

Er trug sich ins Gästebuch ein<br />

und blieb einen Tag. Kandinsky<br />

hat die kleine Bildpostkarte auf<br />

Karton geklebt und für seinen<br />

Unterricht am Bauhaus verwendet.<br />

Sie kam 1932 in <strong>der</strong> Stunde<br />

10 im II. Semester zum Einsatz —<br />

als eines <strong>von</strong> mehreren «bil<strong>der</strong>beispielen»<br />

<strong>der</strong> «neuen kunst»,<br />

so die Aufzeichnungen <strong>von</strong><br />

Kandinsky (für diesen Hinweis<br />

danken wir Angelika Weißbach).<br />

Kandinsky behielt sie bis zu<br />

seinem Tod 1944.


<strong>Braut</strong><br />

Mariée, August 1912<br />

<strong>Braut</strong><br />

Öl auf Leinwand<br />

89,5 × 55,6 cm<br />

Philadelphia Museum of Art:<br />

The Louise and Walter Arensberg Collection, 1950

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