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Erdmagnetismus zur Zeit <strong>de</strong>r Seefahrer<br />

Das verän<strong>de</strong>rliche Erdmagnetfeld<br />

machte bereits <strong>de</strong>n Seeleuten<br />

vergangener Zeiten zu schaffen.<br />

So be<strong>de</strong>utete die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s<br />

Unterschieds zwischen wirklichem<br />

und magnetischem Nor<strong>de</strong>n ein<br />

ganz praktisches <strong>Pro</strong>blem bei <strong>de</strong>r<br />

Navigation. Die Naturphilosophen<br />

versuchten in<strong>de</strong>s die Beobachtungen<br />

mit immer komplexeren<br />

Mo<strong>de</strong>llen zu erklären. Die Verän<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>s Erdmagnetfel<strong>de</strong>s haben<br />

dabei ihren unverwischbaren<br />

Stempel in <strong>de</strong>n Aufzeichnungen<br />

<strong>de</strong>r Navigatoren und Forscher hinterlassen.<br />

Sie gestatten Geophysikern<br />

und Historikern auch heute<br />

noch wichtige Einsichten.<br />

Während Sie diese Worte<br />

lesen, umkreisen zwei<br />

mo<strong>de</strong>rne europäische Satelliten,<br />

Ørsted und Champ, unsere<br />

Er<strong>de</strong>. Ununterbrochen beobachten<br />

sie das Erdmagnetfeld mit höchster<br />

Genauigkeit und Auflösung. Sie<br />

führen fort, was 1979 mit Magsat<br />

begann, <strong>de</strong>m ersten Satelliten, <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n kompletten Vektor <strong>de</strong>s geomagnetischen<br />

Fel<strong>de</strong>s F (bestehend aus<br />

<strong>de</strong>n konstituieren<strong>de</strong>n Vektoren X,<br />

Y, und Z) messen konnte (Abb. 1).<br />

Seit<strong>de</strong>m sind <strong>de</strong>taillierte Karten vom<br />

Erscheinungsbild und <strong>de</strong>n Än<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>s Erdmagnetfelds erstellt wor<strong>de</strong>n,<br />

nicht nur an <strong>de</strong>r Oberfläche,<br />

son<strong>de</strong>rn auch in 2885 km Tiefe, also<br />

an <strong>de</strong>r Obergrenze <strong>de</strong>s äußeren Erdkerns,<br />

wo das Feld erzeugt wird. 1)<br />

Carl Friedrich Gauß war es, <strong>de</strong>r<br />

die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Grundlagen für<br />

die mo<strong>de</strong>rnen geophysikalischen<br />

Messungen gelegt hat, insbeson<strong>de</strong>re<br />

durch seine Beschreibung <strong>de</strong>s Erdmagnetfel<strong>de</strong>s.<br />

Er ging davon aus,<br />

dass sich das Magnetfeld aus einem<br />

skalaren Potential heraus entwickeln<br />

lässt. In<strong>de</strong>m er die an <strong>de</strong>r Erdoberfläche<br />

gemessenen magnetischen<br />

Komponenten nach Kugelfunktionen<br />

entwickelte, gelang es ihm, zwischen<br />

<strong>de</strong>n Anteilen <strong>de</strong>s Fel<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>m<br />

Inneren <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>nen aus<br />

<strong>de</strong>m Außenraum zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Gauß entwickelte auch das erste<br />

Totalmagnetometer. Zusammen mit<br />

Alexan<strong>de</strong>r von Humboldt und Wilhelm<br />

Weber begrün<strong>de</strong>te er das erste<br />

Historische Messungen <strong>de</strong>s Erdmagnetfelds boten nicht nur Grundlage für frühe Theorien<br />

zum Erdmagnetfeld, sie erlauben auch heute noch aufschlussreiche Erkenntnisse.<br />

Art R. T. Jonkers<br />

© 2004 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 1617-9439/04/1010-55<br />

Auszug <strong>de</strong>s Logbuchs <strong>de</strong>r King George vom 2. Juli 171<br />

Eintrag für 5 Uhr nachmittags verzeichnet eine Messu<br />

magnetischen Deklination. Rechts ist ein Kompass vo<br />

aus <strong>de</strong>m 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt zu sehen. (Quelle: The Britis<br />

National Maritime Museum, London)<br />

internationale Netzwerk erdmagnetischer<br />

Observatorien, <strong>de</strong>n Göttinger<br />

Magnetischen Verein. Erstmals<br />

wur<strong>de</strong> dabei nach standardisierten<br />

Verfahren und zu festgelegten Zeiten<br />

das Erdmagnetfeld gemessen.<br />

Das be<strong>de</strong>utet jedoch, dass die von<br />

(Geo)<strong>Physik</strong>ern gesammelten geomagnetischen<br />

Daten weniger als<br />

zweihun<strong>de</strong>rt Jahre ab<strong>de</strong>cken. Dies<br />

stellt durchaus ein großes <strong>Pro</strong>blem<br />

dar, <strong>de</strong>nn die relevanten Zeitskalen<br />

für Verän<strong>de</strong>rungen sind viel größer.<br />

Der Geodynamo, <strong>de</strong>r das Erdmagnetfeld<br />

erzeugt, entsteht durch<br />

Wechselwirkungen zwischen Konvektions-,<br />

Rotations- und elektromagnetischen<br />

Kräften. Das leiten<strong>de</strong>,<br />

strömen<strong>de</strong> Eisen, das diese komplexe<br />

Dynamik produziert, fließt mit<br />

einer Geschwindigkeit von 15 bis 30<br />

km pro Jahr. Daraus folgt, dass ein<br />

halber Konvektionszyklus im Mittel<br />

etwa ein halbes Jahrtausend dauert,<br />

viel länger also als spezielle geophysikalische<br />

Instrumente existieren.<br />

Um die wahre Natur <strong>de</strong>s Geodynamos<br />

verstehen zu können, braucht<br />

man somit viel längere, kontinuier-<br />

liche Datenserien <strong>de</strong>r Säkularvariation,<br />

d. h. <strong>de</strong>r Feldän<strong>de</strong>rungen in<br />

historischen Zeiträumen.<br />

Zwar fehlen uns Vektormessungen<br />

aus früheren Zeiten, doch<br />

hilft uns ein genauerer Blick in die<br />

Geschichte. Denn lange bevor Maxwells<br />

Gesetze die Grundlagen <strong>de</strong>r<br />

Vektorfel<strong>de</strong>r beschrieben, erklärten<br />

die Naturphilosophen das anziehen<strong>de</strong><br />

Potential <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> im Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>m Ferromagnetismus<br />

und auf Grundlage von Richtungsdaten<br />

(magnetische Deklination und<br />

Inklination, s. Abb. 1), die auf hoher<br />

See mit Schiffskompass und Inklinationsbussole<br />

gemessen wur<strong>de</strong>n.<br />

Alte Daten und Theorien<br />

Stellen Sie sich magnetische<br />

Messungen einmal wie kleine<br />

Lichtquellen vor. Der größte Teil<br />

<strong>de</strong>r historischen Zeiten wäre dann<br />

stockfinster, mit einem winzigen<br />

Funkeln, das kurz an je<strong>de</strong>r Stelle<br />

aufleuchtet, an <strong>de</strong>r eine Kompassmessung<br />

notiert wur<strong>de</strong>. Nur in einigen<br />

europäischen Großstädten wäre<br />

dann über die Jahrhun<strong>de</strong>rte hinweg<br />

<strong>Physik</strong> Journal<br />

3 (2004) Nr. 10<br />

Geschichte<br />

1) vgl. <strong>Physik</strong>al. Blätter,<br />

Oktober 2000, S. 33,<br />

www.pro-physik.<strong>de</strong>/Phy/<br />

pdfs/ger_luehr.pdf<br />

Dr. Art R. T. Jonkers,<br />

Department of Earth<br />

& Ocean Sciences,<br />

University of Liverpool,<br />

4 Brownlow<br />

Street, Liverpool,<br />

L69 3GP, Großbritannien<br />

55


Geschichte<br />

2) Unter „Besteck“<br />

versteht man <strong>de</strong>n nach<br />

geographischer Breite<br />

und Länge festgelegten<br />

Schiffsort; „gissen“ be<strong>de</strong>utet<br />

„schätzen, vermuten“.<br />

Man spricht also<br />

von einem „gegißtem<br />

Besteck” im Gegensatz<br />

zum „beobachteten“.<br />

Abb. 2:<br />

Mit <strong>de</strong>m Anwachsen<br />

<strong>de</strong>s weltweiten<br />

Seeverkehrs wuchs<br />

auch die Zahl <strong>de</strong>r<br />

Magnetfeld-Messungen.<br />

Dies wird<br />

sehr <strong>de</strong>utlich, wenn<br />

man sich etwa<br />

die geographische<br />

Verteilung <strong>de</strong>r<br />

Beobachtungen<br />

<strong>de</strong>r magnetischen<br />

Deklination zu<br />

verschie<strong>de</strong>nen Zeitperio<strong>de</strong>n<br />

anschaut.<br />

(zylindrisch längentreue<strong>Pro</strong>jektion).<br />

ein mehr o<strong>de</strong>r weniger beständiges<br />

Flackern wahrzunehmen; die übrigen<br />

Kontinente blieben beinahe<br />

völlig dunkel. Vom 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

an wür<strong>de</strong>n jedoch die Ozeane anfangen,<br />

einen sehr bemerkenswerten<br />

Anblick zu bieten, durch immer<br />

heller leuchten<strong>de</strong> Korridore im<br />

atlantischen und indischen Ozean<br />

sowie durch einzelne Spuren entlang<br />

ferner Küsten, Inseln umkreisend<br />

und manchmal <strong>de</strong>n Stillen<br />

Ozean überquerend (Abb. 2).<br />

In <strong>de</strong>r frühen Neuzeit war das<br />

Erdmagnetfeld noch rätselhafter als<br />

heute. Auf See war es gleichzeitig<br />

Freund und Feind: Einerseits leitete<br />

es <strong>de</strong>n nützlichen Magnetkompass,<br />

aber an<strong>de</strong>rerseits verwirrte es die<br />

Seefahrer auch durch ständige Än<strong>de</strong>rungen.<br />

Darum musste man zu<br />

je<strong>de</strong>r Zeit wachsam bleiben, zum<br />

Beispiel durch ständige Messungen,<br />

die dann im Schiffstagebuch notiert<br />

wur<strong>de</strong>n.<br />

Zusätzlich mussten bei <strong>de</strong>r<br />

Schiffssteuerung Zugeständnisse<br />

an die Na<strong>de</strong>lablenkung, das gegißte<br />

Besteck 2) und die Position <strong>de</strong>s<br />

wahren Nor<strong>de</strong>ns gemacht wer<strong>de</strong>n.<br />

An<strong>de</strong>rerseits konnte das seltsame<br />

Verhalten <strong>de</strong>r Na<strong>de</strong>l aber auch<br />

eine Möglichkeit bieten, die Nähe<br />

und Richtung geografischer Kennzeichen<br />

zu schätzen, etwa durch<br />

bestimmte Deklinationswerte zu<br />

gewissen Zeiten.<br />

Ab etwa 1600 stellten die von<br />

<strong>de</strong>n Ostindien-Gesellschaften o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Seeflotten angestellten Hydro-<br />

1510 – 1589<br />

1590 – 1699<br />

1700 – 1799<br />

W<br />

S<br />

Z<br />

I<br />

graphen in <strong>de</strong>n Heimathäfen große<br />

Tabellen mit Messwerten zusammen<br />

und aktualisierten ihre Segelanweisungen,<br />

um die Magnetfeldän<strong>de</strong>rungen<br />

zu berücksichtigen und so<br />

die Navigation zu verbessern. Die<br />

seefahren<strong>de</strong>n Großmächte sammelten<br />

dadurch ein riesiges Archiv von<br />

Daten, die einen signifikanten Teil<br />

<strong>de</strong>r Ozeane über<strong>de</strong>ckten. Es waren<br />

hauptsächlich diese Daten, die eine<br />

große Zahl von Theorien hervorbrachten,<br />

welche die Ursachen <strong>de</strong>r<br />

verblüffen<strong>de</strong>n Phänomene <strong>de</strong>s Erdmagnetfelds<br />

erklären sollten.<br />

Die Entwicklung <strong>de</strong>r „geomagnetischen<br />

Disziplin“ vom Mittelalter<br />

bis zum frühen neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

lässt sich dabei in vier, sich<br />

teilweise überschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Phasen<br />

von wachsen<strong>de</strong>r Komplexität aufteilen<br />

(Abb. 3):<br />

Bis ins 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt ging man<br />

davon aus, dass das Erdmagnetfeld<br />

von einem „axialen Dipol“ erzeugt<br />

wird, also gewissermaßen von einem<br />

Stabmagneten in Richtung <strong>de</strong>r<br />

Erd-Drehachse.<br />

Abgelöst wur<strong>de</strong> dies von <strong>de</strong>r Vorstellung<br />

„geneigter Dipole“ (eines<br />

o<strong>de</strong>r mehrerer) mit einem gewissen<br />

Winkel zur Drehachse.<br />

Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Säkularvariation<br />

1634 kündigte die dritte Phase<br />

an, die (sehr langsam um die geographischen<br />

Pole) „präzessieren<strong>de</strong><br />

Dipole“ einführte.<br />

Schließlich, ab Mitte <strong>de</strong>s 18.<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r<br />

diametral entgegengesetzten Pole<br />

ausdrücklich aufgegeben, was <strong>de</strong>n<br />

kurzen Aufstieg und Untergang „getrennter<br />

Dipole“ einleitete.<br />

Vom Himmel ...<br />

Die Polarität und Orientierung<br />

<strong>de</strong>s Erdmagnetfel<strong>de</strong>s und ihr praktischer<br />

Nutzen wur<strong>de</strong>n zuerst im Mittelalter<br />

ent<strong>de</strong>ckt: Vom 13. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

an benutzten sowohl asiatische<br />

als auch europäische Navigatoren<br />

bereits häufig <strong>de</strong>n Magnetkompass,<br />

zumeist dann, wenn be<strong>de</strong>ckter Himmel<br />

astronomische Beobachtungen<br />

verhin<strong>de</strong>rte. Die Eisenna<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s<br />

Kompasses trieb dabei zuerst in einer<br />

Wasserschale und musste häufig<br />

mit einem Segelstein „gestrichen“<br />

wer<strong>de</strong>n. Im Jahre 1269 beschrieb<br />

<strong>de</strong>r französische Ingenieur De<br />

Maricourt (Peregrinus) <strong>de</strong>n ersten<br />

trockenen Amplitu<strong>de</strong>nkompass, bei<br />

<strong>de</strong>m die Na<strong>de</strong>l auf einer Pinne in<br />

einem hölzernen o<strong>de</strong>r metallischen<br />

Gehäuse balancierte, ausgestattet<br />

mit einem Gradmesser und einem<br />

Visier. Als nächster Schritt folgte im<br />

14. Jahrhun<strong>de</strong>rt die Kompassrose.<br />

Auf dieser waren die 8, 16, o<strong>de</strong>r<br />

32 Kompassstriche dargestellt, mit<br />

<strong>de</strong>nen sich alle Himmelsrichtungen<br />

gleichzeitig i<strong>de</strong>ntifizieren ließen.<br />

In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />

blieb <strong>de</strong>r Unterschied zwischen<br />

<strong>de</strong>m magnetischen und <strong>de</strong>m wahren<br />

Nordpol unbemerkt – außer als ein<br />

Fehler <strong>de</strong>s Instruments o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Messung. Gemäß <strong>de</strong>r aristotelischen<br />

Kosmologie ging man davon aus,<br />

dass die Na<strong>de</strong>l die unverän<strong>de</strong>rliche<br />

Perfektion <strong>de</strong>r „supralunaren Sphäre“<br />

respektierte. Die Magnetpole<br />

fielen also mit <strong>de</strong>n Himmelspolen<br />

zusammen, die einzigen Fixpunkte<br />

<strong>Physik</strong> Journal<br />

3 (2004) Nr. 10<br />

56 © 2004 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim<br />

Y<br />

Abb. 1:<br />

Komponenten <strong>de</strong>s geomagnetischen Fel<strong>de</strong>s<br />

im topozentrischen Bezugssystem:<br />

Die Vektoren X, Y, und Z sind die östliche,<br />

nördliche bzw. radiale Komponente;<br />

H ist <strong>de</strong>r horizontale Vektor, und F <strong>de</strong>r<br />

komplette magnetische Vektor (Totalintensität).<br />

Die Deklination D entspricht <strong>de</strong>m<br />

horizontalen Winkel zwischen Y und H;<br />

die Inklination I <strong>de</strong>m vertikalen Winkel<br />

zwischen H und F.<br />

X<br />

D<br />

N<br />

H<br />

F<br />

E


in einem sich täglich um die Er<strong>de</strong><br />

drehen<strong>de</strong>n Universum. Dadurch<br />

wären <strong>de</strong>r magnetische und <strong>de</strong>r<br />

wahre Meridian immer <strong>de</strong>rselbe<br />

und die Deklination somit überall<br />

null. Die Inklination wür<strong>de</strong><br />

als eine Funktion geographischer<br />

Breite variieren. Einige Gelehrte<br />

in <strong>de</strong>r Renaissance schrieben die<br />

Magnetkraft jedoch <strong>de</strong>m Polarstern<br />

zu, ausgehend von <strong>de</strong>r klassischen<br />

Vorstellung einer „Sympathie“,<br />

durch die Kompass und Stern auf<br />

geheimnisvolle Weise miteinan<strong>de</strong>r<br />

verbun<strong>de</strong>n wären.<br />

Die erste implizite Bestätigung<br />

dafür, dass die Deklination existierte,<br />

fin<strong>de</strong>t man auf <strong>de</strong>utschen tragbaren<br />

Sonnenuhren aus <strong>de</strong>m zweiten<br />

Viertel <strong>de</strong>s 15. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Augsburger<br />

und Nürnberger Handwerker<br />

markierten lokale Na<strong>de</strong>lablenkungen<br />

neben einem kleinen Kompass<br />

im Fuß <strong>de</strong>s Instruments, um die<br />

Sonnenuhren unterwegs auf <strong>de</strong>n<br />

geographischen Meridian auszurichten.<br />

Ähnliche Zeichen erschienen in<br />

dieser Zeit auch neben <strong>de</strong>n Windrosen<br />

auf manchen <strong>de</strong>utschen Karten<br />

(z. B. von Etzlaub, Waldseemüller,<br />

Ziegler und Murer). Es dauerte jedoch<br />

noch ein weiteres Jahrhun<strong>de</strong>rt,<br />

bevor es unwi<strong>de</strong>rlegbar klar wur<strong>de</strong>,<br />

dass das Erdmagnetfeld räumlich<br />

variiert und Kausalhypothesen notwendig<br />

sind, um <strong>de</strong>n Geomagnetismus<br />

global beschreiben zu können.<br />

Mit <strong>de</strong>m Aufkommen <strong>de</strong>r Navigation<br />

auf offener See, ohne<br />

sichtbares Land, Lotungen o<strong>de</strong>r<br />

eine praktische Metho<strong>de</strong> zur Messung<br />

<strong>de</strong>r Länge, wur<strong>de</strong> es für die<br />

Seefahrer unumgänglich, sich mehr<br />

<strong>de</strong>nn je auf ihren Kompass und ihre<br />

astronomischen Beobachtungen<br />

zu verlassen. Als die Portugiesen<br />

und Spanier <strong>de</strong>n Atlantischen und<br />

Indischen Ozeanen erforschten,<br />

notierten und verglichen sie <strong>de</strong>shalb<br />

sorgfältig ihre Kompasse. Dadurch<br />

fan<strong>de</strong>n sie heraus, dass die Na<strong>de</strong>l<br />

auf weiten Strecken <strong>de</strong>s Atlantiks<br />

nach Osten abwich („osterte“), während<br />

in indischen Gewässern eine<br />

variable „Westerung“ die Regel war.<br />

Außer<strong>de</strong>m stellten sie dabei fest,<br />

dass die Deklination in <strong>de</strong>r Nähe<br />

von Inseln im Mittel atlantik (etwa<br />

die Kanaren und Kap Ver<strong>de</strong>), Südafrika,<br />

Südostasien und Mittelamerika<br />

verschwand.<br />

Da die lokale Deklination direkt<br />

auf <strong>de</strong>n Magnetpol hinweisen sollte,<br />

<strong>de</strong>uten diese frühen Daten anschaulich<br />

auf einen Dipol mit einem<br />

Winkel zur Drehachse <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> hin.<br />

Mit Hilfe <strong>de</strong>r sphärischen Trigo-<br />

© 2004 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim<br />

nometrie lieferten zwei bestimmte,<br />

geographisch weit entfernte Deklinationen<br />

eine Kreuzpeilung zweier<br />

Großkreise; die zwei Schnittpunkte<br />

wären <strong>de</strong>mnach die Positionen <strong>de</strong>r<br />

Magnetpole. Sobald diese bekannt<br />

waren, ließ sich mit einer ähnlichen<br />

Berechnung die Länge bestimmen,<br />

bei <strong>de</strong>r die Breite und Deklination<br />

gemessen wur<strong>de</strong> – so dachte man<br />

zumin<strong>de</strong>st. Mit an<strong>de</strong>ren Worten:<br />

Bei einem feststehen<strong>de</strong>n, geneigten<br />

Dipol wür<strong>de</strong> ein Weltreisen<strong>de</strong>r auf<br />

gleich bleiben<strong>de</strong>r Breite seine Kompassna<strong>de</strong>l<br />

in Abhängigkeit von <strong>de</strong>r<br />

geografischen Länge abgelenkt sehen.<br />

Nur auf <strong>de</strong>m Großkreis durch<br />

die Magnetpole und geographischen<br />

Pole gäbe es dann null Grad Deklination.<br />

In <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Azoren<br />

wur<strong>de</strong>n solche Nullwerte tatsächlich<br />

beobachtet und somit als ein „natürlicher“<br />

Nullmeridian interpretiert.<br />

Solche geomagnetischen Überlegungen<br />

haben die frühneuzeitliche<br />

Kartografie stark beeinflusst.<br />

Die I<strong>de</strong>e eines geneigten Dipols<br />

ließ sich auch mit <strong>de</strong>r älteren Vorstellung<br />

von einem „magnetischen<br />

Berg“ in Einklang bringen. Diesen<br />

dachte man sich als großen Felsen,<br />

Berg o<strong>de</strong>r auch als Insel aus Magnetstein,<br />

manchmal in arktische Regionen<br />

lokalisiert. Der Magnetberg<br />

sollte nicht nur Kompasse auf <strong>de</strong>r<br />

ganzen Welt beeinflussen, son<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>r Legen<strong>de</strong> nach auch in <strong>de</strong>r Lage<br />

sein, ganze Schiffe, die zu nahe<br />

daran vorbeisegelten, anzuziehen,<br />

ja sogar festzuhalten o<strong>de</strong>r zu versenken,<br />

in<strong>de</strong>m seine magnetische<br />

Anziehung alle eisernen Nägel<br />

aus <strong>de</strong>m Schiffsholz zog. Mehrere<br />

Gelehrte haben versucht, die präzisen<br />

Koordinaten dieses Berges zu<br />

berechnen, unter ihnen <strong>de</strong>r Kartograph<br />

Gerhard Mercator und <strong>de</strong>r<br />

Astronom Johannes Kepler.<br />

Der Übergang vom himmlischen<br />

zum irdischen Magnetismus erhielt<br />

weitere Unterstützung von <strong>de</strong>r magnetischen<br />

Inklination (s. Abb. 1). Im<br />

qualitativen Sinn war <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche<br />

Mathematiker und Instrumentenhersteller<br />

Georg Hartmann 1544 ihr<br />

Ent<strong>de</strong>cker; es dauerte aber noch bis<br />

1580, bis <strong>de</strong>r Londoner Kompassmacher<br />

Robert Norman die erste<br />

Inklinationsbussole konstruierte,<br />

d. h. eine sich in <strong>de</strong>r Vertikalebene<br />

drehen<strong>de</strong> magnetische Na<strong>de</strong>l, mit<br />

<strong>de</strong>r die ersten quantitativen Beobachtungen<br />

gemacht wur<strong>de</strong>n. Die<br />

Inklination („Dip“) wur<strong>de</strong> kurzeitig<br />

auch als nützlich für die praktische<br />

Navigation angesehen. Etwa 1598<br />

nahm <strong>de</strong>r Mathematiker Henry<br />

Briggs einen Axialdipol an um eine<br />

Dip-Tabelle für je<strong>de</strong>n Breitengrad zu<br />

konstruieren (Abb. 4).<br />

Die dauerhafte Auswirkung <strong>de</strong>r<br />

Inklination war jedoch die wachsen<strong>de</strong><br />

Überzeugung, dass die Quelle<br />

<strong>de</strong>s irdischen Fel<strong>de</strong>s tief im Planeten<br />

(statt auf o<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>r Kruste)<br />

zu suchen war.<br />

Die Betrachtung zusätzlicher<br />

Orte (o<strong>de</strong>r Meridiane), an <strong>de</strong>nen<br />

die Na<strong>de</strong>l nicht abgelenkt wur<strong>de</strong>,<br />

brachte iberische und nie<strong>de</strong>rländische<br />

Kosmographen dazu, komple-<br />

a N<br />

b<br />

S<br />

c d<br />

N<br />

S<br />

xere Anordnungen von zwei o<strong>de</strong>r<br />

sogar drei sich neigen<strong>de</strong>n Dipolen<br />

zu postulieren, die in regelmäßig<br />

wechseln<strong>de</strong>n Globussektoren von<br />

Osterung und Westerung resultierten.<br />

Eine ganz an<strong>de</strong>re Gruppe von<br />

Hypothesen, entwickelt von Steuerleuten,<br />

schlug ein nur lokal gültiges<br />

Verhältnis zwischen <strong>de</strong>n Än<strong>de</strong>rungen<br />

in Breite und Deklination vor.<br />

Die Vielfalt <strong>de</strong>r Erklärungen im<br />

16. Jahrhun<strong>de</strong>rt zeigt, zusammen<br />

mit <strong>de</strong>r geringen Anzahl <strong>de</strong>r Beobachtungen,<br />

<strong>de</strong>n schlechten Karten<br />

(Unsicherheit <strong>de</strong>r Länge) und <strong>de</strong>m<br />

Mangel an standardisierten Instrumenten<br />

und Beobachtungsmetho<strong>de</strong>n,<br />

eine ausreichend breite Fehlerspanne,<br />

um die große Zahl <strong>de</strong>r<br />

Hypothesen zu tolerieren.<br />

Mit <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>r überseeischen<br />

Han<strong>de</strong>lsgesellschaften<br />

und besseren Instrumenten stiegen<br />

<strong>Physik</strong> Journal<br />

3 (2004) Nr. 10 57<br />

S<br />

Geschichte<br />

Abb. 3:<br />

Die vier Phasen geomagnetischer Hypothesen, die auf <strong>de</strong>r Vorstellung<br />

einer direkten Anziehung <strong>de</strong>r Pole beruhen: axialer statischer<br />

Dipol (a); geneigter statischer Dipol (b); präzessieren<strong>de</strong>r<br />

dynamischer Dipol (c); getrennte dynamische Dipole (d).<br />

N<br />

N<br />

S


Geschichte<br />

Abb. 4:<br />

Die Inklination in<br />

Abhängigkeit von<br />

<strong>de</strong>r Breite, nach<br />

<strong>de</strong>r Dip-Tabelle<br />

von Henry Briggs<br />

(1598).<br />

Qualität und Quantität geomagnetischer<br />

Daten im 17. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

beträchtlich. Außer<strong>de</strong>m war diese<br />

Perio<strong>de</strong> Zeuge mehrerer offizieller<br />

Anstrengungen, die Beobachtungen<br />

zu verarbeiten und zu veröffentlichen,<br />

z. B. durch die neu gegrün<strong>de</strong>ten<br />

wissenschaftlichen Gesellschaften<br />

(Royal Society, Académie<br />

Royale <strong>de</strong>s Sciences) und <strong>de</strong>n<br />

Inklination<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90<br />

Breite<br />

jesuitischen Or<strong>de</strong>n. Deklinationen<br />

und Inklinationen erschienen auch<br />

in gedruckten Zusammenstellungen,<br />

manchmal geordnet nach <strong>de</strong>r Breite<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Länge, gleichermaßen<br />

zum Nutzen von Seefahren<strong>de</strong>n<br />

und Gelehrten. Dieser Strom von<br />

Messungen von nah und fern zeigte<br />

immer <strong>de</strong>utlicher, wie unzulänglich<br />

und vereinfacht das Mo<strong>de</strong>ll eines<br />

geneigten Dipols war.<br />

Die sich entfalten<strong>de</strong> geomagnetische<br />

Disziplin suchte darum emsig<br />

nach einer passen<strong>de</strong>n Alternative,<br />

unter <strong>de</strong>m wachsen<strong>de</strong>n Einfluss<br />

gegensätzlicher Naturphilosophien.<br />

Dies begann 1600 mit <strong>de</strong>r Veröffentlichung<br />

von „De Magnete“,<br />

geschrieben vom elisabethanischen<br />

Hofarzt William Gilbert. Dieses<br />

Buch enthält die berühmte (falsche)<br />

Folgerung: „Die Er<strong>de</strong> ist selber ein<br />

großer [Ferro-]Magnet.“ Gilbert<br />

dachte, dass das grundlegen<strong>de</strong><br />

Feld eines Axialdipols von <strong>de</strong>r<br />

Abb. 5:<br />

Mo<strong>de</strong>llierte magnetische Deklination an <strong>de</strong>r Erdoberfläche für<br />

das Jahr 1650: blau (positiv) = Ostabweichung; orange (negativ)<br />

= Westabweichung. (Konturintervall = 5 Grad, zylindrisch-längentreue<br />

<strong>Pro</strong>jektion.)<br />

Anziehung <strong>de</strong>r eisenreichen kontinentalen<br />

Landmassen und an<strong>de</strong>rer<br />

kleinerer lokaler Quellen verzerrt<br />

wur<strong>de</strong>. Dieses Mo<strong>de</strong>ll, das einen<br />

einzigen arktischen Magnetpol mit<br />

<strong>de</strong>r global unterschiedlichen Kruste<br />

kombinierte, verzichtete somit auf<br />

je<strong>de</strong> Regularität.<br />

... in die Hölle<br />

Im kosmologischen Rahmen<br />

nahm Gilbert an, dass die geomagnetische<br />

Kraft für die Ausrichtung<br />

und die tägliche und jährliche Drehung<br />

<strong>de</strong>r Planeten verantwortlich<br />

sei. Diese Meinung brachte ihn in<br />

Konflikt mit jesuitischen Autoren<br />

wie Nicolo Cabeo (1629), Athanasius<br />

Kircher (1639) und Jacques<br />

Grandamy (1645), die statt<strong>de</strong>ssen<br />

behaupteten, dass Erdmagnetismus<br />

die Er<strong>de</strong> im Zentrum <strong>de</strong>r Schöpfung<br />

festhielte. Sie postulierten völlig an<strong>de</strong>re<br />

magnetische Quellen, wie zum<br />

Beispiel quasi-organische magnetische<br />

A<strong>de</strong>rn, Eisenerzminen, unterirdische<br />

Hitze sowie chemische <strong>Pro</strong>zesse.<br />

Über die Zusammensetzung<br />

<strong>de</strong>s tiefen Erdinneren wur<strong>de</strong> auch<br />

an an<strong>de</strong>ren Stellen viel spekuliert:<br />

Galileo Galilei postulierte einen<br />

riesigen Druck im Kern, während<br />

an<strong>de</strong>re sich einen Höllenofen vorstellten,<br />

<strong>de</strong>r heißen Schwefeldampf<br />

durch ein ausgebreitetes System von<br />

Höhlen trieb.<br />

Die erste Serie von Beobachtungen,<br />

die Anlass zur Vorstellung gab,<br />

dass sich das Erdmagnetfeld auch<br />

über (längere) Zeiten verän<strong>de</strong>rte,<br />

wur<strong>de</strong> in Ost-London von William<br />

Borough, John Marr, Edmund<br />

Gunter und Henry Gellibrand<br />

vorgenommen. Es war schließlich<br />

Gellibrand, <strong>de</strong>r alle Aufzeichnungen<br />

1635 veröffentlichte und daraus auf<br />

eine wahrnehmbare Abnahme („a<br />

sensible diminution“) <strong>de</strong>r Deklination<br />

in London von etwa sieben Grad<br />

weniger nach Osten über die Zeit<br />

1580–1634 schloss (s. Tabelle). Die-<br />

se wissenschaftliche Folgerung war<br />

eine <strong>de</strong>r ersten, die auf Mittelwerten<br />

von Beobachtungsserien gegrün<strong>de</strong>t<br />

war, eine Technik, mit <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r<br />

Messfehler stark verringerte.<br />

Es dauerte etwa zwei Jahrzehnte<br />

bevor die Säkularvariation von <strong>de</strong>n<br />

meisten Gelehrten in Europa akzeptiert<br />

wur<strong>de</strong>, eine Entwicklung, die<br />

eine Neubeurteilung aller früheren<br />

Arbeiten erfor<strong>de</strong>rte. Alte gesammelte<br />

Messungen ohne Datierung wur<strong>de</strong>n<br />

plötzlich wertlos, ebenso alle<br />

zeitunabhängigen geomagnetischen<br />

Hypothesen. Damit wur<strong>de</strong> die dritte<br />

Phase dieser (<strong>Pro</strong>to-)Wissenschaft<br />

eingeleitet, die nun eine zeitliche<br />

Dimension enthielt. In Frankreich<br />

postulierten die Naturphilosophen<br />

René Descartes und Pierre Gassendi,<br />

dass die magnetische Kraft<br />

<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> von turbulenten Wirbeln<br />

winziger magnetischer Teilchen, die<br />

durch die Atmosphäre und das Erdinnere<br />

hindurchgingen, produziert<br />

wür<strong>de</strong>. In England wur<strong>de</strong> diese so<br />

genannte „magnetic philosophy“<br />

circa 1680 in umfassen<strong>de</strong>ren Theorien<br />

<strong>de</strong>s Äthers untergebracht.<br />

In <strong>de</strong>r Royal Society (London)<br />

schlugen Henry Bond (1639), Henry<br />

Phillippes (1659), Robert Hooke<br />

(1674), Peter Perkins (1680), Edmond<br />

Halley (1683 and 1692) und<br />

Edward Harrison (1696) inzwischen<br />

Dipole vor, die in hun<strong>de</strong>rten von<br />

Jahren um die Drehachse <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

präzessierten. Zusätzlich zu <strong>de</strong>n<br />

Parametern, die benötigt wur<strong>de</strong>n,<br />

um diese Mo<strong>de</strong>lle mathematisch<br />

zu <strong>de</strong>finieren (Perio<strong>de</strong>, Drehrichtung,<br />

Breite und Länge <strong>de</strong>s Dipols<br />

zu bestimmten Zeiten), fügten<br />

manche Leute auch physikalische<br />

Grundlagen hinzu, z. B. Halleys<br />

magnetischer Kern, <strong>de</strong>r bezogen auf<br />

die Kruste rotiert, mit einer flüssigen<br />

o<strong>de</strong>r gasförmigen Mittelschicht<br />

dazwischen. Noch mehr Parameter<br />

brauchte man für die Multipolvariante<br />

<strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts (mehrere<br />

Abb. 6:<br />

Mo<strong>de</strong>llierte magnetische Radialintensität an <strong>de</strong>r Kern-Mantelgrenze<br />

für das Jahr 1800: blau = Fluss nach innen; orange =<br />

Fluss nach außen. (Konturintervall = 125000 Nanotesla. Mollwei<strong>de</strong>-<strong>Pro</strong>jektion).<br />

<strong>Physik</strong> Journal<br />

3 (2004) Nr. 10<br />

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hohle Sphären, die einen geteilten<br />

Kern umfassten), die es <strong>de</strong>n Dipolen<br />

erlaubte, in verschie<strong>de</strong>nen Tiefen<br />

mit verschie<strong>de</strong>nen Geschwindigkeiten<br />

zu präzessieren. Diese Möglichkeiten<br />

vergrößerten die Spanne,<br />

die wahrgenomme asymmetrische<br />

globale Verteilung <strong>de</strong>r Deklination<br />

an <strong>de</strong>r Oberfläche in neuen Hypothesen<br />

unterbringen zu können.<br />

Im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt brachte <strong>de</strong>r<br />

wachsen<strong>de</strong> Schiffsverkehr auf <strong>de</strong>n<br />

Ozeanen zehntausen<strong>de</strong> von Beo bachtungen,<br />

gesammelt und studiert<br />

von Naturphilosophen, Hydrographen<br />

und interessierten Laien.<br />

Deklinationsmessungen in London (1571–<br />

1634), <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Säkularvariation<br />

vorangehend<br />

Jahr Beobachter Ort Osterung<br />

1571 Digges London 11°15'<br />

1576 Hall Gravesend 11°30'<br />

1580 Borough Limehouse 11°18'53"<br />

1622 Gunter Deptford 6°13'<br />

1622 Gunter,<br />

Marr<br />

Limehouse 5°56'38"<br />

1633 Marr Whitehall „weniger“<br />

1633 Gellibrand, Deptford<br />

Marr<br />

4°04'49"<br />

1634 Gellibrand St Paul's Cray 4°01‘23"<br />

Die größere Genauigkeit <strong>de</strong>s neu<br />

erfun<strong>de</strong>nen Azimutalkompasses und<br />

eine bessere Infrastruktur für die<br />

Verarbeitung und Verbreitung magnetischer<br />

Daten gestatteten zu<strong>de</strong>m<br />

eine höhere Auflösung über größere<br />

Teile <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, die von 1700 an wie<br />

ein Feld mittels Isolinien dargestellt<br />

wur<strong>de</strong>. London, Paris und an<strong>de</strong>re<br />

Großstädte produzierten beinahe<br />

einen ununterbrochenen Strom von<br />

jährlichen geomagnetischen Beobachtungen<br />

an Sternwarten. Dazu<br />

boten erschöpfen<strong>de</strong> täglich o<strong>de</strong>r<br />

stündlich vorgenommene Messungen<br />

an bestimmten Orten erstmals<br />

die Möglichkeit, neue Phänomene<br />

wie die tägliche Variation, säkulare<br />

Beschleunigung und <strong>de</strong>n Zusammenhang<br />

zwischen unregelmäßig<br />

funktionieren<strong>de</strong>r Na<strong>de</strong>l und <strong>de</strong>m<br />

Polarlicht zu untersuchen.<br />

Zu dieser Zeit gab es in vielen<br />

Län<strong>de</strong>rn ein weites Spektrum geomagnetischer<br />

Hypothesen, mit Elementen<br />

statischer und dynamischer<br />

geneigter Dipole und Multipole.<br />

Trotz<strong>de</strong>m wichen Daten und Theorien<br />

noch immer merklich voneinan<strong>de</strong>r<br />

ab. 1732 schlug Servington<br />

Savery, Mitglied <strong>de</strong>r Royal Society,<br />

als erster vor, dass eine unebene Topographie<br />

<strong>de</strong>s Magnetkerns für diese<br />

Abweichung verantwortlich sein<br />

könnte. Mathematische Arbeiten<br />

© 2004 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim<br />

von Leonhard Euler (1757) führten<br />

endlich zu <strong>de</strong>r ausdrücklichen Ablehnung<br />

von diametral entgegengesetzten<br />

Polpaaren, wodurch lebhafte<br />

Diskussionen über die Lage, Tiefe<br />

und Bewegung je<strong>de</strong>s Pols aufkamen.<br />

In <strong>de</strong>n extremsten Fällen (von <strong>de</strong>n<br />

1790er Jahren an) wur<strong>de</strong>n diesen<br />

abgetrennten Polen unterschiedliche<br />

Koordinaten, Richtungen und<br />

Geschwindigkeiten zugeschrieben.<br />

Jedoch erwiesen sich letztlich sogar<br />

abgetrennte Dipole als ungeeignet,<br />

<strong>de</strong>m erbarmungslosen Druck <strong>de</strong>r<br />

sich ansammeln<strong>de</strong>n empirischen<br />

Daten standzuhalten. Die Überzeugung,<br />

dass die Kompassna<strong>de</strong>l nur<br />

von <strong>de</strong>r Anziehung einer kleinen<br />

Anzahl weit entfernter, allmächtiger<br />

geomagnetischer Pole regiert wur<strong>de</strong>,<br />

fand so ihr En<strong>de</strong>. Abermals ergab<br />

sich die Natur fremdartiger als von<br />

<strong>de</strong>r (Natur-)Philosophie gedacht.<br />

Mo<strong>de</strong>rne Nutzung<br />

Waren alle diese Arbeiten also<br />

vergeblich und zwecklos? Nicht im<br />

Geringsten. Sie beleuchten nicht<br />

nur die Wissenschaftsgeschichte im<br />

Allgemeinen und die Wurzeln <strong>de</strong>s<br />

Geomagnetismus im Beson<strong>de</strong>ren.<br />

Sehr wertvoll sind die historischen<br />

Daten selbst, versteckt in staubigen<br />

Schiffstagebüchern in <strong>de</strong>n Archiven<br />

seefahren<strong>de</strong>r Nationen. Der mühevolle<br />

Kampf <strong>de</strong>r Navigatoren, die<br />

grundsätzlich unvorhersehbaren<br />

Launen <strong>de</strong>r Magnetna<strong>de</strong>l im Auge<br />

zu behalten, hat eine <strong>de</strong>taillierte<br />

Spur <strong>de</strong>r Feldän<strong>de</strong>rungen durch das<br />

historische Zeitalter hinterlassen.<br />

Nach<strong>de</strong>m die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Fehlerquellen, die diese Messungen<br />

verfälschen, i<strong>de</strong>ntifiziert und quantifiziert<br />

wur<strong>de</strong>n (Beobachtungsfehler,<br />

Schiffspositionsfehler und<br />

Magnetisierung <strong>de</strong>r Kruste), haben<br />

diese Daten das erste zeitabhängige<br />

geomagnetische Mo<strong>de</strong>ll hervorgebracht,<br />

das vier Jahrhun<strong>de</strong>rte über<strong>de</strong>ckt<br />

(1590–1990, Abb. 5 und 6).<br />

Das be<strong>de</strong>utet eine <strong>de</strong>utliche Verbesserung<br />

im Vergleich zu früheren<br />

Versuchen.<br />

Dieses Mo<strong>de</strong>ll gibt nicht nur <strong>de</strong>n<br />

Geophysikern, welche die <strong>Pro</strong>zesse<br />

im Inneren <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> erforschen,<br />

wichtige Denkanstöße, son<strong>de</strong>rn<br />

auch <strong>de</strong>n Historikern, da es ein<br />

Prüfstein ist, um die Fähigkeit <strong>de</strong>r<br />

Hydrographen statistisch zu quantifizieren,<br />

die Feldän<strong>de</strong>rungen auf <strong>de</strong>r<br />

ganzen Welt vorhersagen zu können,<br />

so dass die Seefahren<strong>de</strong>n die<br />

richtigen Anpassungen vornehmen.<br />

Das ermöglicht eine ganz neue<br />

Art historischer Forschung, die sub-<br />

stanzielle Unterschie<strong>de</strong> zwischen<br />

<strong>de</strong>n Entwicklungen <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen<br />

Län<strong>de</strong>r, Zeiten o<strong>de</strong>r Arten<br />

maritimer Organisationen ans Licht<br />

gebracht hat. Insbeson<strong>de</strong>re hat diese<br />

wissenschaftliche Kreuzbestäubung<br />

für bei<strong>de</strong> betreffen<strong>de</strong>n Disziplinen<br />

reiche Früchte getragen.<br />

Danksagung<br />

Ich möchte an dieser Stelle Peter<br />

Thomas von <strong>de</strong>r Philipps-Universität<br />

Marburg dafür danken, dass<br />

er <strong>de</strong>n Anstoß zu diesem Artikel<br />

gegeben hat, sowie Dr. Christine<br />

Thomas (Universität Liverpool) für<br />

die Verbesserung meines „Rudimentär-Deutsch“.<br />

Außer<strong>de</strong>m danke ich<br />

<strong>de</strong>r Johns Hopkins University Press<br />

für die Erlaubnis, die Abbildungen<br />

1 und 3 aus meinem Buch „Earth's<br />

Magnetism in the Age of Sail“ hier<br />

verwen<strong>de</strong>n zu können.<br />

Literatur<br />

H. Balmer, Beiträge zur Geschichte<br />

<strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>s Erdmagnetismus,<br />

Veröffentlichungen <strong>de</strong>r Schweizerischen<br />

Gesellschaft für die Geschichte<br />

<strong>de</strong>r Medizin und Naturwissenschaften<br />

20, Aarau (1956)<br />

G. Hellmann, Die Anfänge <strong>de</strong>r magnetischen<br />

Beobachtungen, Acta Cartographica<br />

6, 174 (1969)<br />

G. Hellmann, Rara Magnetica 1269-<br />

1599, Neudrucke von Schriften und<br />

Karten über Meteorologie und Erdmagnetismus<br />

10, Berlin 1898 und<br />

erneut Nen<strong>de</strong>ln (1969)<br />

A. R. T. Jonkers, Earth’s Magnetism<br />

in the Age of Sail, Johns Hopkins<br />

University Press, Baltimore (2003)<br />

H.-G. Körber, Zur Geschichte <strong>de</strong>r<br />

Konstruktion von Sonnenuhren und<br />

Kompassen <strong>de</strong>s 16. bis 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts,<br />

Veröffentlichungen <strong>de</strong>s Staatlichen<br />

Mathematisch-<strong>Physik</strong>alischen<br />

Salons 3, Berlin (1965)<br />

A. Radl, Magnetstein in <strong>de</strong>r Antike:<br />

Quellen und Zusammenhänge, Stuttgart<br />

(1988)<br />

H. R. Winter, Seit wann ist die<br />

Missweisung bekannt?, Annalen <strong>de</strong>r<br />

Hydrographie und maritimen Meteorologie,<br />

Zeitschrift für Seefahrt- und<br />

Meereskun<strong>de</strong> (hrsg. von <strong>de</strong>r Deutschen<br />

Seewarte Hamburg) 416, 352<br />

(1935)<br />

A. Wolkenhauer, Beiträge zur Geschichte<br />

<strong>de</strong>r Kartographie und Nautik<br />

<strong>de</strong>s 15. bis 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts, Acta<br />

Cartographica 13, 392 (1972)<br />

A. Wolkenhauer, Der Nürnberger<br />

Kartograph Erhard Etzlaub, Acta<br />

Cartographica 20, 504 (1975)<br />

A. Wolkenhauer, Der Schiffskompaß<br />

im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt und die Ausgleichung<br />

<strong>de</strong>r magnetischen Deklination,<br />

in: W. Köberer, Das rechte Fundament<br />

<strong>de</strong>r Seefahrt: Deutsche Beitrage<br />

zur Geschichte <strong>de</strong>r Navigation, Hamburg<br />

(1982)<br />

<strong>Physik</strong> Journal<br />

3 (2004) Nr. 10 59<br />

Geschichte

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