aus / gezeichnet / zeichnen - Akademie der Künste
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eine Tafel, ein Brett o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erdboden, ein durchsichtiges Medium, die Rinde eines Baumes<br />
o<strong>der</strong> eine lichtempfindliche Platte sein. Dabei stellt sich im Zuge <strong>der</strong> zeichnerischen Umsetzung<br />
unwillkürlich ein Antagonismus ein, dessen Entfaltung und Beherrschung am Ende den<br />
Charakter des Ergebnisses bestimmen werden. Auf <strong>der</strong> einen Seite wird <strong>der</strong> Akt des Zeichnens<br />
offensichtlich von einem Impuls <strong>der</strong> Aneignung geleitet: Auf<strong>zeichnen</strong>, Be<strong>zeichnen</strong>, Ver<strong>zeichnen</strong><br />
sind nur explizite Ausprägungen jenes akquisitiven Interesses, das in sublimierter Form auch in<br />
den scheinbar rein sachlichen Studien <strong>der</strong> Künstler nach <strong>der</strong> Natur mitschwingt. In den Graffiti<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Großstädte nimmt diese Tendenz oft sogar aggressive Züge an: Das Besprühen<br />
von Häuserwänden, Zäunen und Verkehrsmitteln mit meist kryptischen Zeichen ist das<br />
imaginäre Äquivalent zur tatsächlichen Besetzung leerstehen<strong>der</strong> Häuser. Die Anonymisierung<br />
<strong>der</strong> Besitzverhältnisse provoziert die ihr gemäße, selbst namenlose Replik.<br />
Als eine allgemeine Kulturtechnik betrachtet, erschöpft sich die Zeichnung jedoch nicht in<br />
<strong>der</strong> Funktion eines Mittels <strong>der</strong> Aneignung. Gewinnt diese Orientierung die Oberhand, erstarrt<br />
<strong>der</strong> zeichnerische Duktus vielmehr, <strong>der</strong> instrumentalen Verkürzung zufolge, zur abgehobenen<br />
Manier o<strong>der</strong> Methode. Das gilt für die verfestigte „Handschrift“ in <strong>der</strong> hohen Kunst gen<strong>aus</strong>o wie<br />
für die Gleichförmigkeit des internationalen Graffiti-Idioms. Obwohl sich beim Zeichnen<br />
unweigerlich ein bestimmter, dem geübten Auge wie<strong>der</strong>erkennbarer Stil her<strong>aus</strong>bildet, <strong>der</strong> nach<br />
Ort, Zeit, Kultur und Individualität unterschiedlich sein mag, ist <strong>der</strong> qualitative Sprung, wenn das<br />
Verfahren in die bloße Anwendung eines Repertoires verfügbarer Zeichen umschlägt, doch<br />
unverkennbar. Denn das Interesse am Festhalten und Besitzergreifen behält seine Spannkraft<br />
und Fruchtbarkeit nur so lange, wie es durch einen Gegenzug wachgehalten wird. Die Unruhe<br />
des Suchens, die Offenheit für Entdeckungen und die Lust am Finden dessen, was man<br />
vielleicht gar nicht gesucht hat, sind ebenso wichtige, wenn nicht gar ursprünglichere Motive<br />
und Anreize des Zeichnens. Noch in den Anfängen <strong>der</strong> Kartographie ist erkennbar, dass <strong>der</strong>en<br />
Leistung und Wirkung weniger in <strong>der</strong> Vermessung <strong>der</strong> bekannten Welt als in <strong>der</strong> Entdeckung<br />
<strong>der</strong> „weißen Flecken“, <strong>der</strong> Erschließung <strong>der</strong> terra incognita lag. Und den künstlerischen Vorrang<br />
dieser an<strong>der</strong>en Seite des Zeichnens gegenüber dem Aspekt <strong>der</strong> Bemächtigung hat niemand<br />
schlagen<strong>der</strong> deutlich gemacht als Henri de Toulouse-Lautrec, <strong>der</strong>, das Ziel seiner Bemühungen<br />
vor Augen, <strong>aus</strong>gerufen haben soll: „Endlich kann ich nicht mehr <strong>zeichnen</strong>!“2<br />
Diese paradoxe Zuspitzung des Verhältnisses von Beherrschung und Erkundung,<br />
Kunstfertigkeit und kreativem Abenteuer im Akt des Zeichnens ist freilich eine Errungenschaft<br />
<strong>der</strong> europäischen Mo<strong>der</strong>ne. Zuvor waren Aneignung und Entdeckung nur die beiden<br />
komplementären, im besten Falle ununterscheidbar miteinan<strong>der</strong> verknüpften Seiten des einen,<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te übergreifenden Projekts <strong>der</strong> Renaissancetradition, das E. H. Gombrich als die<br />
„Eroberung <strong>der</strong> sichtbaren Welt“ bezeichnet hat. Die klassische Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Zeichenkunst in<br />
erster Entwurf (pensiero, première pensée), Studien nach <strong>der</strong> Natur und Kompositionsstudien<br />
etablierte eine Balance zwischen dem exploratorischen und dem besitzergreifenden Interesse,<br />
die schließlich im akademischen Ideal <strong>der</strong> Virtuosität – „Der kann <strong>zeichnen</strong>!“ – kulminierte.<br />
Ungeachtet aller stilistischen Verän<strong>der</strong>ungen, blieb dabei eine prinzipielle Einschätzung<br />
konstant: Zeichnen galt in <strong>der</strong> europäischen Tradition lange als eine zwar grundlegende, aber<br />
gleichwohl vorläufige, das endgültige Ergebnis in Malerei und Plastik lediglich vorbereitende<br />
Tätigkeit. Beide Orientierungen, die am akademischen Ideal des „Zeichnenkönnens“ und die<br />
praktische Ausrichtung an einem übergeordneten, die „Vorzeichnung“ überschreitenden<br />
Resultat, haben spätestens seit <strong>der</strong> Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts ihre Verbindlichkeit eingebüßt.<br />
Das Interesse an <strong>der</strong> Aneignung durch Zeichnen trat zunehmend zurück gegenüber dem<br />
ungesicherten Erforschen – vermutlich weil <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> „Eroberung“ sich auf an<strong>der</strong>e,<br />
wirksamere und weniger aufwendige Methoden <strong>der</strong> Besitzergreifung verlegte; und mit dieser<br />
Verlagerung des Gewichts zugunsten <strong>der</strong> offenen Recherche gewann die Zeichnung eine<br />
relative Autonomie als sich selbst genügende Übung.<br />
03__Kudielka