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Kongress-Dokumentation Nr. 6 (2002) herunterladen - Renovabis

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5. bis 7. September <strong>2002</strong><br />

in Freising<br />

<strong>Dokumentation</strong><br />

Europa – eine Wertegemeinschaft?<br />

Gesellschaftliches Handeln<br />

in christlicher Verantwortung<br />

6. Internationaler<br />

Europa – eine<br />

<strong>Kongress</strong><br />

<strong>Renovabis</strong><br />

Wertegemeinschaft?<br />

Gesellschaftliches Handeln in<br />

christlicher Verantwortung


Internationale <strong>Kongress</strong>e <strong>Renovabis</strong><br />

6/<strong>2002</strong>


6. Internationaler <strong>Kongress</strong><br />

<strong>Renovabis</strong><br />

<strong>2002</strong><br />

Europa – eine<br />

Wertegemeinschaft?<br />

Gesellschaftliches Handeln<br />

in christlicher Verantwortung<br />

Veranstalter und Herausgeber:<br />

<strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />

mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa


Redaktion: Christof Dahm<br />

© <strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />

mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa,<br />

Kardinal-Döpfner-Haus, Domberg 27, D-85354 Freising.<br />

ISBN 3-88916-234-7<br />

Zu beziehen durch:<br />

MVG Medienvertriebsgesellschaft,<br />

Postfach 101 545, 52015 Aachen<br />

Bestellnummer: 3 518 03<br />

Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Herausgebers.<br />

Die hier abgedruckten Beiträge sind autorisiert. Sie stimmen nicht unbedingt und in jedem<br />

Fall mit der Meinung des Veranstalters und der Teilnehmer des <strong>Kongress</strong>es überein.<br />

Umschlag: Grafik-Design Willweber, München<br />

Satz: Vollnhals Fotosatz, Mühlhausen<br />

Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden


INHALT<br />

Vorwort ....................................................................................... 9<br />

I. ANSPRACHEN UND GRUSSWORTE<br />

P. Dietger Demuth CSsR, Freising:<br />

Begrüßung der <strong>Kongress</strong>teilnehmer ................................................ 13<br />

Weihbischof Leo Schwarz, Trier:<br />

Eröffnung des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong> ................... 17<br />

Staatsminister Hans Zehetmair, München:<br />

Grüße der Bayerischen Staatsregierung ........................................... 19<br />

Grußworte an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es ................................................... 23<br />

P. Dietger Demuth CSsR, Freising:<br />

Schlusswort .................................................................................. 38<br />

II. REFERATE UND PODIUMSGESPRÄCHE<br />

Karl Kardinal Lehmann, Mainz:<br />

Christliche Wurzeln einer europäischen Gesellschaft. ....................... 43<br />

György Konrád, Budapest/Berlin:<br />

Einige tausend Schuljahre noch.<br />

Gedanken zum Humanismus in Europa ........................................... 62


Podiumsgespräch:<br />

Welche Werte bestimmen unser Handeln?<br />

Wertepluralismus in modernen Lebenswelten<br />

Leitung:<br />

Peter Kujath, München<br />

Auf dem Podium:<br />

Inge Bell, München<br />

Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau<br />

Bischof Adrian H. van Luyn SDB, Rotterdam<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel. .............................. 75<br />

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn:<br />

Christliche Werte und öffentliche Verantwortung der Kirchen ......... 100<br />

Erzbischof Josip Bozanić, Zagreb:<br />

Kroatien – eine Gesellschaft im Umbruch. ..................................... 121<br />

Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg:<br />

Christen in Russland an der Schwelle des 21. Jahrhunderts ............. 129<br />

Vizepräsident Dr. Ingo Friedrich MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Wertediskussion in Europa an der Schwelle zur<br />

Osterweiterung ........................................................................... 143<br />

Podiumsgespräch:<br />

Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung<br />

Leitung:<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising<br />

Auf dem Podium:<br />

Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb<br />

Beata Broczky, Budapest<br />

Pavol Kossey, Bratislava<br />

Rita Waschbüsch, Lebach ........................................................ 157


III. BERICHTE AUS DEN ARBEITSKREISEN<br />

Arbeitskreis 1<br />

Christlicher Humanismus –<br />

Angebot einer gemeinsamen Wertebasis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />

Arbeitskreis 2<br />

Politik aus christlicher Verantwortung:<br />

Anspruch und Wirklichkeit .......................................................... 181<br />

Arbeitskreis 3<br />

Die Benesˇ-Dekrete – eine „offene Wunde“<br />

auf dem Weg nach Europa? .......................................................... 185<br />

Arbeitskreis 4<br />

Frauen in Mittel- und Osteuropa:<br />

Aufbruch – Stagnation – Resignation? .......................................... 188<br />

Arbeitskreis 5<br />

Bosnien-Herzegowina:<br />

Ein Gott – drei Glauben – gemeinsame Werte?. .............................. 191<br />

Arbeitskreis 6<br />

Rumänien:<br />

Nebeneinander oder Miteinander in Christus ................................. 195<br />

Arbeitskreis 7<br />

Orthodoxie und Katholizismus:<br />

Zwischen „Tauwetter“ und „neuer Eiszeit“ .................................... 199<br />

Arbeitskreis 8<br />

An der Schwelle zur Europäischen Union:<br />

Beitrittsländer zwischen Zuversicht und Skepsis ............................ 202<br />

Liste der Referenten und Moderatoren .......................................... 205


Vorwort<br />

Gut ein Jahrzehnt nach der politischen Wende im östlichen Europa und<br />

der aufkeimenden Hoffnung auf eine rasche Überwindung der Spaltung<br />

des Kontinents macht sich Ernüchterung breit. Zwar gibt es Fortschritte<br />

in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und hinsichtlich der Osterweiterung<br />

der Europäischen Union, aber bilden ökonomische Faktoren allein<br />

ein tragfähiges Fundament für das „europäische Haus“? Bedarf das zusammenwachsende<br />

Europa nicht auch einer geistigen Basis? In diesem<br />

Zusammenhang werden immer wieder die gemeinsamen abendländischen<br />

Grundwerte beschworen, die in Christentum, Humanismus und<br />

Aufklärung wurzeln. Allerdings stellt sich die Frage, ob über diese Wertorientierung<br />

tatsächlich noch ein breiter Konsens aller gesellschaftlichen<br />

Schichten in Europa besteht.<br />

Unter dem Thema „Europa – eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches<br />

Handeln in christlicher Verantwortung“ versuchte der 6. Internationale<br />

<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> eine Klärung dieses Problems. Repräsentanten aus<br />

Kirche, Politik und Gesellschaft haben in Vorträgen vor dem Plenum,<br />

Podiumsgesprächen und Arbeitskreisen ihre Positionen dargelegt. An<br />

Stelle der Ausführungen des früheren Staatspräsidenten von Estland,<br />

Lennart Meri, der wegen einer Erkrankung leider nicht am <strong>Kongress</strong> teilnehmen<br />

konnte, fand ein weiteres Podiumsgespräch statt. Der vorliegende<br />

Band dokumentiert nicht nur die Grundsatzreferate, sondern auch<br />

wesentliche Diskussionsbeiträge aus dem Auditorium. Allen, die zum<br />

Gelingen des <strong>Kongress</strong>es beigetragen haben, sei an dieser Stelle noch<br />

einmal ausdrücklich gedankt.<br />

Die Gestaltung der Europäischen Union ist noch nicht abgeschlossen.<br />

Dies zeigen sowohl die Verhandlungen über eine gemeinsame Verfassung<br />

– einschließlich der Frage des Gottesbezuges in der Grundrechte charta –<br />

als auch die Diskussionen um den Einzugsbereich und damit um die Definition<br />

eines vereinigten „Europa“, etwa die Frage, ob die Türkei Mitglied<br />

werden könne. Aber auch jenseits des europäischen Horizonts ist<br />

eine Verständigung über die Grundwerte der Menschheit und ihre Verwirklichung<br />

unabdingbar angesichts einer sich immer rascher verändernden<br />

Welt und der zunehmenden Globalisierung. Dazu möchte die vorliegende<br />

<strong>Dokumentation</strong> einen Beitrag leisten.<br />

Freising, im März 2003 Christof Dahm, Redaktion<br />

9


I. Ansprachen und Grußworte


Oben links Staatsminister Hans Zehetmair, oben rechts Pater<br />

Dietger Demuth CSsR am Rednerpult. Unten Blick ins Plenum<br />

(Aula des Dom-Gymnasiums Freising). –<br />

Alle Fotos des <strong>Dokumentation</strong>sbandes stammen von Thomas Schumann


P. Dietger Demuth CSsR<br />

Begrüßung der <strong>Kongress</strong>teilnehmer<br />

<strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen<br />

in Mittel- und Osteuropa, lädt nun schon zum sechsten Mal zu<br />

einem Internationalen <strong>Kongress</strong> nach Freising ein. Zum ersten Mal habe<br />

ich als neuer Geschäftsführer die Ehre, Sie hier auf dem über tausendjährigen<br />

Domberg zu begrüßen. Auch in diesem Jahr sind wir Gäste des<br />

Domgymnasiums, dem ich für die Gastfreundschaft herzlich danke.<br />

Mehr als 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind aus allen Teilen Europas<br />

angereist. Dies zeigt, dass das Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es<br />

„Europa – eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches Handeln in christlicher<br />

Verantwortung“ von grenzüberschreitendem Interesse für die<br />

Chris ten in Europa ist.<br />

„Die Welt von heute ist sich immer mehr bewusst, dass die Lösung der<br />

ernsten nationalen und internationalen Probleme nicht nur eine Frage der<br />

Wirtschaft oder der Rechts- oder Gesellschaftsordnung ist, sondern klare<br />

sittlich-religiöse Werte sowie die Änderung der Gesinnung, des Verhaltens<br />

und der Strukturen erfordert“ (Centesimus annus, 60). Diese Worte<br />

Papst Johannes Pauls II. aus dem Jahr 1991 haben an Aktualität nichts<br />

verloren, sondern eher noch an unmittelbarer Plausibilität hinzu gewonnen.<br />

Gerade im zusammenwachsenden Europa werden immer wieder die<br />

gemeinsamen Grundwerte beschworen und kirchliche Vertreter werden<br />

nicht müde, auf die gemeinsame geschichtliche Prägung unseres Kontinents<br />

durch das Christentum hinzuweisen.<br />

Dennoch stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß es so etwas wie<br />

einen breiten Wertekonsens in Europa überhaupt gibt. Muss man mit Blick<br />

auf die Realität nicht viel mehr von einem Wertepluralismus sprechen?<br />

Können sich Menschen, die unterschiedlichen Religionen oder Weltan-<br />

13


schauungen, unterschiedlichen Nationen, Ethnien, Kulturen, unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Schichten und Lebenswelten angehören, wenigstens<br />

auf ethische Mindeststandards einigen? Wenn wir „Kirche in der Welt<br />

von heute“ (Gaudium et spes) sein und am ethisch-geistigen Fundament<br />

des künftigen Europa mitbauen wollen, müssen wir Christen uns der Wertediskussion<br />

mit anderen gesellschaftlichen Strömungen stellen. Dabei<br />

darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch bei Einigkeit über allgemeine<br />

ethische Maximen und Werte in der praktischen Umsetzung mehr<br />

als nur eine Lösungsmöglichkeit gefunden werden kann. Ein Grundkonsens<br />

ermöglicht legitime Vielfalt im konkreten Handeln. In diesem Bereich<br />

können auch Christen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Es ist<br />

gerade ein Kennzeichen erwachsener Menschen und mündiger Christen,<br />

dadurch entstehende Spannungen aushalten zu können. Ich bin überzeugt,<br />

dass mündige Christen auch mündige Bürger eines vielgestaltigen Europa<br />

sein werden, Europäer, denen das Wohlergehen aller am Herzen liegt.<br />

Als Hilfswerk für Mittel- und Osteuropa pflegt <strong>Renovabis</strong> in besonderer<br />

Weise die partnerschaftliche Solidarität mit den östlich von Deutschland<br />

gelegenen Ländern. Ein aktuelles Beispiel der wechselseitigen Solidarität<br />

von West und Ost möchte ich Ihnen kurz berichten. Am 19. August<br />

übermittelte uns Bischof Pickel aus Russland die Nachricht, dass die<br />

katholische Gemeinde in Stepnoje, einem Ort an der mittleren Wolga,<br />

beschlossen hat, einen Monat lang täglich ein Geheimnis des Rosenkranzes<br />

für die Opfer des Hochwassers in Deutschland zu beten. Hier füllt<br />

sich das Motto vom Austausch der Gaben mit Leben.<br />

Ich freue mich sehr, dass in diesem Jahr Teilnehmer aus 22 Ländern Europas<br />

sich auf den Weg nach Freising zu unserem <strong>Kongress</strong> gemacht haben.<br />

Wir werden uns dem Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es über unterschiedliche<br />

Zugänge annähern und es aus verschiedenen Perspektiven<br />

betrachten. Dazu konnten wir eine Reihe namhafter Referenten gewinnen.<br />

Es ist uns eine ganz besondere Ehre, dass der Vorsitzende der Deutschen<br />

Bischofskonferenz, Seine Eminenz Karl Kardinal Lehmann, das<br />

erste Referat halten wird. Sehr verehrter Herr Kardinal, herzlich willkommen!<br />

Begrüßen darf ich auch György Konrád, den Präsidenten der<br />

Akademie der Künste in Berlin, der heute Nachmittag als zweiter Refe-<br />

14


ent auftreten wird. Für Samstag erwarten wir den Vizepräsidenten des<br />

Europäischen Parlaments, Dr. Ingo Friedrich. Jetzt schon grüßen kann ich<br />

als weiteres Mitglied des Europäischen Parlaments Frau Dr. Maria Martens<br />

aus den Niederlanden.<br />

Begrüßen möchte ich mit großer Freude Herrn Staatsminister Hans Zehetmair,<br />

der als Vertreter der bayerischen Staatsregierung zu uns sprechen<br />

wird. Wie ich erfahren habe, waren Sie sowohl Schüler als auch Lehrer<br />

des Domgymnasiums. Weitere Politiker und Experten aus Bund und Ländern<br />

ebenso wie aus der europäischen Metropole Brüssel sind anwesend<br />

oder werden noch zu uns stoßen. Ihnen gilt ebenso mein Gruß wie den<br />

anwesenden Vertretern des konsularischen Korps von Kroatien, Polen<br />

und Ungarn. Für die Verbundenheit der Stadt Freising mit <strong>Renovabis</strong><br />

steht die Anwesenheit von Herrn Oberbürgermeister Dieter Thalhammer,<br />

den ich mit herzlichem Dank willkommen heiße.<br />

Ein besonderer Gruß gilt allen Vertretern der katholischen Kirche, darunter<br />

auch den Mitgliedern der unierten Kirchen. Nennen möchte ich<br />

Adrianus van Luyn, Bischof von Rotterdam und Vizepräsident der<br />

Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft<br />

(ComECE). Auch der Generalsekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen<br />

(CCEE), Dr. Aldo Giordano, ist unter uns. Herzlich<br />

willkommen sage ich an dieser Stelle auch Weihbischof Leo Schwarz,<br />

Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong>, und natürlich Pater<br />

Eugen Hillengass, meinem Vorgänger.<br />

Ich freue mich sehr, dass viele Bischöfe aus Mittel- und Osteuropa gekommen<br />

sind, denn das ist ein Zeichen der Gemeinschaft und des geistigen<br />

Austauschs zwischen Ost und West. Namentlich nennen möchte ich<br />

Josip Bozanić, Erzbischof von Zagreb und Vize-Präsident des CCEE,<br />

sowie Jan Graubner, Erzbischof von Olmütz und Vorsitzender der Tschechischen<br />

Bischofskonferenz. Verehrter Herr Erzbischof, wir haben nicht<br />

vergessen, dass auch Tschechien von der Flutkatastrophe betroffen ist.<br />

Die unmittelbare Katastrophenhilfe leistet zwar absprachegemäß Caritas<br />

internationalis, die betroffenen Diözesen werden jedoch auch eine Solidaritätshilfe<br />

von <strong>Renovabis</strong> erhalten.<br />

15


Grüße gehen weiterhin an die Repräsentanten zahlreicher katholischer<br />

Organisationen, die mit <strong>Renovabis</strong> in vielfacher Weise verbunden sind.<br />

Stellvertretend genannt sei das Zentralkomitee der deutschen Katholiken,<br />

dessen Präsident, Proffessor Hans Joachim Meyer, auch zum Kreis der<br />

Referenten zählt.<br />

Ein herzliches Willkommen gilt auch den Repräsentanten der Orthodoxen<br />

Kirchen, mit denen <strong>Renovabis</strong> schon seit Jahren auf vielfältige Weise<br />

zusammenarbeitet. Namentlich begrüßen möchte ich Erzbischof Jonathan<br />

von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche aus Cherson. Weiterhin<br />

gelten meine Grüße auch allen anderen Teilnehmern aus den Orthodoxen<br />

Kirchen.<br />

Unsere Gäste aus den evangelischen Kirchen in ganz Europa begrüße ich<br />

sehr herzlich. Von unserer evangelischen Schwesterorganisation „Hoffnung<br />

für Osteuropa“ ist Frau Diana Auwärter zu uns gekommen. Ebenso<br />

heiße ich herzlich willkommen Herrn Dekan Jochen Hauer vom evangelischen<br />

Dekanat Freising.<br />

Aus nah und fern haben <strong>Renovabis</strong> Grußbotschaften erreicht, in denen<br />

dem <strong>Kongress</strong> ein guter und erfolgreicher Verlauf gewünscht wird. Besonders<br />

erwähnen möchte ich die Grüße von Kurienkardinal Walter<br />

Kasper, des Metropoliten Augoustinus von Deutschland, des Vorsitzenden<br />

des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred<br />

Kock, des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard<br />

Schröder, des EU-Kommissars Günter Verheugen und von Hans-Gert<br />

Pöttering, dem Vorsitzenden der Fraktion der Europäischen Volkspartei<br />

(EVP) im Europäischen Parlament.<br />

Nun wünsche ich uns allen Gottes Segen für ein gutes Gelingen des <strong>Kongress</strong>es,<br />

anregende Gespräche und neue Anstöße für die künftige Arbeit.<br />

Lieber Herr Weihbischof Schwarz, ich darf Sie jetzt schon bitten, nach<br />

den Grußworten als Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong><br />

und als Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz den 6. Internationalen<br />

<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> zu eröffnen.<br />

16


Weihbischof Leo Schwarz, Trier<br />

Eröffnung des 6. Internationalen<br />

<strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong><br />

Eminenz, Exzellenzen,<br />

liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,<br />

sehr geehrte Damen und Herren,<br />

liebe Freunde von <strong>Renovabis</strong>,<br />

Zum sechsten Mal lädt <strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen<br />

Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, zu einem Internationalen<br />

<strong>Kongress</strong> auf den Freisinger Domberg ein. Ich freue mich,<br />

dass ich als Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong> den<br />

6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> eröffnen kann.<br />

„Europa – eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches Handeln in christlicher<br />

Verantwortung“ – so lautet das Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es.<br />

Wenn der Begriff der europäischen Wertegemeinschaft hier mit einem<br />

Fragezeichen versehen ist, zeigt sich bereits, dass der Konsens über<br />

das ethisch-geistige Fundament durchaus nicht einfach vorausgesetzt<br />

werden kann. Ich wünsche uns, dass wir alle bereit sind, uns von den<br />

Gedanken und Überlegungen zu diesem Thema beschenken lassen.<br />

Die Gestaltung Europas – und ich möchte betonten, Europa ist viel größer<br />

als die Europäische Union! – ist nicht abgeschlossen, sondern ein fortwährender<br />

Prozess. Wir Christen tragen Mit-Verantwortung dafür, dass<br />

die Menschen in Europa sich an Werte gebunden wissen, über die nicht<br />

per Abstimmung entschieden werden kann. Dazu gehört, dass die Kirchen<br />

immer wieder die gleiche Würde aller Menschen betonen. Nur<br />

durch das Insistieren auf der Gleichheit und Ebenbürtigkeit aller Men-<br />

17


schen vor Gottes Angesicht können die Kirchen für den Erhalt der aus<br />

christlicher Sicht grundlegenden gesellschaftlichen Werte eintreten, ohne<br />

dabei als „Wertelieferant“ für eine orientierungslose Gesellschaft vereinnahmt<br />

zu werden.<br />

Die Internationalen <strong>Kongress</strong>e <strong>Renovabis</strong> sind als ein Forum für Informationen,<br />

Gespräche und Begegnungen gedacht und sollen dem Austausch<br />

von Gaben und Erfahrungen aus Ost und West dienen. Das große<br />

Interesse bestätigt, wie wichtig solche Veranstaltungen sind, und wie<br />

groß der Bedarf an Dialog ist. Ich schließe daher mit der Bitte, dass wir<br />

uns dem Wirken des Geistes Gottes öffnen, der uns auf unserem gemeinsamen<br />

Weg führen und leiten wird.<br />

Somit eröffne ich den 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> mit dem<br />

Wunsch, dass er uns darin bestärken möge, christliche Werte in Tat und<br />

Wort gesellschaftlich geltend zu machen.<br />

18


Staatsminister Hans Zehetmair, München<br />

Grüße der Bayerischen Staatsregierung<br />

Zum 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> begrüße ich Sie ganz herzlich<br />

hier in Freising und überbringe Ihnen die besten Wünsche von Ministerpräsident<br />

Dr. Edmund Stoiber. Als Solidaritätsaktion der deutschen<br />

Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa wurde <strong>Renovabis</strong><br />

auf Anregung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken im März<br />

1993 von den deutschen Bischöfen gegründet. Seither vermittelt die Solidaritätsaktion<br />

Partnerschaften und unterstützt Projekte zur Erneuerung<br />

des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens in 27 ehemals kommunistischen<br />

Ländern.<br />

Die Aktion <strong>Renovabis</strong> im Jahr <strong>2002</strong> lenkt den Blick besonders auf den<br />

Mut, die Schaffenskraft und die Erwartungen der Frauen, weil sie in den<br />

sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen der<br />

Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas eine herausragende Rolle spielen.<br />

Dabei kann man den Beitrag vieler lebenserfahrener, starker Frauen<br />

beim Auf- und Wiederaufbau von menschenwürdigen Lebensverhältnissen<br />

gar nicht hoch genug einschätzen. Hinzu kommt das Zeugnis jener –<br />

meist älteren – Frauen, die den Glauben über Generationen weitergegeben<br />

haben. Diesen Frauen haben wir es zu verdanken, dass die Botschaft<br />

Jesu über die Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa<br />

nicht in Vergessenheit geriet.<br />

Der diesjährige <strong>Kongress</strong> hat das Thema „Europa – eine Wertegemeinschaft?<br />

Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung“. Ich<br />

bin überzeugt: Wir müssen unsere in über 2000 Jahren gewachsene<br />

christlich-abendländische Kultur bewahren. Wir dürfen uns unsere<br />

christliche, europäisch geprägte Kultur weder von ideologischen Gesellschaftsveränderern<br />

noch von Extremisten nehmen lassen, aus welchem<br />

19


Lager sie auch stammen. Wir müssen unsere religiösen, philosophischen<br />

und politischen Wertvorstellungen verteidigen, weil wir wollen, dass<br />

Europa künftigen Herausforderungen gewachsen ist. Unsere parlamentarische<br />

Demokratie und unser politischer und gesellschaftlicher Pluralismus<br />

sind auf Dauer nur lebensfähig, wenn die Grundordnung durch einen<br />

gemeinsamen Ordnungs- und Wertekonsens zusammengehalten wird.<br />

Diese Werteordnung ist wesentlich von der Tradition des Katholizismus<br />

und des Christentums geprägt. Christliche Werte sind das Fundament<br />

unseres Staates. Mit dem Verlust dieser Werteordnung käme uns ein Teil<br />

unserer Gemeinsamkeit abhanden. Unsere ethische Orientierung wäre<br />

bedroht. Ein Staat, dessen weltanschauliches Fundament wegbricht, ist<br />

jedoch auf Dauer nicht lebensfähig.<br />

Die Grundpfeiler einer christlich begründeten Wertordnung für Staat und<br />

Gesellschaft sind die Würde des Menschen, das Recht auf Entfaltung der<br />

Persönlichkeit, der Schutz des Lebens und die Bewahrung der uns von<br />

Gott anvertrauten Schöpfung, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, der<br />

Schutz von Ehe und Familie und die daraus abzuleitenden unveräußerlichen<br />

Menschen- und Grundrechte. Dies ist das Fundament der Gerechtigkeit.<br />

Hierzu stellt der Kirchenvater Augustinus, der im abendländischen<br />

Kultur- und Geschichtsbewusstsein wie kaum ein anderer fortlebt, in seinem<br />

Werk „Wahrheit und Liebe“ fest: „Fehlt einem Staate die Gerechtigkeit,<br />

was ist er denn anderes als eine große Räuberbande!“ Wenn es eines<br />

Beweises bedurft hätte, dass eine gottlose Staatsphilosophie in Korruption<br />

und Unterdrückung endet, haben ihn die Nationalsozialisten sowie<br />

die Kommunisten und Sozialisten in der DDR und in den osteuropäischen<br />

Staaten erbracht. Wir Katholiken sehen den Menschen als ein einmaliges<br />

Geschöpf Gottes an, mit unantastbarer Würde, selbstverantwortlich und<br />

frei und in seinem Gewissen gebunden. Politik aus christlicher Verantwortung<br />

ist deshalb auf die Person, auf das Individuum bezogen: Im Mittelpunkt<br />

steht der an Werte gebundene, nicht der von der Gesellschaft gegängelte<br />

und gesteuerte, nicht der von der Wiege bis zur Bahre vom Staat<br />

bevormundete Bürger und Mitmensch.<br />

Der Staat kann die ethischen Voraussetzungen, von denen er lebt, nicht<br />

selber schaffen. Deshalb ist es die zentrale Aufgabe des Staates und we-<br />

20


sentliche Leitlinie unserer Politik, die christlich begründeten Wertvorstellungen<br />

zu schützen. Für mein persönliches und politisches Handeln ist die<br />

Orientierung an christlichen Werten und Normen oberster Grundsatz.<br />

Schließlich können wir die verfassungsrechtlichen Errungenschaften eines<br />

freiheitlichen Rechtsstaates und die Garantie der Menschen- und Grundrechte<br />

nur aus diesem christlichen Erbe heraus verstehen. Wir alle müssen<br />

dazu beitragen, unser gemeinsames Wertebewusstsein konsequent weiterzuentwickeln<br />

und zu stärken, damit wir den nachfolgenden Generationen<br />

die grundlegende ethische Orientierung geben können. Übersteigerter Individualismus<br />

gefährdet unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung; Toleranz,<br />

Hilfsbereitschaft und Hinwendung zum Mitmenschen jedoch erfüllen<br />

sie mit Leben. „Ehrfurcht vor Gott“ und „Achtung vor religiöser Überzeugung“<br />

spielen bereits in der schulischen Erziehung eine große Rolle und<br />

gehören in Bayern zu den obersten Bildungszielen. Nach Artikel 135 unserer<br />

Bayerischen Verfassung sind unsere Schulen als christliche Gemeinschaftsschulen<br />

definiert. Die Kruzifixe in den Klassenzimmern bringen<br />

dies zum Ausdruck. Wir müssen eine solide Wertebasis, auch den notwendigen<br />

gemeinsamen Grundkonsens, schon bei den jungen Menschen festigen.<br />

Der Staat ist verpflichtet, jene Fähigkeiten, Überzeugungen und<br />

Tugenden nach Kräften zu fördern, die für das gute Zusammenleben seiner<br />

Bürgerinnen und Bürger unentbehrlich sind – und die Schule ist dabei ein<br />

entscheidendes Instrument.<br />

Wir können zentrale Fragen unseres Lebens nur mit Hilfe der christlichen<br />

Wertorientierung lösen, die die Grundlage der Bayerischen Verfassung<br />

und auch des Grundgesetzes darstellt. Kultur, Geschichte und Religion<br />

formen den Kernbestand gemeinsamer Grundüberzeugungen, sie sind<br />

die Bindemittel für den Zusammenhalt der Nation. Dazu gehört ganz zentral<br />

unser christlicher Glaube. Kulturelle und historische Identität gibt<br />

den Menschen Prägung, Unverwechselbarkeit und Halt. Nationale Identität<br />

macht den Menschen selbstbewusst und weniger anfällig für Ideologien<br />

und Ängste aller Art. In diesem Sinne wünsche ich dem diesjährigen<br />

<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> mit seinen hoch aktuellen Fragestellungen einen<br />

erfolgreichen Verlauf.<br />

21


Grußworte an die<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

des 6. Internationalen<br />

<strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>


Interessierte<br />

Zuhörer, oben von<br />

links: Weihbischof<br />

Schwarz, Erz bischof<br />

Bozanić, Kardinal<br />

Lehmann;<br />

unten von links:<br />

Professor Fedorov,<br />

Professor Meyer,<br />

Professor Bremer,<br />

Pater Demuth


Grußwort des Vorstehers der Griechisch-Orthodoxen<br />

Metropolie von Deutschland und des Exarchats von Zentraleuropa<br />

des Ökumenischen Patriarchats<br />

Mit großem Bedauern muss ich auch in diesem Jahr dem <strong>Renovabis</strong>-<br />

<strong>Kongress</strong> fernbleiben wegen dienstlicher Termine, die ich nicht verlegen<br />

kann. Deshalb grüße ich auf diese Weise alle Teilnehmer der Tagung in<br />

Freising auf das herzlichste!<br />

Die Themen der bisherigen <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong>e fielen nicht nur durch<br />

ihre aktuelle Wichtigkeit auf, sondern auch durch ihre grundsätzlich-gültige<br />

Bedeutung, die über den jeweiligen <strong>Kongress</strong> weit hinausreichte. So<br />

ist es auch in diesem Jahr! Es ist unbestritten, dass die so genannten Grundwerte<br />

eine entscheidende Rolle beim Zusammenwachsen der Völker Europas<br />

spielen müssen. Leider ist aber das Nachdenken und das Ge spräch über<br />

die Werte unseres Lebens und Handelns in den letzten Jahren mehr und<br />

mehr zurückgetreten. Zwar gibt es gelegentlich Anstöße zur Diskussion<br />

bei Einzelproblemen – wie z.B. der Genforschung mit allen ihren Folgen – ,<br />

die dann allerdings oft auf juristische Weise gelöst werden.<br />

Ich begrüße es daher sehr, dass auf dem diesjährigen <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong><br />

von den grundlegenden Werten unserer künftigen euro päischen Gesellschaft<br />

gesprochen werden soll. Dass es für uns dabei in erster Linie um<br />

christliche Werte gehen muss, ist selbstverständlich – und das nicht nur<br />

deshalb, weil wir als Kirchen sprechen und handeln, sondern weil ich zutiefst<br />

davon überzeugt bin, dass nur die Werte des christlichen Glaubens<br />

und Lebens die wahren Werte sind, die allen Stürmen der Zeit standhalten<br />

sowie die Veränderungen der Welt- und Geistesge schichte überdauern<br />

können.<br />

Zu dieser Arbeit wünsche ich dem <strong>Kongress</strong> den Beistand des dreieinen<br />

Gottes und Seinen Segen, damit er seinerseits ein Segen werde für das<br />

werdende vereinte Europa und seine Völker.<br />

Metropolit Augoustinos von Deutschland<br />

und Exarch von Zentraleuropa<br />

25


Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Mit der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Staaten in die Europäische<br />

Union wird die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig<br />

überwunden. Die politischen und wirt schaftlichen Aspekte der EU-<br />

Erweiterung werden allerorts dis kutiert; der 6. Internationale <strong>Kongress</strong><br />

<strong>Renovabis</strong> geht indes der Frage nach, ob das geeinte Europa auch für<br />

gemeinsame Werte steht.<br />

Die traditionellen Werte des europäischen Abendlandes beruhen auf dem<br />

christlichen Menschenbild, auf der Aufklärung und den daraus abgeleiteten<br />

politischen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger. Ich bin überzeugt,<br />

dass diese Grundwerte für die Men schen in Europa heute aktueller sind<br />

denn je. Es geht darum, sie lebendig zu erhalten und Entwicklungen entgegen<br />

zu wirken, die unter dem Deckmantel der Modernität oder der<br />

Globalisie rung den humanistischen Traditionen Europas zuwiderlaufen.<br />

In diesem Prozess stehen auch die christlichen Kirchen in schwierigen<br />

Herausforderungen. <strong>Renovabis</strong>, die Solidari tätsaktion der deutschen Katholiken<br />

mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, wird dazu – davon<br />

bin ich überzeugt – mit ihrem <strong>Kongress</strong> auch in diesem Jahr einen wichtigen<br />

Beitrag leisten. Ich wünsche intensive, fruchtbare und er geb nisorientierte<br />

Beratungen.<br />

26<br />

Wolfgang Clement


Grußwort des Präsidenten des Päpstlichen Rates<br />

für die Einheit der Christen<br />

Zuerst möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung zum 6. Internationalen<br />

<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> mit dem Thema „Europa – eine Wertegemeinschaft?<br />

Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung“ bedanken.<br />

Leider kann ich durch verschiedene andere Verpflichtungen nicht persönlich<br />

teilnehmen. Dies bedauere ich umso mehr, da ich mich der Arbeit<br />

von <strong>Renovabis</strong> und besonders dieser Initiative verbunden fühle. Auch das<br />

gewählte Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es ist für mich von größtem Interesse,<br />

denn es zeigt die unauflösbare Verbindung des allgemeinen gesellschaftlichen<br />

und sozialen Lebens und der Kirche, die darin ihren Ort hat.<br />

Der Fall der Mauer in Europa war kein Zufall. Der Zusammenbruch einer<br />

künstlichen und gewaltsamen Trennung war der Ausdruck des natürlichen<br />

Wunsches von Menschen, die zusammen gehören, auch zusammen<br />

zu leben. Es ist deshalb ebenso wenig ein Zufall, dass wir vom gemeinsamen<br />

europäischen Haus sprechen, wenn wir die Vision formulieren, die<br />

wir für Europa haben.<br />

Etwas mehr als zehn Jahre nach dem Fall der Mauer kann man zwei Feststellungen<br />

machen: Eine Ideologie, welche die spirituelle Dimension des<br />

Menschen leugnete, betrieb nicht nur einen materiellen, sondern auch<br />

einen moralischen Raubbau. Andererseits muss man genauso sagen, dass<br />

inzwischen die Gefahr besteht, dass materieller Fortschritt und ökonomischer<br />

Erfolg den Platz von grundlegenden humanen Werten einnehmen<br />

wollen, die dem Menschen Sinn geben. Der wirtschaftliche Erfolg verdrängt,<br />

reduziert und relativiert menschliche Werte. Diese beiden Realitäten,<br />

die eine schon gescheitert, die andere zum Scheitern verurteilt,<br />

muss man im Blick behalten, wenn man sich über den Aufbau des<br />

gemeinsamen Hauses Europa Gedanken macht: Wir können im individuellen<br />

und gesellschaftlichen Leben von fundamentalen Werten nicht absehen<br />

und müssen sowohl die materielle als auch die spirituelle Dimension<br />

des Menschen im Blick behalten. Nur so können wir eine glückliche<br />

und friedliche Zukunft Europas gestalten.<br />

27


Europa hat ohne Zweifel christliche Wurzeln. Ja, man kann sogar sagen,<br />

ohne das Christentum wäre Europa nicht zu der kulturellen Größe geworden,<br />

die wir Europa nennen. Die eine christliche Tradition hat jedoch<br />

schon in den ersten Jahrhunderten in Ost und West unterschiedliche spirituelle,<br />

institutionelle, liturgische und theologische Ausdrucksformen gefunden.<br />

Die Berliner Mauer ist zwar gefallen, aber der kulturelle Unterschied<br />

und die Entfremdung zwischen West- und Ostrom wirken noch<br />

immer nach. Wir werden das eine gemeinsame Haus Europa nicht errichten<br />

können, wenn es nicht gelingt, zu einer ökumenischen Annäherung<br />

zwischen dem lateinischen und dem byzantinisch-slawischen Christentum,<br />

welche beide die Kultur der jeweiligen Völker geprägt haben, zu<br />

kommen. Dabei hat die zutiefst religiös geprägte Kultur Osteuropas<br />

Westeuropa vieles zu geben.<br />

Aber noch immer ist in Ost- und Westeuropa viel zu tun, um alte Vorurteile<br />

abzubauen und zu einem besseren und tieferen gegenseitigen Verständnis<br />

und zu einer gegenseitigen Achtung und Wertschätzung zu kommen<br />

und so eine Wertegemeinschaft aufzubauen, welche über den materiellen<br />

und ökonomischen Fortschritt hinausgeht und zu einer dauerhaften<br />

Versöhnung der Herzen der Menschen führt.<br />

<strong>Renovabis</strong> hat für diese große Aufgabe schon bisher einen wichtigen Beitrag<br />

geleistet, der Dank und Anerkennung verdient. Ich wünsche Ihrer<br />

Tagung gute Ergebnisse, um auf dem eingeschlagenen Weg mit neuen<br />

Ideen, mit Engagement und mit Zuversicht weiterzugehen. In diesem<br />

Sinn sende ich Ihnen meine herzlichsten Segenswünsche.<br />

28<br />

Walter Kardinal Kasper


Grußwort des Ratsvorsitzenden<br />

der Evangelischen Kirche in Deutschland<br />

Der 6. Internationale <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> findet in einer Zeit statt, in der<br />

im „Konvent zur Zukunft Europas“ die Mitgliedsstaaten der Europäischen<br />

Union und die Beitritts länder gemeinsam darüber beraten, auf<br />

welcher Grundlage Europa weiter zusam menwachsen soll. Die Evangelische<br />

Kirche in Deutschland und die Deutsche Bi schofskonferenz sind<br />

sich mit ihren ökumenischen Partnern darüber einig, dass da bei nicht nur<br />

politische und ökonomische Fragen sowie institutionelle Regelungen zu<br />

bedenken sind. Es muss vielmehr auch die Wertegebundenheit der Europäischen<br />

Union bei der Überarbeitung des Europäischen Vertragswerks<br />

deutlich gemacht werden. Dazu gehören die Religionsfreiheit und das<br />

Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Reli gionsgemeinschaften.<br />

Versöhnung, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind<br />

Themen, die die Kirchen seit langem in die europäische Debatte einbringen.<br />

Sie plädieren für ein Europa, in dem Eigenverantwortung und Solidarität<br />

gerecht austariert werden.<br />

Deutlich ist: Eine Europäische Union, die sich als Wertegemeinschaft<br />

versteht, muss anerkennen, dass sie auf Voraussetzungen beruht, die sie<br />

sich nicht selbst schaffen kann. Die Kirchen und Christen in Europa müssen<br />

diese Wertegebundenheit aus drücklich machen und sich darüber verständigen,<br />

wie sie in konkretes gesellschaftli ches Handeln umgesetzt<br />

werden kann.<br />

Ich bin dankbar, dass der 6. Internationale <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> sich dieser<br />

Thematik stellt, und wünsche den Beratungen einen guten Verlauf.<br />

Manfred Kock<br />

29


Grußwort des Vorsitzenden der Fraktion der Europäischen<br />

Volkspartei (Christlich-Demokratische Fraktion) im<br />

Europäischen Parlament<br />

In diesem Jahr beschäftigt sich der <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong> mit dem so<br />

grundsätzlichen und wichtigen Thema der gemeinsamen Grundwerte im<br />

zusammenwachsenden Europa des 21. Jahrhunderts. Ich begrüße es sehr,<br />

dass Sie die Auseinandersetzung mit den ethisch-geistigen Grundlagen<br />

Europas in den Mittelpunkt Ihrer Diskussionen stellen.<br />

Das Wertefundament, mit dem das europäische Haus unterlegt ist, stellt<br />

das Ergebnis europäischer Geschichte und Kultur dar. Die christliche<br />

Vorstellung von der unantastbaren Würde jedes Menschen sowie die davon<br />

abgeleiteten unveräußerlichen Menschenrechte bilden das Kernstück<br />

dieser historisch gewachsenen Wertegemeinschaft. Schon die Gründerväter<br />

der Europäischen Union, Konrad Adenauer, Robert Schuman und<br />

Alcide de Gasperi, waren den geistig-religiösen Wurzeln Europas zutiefst<br />

verhaftet und stellten bei ihren Überlegungen das Individuum in den Vordergrund.<br />

Mit Recht können wir behaupten, dass Europa mehr als nur<br />

eine auf wirtschaftliche Faktoren zu reduzierende Zweckgemeinschaft<br />

ist. Europa ist vielmehr ein enger Staatenverbund, dessen Handeln von<br />

klaren ethischen Prinzipien geleitet ist. Diese Prinzipien gilt es nun auch<br />

bei den vor uns liegenden wegweisenden Entscheidungen über die Erweiterung<br />

der Europäischen Union zum Tragen zu bringen und somit<br />

Europa als Wertegemeinschaft weiter zu festigen.<br />

Ich wünsche dem 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> einen erfolgreichen<br />

Verlauf und den Teilnehmerinnen und Teilnehmer viele interessante<br />

Vorträge und Gespräche.<br />

30<br />

Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering MdEP


Grußwort des Bundeskanzlers<br />

der Bundesrepublik Deutschland<br />

Den Veranstaltern, Teilnehmern und Gästen des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es<br />

<strong>Renovabis</strong> <strong>2002</strong> übermittle ich meine herzlichen Grüße.<br />

Unserer Generation bietet sich die großartige Chance, Europa zu einem<br />

Ort der Demokratie, des Friedens und der Wohlfahrt seiner Menschen zu<br />

machen. Diese Chance zu nutzen, ist nicht Aufgabe der Politik allein. Gefordert<br />

sind alle gesell schaftlichen Gruppen, gefordert sind nicht zuletzt<br />

auch die Kirchen.<br />

Die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken <strong>Renovabis</strong> und die jährlichen<br />

<strong>Kongress</strong>e mit Teilnehmern aus ganz Europa verbinden praktische<br />

Hilfe mit einer breiten öffentlichen Debatte über die künftige Ausgestaltung<br />

Europas.<br />

Fundamentale Werte liegen dem europäischen Einigungswerk zugrunde:<br />

Recht staatlichkeit, Demokratie und ein Katalog von Menschenrechten,<br />

wie er in der Europäischen Menschenrechtskonvention und inzwischen<br />

auch in der Grund rechtecharta der Europäischen Union niedergelegt<br />

ist. Daneben aber gehören auch Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Anteilnahme,<br />

Zivilisiertheit und Verantwortlichkeit zu unserem ethischen Fundament.<br />

Die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in<br />

Mittel- und Osteuropa trägt es bereits im Namen: Das Engagement –<br />

haupt- und ehrenamtlich oder durch Spenden – zur Versöhnung, zur Ermutigung,<br />

als Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

Ich wünsche Ihnen allen ein gutes Miteinander, anregende Gespräche<br />

und Stunden der gemeinsamen Besinnung.<br />

Gerhard Schröder<br />

31


Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes<br />

Baden-Württemberg<br />

Die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verbindungen zu unseren<br />

mittel- und osteuropäischen Nachbarn sind in den letzten Jahren intensiver<br />

geworden. Lebhafte Dynamik kennzeichnet unsere vertrauensvolle<br />

Zusammenarbeit, die sowohl im Großen als auch im Kleinen unsere<br />

Partnerschaft hat erblühen lassen.<br />

Diesen Weg zu einer großen europäischen Gemeinschaft gilt es fortzusetzen,<br />

um Frieden und Freiheit für unsere Kinder zu sichern. Die grundlegende<br />

Voraussetzung für den Aufbau einer Gemeinschaft stellt ein gemeinsamer<br />

Konsens der Werte dar. Diese Werte können nicht von oben<br />

angeordnet werden, sie müssen aus der Mitte der Gesellschaft kommen.<br />

Aus diesem Grund bin ich den Veranstaltern der Solidaritätsaktion der<br />

deutschen Katholiken, <strong>Renovabis</strong>, sehr dankbar, dass sie sich für diese<br />

Diskussion einsetzen und sie weiter tragen. Die Kirchen müssen auch<br />

weiterhin eine zentrale Stellung bei der Vermittlung wichtiger Werte wie<br />

Toleranz, Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit einnehmen. Ihr Beitrag für<br />

Menschenrechte und Demokratie unter der kommunistischen Herrschaft<br />

und beim Aufbau der neuen Ordnung bleibt unvergessen. Viele Projekte<br />

der Solidaritätsaktion wären ohne die Hilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter<br />

nicht möglich. Ich möchte ihnen an dieser Stelle meinen Dank aussprechen<br />

für ihr Engagement und ihren Einsatz.<br />

Allen Teilnehmern wünsche ich konstruktive und wertvolle Gespräche<br />

und Diskussionen. Die Ergebnisse werden die Entwicklung der gemeinsamen<br />

europäischen Zukunft bereichern.<br />

32<br />

Erwin Teufel


Grußwort des Präsidenten<br />

des Deutschen Bundestages<br />

„Europa – eine Wertegemeinschaft?“ – Das Thema, dem sich der 6. Internationale<br />

<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> widmet, ist eines der wichtigsten für die<br />

künftige Entwicklung Europas, gerade mit Blick auf die anstehende EU-<br />

Osterweiterung.<br />

Politisch und auch ökonomisch ist der europäische Einigungsprozess<br />

über fünf Jahrzehnte insgesamt erfolgreich verlaufen. Wenn es aber um<br />

die Entwicklung eines verbindenden Europabewusstseins, um Orientierung<br />

des Denkens und Handelns an gemeinsamen Werten geht, liegt noch<br />

ein beträchtlicher Weg vor uns. Die Entwicklung zu einer europäischen<br />

Bürgergesellschaft ist jedoch von entscheidender Bedeutung für die<br />

Zukunft Europas. Gerade für die Menschen in Mittel- und Osteuropa ist<br />

wichtig, dass sie die Europäische Union nicht ausschließlich als Wirtschaftsmacht<br />

wahrnehmen. Die Ökonomie allein kann für Europa kein<br />

tragfähiges Konzept sein. Deshalb muss auch im Westen unseres Kontinents<br />

immer wieder ins Bewusstsein gerückt werden: Vor allem anderen<br />

ist die Europäische Union eine Wertegemeinschaft, die der Achtung der<br />

Menschenwürde, der Sicherung von Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit,<br />

der Fortentwicklung von Solidarität und bürgerschaftlichem<br />

Engagement verpflichtet ist.<br />

Für das Einfordern dieser Wertorientierung sind die Kirchen besonders<br />

wichtig. Schließlich praktizieren sie seit langem über Grenzen hinweg<br />

Solidarität, engagieren sich für alte, kranke und behinderte Menschen,<br />

nehmen im europäischen Rahmen gesamtgesellschaftliche Verantwortung<br />

wahr. Damit fördern sie gemeinschaftliches Denken und Handeln<br />

der Europäer in Ost und West. Die Ausbildung eines so verstandenen Europabewusstseins<br />

wird in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung<br />

gewinnen. Deshalb wünsche ich dem 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong><br />

erfolgreiche Beratungen.<br />

Wolfgang Thierse<br />

33


Grußwort des Kommissars der Europäischen Union<br />

für Erweiterung<br />

Die europäische Integration ist, unbeschadet aller einzelnen Problem und<br />

Mängel, eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Sie schuf Frieden und Verständigung<br />

zwischen den Mitgliedstaaten und löste so die Hoffnungen<br />

und Sehnsüchte vieler Generationen Europäer ein. Die westeuropäischen<br />

Gesellschaften blühten auf und erreichten ein nie gekanntes Wohlstandsniveau.<br />

Es ist diese Integrationsleistung, die die Europäische Union zu<br />

einem attraktiven Partner für andere machte und die sie heute in die<br />

Pflicht nimmt, als globaler Akteur ihrer internationalen Verantwortung<br />

voll nachzukommen. Das Fundament der Integration ist solide: sie ruht<br />

auf den universellen Werten, die im Europa der Aufklärung ihren Ausgangspunkt<br />

haben. In Artikel 6 des EU-Vertrags heißt es dazu: „Die<br />

Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung<br />

der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtstaatlichkeit.“<br />

Diese Werte werden von der Europäischen Union nachdrücklich<br />

verteidigt. Das gilt auch für den Erweiterungsprozess, der einen wichtigen<br />

weiteren Schritt zur Einigung des europäischen Kontinents darstellt.<br />

Das politische Bekenntnis des EU-Staaten zur Erweiterung ist zunächst<br />

und zuallererst daran geknüpft, dass neue Mitgliedstaaten willens und in<br />

der Lage sind, die universellen Werte zu erfüllen und gemeinsam mit uns<br />

zu verteidigen. Die Kandidatenländer, die dieses Beitrittskriterium erfüllen,<br />

wurden zu Verhandlungen um die Mitgliedschaft in der Europäischen<br />

Union eingeladen, und es ist unzweifelhaft, dass diese Haltung der Europäischen<br />

Union in den mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern<br />

die schnelle Etablierung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, die<br />

Achtung der Menschen- und den Schutz der Minderheitenrechte klar befördert<br />

hat. Wenn alles nach dem vorliegenden Zeitplan verläuft, dann<br />

werden wir bis zu zehn neue Mitgliedstaaten noch vor den Europawahlen<br />

im Jahr 2004 willkommen heißen können.<br />

Das sich erweiternde Europa ist nicht zuallererst von wirtschaftlichen<br />

Überlegungen bestimmt, sondern von politisch-moralischen und strategischen<br />

Zielen. Europa wird stärker werden, in der Verteidigung seiner<br />

34


Werte und Vorstellungen über das gesellschaftliche Zusammenleben von<br />

Menschen. Europa wird aber auch differenzierter werden. Schon jetzt<br />

können wir beobachten, dass die Kandidatenländer, die viele leider noch<br />

als bloße künftige finanzielle Bürde wahrnehmen, zwar zu Recht auf<br />

unsere Solidarität setzen, aber weit über finanzpolitische Erwägungen<br />

hinaus sich um ihren originären Beitrag für den Zusammenhalt der erweiterten<br />

Union sorgen und dabei Themen wie die Gestaltung der Beziehungen<br />

zu unseren künftigen Nachbarn im Süden und Osten Europas genauso<br />

eine Rolle spielen wie die Verteidigung von Werten und der eigenen Identität.<br />

Um dieses Potenzial besser zu nutzen, muss die europäische<br />

Integration weiter gestärkt werden. Nur ein Mehr an Europa wird es uns<br />

ermöglichen, in der globalisierten Welt den spezifischen europäischen<br />

Weg zu verteidigen und stärker in der internationalen Politik zu verankern.<br />

Gleichzeitig muss dieses Europa für seine Bürger wieder attraktiv<br />

sein. Transparenz und möglichst bürgernahe Entscheidungen sind dafür<br />

unerlässlich. Aber genauso unerlässlich ist auch, dass eine Mehrheit wieder<br />

offensiv für die Integration einsteht. Die politischen, geistlichen, wissenschaftlichen<br />

und kulturellen Eliten sind hier in der Pflicht. Selbstverständlich<br />

bleibt richtig, dass nicht alles so weiter gehen kann und darf wie<br />

bisher. Aber ebenso richtig ist auch, dass die europäische Einigung eine<br />

Friedensleistung ist, die niemand im Interesse des künftigen gutnachbarlichen<br />

Zusammenlebens zwischen den unterschiedlichsten Völkern und<br />

Kulturen kleinreden oder gar aufgeben darf.<br />

Ich freue mich deshalb um so mehr, dass sich der diesjährige <strong>Renovabis</strong>-<br />

<strong>Kongress</strong> eingehend mit der Frage beschäftigt, auf welchen Werten dieses<br />

zusammenwachsende Europa gebaut ist und welche Bedeutung ihnen<br />

heute noch in unseren Gesellschaften zukommt. Daher begrüße ich Sie<br />

alle ganz herzlich und wünsche Ihnen allen eine informative, anregende<br />

und angenehme Zeit in Freising.<br />

Günter Verheugen<br />

35


Grußwort des Thüringer Ministerpräsidenten<br />

Vor 2500 Jahren schrieb der griechische Geschichtsschreiber Herodot:<br />

„Von Europa weiß kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist,<br />

noch wonach es benannt ist, noch wer es war, der ihm den Namen Europa<br />

gegeben hat.“ Bis heute gibt es die Schwierigkeit zu definieren, was<br />

Europa ausmacht. Europa ist eben nicht nur ein vager geographischer<br />

Begriff, sondern – wie der französische Philosoph Henri-Bernard Lévy<br />

gesagt hat – „eine Idee“.<br />

Politiker wie Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi, Paul-<br />

Henri Spaak, Konrad Adenauer und andere haben begonnen, der Idee eines<br />

friedlichen und geeinten Europas Gestalt zu geben. Die Sehnsucht<br />

nach Frieden, Stabilität und Wohlstand schuf die Bereitschaft zur Zusammenarbeit.<br />

Es war aber auch die Erfahrung und die Anschauung zweier<br />

totalitärer Regime, die die Menschen – zunächst leider nur in Westeuropa<br />

– zueinander finden ließ.<br />

Vor diesem historischen Hintergrund war die Bedeutung der Grundwerte<br />

– die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />

– im freien Teil Europas nach dem Zweiten Weltkrieg niemals<br />

umstritten. Im Gegenteil: Die Besinnung auf diese Werte, deren<br />

Wurzeln in der gemeinsamen jüdisch-christlich-abendländischen Kultur<br />

liegen, bildete die geistige Grundlage für das Zusammenwachsen der<br />

Völker Europas, und sie ist es bis heute geblieben. Europa ist eine Wertegemeinschaft!<br />

Wirtschaftliche und politische Zusammenschlüsse gibt es<br />

inzwischen viele auf der Welt, aber keine andere Gemeinschaft hat sich<br />

eine Grundrechtecharta gegeben.<br />

Die Visionen von damals, ein geeintes und demokratisches Europa zu<br />

schaffen, sind zu einem großen Teil Wirklichkeit geworden. Leider fehlt<br />

uns heute gelegentlich die Kraft, neue Visionen zu entwickeln, und wir<br />

können es jungen Leuten nicht übel nehmen, dass sie es wenig spannend<br />

finden, wenn wir ihnen sagen: „Seid dankbar, dass die Visionen von damals<br />

erfüllt sind.“ Es reicht eben nicht, in Europa über Milch-, Fleisch-<br />

36


oder Bananenquoten zu debattieren. Dann werden die Bürgerinnen und<br />

Bürger in den Mitgliedstaaten die Europäische Union auf Dauer nicht<br />

mehr als die ihre betrachten. Wir brauchen eine Diskussion über unsere<br />

Grundsätze und Ziele.<br />

Durch die abscheulichen Attentate vom 11. September 2001 hat diese<br />

Diskussion noch mehr an Bedeutung gewonnen. Die Anschläge in New<br />

York und Washington waren ein Angriff auf die ganze freie Welt. Auch<br />

deswegen müssen wir uns erneut klar machen, wofür Europa und die<br />

demokratische Staatengemeinschaft stehen und wofür wir in Zukunft<br />

eintreten wollen.<br />

„Europa – eine Wertegemeinschaft?“ lautet der Titel des 6. Internationalen<br />

<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong>. Das Fragezeichen fordert uns heraus, neu über<br />

die geistigen Grundlagen Europas nachzudenken. Eine Herausforderung,<br />

für die ich <strong>Renovabis</strong> dankbar bin! Gerade Christen sind dazu aufgerufen<br />

mitzuhelfen, wenn es darum geht, die gemeinsame Wertebasis in Europa<br />

weiter zu stärken und klar zu machen, dass Europa selbstverständlich nur<br />

als Wertegemeinschaft eine Zukunft hat.<br />

Europa ist unsere Zukunft in einer globalisierten Welt, die wir nicht zu<br />

fürchten brauchen, sondern die wir mit gestalten müssen. Schreckensszenarien<br />

von einer globalisierten Welt beschwören meist nur diejenigen,<br />

denen es an Selbstbewusstsein und klaren Wertmaßstäben mangelt. Wenn<br />

wir unsere grundlegenden Werte zur Maxime unseres Handelns machen,<br />

dann kann auch eine globalisierte Welt eine humane Welt sein. Bei allen<br />

Problemen, die uns bewegen – gerade wir Christen sollten uns einig sein:<br />

Zuversicht ist angebracht – nicht Resignation!<br />

Dr. Bernhard Vogel<br />

37


P. Dietger Demuth CSsR<br />

Schlusswort<br />

Am Ende des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong> ist es sicher noch<br />

zu früh, eine umfassende Bilanz zu ziehen. Ich möchte daher lediglich<br />

stichwortartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit noch einmal einige<br />

Aspekte aufgreifen, die in den vergangenen zwei Tagen zum Thema „Europa<br />

– eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches Handeln in christlicher<br />

Verantwortung“ zur Sprache kamen.<br />

Zunächst wurde festgehalten, dass die Kultur Europas unzweifelhaft von<br />

christlichen Wurzeln mitgeprägt ist. Unter den Bedingungen freiheitlicher<br />

Gesellschaften besagt dies jedoch keineswegs, dass christliche<br />

Werte unangefochten allgemeine Akzeptanz erfahren. Wer sich auf die<br />

Bedingungen der Freiheit einlässt, der muss mit Pluralismus leben lernen.<br />

Die Tugend der Toleranz, die nicht Gleichgültigkeit bedeutet, ist hierfür<br />

unabdingbar. Wenn wir keinen in der Gefahr des Fundamentalismus stehenden<br />

Rückzug der Kirchen aus dem öffentlichen Leben wollen, müssen<br />

wir uns als Christen dem Dialog der unterschiedlichen gesellschaftlichen<br />

Kräfte stellen.<br />

Interkonfessionelle Kooperation ist dabei gerade in der Soziallehre und<br />

-verkündigung wichtig, denn das Wort der Christen wird um so glaubwürdiger<br />

und gewichtiger, wenn sich die Kirchen bei gesellschaftlich<br />

relevanten Themen mit einer Stimme am öffentlichen Diskurs beteiligen.<br />

Spaltung oder Uneinigkeit der Christen, zwischen oder auch quer durch<br />

die verschiedenen Konfessionen, können sich in diesem Bereich besonders<br />

negativ auswirken.<br />

Das viel zitierte Wort, dass der Staat die Voraussetzungen, von denen er<br />

lebt, nicht selber schaffen kann, verweist auch darauf, dass die Gesell-<br />

38


schaft selbst dafür Verantwortung trägt, nach welchen Werten ihr Leben<br />

ausgerichtet ist. Politik und Gesetzgebung können – zumal in einer Demokratie<br />

– nur Werte stützen und schützen, die von der Mehrheit der<br />

Menschen bejaht werden. Abgesehen von den fundamentalsten Grundwerten<br />

sind regionale und kulturelle Unterschiede etwa in der Wertehierarchie<br />

der Normalfall. Ost und West können sich hier gegenseitig mit ihren<br />

jeweils besonders ausgeprägten und in der Lebenspraxis konkret<br />

erfahrbaren Wertvorstellungen bereichern.<br />

Ich möchte zum Abschluss einmal in Anlehnung an eine Formulierung<br />

von Immanuel Kant sagen – und hinzufügen: auch von Rita Waschbüsch<br />

– „Handeln ohne Orientierung an Werten ist blind, Wertbekenntnisse<br />

ohne entsprechendes Handeln sind blutleer, haben keine Lebens- und<br />

Überzeugungskraft.“ Christen können ihre Werte nur vorleben und verkünden<br />

– und sie sollten den Mut zum öffentlichen christlichen Bekenntnis<br />

haben. Gerade aus dem Glauben begründete Wertvorstellungen drängen<br />

darauf, im Leben verwirklicht zu werden. In einer säkularisierten<br />

Umwelt hat vor allem das Zeugnis der Laien große Bedeutung. Erlauben<br />

Sie mir, bei dieser Gelegenheit zu erwähnen, dass auch aus diesem<br />

Grund die Förderung des Laienapostolats <strong>Renovabis</strong> ein besonderes<br />

Anliegen ist.<br />

Zwei Grundwerte und Prinzipien der christlichen Soziallehre wurden in<br />

den vergangenen beiden Tagen immer wieder als besonders fundamental<br />

herausgestellt, nämlich die Würde des Einzelnen, also die Personalität,<br />

und das Gemeinwohl. Diese werden uns mit Sicherheit auch beim Thema<br />

des nächsten <strong>Kongress</strong>es beschäftigen. Im kommenden Jahr werden wir<br />

uns nämlich mit der Frage der „Migration“ befassen. Die genaue Formulierung<br />

des Themas steht noch nicht fest, der Arbeitstitel lautet „Grenz(en)<br />

überschreitend – Probleme und Chancen der Migration in Europa“. Als<br />

Termin, den Sie sich bitte vormerken wollen, ist der 28.–30. August 2003<br />

vorgesehen, als Tagungsort wiederum Freising. Fühlen Sie sich jetzt<br />

schon herzlich eingeladen!<br />

In Ihren Tagungsunterlagen finden Sie einen Fragebogen, in dem wir Sie<br />

bitten, uns Ihre Eindrücke und Anregungen mitzuteilen. Unsere Bitte um<br />

39


Rückmeldung bezieht sich sowohl auf inhaltliche als auch auf organisatorische<br />

Fragen. Wenn Sie den Fragebogen nicht schon jetzt ausgefüllt<br />

haben, schicken Sie ihn bitte möglichst bis Ende September an uns zurück.<br />

Abschließend möchte ich mich nochmals bei allen bedanken, die zum<br />

Gelingen unseres 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es beigetragen haben:<br />

• den Referenten und Teilnehmern an den Podiumsdiskussionen;<br />

• den Moderatoren im Plenum und in den Arbeitskreisen;<br />

• Weihbischof Schwarz für die Eröffnung;<br />

• den Zelebranten und Predigern in den Gottesdiensten: Erzbischof<br />

Graubner, Erzbischof Bozanić, Erzabt Bischof Asztrik, Bischof<br />

Kauneckas, Bischof Kabashi und Weihbischof Sudar;<br />

• den Journalisten und allen anderen Vertretern der Medien;<br />

• dem Direktor und den Mitarbeitern des Domgymnasiums;<br />

• Herrn Direktor Anneser und den Teams des Kardinal-Döpfner-Hauses<br />

und des Vinzenz-Pallotti-Hauses;<br />

• allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von <strong>Renovabis</strong>, besonders den<br />

Vordenkern und Vorbereitern des <strong>Kongress</strong>es: Herrn Dr. Albert, Herrn<br />

Professor Bremer, Herrn Dr. Dahm, Herrn Grycz, Herrn Haneke und<br />

Herrn Dr. Oeldemann.<br />

Ihnen allen danke ich für Ihr Interesse, Ihr Mitdenken und Mitdiskutieren.<br />

Ich hoffe, Sie können einige wertvolle Anregungen mit nach Hause nehmen,<br />

denn der <strong>Kongress</strong> ist wirklich ein gutes Beispiel für den Austausch<br />

der Gaben zwischen Ost und West. Ich wünsche Ihnen Gottes Segen eine<br />

gute Heimreise. <strong>Renovabis</strong> würde sich freuen, Sie auch im nächs ten Jahr<br />

wieder als Teilnehmer des <strong>Kongress</strong>es begrüßen zu können.<br />

40


II. Referate und Podiumsgespräche


Oben: Karl Kardinal Lehmann,<br />

links oben Prof. Dr. Hans Joachim<br />

Meyer, links unten Vizepräsident<br />

Dr. Ingo Friedrich MdEP


Karl Kardinal Lehmann, Mainz<br />

Christliche Wurzeln einer europäischen<br />

Gesellschaft<br />

Europa wächst in vielen Bereichen schneller zusammen, als uns oft<br />

bewusst ist. Aber auch die Spannungen und die verschiedenen latenten<br />

Interessen sind spürbar. So wird die Frage drängender, was denn dieses<br />

neue Europa zusammen hält. Fast dreizehn Jahre nach den großen Umbrüchen<br />

in Mittel- und Osteuropa und den Hoffnungen auf eine rasche<br />

Überwindung der jahrzehntelangen Spaltung machen sich oft Enttäuschung<br />

und Ernüchterung breit. In einer solchen Situation ist es wichtig,<br />

noch gründlicher als bisher nach den tragenden Faktoren der Einheit,<br />

aber auch der Trennung und der Gegensätze zu fragen. Dabei ist es gut,<br />

nicht zu kurzsichtig und kurzfristig anzusetzen.<br />

Europa zwischen Vision und Pragmatismus<br />

Ein geeintes Europa ist schon lange eine Vision. Es waren nicht nur Politiker,<br />

sondern vor allem auch Schriftsteller und andere Kulturschaffende,<br />

die gegen den Nationalismus in Europa zu Feld zogen und poetisch-<br />

utopisch ein Gemeinschaftsgefühl beschworen, das endlich aus der verwirrenden<br />

Vielfalt und der tödlichen Zerstrittenheit heraus führen sollte.<br />

Oft genug sind sie von denen belächelt worden, die sich als „Pragmatiker“<br />

auf das „Machbare“ beriefen. Die europäische Kooperation wurde<br />

dabei vielfach als Voraussetzung der Friedenssicherung und der Wahrung<br />

einer gemeinsamen Kultur verstanden. Die Visionen und Polemiken sind<br />

von einer verblüffenden Aktualität. Wenn es gelegentlich auch zu einer<br />

Begegnung zwischen poetischer Europa-Vision und politischer Praxis<br />

kam, so fehlt gerade in unserer Zeit zum Thema „Europa“ eine fruchtbare<br />

43


Begegnung zwischen Kulturschaffenden und Politikern. Den einen geht<br />

so leicht die zukunftsweisende Inspiration ab, den anderen misslingt die<br />

Vermittlung mit der nüchtern betrachteten Realität.<br />

Diese Spaltung findet sich wohl in sehr vielen Menschen. Auf der einen<br />

Seite lebt in jedem von uns die Sehnsucht nach der Überwindung enger<br />

Grenzen, nationalistischer Übersteigerung, ruinösen wirtschaftlichen<br />

Verdrängungswettbewerbs und überholter Kleinstaaterei. Viele trauern<br />

noch um den unsinnigen Tod so vieler auf den Schlachtfeldern Europas.<br />

Schikanen bei Grenzübertritten verursachen Kopfschütteln. Auch wenn<br />

uns oft weniger als eine Flugstunde von anderen Ländern trennt, so ist<br />

beispielsweise die Anerkennung vieler Schul- und Studienabschlüsse<br />

immer noch nicht ausreichend gelöst. Überall, wo sich solche Hindernisse<br />

auftürmen, gibt es bei uns allen kleinere und größere Europa-Visionen.<br />

Aber die Realität holt uns rasch wieder ein. Die Vielfalt der Sprachen<br />

zeigt uns rasch die eigenen Grenzen auf. Hinsichtlich der wirtschaftlichen<br />

Situation besteht immer noch ein großes Gefälle zwischen den einzelnen<br />

Staaten. Geht es um wirtschaftliche Interessen, werden Verhandlungen<br />

knallhart. Wir alle haben unser Wunschbild Europa im Kopf, aber<br />

es ist nicht das Ergebnis des Ausgleichs vieler Bestrebungen und Interessen,<br />

die überall existieren und berücksichtigt werden wollen, sondern oft<br />

nicht viel mehr als eine vage Utopie.<br />

Hinzu kommen Ängste. Jahrzehntelang war Europa in Ost und West gespalten.<br />

Die Mauer durch Mitteleuropa schien der einzige wirkliche Gegensatz<br />

zu sein. Nachdem sie gefallen ist, zeigt es sich, wie viele Sperren<br />

noch in unseren Köpfen sind. Dies gilt für ganz Europa. Alte nationalistische<br />

Einstellungen, die wir längst überwunden glaubten, erwachen über<br />

Nacht neu. Allianz-Muster aus dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit<br />

gewinnen in den Beziehungen der Staaten untereinander wieder<br />

die Oberhand. Blutige Bürgerkriege, wie im ehemaligen Jugoslawien,<br />

zerschlagen jäh unsere Europaträume. Viele glauben auch, wir müssten<br />

zu viel für dieses Europa opfern: eine stabile Währung, einen relativ hohen<br />

Lebensstandard, viele soziale Errungenschaften, große Freiheiten,<br />

kulturelle Vielfalt und regionalen Reichtum. Sie wittern einen mächtigen<br />

Verwaltungsapparat, der mit seiner bürokratischen Macht vieles einebnet<br />

44


und in eine gleichmacherische Uniform presst. Manchen erscheint der<br />

Integralismus der Europäischen Union mit seinen vielen Regelungsmechanismen<br />

wie das große Tier der Apokalypse. Diese Angst wird zuweilen<br />

auch bewusst geschürt.<br />

Aber es darf nicht bei dieser unfruchtbaren Gegensätzlichkeit bleiben.<br />

Wir dürfen uns nicht entmutigen und zerreiben lassen zwischen einer<br />

Europa-Vision, die an der Wirklichkeit schnurstracks vorbei läuft, und<br />

einem platten Pragmatismus, der keine moralische Kraft aufbringt gegen<br />

den Druck der Stärkeren, die Anpassung aller an das, was ist, und die<br />

Gewalt derer, die sich rücksichtslos durchsetzen.<br />

Mit diesen allgemeinen Erwartungen, die manchmal eher Wunschbilder<br />

sind, und dieser resignierten Einschätzung der Wirklichkeit lässt sich jedoch<br />

eine so große Aufgabe wie die Schaffung eines neuen Europa nicht<br />

bewältigen. Wir müssen uns neu auf die realen Möglichkeiten und unsere<br />

Verantwortung besinnen, um die Zukunft gewinnen zu können.<br />

Neue Verhältnisbestimmung von Ost und West<br />

Dabei ist ein Blick in die Vergangenheit, auf tiefe und oft weithin verborgene<br />

Folgen der Diktaturen in Mittel- und Osteuropa, dringend notwendig.<br />

Man kann nicht all das vergessen, was in Jahrzehnten geschehen ist.<br />

Grundlegende Dimensionen des Menschseins wurden in den östlichen<br />

Diktaturen jahrzehntelang ausgeblendet oder gering geschätzt: die Sehnsucht<br />

nach Freiheit, das Verlangen nach Wahrhaftigkeit, schöpferischer<br />

Entfaltung und Freizügigkeit. So ist auch der Glaube systematisch ausgetrieben<br />

worden. Das Wunder der Befreiung besteht letztlich darin, dass<br />

der Mensch – als Einzelner und in Gemeinschaft – sich mit seinen Hoffnungen<br />

und in seinem Verlangen gegen ein System durchgesetzt hat, das<br />

überaus perfekt und unüberwindlich schien. Aber auch bei denen, die dem<br />

Druck standgehalten haben, ist nach so langer Zeit vieles infiziert und<br />

angekränkelt. Wo man jahrzehntelang gegängelt wurde, ist es schwer,<br />

plötzlich Kreativität und Phantasie aufzubringen. Wer etwa nie wählen<br />

konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten, dem erscheint nun die<br />

45


Notwendigkeit einer Entscheidung zuerst wie eine Qual. Dies gilt nicht<br />

nur für politische Wahlen. Wer nicht wusste, ob Wanzen in seiner Wohnung<br />

eingebaut sind und was der Nachbar bzw. der Arbeitskollege über<br />

ihn weiter gibt, der bleibt noch geraume Zeit misstrauisch. Diese Situation<br />

muss noch für lange Zeit sehr ernst genommen werden. Es ist nicht zufällig,<br />

dass damit auch die christlichen Wurzeln zerstört worden sind.<br />

Das neue Europa ist nicht die Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen<br />

Stufe seiner Existenz, es wird aber auch nicht einfach in den Treibsand<br />

einer geschichtslosen Zukunft hineingesetzt. Der ehrliche Blick in<br />

die Vergangenheit kann auch befreiend wirken für die Zukunft. Europa<br />

war eigentlich von Anfang an immer eine Einheit in Vielfalt. Seine Kultur<br />

war aus griechischen, römischen, jüdisch-christlichen, islamischen und<br />

humanistischen Wurzeln gewachsen. Immer ging es um die zentralen<br />

Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Verantwortung, die mehr<br />

und mehr von den Institutionen der Demokratie geschützt wurden. Die<br />

schwierige Aufgabe einer wirklichen Einigung des vielgestaltigen Europa<br />

ist durch die Teilung in Ost und West lange verdeckt geblieben. Der<br />

Ernstfall einer europäischen Einigung aus Ost und West war lange Zeit<br />

eher eine Utopie, auch wenn viel davon gesprochen worden ist. Wir haben<br />

eher mit der Dauerhaftigkeit der Teilung gerechnet. Nun besteht die<br />

realistische Möglichkeit, dass Europa wieder neu zu sich kommt. Die<br />

Revolutionen in Mittel- und Osteuropa haben dazu beigetragen, dass in<br />

Europa die Geschichte nicht mehr stillsteht, sondern dass sie neu in Bewegung<br />

geraten ist.<br />

Was sich daraus entwickelt, ist jedoch keineswegs eine einfache, überschaubare<br />

Größe. Der eiserne Vorhang hat uns bis zur Wende des Jahres<br />

1989 die grundlegende Orientierung sogar relativ leicht gemacht. Geistige<br />

Bewegungen und politische Systeme prallten eindeutig aufeinander. An<br />

der Mauer konnte man gut sortieren, was der Freiheit dienen sollte und was<br />

der Versklavung zugearbeitet hat. Aber in Wirklichkeit war dieses Europa<br />

immer äußerst komplex und keineswegs homogen. Vielleicht haben uns im<br />

ersten Augenblick unter dem Einfluss eines mitunter recht hoch gestimmten<br />

Enthusiasmus manche Schlagworte die Vielfalt der inneren Situation etwas<br />

vernebelt. Die Bilder vom „gemeinsamen europäischen Haus“ oder von<br />

46


der „europäischen Familie“ sind nicht falsch, aber sie haben in ihrer Plausibilität<br />

über die Schwierigkeiten hinweg getäuscht.<br />

Dies gilt besonders auch im Blick auf den deutschsprachigen Raum. Politik<br />

und Kultur waren immer abhängig von europäischen Einflüssen.<br />

Diese strömten in die Mitte Europas ein, wurden dort aufgenommen,<br />

umgeschmiedet, auf schöpferische Weise zu Eigenem verarbeitet und<br />

schließlich wieder nach anderen Seiten hin ausgestrahlt. Erst in diesem<br />

beständigen Austausch erhalten die Länder des deutschsprachigen Raumes<br />

in Mitteleuropa Eigenart und Kontinuität.<br />

Europas Geschichte ist spannungsvoll und widersprüchlich. Sie hat auch<br />

Kehrseiten. Es ist eine Geschichte der unaufhörlichen Kriege, des Imperialismus,<br />

der Unterdrückung der übrigen Welt, des Ausblutens anderer<br />

im Dienste des eigenen Wohlstandes. Sind nicht auch viele Freiheitsträume<br />

und -ideale Vorwand für Anarchie und Willkür gewesen? Die<br />

Demokratie kam nur auf Umwegen zu uns. Sie ist nicht der europäische<br />

Regelfall. Wir haben heute eine besonders gute Chance. Die Zeit vom<br />

Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute ist die längste Friedenszeit, die<br />

Europa jemals erfahren hat. Die Zukunft Europas ist so offen wie schon<br />

lange nicht mehr. Die vielen Nationen dürfen jedoch nicht in den alten<br />

Fehler zurück fallen, vorwiegend ihre nationalen Eigeninteressen zu verfolgen.<br />

Die Nation ist trotz des hohen Ranges, der ihr zukommt, nicht der<br />

höchste Wert einer Gemeinschaft. Eine solche Situation der Offenheit,<br />

wie sie uns seit 1989 geschenkt ist, hat auch ihre Gefahren, die eine große<br />

Wachsamkeit erfordern: Es dürfen nicht die alten Bündniskonstellationen<br />

aus dem Abgrund der Geschichte auftauchen. Die Katastrophen des<br />

20. Jahrhunderts dürfen sich nicht vergeblich ereignet haben.<br />

Vielfältige Wurzeln<br />

Es braucht eine neue Identität Europas, die freilich nicht nur im politischen<br />

Bereich oder in der Übereinstimmung wirtschaftlicher Interessen<br />

gründen kann. So wichtig das Zusammenwachsen in der politischen und<br />

ökonomischen Dimension auch sein mag, so darf die kulturelle, d.h. geis-<br />

47


tig-spirituelle und ethische Identität des neuen Europa nicht so vernachlässigt<br />

werden, wie dies bisher weithin der Fall war. Die Frage nach diesen<br />

geistigen Wurzelkräften des künftigen Europa lässt sich auch nicht durch<br />

den bloßen Hinweis auf die je verschiedenen Kulturen in den einzelnen<br />

Regionen und Ländern, Sprachen und Nationen oder gar durch den Hinweis<br />

auf die weltanschauliche Neutralität und die Religionsfreiheit beantworten.<br />

Denn dies würde, spirituell und ethisch gesehen, einen Rückzug<br />

auf die Pluralität gleichgültig nebeneinander stehender Weltanschauungen<br />

oder einer Fluchtbewegung ganz ins Private gleichkommen. Tendenzen<br />

dafür gibt es genug. Hier hat der Westen gewisse Vorbehalte der Länder<br />

und Kirchen in Mittel- und Osteuropa noch nicht genügend begriffen.<br />

Die europäische Kultur ist – wie schon gesagt – aus vielen Wurzeln zusammengewachsen.<br />

Auch wenn die Völker Europas vielleicht häufiger<br />

gegeneinander als miteinander gehandelt haben, so entstammen sie doch<br />

einer gemeinsamen kulturellen Überlieferung. Es gibt auch keine Epoche,<br />

die nicht an diesen geistigen Grundlagen weiter gebaut hätte. Europa<br />

war immer ein solches Wagnis im Wandel und ist darum auch heute ein<br />

„unvollendetes Projekt“ (J. Habermas). Es wäre eine Fiktion, sich so zu<br />

verhalten, als ob dies je anders gewesen wäre, und es wäre ein Versäumnis,<br />

die uns heute gegebene Chance nicht zu ergreifen.<br />

Die Spaltung Europas hat das Schwergewicht auf Westeuropa und die<br />

Völker germanischer und romanischer Herkunft verschoben. Wir müssen<br />

wieder neu lernen, dass die slawische Welt gleichursprünglich und<br />

gleichberechtigt zu diesen Säulen Europas gehört.<br />

Der christliche Glaube – Wurzelboden Europas<br />

Es ist müßig, sich um die Vorherrschaft des einen oder anderen kulturellen<br />

Elements im geistigen Fundament Europas zu streiten. Niemand kann<br />

nämlich leugnen, dass der christliche Glaube ganz entscheidend zum<br />

bleibenden Wurzelgrund Europas gehört. Daran haben auch die Kirchenspaltungen<br />

des 11. und 16. Jahrhunderts in Ost und West nichts ändern<br />

können, so sehr die einheitsstiftende Kraft des christlichen Glaubens<br />

48


dadurch bis heute empfindlich geschwächt wurde. Europa wurde der<br />

erste Kontinent, der sich in seinem ganzen vielgestaltigen Erbe vom<br />

christlichen Glauben erfassen ließ und damit die Voraussetzung schuf für<br />

eine vom Glauben der Kirche geprägte Einheit und Kultur.<br />

In diesem Sinne sprechen wir mit Recht von „christlichen Wurzeln“ Europas.<br />

Niemand will damit behaupten, „Europa“ und „Christentum“ würden<br />

schlechthin zusammenfallen. Eine solche Identifizierung wäre auch<br />

nicht im Interesse des Christentums selbst, denn der christliche Glaube ist<br />

eine Einladung zur Gemeinschaft mit Gott, die an alle Menschen gerichtet<br />

ist. Das Christentum darf in seiner universalen Sendung nicht „eurozentrisch“<br />

verkürzt werden. Es hat durch die Kraft des Geistes die Fähigkeit<br />

zur Inkulturation bei allen Völkern und in allen Sprachen. Aber niemand<br />

wird deshalb leugnen, dass der christliche Glaube der Kultur Europas<br />

so sehr Gestalt verliehen hat, dass sie ohne ihn ihre Identität nicht bestimmen<br />

könnte. Auch der einzelne Europäer, selbst wenn er sich vom<br />

Glauben völlig lossagen sollte, muss sich immer wieder der Frage nach<br />

dem Sinn des Christentums und der von ihm inspirierten Kultur stellen.<br />

Die Neuheit und die tief wirksame, ja unverbrauchbare Kraft des christlichen<br />

Glaubens zeigen sich in der europäischen Kultur auch dann noch,<br />

wenn andere, zum Teil auch entgegengesetzte oder feindselige Tendenzen<br />

die Geschichte mitbestimmen. Der christliche Glaube hat auch sehr<br />

viele Anstöße für Einstellungen und Einrichtungen gegeben, die – wenigs<br />

tens später – oft außerhalb der Kirche oder manchmal auch gegen sie<br />

standen. Man denke nur an den Humanismus, die Rolle der Technik, die<br />

Bedeutung der Wissenschaft und die Entdeckung sowie den Rang der<br />

Menschenrechte. Auch die konkrete Humanität Europas ist noch in Bewegungen,<br />

die dem christlichen Glauben ferner gerückt oder gar fremd<br />

geworden sind, vom christlichen Erbe inspiriert, z. B. in Werken der<br />

Wohltätigkeit. Heute ist eine solche Herkunft oft vergessen, wird nicht<br />

selten verleugnet oder auch entstellt. Aber es bleibt eine ernsthafte Frage,<br />

wie weit grundlegende Einsichten des christlichen Menschenbildes, wie<br />

z. B. Personwürde oder Barmherzigkeit bzw. Vergebung, abgespalten<br />

werden können vom lebendigen Wurzelgrund des Glaubens, ohne dass<br />

sie – wenigstens auf Dauer – ihren authentischen Sinn verlieren. Das<br />

49


Christentum muss heute in gemeinsamer ökumenischer Verantwortung<br />

manches Geistesgut, das aus dem Bereich der Kirche ausgewandert und<br />

fast unkenntlich geworden ist, wieder identifizieren, sich neu aneignen<br />

und mit seinem eigenen Leben füllen. So ist etwa Menschenwürde für<br />

jede einzelne Person und in jedem Fall nach meiner Überzeugung auf<br />

Dauer nicht aufrechtzuerhalten ohne die Glaubensüberzeugung, dass der<br />

Mensch Ebenbild Gottes ist und darin seine Auszeichnung und Würde<br />

findet. Dies zeigt sich in unserer heutigen Diskussion um die Person- und<br />

Menschenwürde auch des ungeborenen Kindes und im Bereich der<br />

Bioethik und Gentechnologie. Christliche Werteüberzeugungen können<br />

regelrecht auswandern und sich ihrem Ursprung entfremden.<br />

Wenn wir von Europa sprechen, blicken wir aus christlicher Verantwortung<br />

also nicht primär zurück, träumen nicht nostalgisch von einem romantisch<br />

vergoldeten „Abendland“ (das es in dieser Gestalt dann doch niemals<br />

gab!), sondern sorgen uns um das gegenwärtige und künftige Europa mit<br />

seinen Spannungen und Widersprüchen. Dabei sind wir uns bewusst, dass<br />

es sich heute in diesem Europa um Zivilisationen handelt, die dazu neigen,<br />

in der Gestaltung des menschlichen Lebens von der Beziehung zu einem<br />

lebendigen Gott völlig abzusehen und allein den eigenen Kräften der<br />

menschlichen Vernunft, der Wissenschaft und der Technik zu vertrauen.<br />

Die Christen müssen entschieden die offene Auseinandersetzung und den<br />

geistigen Wettbewerb mit jenen aufnehmen, die das neue Europa unter<br />

Ausschluss christlicher Wirkkräfte und erst recht der Kirchen gestalten<br />

möchten. Der Glaube an den dreifaltigen Gott und an die unverletzbare<br />

Menschenwürde hat gerade nach den Ereignissen der „Wende“ allen<br />

Grund, wieder mutiger, tiefer und überzeugender Rechenschaft abzulegen<br />

von der Hoffnung, die in uns lebt und die uns erfüllt. Die Christen<br />

haben zu viel Kleinglauben, eine zu große geistig-spirituelle Trägheit und<br />

Feigheit. Sie brauchen mehr Mut zum Bekenntnis und mehr Freude am<br />

Evangelium. Dann brauchen sie auch keine Angst zu haben vor den gegenwärtigen<br />

Herausforderungen.<br />

Europa darf sich freilich nicht bloß auf sein christliches Erbe von früher<br />

berufen, sondern muss durch das heutige Zeugnis der Christen in Stand<br />

50


gesetzt werden, in der Begegnung mit der Person und der Botschaft Jesu<br />

Christi neu über seine Zukunft zu entscheiden. Nur unter diesen Voraussetzungen<br />

gilt das Wort, dass die Kirche nicht am Ende ist. Dazu brauchen<br />

wir Kirchen im Westen die Hilfe und das Beispiel der Schwestern<br />

und Brüder in Mittel- und Osteuropa, die ihre Stärke und Freude des<br />

Glaubens, lange im Leiden erprobt, nicht um das Linsengericht moderner<br />

Anpassung preisgeben dürfen.<br />

Das christliche Proprium in einem säkularisierten Europa<br />

Europa hat christliche Wurzeln, aber es ist heute entwurzelt. Es nützt<br />

nichts, ein Klagelied über die Säkularisierung anzustimmen, vielmehr<br />

muss sich der Glaube in dem vielstimmigen Chor der Stimmen, die in<br />

einer pluralistischen Gesellschaft laut werden, zu Wort melden und behaupten.<br />

Es hat keinen Sinn, insgeheim doch auf so etwas wie ein christliches<br />

Abendland zu warten, wo die Kirche eine zentrale geistige Führung<br />

und Steuerungsfunktion innehätte. Vielmehr muss die Kirche unter den<br />

Voraussetzungen von Religionsfreiheit und Pluralismus ihre Stimme ungeschwächt<br />

zur Sprache bringen.<br />

Diese Grundsituation ist zwar mit Worten leicht zu akzeptieren, aber es<br />

ist viel schwieriger, sie auch von innen anzunehmen. Es wird besonders<br />

darauf ankommen, dass die Kirchen in Mittel- und Osteuropa sich nicht<br />

an irgendwelchen Modellen der Vergangenheit orientieren. Manchmal ist<br />

es erschreckend zu sehen, wie sehr man sich wieder an solche anti quierten<br />

Modelle anlehnt – oft aus Verlegenheit. Wir im Westen sind gewiss nicht<br />

die unfehlbaren Lehrmeister, dürfen jedoch den Rat geben, den Anspruch<br />

des Glaubens in den heutigen Gesellschaften mehr durch Einladung, Argumentation<br />

und Überzeugungsarbeit zu vermitteln als mit Hilfe vorwiegend<br />

monologischer Erklärungen oder autoritativer Weisungen, die in<br />

Einzelfragen durchaus ihren Sinn haben können.<br />

Was die Kirche zuerst tun muss, ist das, was ihre ureigene Aufgabe ist<br />

und was sie täglich vollzieht: die Verkündigung des Evangeliums. Alle<br />

Erneuerungsbemühungen der letzten Jahrzehnte, auch des Zweiten Vati-<br />

51


kanischen Konzils, zielten darauf, dass die Kirche selbst immer mehr fähig<br />

werde, den Menschen unserer Zeit das Evangelium zu verkünden.<br />

Man hat dies mit guten Gründen Neu-Evangelisierung genannt. Der<br />

Begriff ist oft genug verdächtigt worden, als ob er einen katholischen<br />

Allein- und Sonderanspruch für eine „Rechristianisierung“ Europas zum<br />

Ausdruck bringe. Schon die Sonder-Versammlung der Bischofssynode<br />

für Europa hat in ihrem Schlussdokument am 13. Dezember 1991 unmiss<br />

verständlich mit Zustimmung des Papstes klar gestellt: „Die Neu-<br />

Evangelisierung ist kein Programm zu einer sogenannten ‚Restauration‘<br />

einer vergangenen Zeit Europas, sondern sie verhilft dazu, die eigenen<br />

christlichen Wurzeln zu entdecken und eine tiefere Zivilisation zu begründen,<br />

die zugleich christlicher und so auch menschlich reicher ist.<br />

Diese ‚Neu-Evangelisierung‘ lebt aus dem unerschöpflichen Schatz der<br />

ein für allemal in Jesus Christus erfolgten Offenbarung. Es gibt kein<br />

‚anderes Evangelium‘. Mit Bedacht wird sie Neu-Evangelisierung genannt,<br />

weil der Hl. Geist stets die Neuheit des Wortes Gottes hervorbringt<br />

und beständig die Menschen geistig und geistlich aufweckt. Diese Evangelisierung<br />

ist auch deshalb neu, weil sie nicht unabänderlich an eine<br />

bestimmte Zivilisation gebunden ist, da das Evangelium Jesu Christi in<br />

allen Kulturen aufleuchten kann.“ An dieser Aussage, um die viel gerungen<br />

wurde, kann man nicht vorbei gehen.<br />

Die Kirche leistet auch für das künftige Europa das Beste, wenn sie ihrem<br />

eigenen Auftrag treu bleibt. Dann baut sie nämlich durch ihre Verkündigung<br />

und den Religionsunterricht, ihre Theologie und ihre vielfältige<br />

Präsenz in der Gesellschaft die Werte auf, die einer Erneuerung bedürfen:<br />

die Menschenwürde, das Menschenbild, das Ethos des Alltags, die Verwirklichung<br />

einer Einheit in den „Grundwerten“ mitten in aller weltanschaulichen<br />

Vielfalt. Es besteht kein Zweifel, dass zu diesen Aufgaben<br />

auch die Vertiefung und Verbreitung der christlichen Sozialethik gehört,<br />

wie sie in der katholischen Soziallehre eine in der Kirche verbindliche<br />

Gestalt gefunden hat. Was hier an gesellschaftlichen Gestaltungsprinzipien<br />

formuliert worden ist, bedarf gewiss der Konkretisierung. Wenn in<br />

jüngster Zeit sogar in den Maastrichter Verträgen das Prinzip der Subsidiarität<br />

angeführt wird, gewiss in Anlehnung an die Tradition der Katholischen<br />

Soziallehre, dann ist dies nur ein Beleg dafür, wie solche Gestal-<br />

52


tungsprinzipien gleichsam über Nacht eine überraschende Bedeutung<br />

erhalten. Hier wäre vieles zu sagen über die vielen Felder, auf denen vor<br />

allem Laien sich für den Aufbau eines neuen Europa aus dem Geist des<br />

Christentums einsetzen: Förderung der Würde des Menschen, Ehrfurcht<br />

vor dem unantastbaren Recht auf Leben, Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit,<br />

Rolle von Ehe und Familie, Sorge um das Gemeinwohl,<br />

Bewahrung der Schöpfung, Verantwortung für die Medien. Es wäre von<br />

der Frauenfrage bis zur Gesundheitspolitik ein weiter Katalog von Anwendungsgebieten,<br />

der hier entfaltet werden müsste.<br />

Die katholische Kirche ist eine Weltkirche, die in ihren eigenen Strukturen<br />

immer wieder neu um die Balance von Einheit und Vielfalt ringen<br />

muss. Deshalb wird die Kirche einerseits gewiss für wirksame Strukturen<br />

einer europäischen Einigung eintreten, aber andererseits auch den Integrationsprozess<br />

kritisch begleiten. Die Europäische Union darf nicht eine<br />

große Planierraupe werden, die auf dem Weg zur Integration besonders<br />

die regionalen Kultureigenheiten niederwalzt. Die Modernisierung ist<br />

nicht so unschuldig, wie sie sich gibt. Sie gefährdet und zerstört oft auch<br />

unreflektiert z. B. religiös geprägte Milieus.<br />

Neben den europäischen Einheitskonzepten sind die nationalen und regionalen<br />

Besonderheiten der einzelnen Länder nicht minder wichtig. Es<br />

gibt eine Einheitsbesessenheit, die ungeniert an der Vielheit der Sprach-,<br />

Denk- und Lebensformen Europas vorbeigeht. Die Kirchen werden hier<br />

gerade durch ihre feste Verwurzelung in den einzelnen Ländern eine Europa-Mentalität<br />

fördern, die das verbindliche Allgemeine bejaht, ohne die<br />

Bedeutung des Lokalen und Regionalen zu verwischen.<br />

Die Kirche denkt weltweit. Sie kann Europa nicht ohne die anderen Kontinente<br />

begreifen. Es wäre nämlich das verhängnisvolle Zeichen eines<br />

kollektiven Egoismus, wenn das neue Europa sich selbstzufrieden von<br />

den Nöten der übrigen Welt zurückziehen würde. Dafür gibt es leider<br />

einige Anzeichen. Aber dies dürfen wir nicht hinnehmen. Im Gegenteil,<br />

Europa muss möglichst bald seine weltweite Verantwortung gegenüber<br />

den Armen, unterentwickelten Völkern, der Hungersnot, der Schuldenlast,<br />

vielfältiger Ungerechtigkeit und der Bedrohung der Schöpfung unter<br />

53


Beweis stellen. Die Migrationsbewegungen und das Nord-Süd-Gefälle<br />

werden von den künftigen Europäern verlangen, dass sie immer wieder<br />

über ihre eigenen Interessen hinaus gelangen und sich den noch stärker<br />

werdenden Nöten der Weltgesellschaft zuwenden. Ohne diese Perspektiven<br />

und diesen Horizont wären wir nicht wahrhaft katholisch im ursprünglichen<br />

Sinne des Wortes.<br />

Das größte Hindernis für die Aufgabe der Kirchen, ihre eigene Verantwortung<br />

für Europa mit voller Kraft und glaubwürdig zu vertreten, ist<br />

ihre Spaltung, ihre Zerrissenheit. Gewiss gibt es in den letzten Jahrzehnten<br />

auf fast allen Gebieten eine ermutigende ökumenische Zusammenarbeit.<br />

Auch findet man in den Europa-Initiativen der evangelischen,<br />

katholischen und orthodoxen Kirchen Europas viele gemeinsame Tendenzen.<br />

Ich nenne nur die Neu-Evangelisierung als erste Aufgabe. Wenn<br />

wir einander näher kommen wollen, kann dies nur gelingen, wenn wir<br />

gemeinsam und einzeln mehr auf die Mitte zugehen, die Jesus Christus<br />

ist.<br />

Neuer Schwung für ein neues Europa<br />

Die Kirchen können also dazu beitragen, den Werteüberzeugungen zu<br />

mehr Vitalität zu verhelfen. Werteüberzeugungen brauchen konkrete Vorbilder.<br />

Der christliche Glaube ist dafür nach wie vor die größte Stütze im<br />

zusammenwachsenden Europa. Die Kirchen sind traditionelle und zukunftsweisende<br />

sinnstiftende Institutionen.<br />

Besondere Bedeutung erlangen die Werteüberzeugungen auch für die<br />

Länder, die in naher Zukunft der Europäischen Union beitreten werden.<br />

Es genügt nicht, die Einhaltung eines gemeinschaftlichen Niveaus<br />

(„acquis communitaire“) von ihnen zu verlangen. Es muss sicher gestellt<br />

werden, dass diese Länder sich mit ihrem vielfältigen kulturellen und religiösen<br />

Leben in der Europäischen Union aufgehoben fühlen können. Gelingt<br />

es nicht, eine Vitalisierung der Werteüberzeugungen zu erreichen, so<br />

wird die Erweiterung der Union eine müde Geschichte sein und die oft<br />

beklagte Mattigkeit Europas vielleicht eher noch verschlimmern. Vor die-<br />

54


sem Hintergrund ist zu überlegen, ob nicht der Begriff bloßer „Erweiterung“<br />

durch den Begriff der Europäisierung ersetzt werden sollte. Der<br />

Begriff „Erweiterung“ lässt den Eindruck entstehen, es handele sich bloß<br />

um eine quantitative Vervollständigung Europas im Sinne einer neuen<br />

Ganzheit. Das ist nicht der Fall. Es geht vielmehr um eine qualitativ-kulturelle<br />

Vervollständigung Europas. Dieses Verständnis würde die Grundlage<br />

schaffen für neue Visionen zur Verwirklichung der europäischen Einigung<br />

und könnte zu einer wirklichen, auch spirituellen Dynamisierung des Prozesses<br />

beitragen. Den Kirchen wird dabei eine wesentliche Rolle zukommen,<br />

auch wenn man ihnen nicht allein diese Aufgabe aufbürden darf.<br />

Wir sehen manchmal im Westen und im Osten Europas überwiegend die<br />

Probleme der Erweiterung Europas vor allem aus der ökonomischen und<br />

vielleicht auch politischen Perspektive. In dieser Hinsicht gibt es gewiss<br />

trotz aller Fortschritte in den gegenwärtigen Vorverhandlungen noch wenig<br />

gelöste Probleme, die man im Interesse der einzelnen Länder gewiss<br />

nicht übergehen darf. In Polen ist z.B. die Klärung der Zukunft der Landwirtschaft<br />

eine wirkliche elementare Lebensfrage, für viele Bauern sogar<br />

eine Überlebensfrage. Aber vielleicht muss man betonen, dass dies eine<br />

legitime Sehweise ist, die freilich insgesamt der Erweiterung bedarf. Wir<br />

sind durch die jahrzehntelange Trennung Europas in Folge des Eisernen<br />

Vorhangs zu sehr gewohnt, „Europa“ weitgehend mit Westeuropa zu<br />

identifizieren. Es war immer schon eine ungelöste Aufgabe neben den<br />

westlichen und südlichen Kulturen, neben dem griechischen und lateinischen,<br />

germanischen und sogar arabischen Kulturbeitrag die viel höhere<br />

Bedeutung der osteuropäischen Geschichte, ja des slawischen Erbes in<br />

Europa gebührend in Rechnung zu stellen. Ich habe den Eindruck, dass<br />

wir auch ein Dutzend Jahre nach dem Verschwinden der kommunistischen<br />

Diktaturen in unseren Köpfen diese tiefe Zusammengehörigkeit<br />

noch nicht genügend rezipiert haben. Deswegen sollten wir mit einem<br />

Sprachgebrauch wie „Erweiterung“ in der Tat viel vorsichtiger sein. Das<br />

westliche Europa in den Grenzen der Europäischen Union darf sich nicht<br />

als eine in der Substanz vollständige Größe begreifen, zu der eben andere<br />

hinzukommen. Es geht also um mehr, wenn wir vorschlagen, von „Europäisierung“<br />

zu sprechen. Im Übrigen haben wir ja auch in der westlichen<br />

Kirche ähnliche Probleme. Darum hat Papst Johannes Paul II., der hier<br />

55


auch als ein Pole mit der geistigen, historischen und gesellschaftlichen<br />

Erfahrung seines Heimatlandes spricht, bei seinen Äußerungen zu Europa<br />

immer wieder von den beiden Lungenflügeln in Ost und West<br />

gesprochen und uns durch die Ausrufung der Slawenapostel Kyrillos und<br />

Methodios zu Patronen Europas eine bleibende Erinnerung dafür geschaffen.<br />

Dies hat eine ganz besondere Bedeutung, auch im Blick auf den<br />

Ort und die Bedeutung Europas in der Welt. Wir spüren dies nicht nur seit<br />

dem 11. September 2001.<br />

Auch um seine Rolle in der Welt erfüllen zu können, bedarf Europa der<br />

inneren Festigung. Die Werte, die Europa zu bieten hat, sind Ergebnis<br />

einer Kulturgeschichte, die über die Jahrhunderte hart erkämpft worden<br />

sind. Sie sind auch heute ständigen Anfechtungen ausgesetzt und müssen<br />

immer wieder neu entdeckt, erneuert und verteidigt werden. Wenn sie<br />

hinaus getragen werden sollen in die Weltgemeinschaft, in der es Bestrebungen<br />

zur Realisierung dieser Werte, aber auch mannigfaltige Rückschläge<br />

gibt, so ist die erste Voraussetzung ein glaubwürdiger Einsatz für<br />

sie und die überzeugende Darstellung dieser Werte nach innen. Die Prinzipien<br />

der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität,<br />

der Freiheit und des Friedens müssen für eine eigene staatliche und gesellschaftliche<br />

Ordnung Europas unter neuen Bedingungen entwickelt<br />

und angewendet werden. Die Entwicklung einer neuen Sensibilität und<br />

Erfahrung europäischer Zusammengehörigkeit ist unerlässlich. Solidarität<br />

und Zusammengehörigkeitsgefühl sind aber nicht durch Aufrufe oder<br />

eine vordergründige Europabegeisterung zu erreichen.<br />

Für alle gemeinsamen europäischen Aufgaben bedürfen wir einer gemeinsamen<br />

Werteüberzeugung. Wie kann eine solche gefunden werden?<br />

Genauso wie jeder einzelne Staat kann Europa diese Werteüberzeugung<br />

nicht allein aus sich heraus schaffen. Um so mehr aber stellt sich die<br />

Frage: Wo sind die Kräfte verwurzelt, die dieser abstrakten Gesellschaft<br />

jene Substanz vor allem in ethischer Hinsicht geben, welche diese Gesellschaft<br />

konkret-geschichtlich trägt? Von woher haben Staat und Gesellschaft<br />

jene Fundamentalüberzeugungen vom Sinn menschlichen Zusammenlebens,<br />

die sie selber nicht gewährleisten? Der moderne Staat kann<br />

sie nicht erzeugen, da er seine weltanschauliche Neutralität aufgeben<br />

56


müsste. Hier ist an das bekannte Wort des Staatsrechtslehrers Ernst-Wolfgang<br />

Böckenförde zu erinnern: Der säkularisierte Staat und die moderne<br />

Gesellschaft leben von Voraussetzungen, die sie nicht selber garantieren<br />

können, auf die sie aber elementar angewiesen sind. Es kommt damit auf<br />

jene gemeinsamen Rechtsgüter, Grundsätze und Überzeugungen an, die<br />

den Menschenrechten und Grundrechten voraus liegen und diese erst begründen.<br />

Das Christentum steht an der Wiege vieler solcher Grundwerte,<br />

die – wie immer ihr letzter Kern begründet wird – eine universal vermittelbare<br />

und mit der menschlichen Vernunft vollziehbare Einladung bzw.<br />

Verpflichtung für alle darstellen.<br />

Jacques Delors, überzeugter Katholik und Sozialist, bezeichnete es 1992<br />

in seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Kommission vor<br />

allem als eine Aufgabe der Kirchen, dazu beizutragen, das von ihm aufgedeckte<br />

und bedauerte „moralische Defizit“ in Europa zu überwinden.<br />

Er hat auf das Fehlen einer kräftigen sozialen Dimension, auf die Umwelt-<br />

und Wissenschaftspolitik hingewiesen und auf die großen bioethischen<br />

Fragen. Er sagte: „Wenn es uns nicht gelingt, unserem Kontinent<br />

wieder eine ‚Seele‘ zu geben, verlieren wir den Kampf um Europa – denn<br />

mehr denn je werden wir mit ethischen und politischen Fragen konfrontiert.<br />

Hierbei spielen Kirche und Religion eine wesentliche Rolle.“ Der<br />

heutige Präsident Romano Prodi denkt ähnlich.<br />

Nicht vergessen werden sollte auch, dass die Gründerväter Europas gerade<br />

keine Bürokraten und Technokraten waren. Sie waren erfahrene Politiker,<br />

die das Ohr am Puls der Zeit und der Menschen hatten. Sie waren<br />

vor allem auch überzeugte Christen und daher den religiösen Wurzeln<br />

Europas verhaftet. Sie stellten bei ihren Überlegungen die Bürger in den<br />

Vordergrund. Jean Monnet sagte dazu: „Nicht Staaten vereinigen wir,<br />

sondern Menschen“. Und er gab einen Hinweis, der für das Europa am<br />

Scheideweg sehr aktuell ist, als er sagte: „Wenn ich noch einmal anfangen<br />

könnte, würde ich mit der Kultur anfangen.“ Alfred Grosser, der als<br />

europäischer Denker, als Nichtkirchenmitglied und doch Sympathisant<br />

für die Rolle der Kirchen einen Namen hat, drückte es so aus: „Nicht das<br />

Wort Europa ist notwendigerweise bedeutsam für das Aufbauen eines<br />

Europa, das wir uns wünschen, sondern eine ethische Grundeinstellung,<br />

57


die von Gläubigen und Ungläubigen zusammengebracht wird. Hierbei<br />

fällt den Kirchen eine enorme Rolle zu, nämlich zu stimulieren, damit aus<br />

dem Christentum das Beste für das Gemeinwohl der gesamten Gemeinschaft<br />

gemacht wird.“<br />

Damit die Kirchen diese Rolle auch wahrnehmen können, brauchen sie<br />

einen Freiraum, den der Staat nicht einengen darf. Nur ein solcher Freiraum<br />

ermöglicht den Kirchen, ihren Beitrag zum sozialen Miteinander zu<br />

leisten und die Beteiligung des Einzelnen und kleiner Gruppen zu aktivieren.<br />

Darum ist es so wichtig, die Kirchen nicht einfach als Teil der<br />

Zivilgesellschaft oder als Nichtregierungsorganisationen zu betrachten,<br />

wie es derzeit auf europäischer Ebene oft geschieht. Die Kirchen sind<br />

keine Organisationen im Sinne von so genannten NROs oder NGOs * , die<br />

die Interessen ihrer Mitglieder bündeln, um sie wirkungsvoller in die<br />

Politik einzubringen. Die Kirchen handeln in Erfüllung ihres eigenen Auftrags,<br />

der ihnen vom Evangelium – im Gebot der Nächstenliebe und im<br />

Eintreten für die Gerechtigkeit – aufgegeben ist. In diesem Sinne ist der<br />

Status der Kirchen in Europa wesentlich, so wie er auch seine Anerkennung<br />

gefunden hat in der sogenannten „Kirchenerklärung“ zum Amsterdamer<br />

Vertrag. In dieser Erklärung bekennt sich die Europäische Union<br />

zum geistig-religiösen Erbe und anerkennt den Status der Kirchen in den<br />

einzelnen Mitgliedstaaten. Diese Bewertung gilt es beizubehalten und zu<br />

festigen. Aber sie darf nicht so sehr rückwärtsgewandt verstanden werden,<br />

wie es oft geschieht. Dies bedeutet praktisch eine Relativierung der Bedeutung<br />

für die Gegenwart. Es geht vielmehr um eine offensive Investition<br />

in die Zukunft. In den jetzt anstehenden Reformprozess sollten die<br />

Kirchen darum besser einbezogen werden. Sie können und wollen in diesem<br />

Reformprozess als diejenigen, die die geistigen und religiösen Grundlagen<br />

Europas vertreten und bewahren, einen wesentlichen Beitrag leisten.<br />

Das hat die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft<br />

(ComECE) in einer Erklärung zum Europäischen Rat von<br />

Laeken und in weiteren Stellungnahmen immer wieder betont. Angemahnt<br />

wird dabei die Möglichkeit der Kirchen, an der Arbeit des Konvents<br />

beteiligt zu werden. Dies kann aber auf verschiedene Weise geschehen.<br />

* Nichtregierungsorganisationen (Anm. d. Redaktion).<br />

58


Dabei muss man ein klares Augenmaß haben. Wer zu viel verlangt, kann<br />

leicht gänzlich scheitern. Gewiss gibt es noch zu klärende Probleme hinsichtlich<br />

der Stellung von Religion und Kirche in einem künftigen Verfassungsvertrag,<br />

wie z. B. die Frage eines Gottesbezugs in der Präambel.<br />

Es ist nicht sinnvoll, ein positives europäisches Religionsrecht zu schaffen,<br />

das Aufnahme finden müsste in die Verfassung. Für viele Bereiche<br />

besteht hier keine Zuständigkeit der Europäischen Union. Wenn gemeinsame<br />

Bestimmungen etwa in einen allgemeinen Kirchenartikel aufgenommen<br />

würden, könnte dies leicht kontraproduktiv werden. Es könnte<br />

nämlich nur ein kleinster gemeinsamer Nenner das Ergebnis sein, der die<br />

Handlungsmöglichkeiten der Kirche z. B. in Deutschland erheblich einschränken<br />

und beschneiden würde. Wichtiger ist es hier, im Rahmen einer<br />

europäischen Verfassungsvereinbarung die nationalen und regionalen<br />

Regelungen zu sichern.<br />

Zur Zeit erleben wir die Welt in einem großen Umbruch. Auch die Europäische<br />

Union steht an einem Scheideweg. Die Gefahren, die von außen drohen,<br />

ebenso wie drängende Fragen, wie sie sich zur Zeit auf europäischer<br />

Ebene am Beispiel der Bioethik oder der Zuwanderung oder der sozialen<br />

Rechte von Arbeitnehmern stellen, verlangen nach einer Antwort. Wir müssen<br />

fragen, wie die ökonomisch erfolgreiche europäische westliche Gesellschaft<br />

ihre kulturelle Apathie überwinden kann. Angesichts der Notwendigkeit<br />

der Integration eines Europa, das nicht homogen, sondern von kultureller<br />

Verschiedenheit geprägt ist, können gerade die Kirchen zur stärkeren<br />

„Europäisierung“ der Europäischen Union beitragen – und zwar dadurch,<br />

dass sie ihre traditionelle, im Glauben gründende Option für die Modernisierungsverlierer<br />

wahrnehmen, indem sie zivilgesellschaftliche Ressourcen<br />

fördern, indem sie grundlegende sozialethische Diskurse über eine gerechte<br />

Wirtschaft, politische Partizipation und kulturelle Integrität einfordern.<br />

Wie ich auf dem <strong>Kongress</strong> der Europäischen Gesellschaft für katholische<br />

Theologie im August 2001 in Graz bereits gefordert habe, darf es keine<br />

europäische Dominanz auf Kosten regionaler Identität geben. Die da und<br />

dort bestehende Einheitsbesessenheit darf nicht ungeniert an der Vielheit<br />

der Sprachen sowie der Denk- und Lebensformen Europas vorbeigehen.<br />

Auf diesen Punkt werde ich nochmals eigens zurück kommen.<br />

59


Wir dürfen aber nicht nur auf Europa selbst schauen. Dies war auch in der<br />

Geschichte kaum je der Fall. * Europa muss möglichst bald seine weltweite<br />

Verantwortung gegenüber den Armen, den Entwicklungsländern,<br />

dem Hunger, der Schuldenlast, vielfältiger Ungerechtigkeit und Bedrohung<br />

der Schöpfung unter Beweis stellen.<br />

In diesem Zusammenhang müssen die Kirchen Fehlentwicklungen viel<br />

stärker entgegensteuern und eine Europa-Mentalität in globaler Verantwortung<br />

fördern. Dies geschieht auf der einen Seite durch einen intensiven<br />

Einsatz zugunsten der Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Auf der<br />

anderen Seite gibt es auch eine regionale Zusammenarbeit vor allem im<br />

Bereich von Ausgleich und Versöhnung zwischen solchen Staaten, die sich<br />

im letzten Jahrhundert in mörderischen Kriegen feindlich gegenüber standen.<br />

Neuanfänge waren schon sehr früh zu beobachten, etwa als während<br />

des Zweiten Weltkrieges der französische Bischof Théas von Lourdes im<br />

März 1945 einen Gebetsaufruf für den Frieden und zur Versöhnung mit<br />

den Deutschen initiierte, woraus übrigens die Pax-Christi-Bewegung als<br />

Internationale Katholische Friedensbewegung hervorging, die heute in<br />

über 50 Ländern der Welt eindrucksvoll tätig ist. Diesen Bemühungen<br />

muss die Aussöhnung mit unseren östlichen und südosteuropäischen<br />

Nachbarländern hinzugesellt werden. Ich brauche hier nicht den langen<br />

Weg der deutsch-polnischen Versöhnung nachzuzeichnen, der den berühmten<br />

Briefwechsel zwischen dem deutschen und dem polnischen Episkopat<br />

am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) zu einem Höhepunkt<br />

führte. Ähnliches ist auch zwischen der Tschechoslowakischen<br />

bzw. Tschechischen und der Deutschen Bischofskonferenz besonders in<br />

der Wendezeit 1989/90 geschehen, wobei ich an die fruchtbare Kooperation<br />

mit dem Erzbischof von Prag, Miloslav Kardinal Vlk, und ebenso mit<br />

seinem mutigen Vorgänger, Frantisˇek Kardinal Tomasˇek, denke.<br />

Darüber hinaus muss noch der interreligiöse Dialog, das Gespräch zwischen<br />

den Religionen, genannt werden. Er ist wichtig, um gemeinsam<br />

den Sinn von Religion auch in der modernen Welt aufzuzeigen und zu<br />

stützen, um die „Grundwerte“, die den Religionen gemeinsam sind – man<br />

* Vgl. dazu G. Schulz, Europa und der Globus, Stuttgart 2001.<br />

60


denke z. B. an das Projekt „Weltethos“ von Hans Küng – zu festigen und<br />

um gemeinsam sowohl in den einzelnen Ländern als auch weltweit Religionsfreiheit<br />

und gegenseitige Achtung, Frieden und Solidarität zu fördern.<br />

Dabei ist in Europa der Dialog besonders wichtig mit dem Judentum,<br />

das zu den Fundamenten des Christentums gehört, und mit dem<br />

Islam, der mit dem Judentum und dem Christentum zu den abrahamitischen<br />

Religionen gehört und außerdem die religiöse Überzeugung sehr<br />

vieler Mitbürger in den meisten Ländern vor allem Westeuropas darstellt.<br />

Dieser Prozess einer tieferen Fundierung gemeinsamer Werte geschieht<br />

im Dialog und durch Argumentation. Es muss dabei auch einen echten<br />

geistigen Wettbewerb geben, der nicht durch Machtansprüche und politisch-ökonomische<br />

Interessen verzerrt werden darf. Für dieses Gespräch,<br />

das an der Suche nach der Wahrheit orientiert sein muss, ist die Unterscheidung<br />

der Geister immer wieder wichtig. Es kann nicht um eine billige<br />

Anpassung an bestimmte Trends oder um eine gemeinsame Grundlage<br />

auf dem kleinsten Nenner gehen. Es ist gut, wenn wir uns hier an<br />

eine Orientierung des heiligen Paulus halten, der schon im ältesten Dokument<br />

des christlichen Glaubens uns die Weisung mitgibt: „Prüft alles und<br />

behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21). Ähnlich sagt es im Blick auf die Beziehung<br />

zu den nichtchristlichen Religionen die Erklärung des Zweiten<br />

Vatikanischen Konzils „Nostra aetate“: „Die katholische Kirche lehnt<br />

nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit<br />

aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen,<br />

jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen,<br />

was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener<br />

Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber<br />

verkündet sie und muss sie verkündigen Christus, der ist ‚der Weg, die<br />

Wahrheit und das Leben‘ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des<br />

religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat. Deshalb<br />

mahnt die Kirche ihre Söhne, dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch<br />

und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie<br />

durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen<br />

und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich<br />

bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern“ (Nostra aetate, 2).<br />

61


György Konrád, Budapest/Berlin<br />

Einige tausend Schuljahre noch<br />

Gedanken zum Humanismus in Europa<br />

Jene Neigung, die Weltgeschichte mit der eigenen Geschichte, der Vergangenheit<br />

der eigenen Gemeinschaft gleichzusetzen, entspricht unserer<br />

natürlichen Fehlbarkeit. Würde ein katholischer Kardinal die zweitausendjährigen<br />

Strömungen des Christentums in der Geschichte Europas<br />

für bestimmend halten, wäre ich nicht sonderlich verwundert. Es würde<br />

mich auch nicht überraschen, wenn ein Jude auf jenes Paradoxon aufmerksam<br />

machte, das durch die christliche Bibel zwischen der als Altes<br />

Testament bezeichneten Heiligen Schrift der Juden und der Verbreitung<br />

der prophetischen Lehren des Juden Jesus beziehungsweise dem Holocaust,<br />

der faktischen Vernichtung von zwei Dritteln der europäischen<br />

Juden, besteht.<br />

Würde jedoch ein Altertumswissenschaftler unsere heutige Kultur von der<br />

griechisch-römischen Kultur der Antike herleiten, oder würde ein Historiker,<br />

der sich mit der Neuzeit beschäftigt, das gegenwärtige Europa aus der<br />

zirka fünfhundertjährigen Geschichte der Freiheit und Blüte wissenschaftlicher<br />

Forschung erklären, oder würde ein Politikwissenschaftler die Geschichte<br />

der Souveränität der Macht oder ein Ideenhistoriker unsere Vergangenheit<br />

als Kampfarena der Mentalitäten und Ideologien interpretieren,<br />

so würde ich mich auch über all diese Einseitigkeiten nicht wundern,<br />

weil ich jedermann das Recht zugestehe, den eigenen Lebenslauf für die<br />

unter allem anderen herausragende wahre Geschichte zu halten.<br />

Verzeihliche Einseitigkeiten! Doch nicht einmal ihre Gesamtheit spiegelt<br />

erschöpfend die absolute Wahrheit wider, weshalb ich auch gegen mich<br />

selbst nachsichtig bin, wenn ich mein eigenes Handwerk, das Schreiben,<br />

62


in den Vordergrund rücke und den Abdruck der Vergangenheit Europas in<br />

der Geschichte der Texte suche und, um meine These noch provokanter<br />

erscheinen zu lassen, in der Geschichte der europäischen Literatur und<br />

durch jene in der Weltliteratur, die die heiligen Texte sämtlicher Religionen<br />

enthält und darüber hinaus die nicht-religiöse Literatur, ohne dabei<br />

die Grenzlinien zwischen sakral und profan, die einer willkürlichen,<br />

nachträglichen und jenseits des Autors stattfindenden Entscheidung entsprechen,<br />

zu berücksichtigen.<br />

Der weitere Begriff also ist die Literatur, innerhalb derer die religiöse<br />

Literatur eine kleinere Abteilung des Katalogs repräsentiert.<br />

Menschlichkeit als umfassender Begriff<br />

Die Organisatoren unserer Begegnung haben mir den Vorschlag gemacht,<br />

meinem Vortrag folgenden Titel zu geben „Ethischer Humanismus als<br />

Bestandteil des geistigen Fundaments für ein neues Europa“. Gegen den<br />

Gedanken, dass der ethisch-weltliche Humanismus neben dem religiösen<br />

eine parallele Bedeutung erhält, habe ich nichts einzuwenden, dennoch<br />

würde ich statt des ethischen Humanismus den Begriff der Menschlichkeit<br />

wählen, denn er beinhaltet jeglichen Humanismus und noch etwas<br />

mehr, was kein -ismus ist, kein Text, sondern alltägliche Praxis, langsam<br />

heranreifende Erfahrung menschlichen Zusammenlebens, deren Summe<br />

sich auch in jenem Satz zusammenfassen ließe, mit dem der Schulgründer<br />

Meister Hillel einem arroganten Jüngling nach der Zerstörung des<br />

Jerusalemer Tempels geantwortet hatte, als dieser ihn darum bat, das Wesen<br />

der Thora zusammenzufassen, aber kurz und bündig, binnen einer<br />

Zeitspanne, in der er auf einem Bein zu stehen vermag. „Dann kannst du<br />

auch deinen anderen Fuß schnell auf den Boden setzen“, sagte Hillel,<br />

„denn das Wesen der Thora erschöpft sich darin, tue anderen nicht, was<br />

du nicht willst, dass es dir geschieht! Alles andere ist nur Kommentar.“<br />

Menschlichkeit, ich würde sagen, Anständigkeit – denn menschlich kann<br />

auch ein Mensch sein, der von der Botschaft des Humanismus noch nicht<br />

einmal gehört hat und zur großen Mehrheit derjenigen Europäer gehört, die<br />

63


keine Kirchgänger sind. Seinen Nächsten nicht töten, nicht foltern, nicht<br />

auf andere Weise quälen, nicht verleumden, nicht in den Schmutz zerren,<br />

Menschlichkeit bedeutet etwas, was sich auch mit Worten der inneren<br />

Einstellung artikulieren lässt. Allerdings lese ich gerade, auch die Affen<br />

wüssten, was sich gegenüber schwach gewordenen Alten gehöre, und sie<br />

setzten ihr Wissen auch in die Tat um, ja, es entspricht sogar unserer<br />

Alltagserfahrung, dass ein Hund einem anderen Hund nichts antut, wenn<br />

der die Überlegenheit des Stärkeren anerkannt hat. Mit einem Wort, Grausamkeit<br />

gegenüber dem Schwächeren, dem Artgenossen, verträgt sich weder<br />

mit dem Affensein noch mit dem Hundsein. Deshalb könnten wir leicht<br />

übertrieben sagen: auch mit der Menschlichkeit nicht, wenn eine beträchtliche<br />

Anzahl von Menschen in diesem Sinne gar nicht als menschlich oder<br />

anständig zu betrachten ist. Unser Verstand und Verhalten hängen von dem<br />

ab, was um uns her gesagt wird, von der uns anerzogenen Denkweise, von<br />

jenem Menschenideal, dem wir gleichen wollen, davon, was gefällt, und<br />

wie sich derjenige Mensch verhält, der der Mehrheit nicht gefällt.<br />

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts galt der Kult des Nationalstaats<br />

noch als die alles beherrschende Idee, wodurch die militärischen Symbole<br />

an oberster Stelle standen. Welche Ideale tragen die Europäer von heute in<br />

ihren Herzen, welches Menschenbild findet am ehesten ihr Gefallen?<br />

Zum ausklingenden zwanzigsten Jahrhundert ist das höchst wichtige<br />

anthropologische Ideal, der Nimbus des Kriegers, verblasst. Der Überwindung,<br />

der Transzendenz der bürgerlichen Würde entsprach in meiner<br />

Kindheit der Nationalstaat, nach dem Zweiten Weltkrieg im Ostblock der<br />

sozialistische Staat beziehungsweise dessen Bündnis. Wodurch hat sich<br />

Europa erneuert?<br />

• Durch 1989. Durch die Wende von Nicht-Demokratien hin zu Demokratien.<br />

• Erneuert hat sich Europa dadurch, dass es nicht mehr geteilt ist und<br />

zwei sich feindlich gegenüberstehenden Militärblöcken angehört, die<br />

sich gemäß der Logik und tödlichen Dramaturgie der Eskalation wechselseitig<br />

auch vernichten könnten.<br />

• Erneuert hat sich Europa dadurch, dass die Möglichkeit eines neuen<br />

Weltkrieges, wie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das<br />

64


Aufeinanderprallen der Militärkoalitionen, die sich aus der nationalstaatlichen<br />

Expansion in Europa ergeben hatten, nicht droht.<br />

• Erneuert hat sich Europa dadurch, dass es kein einziger Staat geschafft<br />

hat, die anderen Staaten zu unterjochen.<br />

• Erneuert hat sich Europa weiterhin dadurch, dass das Grundprinzip<br />

seiner politischen Einrichtung in einer freiwilligen Assoziierung besteht,<br />

in der Ebenbürtigkeit der großen und kleinen Staaten, in der gemeinsamen<br />

Beschlussfassung der Staats- und Regierungschefs.<br />

Vor der Öffentlichkeit kommt eine nicht sonderlich kämpferische, demokratische<br />

Oligarchie zum Vorschein.<br />

Als neues Element ist eine einschneidende Modernisierung der Sanktionen<br />

zu betrachten, sofern mit der Einstellung der Institution der Todesstrafe<br />

die Herbeiführung des Todes in Europa, genauer gesagt innerhalb<br />

der Europäischen Union, weder als Instrument der Justiz noch zwecks<br />

Durchsetzung eines politischen Willens annehmbar erscheint.<br />

Was ist neu an Europa? Der Wille zur Vereinigung und der Wille, dies<br />

nicht im Zeichen des Nationalismus oder Kommunismus zu tun. Neu an<br />

Europa ist die Tatsache, dass den Europäern von niemandem und nichts<br />

diktiert wird, einzig von der eigenen Vernunft und dem eigenen Interesse.<br />

Augenscheinlich ein vorteilhafter Klub, in den viele eintreten wollen,<br />

aber niemand austreten will. Vermutlich gefällt es den Mitgliedern, Europäer<br />

zu sein. Den Wissenden, den Weitgereisten gefällt es besser als den<br />

Unwissenden, die sich von ihrem Zuhause nicht fortbewegen. Die Bürger<br />

des neuen Europas sind eher Individualisten und Universalisten als Kollektivetatisten;<br />

den trennenden Staatsgrenzen also bezeigen sie weniger<br />

Respekt als den verbindenden und gemeinsamen Momenten.<br />

Das Fundament: Würde, Freiheit und Gleichheit<br />

Das Fundament des philosophisch-rechtlichen Gebäudes sind Würde, Freiheit<br />

und Gleichheit des einzelnen, die allgemeine Anerkennung der grund-<br />

65


legenden Menschenrechte. Das Fundament des neuen Europas ist das frühere<br />

Europa, zusammen mit allem, was dazugehört, mit allen Schönheiten<br />

und Abscheulichkeiten der gesamten europäischen Geschichte und allen<br />

Beziehungen der Europäer mit den Bewohnern an derer Erdteile.<br />

Fundament ist all das, was christlich, und außerdem all das, was nichtchristlich<br />

zu nennen ist. Die Wirklichkeit ist immer mehr und umfassender<br />

als jedwede kulturell-religiöse Richtung und Institutionalisierung.<br />

Auch die gesamte prähistorische und klassisch antike Tradition gehören<br />

zum Fundament des neuesten Europas; angefangen von Homer sind die<br />

Klassiker der Weltliteratur der Urquell des neuen Europas. Die Neuzeit,<br />

das sind für uns nicht nur Pascal, sondern auch Montaigne und Descartes,<br />

Erasmus und Spinoza.<br />

Bestandteil des Fundaments sind das weltliche Wissen, persönlichste<br />

Reflexion und Dichtung, doch Europa ist nicht nur Erbe, nicht nur vorausgegangene<br />

Vergangenheit, sondern auch Vision, Strategie, Entwurf,<br />

Forschungsrichtung, Ars poetica, denn Zukunftswahl geht mit entsprechender<br />

Vergangenheitswahl einher.<br />

Gegen alles, was der Freiheit und Achtung der Persönlichkeit keine Einschränkungen<br />

auferlegt, verhält sich der europäische Humanismus nicht<br />

ablehnend. In der wahren Persönlichkeit leben Hoffnung und Verzweiflung<br />

zusammen, der Glaube an das Höhere, an unsere Natur des Staubkorns,<br />

die nicht alles sein kann, denn es muss etwas mehr als dieses geben.<br />

Das Wissen um den Tod ist jedoch nur auf einer sehr hohen Stufe<br />

seelischen Adels als hoffnungsvoll zu betrachten.<br />

Neugier, Wissensdurst, Gelehrigkeit, Verstehenwollen, Persönlichkeit,<br />

die sich selbst aus dem Stoff der Individualität erschafft, bilden die<br />

Grundlagen des neuzeitlichen Europas. Im Bücherregal gibt es keine<br />

Trennung zwischen Sakralem und Profanem, zwischen Religiösem und<br />

Weltlichem, einer neben dem anderen erwarten sie uns, die Denker.<br />

Wir stützen uns auf jene heiter stimmende Überraschung, dass wir Menschen,<br />

egal, welche Hautfarbe wir haben, gleich welcher Herkunft wir<br />

66


sind, uns im Grunde genommen ähneln; wir wissen, dass wir sterben werden,<br />

und darin unterscheiden wir uns angeblich von den Tieren. Doch wer<br />

weiß das schon wirklich? Jedenfalls haben wir beispielsweise den priesterlichen<br />

Ritus oder die Kunst, Tätigkeiten und Berufe, mit deren Hilfe<br />

wir versuchen, den Tod zu überwinden. Oder wenn wir uns des Erfolgs<br />

vielleicht doch nicht sicher sind, bemühen wir uns zumindest, uns auf das<br />

Ende der Geschichte vorzubereiten.<br />

Was Humanismus ohne jedes Attribut bedeutet? Achtung vor dem sterblichen<br />

Menschen. Die er allein deshalb verdient, weil er sterben wird. Ein<br />

nicht geringer Teil derer, die sich für Jesus entschieden haben, verehren<br />

ihn wegen seines Verhaltens vor seinem Tode. Die Auferstehung ist eine<br />

andere Geschichte. Die menschliche Kultur und in ihr das Europäische<br />

lassen sich nicht von irgendeinem höherwertigen Prinzip herleiten.<br />

Es gibt nur Literatur und Nicht-Literatur, gute Texte und schlechte Texte,<br />

wer Gutes geschrieben hat, der wird seinen Tod eine Weile überleben.<br />

Unter ihren Kollegen hat sich der Erfolg der Bibelautoren als langlebig<br />

erwiesen.<br />

Eine beständige und sich erneuernde Eigenschaft europäischen Denkens<br />

besteht in der Wahrnehmung von Widersprüchen, Paradoxien, Diskrepanzen<br />

und Komplexitäten, in der Unterscheidung von Symptomen und<br />

dahinter steckenden Wirkungskomponenten, in der verständnisvollen<br />

Anschauung der Dialektik des Kampfes, der dialogischen Natur unserer<br />

Affekte und psychischen Wellenbewegungen. Da nun die Bereitschaft<br />

dazu in den verschiedenen Epochen voneinander abwich, sollten wir den<br />

Begriffen des Neuen und des Alten mit größerer Vorsicht begegnen.<br />

Böse kann auch das Alte sein, und böse kann auch das Neue sein. Ob etwas<br />

alt oder neu ist, das ist hinsichtlich seines Wertes gleichgültig. Bei der Lektüre<br />

meiner alten und neuen Kollegen bemerke ich, dass sie die Grausamkeiten<br />

zwar registrieren, jedoch nicht mögen. Unabhängig davon, welchem<br />

Götzen sie dienten, der Nation, der Rasse oder der Klasse, die Ideologien<br />

meiner Kindheit und Jugend haben einen abstrakten und ausschließenden<br />

Begriff so oder so allem übergeordnet, worin zählt, wer und was nicht da-<br />

67


zugehört, und daraus folgend, wer und was als Feind zu betrachten ist.<br />

Deshalb haben diese Ideologien als mögliche und gelegentlich zutreffende<br />

Option auch mit der Vernichtung der anderen Seite gerechnet. Eine solche<br />

Option, gewählt aufgrund von Überlegungen, in denen viele Faktoren Berücksichtigung<br />

gefunden hatten, waren 1944 die Vergasung und Verbrennung<br />

all meiner jüdischen Schulkameraden, was der Endstation jener<br />

Reihe von unterscheidenden Gesetzen entsprach, an deren Vorlagen auch<br />

katholische und protestantische geistliche Würdenträger eine aktive Rolle<br />

gespielt haben. Nachdem die Ermordung bereits eine vollendete Tatsache<br />

war, bat der ungarische Kardinal Serédi den Regierungschef, die getauften<br />

Juden nicht zu deportieren, und mit den nicht getauften, wenn sie nun<br />

schon verschleppt worden seien, solle man menschlich verfahren.<br />

Das Konzentrationslager als Schauplatz menschlicher Behandlung ist<br />

eine Vorstellung, wie sie nur dann möglich ist, wenn das Gemetzel an der<br />

Tagesordnung ist und sich die Bevölkerung auf allen Seiten mehr oder<br />

weniger damit abgefunden hat.<br />

Ethos und rechtfertigender Moralismus von Kampf und Krieg sind in Europa<br />

auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verschwunden; wir können<br />

deshalb sagen, solange wechselseitig aufeinander gerichtete nukleare<br />

Raketen zum Ausdruck brachten, dass unsere Staaten und Blöcke fähig<br />

seien, gegen andere Europäer letzte Mittel einzusetzen, solange die Vernichtung<br />

einer als feindlich eingestuften Unzahl von Menschen eine<br />

mögliche Option gewesen ist, so lange konnte von einem neuen Europa<br />

keine Rede sein, es sei denn von einem Europa nach dem Geschmack<br />

Hitlers und Stalins.<br />

Bis 1989 war in den geltenden Militärdoktrinen unserer Staaten der Extremismus<br />

enthalten. Von einem neuen Europa sprechen könnten wir, seit<br />

die Europäer nicht für einen Krieg gegeneinander aufrüsten. Diese Behauptung<br />

muss uns über den Luftkrieg von neunzehn furchtlosen Demokratien<br />

gegen Jugoslawien stolpern lassen. Auf dem Territorium des<br />

einstigen Jugoslawiens hat sich zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts<br />

ein verspäteter Prozess von Nationwerdung auch als Religionskrieg geäußert,<br />

in dem die kämpfenden Parteien wechselseitig die feindlichen<br />

68


Kirchtürme mittels Kanonenfeuers wegpusteten, Orthodoxe, Katholiken<br />

und Moslems gleichermaßen, die von der lokalen Geistlichkeit sowohl<br />

beschwichtigt wie auch angestiftet worden sind.<br />

Nach dem Verschwinden der kommunistischen Rhetorik boten die Religionen<br />

für kollektiv nationale Selbstbestimmung Begriffe, Zusammenhalt<br />

und Ausschluss an. Der Nachbar wurde des Nachbarn, der Ehemann<br />

der Ehefrau, der Einsprachige des Einsprachigen Feind, dabei hätten sie<br />

in eine andere Kirche gehen können, wenn sie überhaupt zur Kirche<br />

gegangen wären.<br />

Den europäischen Humanismus würde ich mit der Fähigkeit und der Normalität<br />

klarblickender Empathie gleichsetzen, mit einer Entwicklung in<br />

Richtung Sanftmut, die am ehesten in der Behandlung von Kindern und<br />

Alten wahrzunehmen ist. Die ethische Grundlage eines neuen Europas<br />

besteht in der Abwehr jener Überzeugung, dass im Zeichen einer nationalen<br />

Idee getötet und gestorben werden müsse, einem Gedanken zufolge,<br />

dem im neunzehnten Jahrhundert in der Zeit aufflammender nationaler<br />

Romantik selbst edelste Geister anhingen.<br />

Das Pathos nationaler Kämpfe gehört der Vergangenheit an, bricht allerdings<br />

dort hervor, wo die Nationwerdung gerade vor sich geht, wo man<br />

sich über die alte Integration hinweggesetzt hat und die Europäische<br />

Union noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Wo diese Entwicklung<br />

schon abgeschlossen ist, dort gibt es von einem Land ins andere keine<br />

Passkontrollen, wo jedoch viel von nationaler Identität die Rede ist, dort<br />

trappeln viele mit Maschinenpistolen bewaffnete Posten beim Eintreffen<br />

an der Grenze über die Zuggänge.<br />

Wo der Staat an oberster Stelle steht, dort hat das seine Ordnung, wo der<br />

in seinen Rechten und in seiner Würde unantastbare freie Bürger das Fundament<br />

ist, dort hat das nicht seine Ordnung. Der freie Mensch ist gelehrig,<br />

er besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu beurteilen, zu korrigieren und<br />

vielleicht auch auszulachen, er verhehlt nicht in falschem Jargon die Unterschiede,<br />

aber er ist bereit, zu verhandeln, Kompromisse und Verträge<br />

zu schließen.<br />

69


Das „neue Europa“ und seine Bürger<br />

Ein neues Europa befindet sich dort, wo es keine Zensur, dafür aber individuelle<br />

und kollektive Selbstdisziplin gibt, die auf der Achtung vor uns<br />

selbst und vor dem anderen basiert, wo es instinktive Höflichkeit und<br />

Hilfsbereitschaft gibt. Europäischer Humanismus, das heißt auch politischer<br />

Pluralismus, Respekt vor den Spielregeln und Aufrichtigkeit als<br />

vertrauensbildende Maßnahme.<br />

Wessen bedarf es, um uns neue Europäer nennen zu dürfen?<br />

• Vielleicht der Fähigkeit, nicht nur auf die edlen Taten unserer Ahnen<br />

stolz zu sein, sondern uns auch der Schändlichkeiten unserer Vorfahren<br />

zu schämen und der Verwüstungen, die von Europäern auf anderen<br />

Erdteilen angerichtet worden sind.<br />

• Der Hypothese von einer moralischen Ebenbürtigkeit des einzelnen<br />

und das Fehlen einer sanktionierten Machthierarchie, weiterhin der<br />

persönlichen und kollektiven Selbstironie, komplexeres Denken, das<br />

imstande ist, auch mit sich selbst zu rechten, die Kunst des Dialogs und<br />

die Philosophie der Ambivalenzen, dies alles sind europäische Produkte.<br />

• Einer Macht, die einer Person von vornherein anhaften würde, einen<br />

heilbringenden Führer, einen glorifizierten Diktator gibt es nicht. Bezeichnend<br />

für Europa ist eine reflexive Kultur, die die Fähigkeit besitzt,<br />

sich selbst zu entwickeln.<br />

• Weiterhin der Praxis rationalen Verhandelns und Vereinbarungen,<br />

wie beispielsweise nach dem Dreißigjährigen Krieg der Westfälische<br />

Frieden.<br />

Wir könnten auch sagen: die Verbreitung der bürgerlichen Zivilisation,<br />

der Geist des Legalismus, der Rechtssubjekten von vornherein Würde<br />

zuschreibt, die mit den Prinzipien und der Praxis axiomatischer Unterordnung,<br />

bedingungslosen Gehorsams, auf Befehl begangener oder<br />

verüb barer Verbrechen unvereinbar ist.<br />

Erkennen wir an, dass das Subjekt viele Millionen Köpfe hat, dann können<br />

wir den geistigen Grundlagen keine einseitige Bestimmung zuschreiben.<br />

Die oberste Stelle nimmt die Würde der Person ein, und es steht uns<br />

70


frei, diese auch als göttliches Geschenk zu begreifen. Die Würde des einzelnen<br />

ist die Grundlage der europäischen Kultur. Voraussetzung für ein<br />

friedliches Zusammenleben in Europa ist das Respektieren der vorhandenen<br />

Tabus. Eine bewaffnete, gewaltsame Verbreitung jeglicher Lehren,<br />

Religionen und Ideen ist verboten. Die Idee einer durch militärische Eroberung<br />

durchsetzbaren Vereinigung Europas ist endgültig durchgefallen.<br />

Dass legal auch ein Mörder nicht ermordet werden darf, das entspricht in<br />

der europäischen Kulturentwicklung einer moralischen Stufe, die auf der<br />

ganzen Erde weitgehende Folgen haben wird. Das Töten von Menschen<br />

ebenso abzulehnen wie Menschenfresserei, das ist eine nicht ganz unvorstellbare<br />

Station auf dem Weg der Menschheitsentwicklung. Von einem<br />

Kannibalen war zu vernehmen, dass die Weißen nicht so wild wären,<br />

müssten sie all die, die sie getötet hätten, auch verzehren.<br />

Keine Person und keine Institution sind frei von menschlichem Hochmut.<br />

Hält sich irgendeine Einrichtung für den obersten und hegemonistischen<br />

Hüter der Wahrheit, so stellt dies ein ernsthaftes Lernhindernis dar. Als<br />

Folge von 1989 gibt es unter den bibelkundigen Völkern von San Francisco<br />

bis Wladiwostok keinen Hass, der sich zu etwas gefühlsduselig<br />

Pathetischem, zu einer Ideologie schmieden ließe.<br />

Die wirkliche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Reiche<br />

zerschlagen, die Hochmütigen beschämt und bewiesen, dass auch die<br />

Tyranneien vom Gesetz der Vergänglichkeit nicht ausgenommen sind,<br />

obschon sich die mit ihnen verbrachten Jahre ziemlich langweilig in die<br />

Länge gezogen hatten. Napoleons und Hitlers Lektion hat gezeigt, dass<br />

der Westen den europäischen Osten militärisch nicht erobern kann; ihn<br />

für sich gewinnen, ihn verführen, das könnte ihm vielleicht gelingen. Jedenfalls<br />

ist es eine bewundernswerte Leistung, dass es Europa und innerhalb<br />

seiner Grenzen die Osteuropäer geschafft haben, die vom Kommunismus<br />

zur Demokratie führende Wende im allgemeinen ohne Blutvergießen<br />

herbeizuführen.<br />

Während der langen Vorbereitungsphase auf die Machtübergabe im Zuge<br />

von Verhandlungen und Gesprächen am Runden Tisch haben die dissi-<br />

71


dentischen demokratischen Bewegungen – in nicht geringem Maße dem<br />

Beispiel der Ethik und Haltung Jesu folgend – Gewalt als Instrument<br />

zwecks Erreichung des Wandels verworfen. Nicht die Panzer sollten die<br />

Inhaber der Macht übergeben, sondern das Verteidigungsministerium,<br />

dachten die verschiedensten Kräfte, die sich dem Versuch verschrieben<br />

hatten, die Wende herbeizuführen.<br />

Dass der Umbruch ohne Blutvergießen vor sich gegangen ist, darin hat<br />

auch das Vermächtnis des biblischen Jesus, ergänzt um die Deutungen<br />

Tolstois, Gandhis und Martin Luther Kings, eine bestimmende Rolle gespielt.<br />

Vom Korpus der Gesellschaft ist das Eisenhemd abgeplatzt.<br />

Kenntnisse von dessen Umklammerung, von der im Namen gesellschaftlicher<br />

Gerechtigkeit ausgeübten Gewalt, besitzen wir zur Genüge, also<br />

werfen wir nun im Interesse der Objektivität einen Blick auf die sozialethische<br />

Leistung der untergegangenen kommunistischen Regime.<br />

Nach der kommunistischen Wende verschwanden die barfüßigen Kinder,<br />

die illegitimen Kinder, die diskriminierende Unterscheidung der Frauen,<br />

und es setzte eine große Mobilität vom Dorf in die Stadt ein, wodurch<br />

sich für die früher Chancenlosen unerwartete Lebenswege eröffneten, die<br />

von unten nach oben führten. Zum Bewusstsein des neuen Europas gehört<br />

auch die Fähigkeit, sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten<br />

unserer untergegangenen Epochen und Zivilisationen zu sehen. Dass der<br />

Westen mit seinen Menschenrechtsforderungen und seinem Demokratiemodell<br />

über den Osten gesiegt und dass diese Strategie funktioniert hat,<br />

sollten wir zur Kenntnis nehmen.<br />

Von den Partnern in allen Himmelsrichtungen und allen Zivilisationen als<br />

Kriterium ihrer Zuverlässigkeit Anspruch auf gesetzliche Garantien der<br />

persönlichen Freiheit zu erheben, ist rechtens und entspricht der Wirklichkeit<br />

Europas. Die Forderung nach Selbstbeschränkung, Selbstbeherrschung,<br />

Einhaltung von Verträgen, Offenheit und Gewaltverzicht richten<br />

die Europäer gegen sich selbst, und daran tun sie gut, aber sie wären gut<br />

beraten, würden sie diese Erwartungen auch allen anderen gegenüber anwenden.<br />

Ebenso wie sich die Demokratien den faschistischen und den<br />

72


kommunistischen Diktaturen widersetzt haben, so liegt es auch in ihrem<br />

Interesse, gegen die islamistischen Diktaturen vorzugehen, sofern sich<br />

die radikalen Bewegungen des Islam zur Anwendung von Gewalt und<br />

Terrormethoden entschließen. Es wird eine geraume Weile vergehen, bevor<br />

sich die europäischen Regierungen zu der Unhöflichkeit bereit finden<br />

und kontrollieren, ob die Unterstützten die Unterstützungen nicht gar<br />

zum Töten von Menschen verwenden.<br />

Die Völker Europas schafften es nicht, sich die Idee der Aufklärung und<br />

der bürgerlichen Freiheit durch deren Überspringen zu ersparen. Ohne<br />

die blutigen und unblutigen Revolutionen zur Durchsetzung der bürgerlichen<br />

Gleichheit gibt es keinen freien Rechtsstaat.<br />

Diese Lektion haben alle in Europa lernen müssen. Die Glücklicheren<br />

sind von selbst darauf gekommen, die Begriffsstutzigeren sind in dieser<br />

Weisheit durch Niederlagen unterwiesen worden; in der Dialektik von<br />

Freiheit und Verantwortung müssen wir uns alle noch üben. Dass die europäische<br />

Demokratie auf eine Initiative des Christentums zurückgehen<br />

würde, kann nicht behauptet werden, doch erlernt und assimiliert hat es<br />

sie, es kommt mit ihr zurecht.<br />

Die Fähigkeit des Christentums, den nicht dogmatischen, ja antifundamentalistischen<br />

Charakter der europäischen Kultur zur Kenntnis zu nehmen,<br />

ist ein Anzeichen für große geistige Energie. Die geistige Grundlage<br />

des neuen Europas ist der europäische Humanismus; der christliche religiöse<br />

Humanismus ist ein Bestandteil davon.<br />

Was für eine Minderheit vorstellbar wäre, dürfte mit den Europäern insgesamt<br />

schwierig sein; die Mehrheit bleibt nüchtern und lässt sich nicht<br />

erneut verblenden. Auf Leben und Tod entschlossen sind wir nicht, aber<br />

auch Lämmer sind wir nicht, und auf Dauer werden wir in der Rolle von<br />

Komplizen der Gewalt nicht verharren. Als Form politischen Widerstands<br />

oder einer möglichen Durchsetzung politischer Interessen entzieht das<br />

europäische Denken dem bewaffneten Kampf beziehungsweise dem Töten<br />

von Menschen die Legitimation. Eine Organisation, die statt auf einen<br />

Verhandlungskompromiss nach wie vor auf bewaffnete Gewalt setzt, ge-<br />

73


hört in den Bereich des organisierten Verbrechens. Toleranz gegenüber<br />

gleich welcher Bewegung oder Organisation, die, um ihre Ideen zu verbreiten,<br />

Gewalt anwenden, ist als europafeindliche Haltung einzustufen.<br />

Philosophische Toleranz gegenüber einem aus Ideen abgeleiteten Töten<br />

von Menschen ist antieuropäisch.<br />

Das neue Europa baut auf die Idee des freien Bürgers. Es gibt moralische<br />

Normen, für die wir uns als Absolutes und Unantastbares entscheiden.<br />

Eine solche Norm kann die allgemeine Verabscheuung der Vernichtung<br />

von Kindern, ihres gewalttätigen Missbrauchs sein. Die persönliche<br />

Menschenwürde ist ein universelles Menschenrecht und hängt von keinerlei<br />

nationaler, religiöser, rassischer oder ethnischer Zugehörigkeit ab.<br />

Die Selbstverständlichkeit, die humorvolle Reflexartigkeit solcher und<br />

ähnlicher Gemeinplätze würde signalisieren, dass sich Europa tatsächlich<br />

auf dem Weg der Erneuerung befindet.<br />

Um die angedeuteten weisen Kombinationen von Stärke und Sanftmut<br />

auszuarbeiten, wird eine gehörige Wegstrecke zu bewältigen sein. Dass<br />

wir noch einige tausend Schuljahre vor uns haben werden, bleibt zu<br />

hoffen.<br />

74<br />

Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans-Henning Paetzke<br />

Am Podium von links:<br />

Bischof Adrian H. van Luyn,<br />

Inge Bell, Peter Kujath,<br />

Dr. Maria Martens MdEP,<br />

Prof. Dr. Helmut Juros


Podiumsgespräch<br />

Welche Werte bestimmen unser Handeln?<br />

Wertepluralismus in modernen Lebenswelten<br />

Teilnehmer: Inge Bell, München<br />

Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau<br />

Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel<br />

Moderator: Peter Kujath, München<br />

Peter Kujath, München:<br />

Als ich die Leitfrage gelesen habe, dachte ich mir: eine ganz einfache<br />

Frage. Denn letztlich sollten wir uns bei unserem Handeln immer bewusst<br />

sein, woran, an welchen Werten wir uns orientieren. Es ist aber gar<br />

nicht so einfach, die Werte beim Namen zu nennen. Dies ist beispielsweise<br />

auch in den Ausführungen von Kardinal Lehmann deutlich geworden.<br />

Ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen geht. Vieles läuft einfach unbewusst<br />

bei uns ab, setzt sich zusammen aus einer Mischung von elterlicher<br />

Erziehung, gesellschaftlicher Sozialisation und auch den persönlichen<br />

Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat.<br />

Eine Sache wird bei allem Handeln sicher im Vordergrund stehen: Wir<br />

sollten ein hohes Maß an Verantwortung den Mitmenschen gegenüber<br />

haben, Verantwortung aber auch der Umwelt gegenüber und natürlich<br />

auch Verantwortung dahingehend, welche Konsequenzen unser Handeln<br />

hat. Ich glaube, dass es das auch ist, was uns hier auf dem Podium verbindet<br />

– egal, ob als Journalistin, als Politikerin, als Wissenschaftler oder als<br />

Bischof im Dienste der Kirche.<br />

Ich möchte Ihnen jetzt kurz die Damen und die Herren vorstellen. Beginnen<br />

will ich mit Frau Inge Bell. Sie ist Radio- und Fernsehjournalistin,<br />

hat viel über Mittel- und Osteuropa berichtet und die Öffentlichkeit dabei<br />

besonders für ein Thema sensibilisiert, nämlich die organisierte Krimina-<br />

75


lität in Mittel- und Osteuropa. Sie ist dort sehr engagiert, betreut über ihre<br />

Reportagen hinaus auch Projekte mit Betroffenen, in die sie sehr viel<br />

Zeit, Energie und auch Geld hinein steckt. Vielleicht bewusst provokant<br />

gefragt: Was hat Sie veranlasst, sich so mit diesen Projekten auseinander<br />

zu setzen?<br />

Inge Bell, München:<br />

Es ist schwer, ein Handeln zu beurteilen, denn das ist natürlich eine sehr<br />

subjektive Angelegenheit. Dennoch möchte ich sagen: was mich immer<br />

durch mein Leben begleitet hat, ist die Devise, nach der ich bewusst handele<br />

„erst Mensch – dann Journalistin“. Was ich an journalistischen Themen<br />

aufgreife, das interessiert mich als Mensch. Ich werde auf einen<br />

Miss stand aufmerksam und möchte das dann dem Publikum vorstellen.<br />

Umgekehrt kann mich das als Mensch wiederum nicht einfach kalt<br />

lassen. Deshalb möchte ich nicht nur berichten, sondern auch handeln.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Vielleicht können Sie einen konkreten Missstand benennen, damit wir<br />

wissen, wie Sie damit umgehen.<br />

Inge Bell, München:<br />

Ich habe mich in meiner Berichterstattungstätigkeit auf den Balkan spezialisiert,<br />

da vor allem auf die organisierte Kriminalität und auch den<br />

Menschenhandel. Denn es ist wohl inzwischen allgemein bekannt, dass<br />

Südosteuropa ein Exportgut ganz exquisiter Qualität hat – seine Menschen.<br />

Zum einen handelt es sich um junge, gut ausgebildete Menschen,<br />

die im Westen Arbeit suchen, weil sie in ihrer Heimat keine finden oder<br />

glauben, dort keine Zukunft zu haben. Diese Menschen kommen als IT-<br />

Spezialisten, als Wissenschafter, als Fachleute für Wirtschaft, verdienen<br />

hier gut und können ein gutes und menschenwürdiges Dasein führen.<br />

Dann gibt es aber auch Millionen von Menschen, vor allem Frauen und<br />

Kinder, die diese Chance auf ein menschenwürdiges Leben nicht haben.<br />

Es sind vor allem Kinder, die gehandelt werden, die verkauft werden – im<br />

besten Falle zum Zweck der Adoption, im schlimmsten Falle zum Zweck<br />

76


des Organhandels: Babys als menschliche Organbanken. Dann gibt es<br />

Frauen, die gehandelt werden, junge, auch minderjährige Mädchen und<br />

Frauen, um dann in Westeuropa oder auch auf dem Balkan in Bordellen<br />

oder auf dem Straßenstrich zu landen und dort ausgebeutet zu werden.<br />

Exportgut Mensch: das ist etwas, was einem überall in Osteuropa über<br />

den Weg läuft, egal, ob man jetzt einen Tag dort ist oder mehrere Monate<br />

wie ich, man kommt an diesem Thema dort nicht vorbei. Dann stellt sich<br />

natürlich die Frage, was man als Mensch, der zwischen Westeuropa und<br />

dem Balkan pendelt, dagegen tun kann.<br />

Ich möchte ein konkretes Hilfsprojekt, das übrigens auch von <strong>Renovabis</strong><br />

unterstützt wird, vorstellen. In Bulgarien gibt es ein Heim für minderjährige<br />

Zwangsprostituierte, für Mädchen zwischen acht und achtzehn Jahren,<br />

die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Europa<br />

waren, in Deutschland, in Frankreich, in Belgien. Dort wurden sie auf<br />

den Strich gezwungen, mussten in der Illegalität leben, wurden nach Razzien<br />

zurück geschickt – um dann in Bulgarien nicht wie Opfer, sondern<br />

wie Verbrecher behandelt zu werden! Sie wurden weggesperrt in ein<br />

Heim, das mehr ein Gefängnis war, aus dem es bis zu ihrem achtzehnten<br />

Lebensjahr kein Entrinnen gibt. Hier anzusetzen und hier die Gesellschaft<br />

in Bulgarien und in Westeuropa aufzuklären, dass es sich bei diesen Kindern<br />

um Opfer handelt – das sehe ich als eine wichtige Aufgabe, als<br />

Mensch und als Journalistin. Wir leben hier in einer scheinbar heilen<br />

Welt, dass uns das alles so fremd und so fern zu sein scheint. Diese<br />

scheinbar so heile Welt könnte aber auch unsere Sensoren für Menschlichkeit<br />

verkleistern, genauso wie bei den Menschen, die Opfer in Südosteuropa<br />

werden. Ich sehe es gerade deshalb als meine Aufgabe als<br />

Journalistin an, vor allem als Mensch dem entgegen zu wirken.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Das heißt also, wir haben in diesem Fall ein ganz praktisches Beispiel<br />

dafür, wie die Werte unmittelbar zum Handeln geführt haben. Ich darf<br />

jetzt bei der Vorstellungsrunde zu Frau Dr. Martens an meiner Linken<br />

weitergehen. Sie ist seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments für<br />

die niederländischen Christdemokraten, ist dort Mitglied des Ausschusses<br />

für Kultur, Jugendbildung, Medien und Sport, außerdem Mitglied im<br />

77


Ausschuss für die Rechte der Frau – das schließt an das an, was Frau Bell<br />

gerade gesagt hat, – und Mitglied im Ausschuss für Entwicklung und<br />

Zusammenarbeit. Sie hat ein Theologiestudium absolviert, war dann zunächst<br />

Dozentin für Weltanschauungen und hat als Studiensekretärin des<br />

Verbandes der Katholischen Sozialorganisationen viel erreicht, ehe sie<br />

1999 in die Politik wechselte. Frau Dr. Martens, wenn man jetzt in die<br />

Europäische Union und ins Europäische Parlament hinein schaut: Welche<br />

Werte bestimmen denn unser Handeln? Vor Beginn dieses Gespräches<br />

sagten Sie mir schon, Sie könnten einige benennen.<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Für die Politik denke ich besonders an Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität<br />

und Freiheit. Außerdem sollten die Politiker offen sein, Vertrauen<br />

ausstrahlen und auch über Dialogfähigkeit verfügen.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Das sind einige Punkte, die uns da begleiten werden. Vielleicht können<br />

Sie, bevor wir weiter in dieser Richtung diskutieren, einmal kurz darstellen,<br />

wie diese Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union und im<br />

Europäischen Parlament ablaufen.<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Diese Wege sind ziemlich kompliziert. Sie alle wissen wohl, dass die Europäische<br />

Kommission normalerweise mit Vorschlägen kommt, das Parlament<br />

darauf reagiert, ein Statement abgibt und zusätzliche Anträge einbringen<br />

kann. Das Parlament besteht aus 626 Personen, die Arbeit wird<br />

über die Ausschüsse verteilt. Jedes Thema kommt in einen Ausschuss,<br />

und jeder Ausschuss hat einen Sprecher, der eine Stellungnahme für das<br />

Parlament vorbereitet. Man muss mit all den Leuten reden – bei 626 Abgeordneten<br />

eine ziemlich schwierige Sache, wenn man zu einer Entscheidung<br />

kommen will. Deshalb sind die Fraktionen und Parteien sehr wichtig,<br />

die die Anträge bündeln und die Entscheidungen vorbereiten, ganz<br />

wie in den nationalen Parlamenten. Das Parlament fällt dann einen Beschluss,<br />

der dem Ministerrat zur endgültigen Entscheidung vorgelegt<br />

wird. Auf alle wichtigen Punkte dieses Verfahrens gibt es natürlich Ein-<br />

78


flussmöglichkeiten – in der Kommission, bei den Funktionären, Beamten,<br />

Politikern auf Nationalebene. So läuft dieses Spiel ab, und praktisch<br />

gesehen dominiert immer die Ökonomie.<br />

Aber Europa kann ohne gemeinsame Werte nicht bestehen. Wenn wir<br />

über die Zukunft Europas entscheiden, besonders über die Erweiterung,<br />

dann müssen wir wissen, welches Europa wir eigentlich wollen, wie weit<br />

wir zusammenarbeiten wollen und wer welche Befugnisse haben soll. Es<br />

geht auch darum, welche Antworten Europa auf den 11. September 2001<br />

geben kann. Dabei kann es eben nicht nur um Ökonomie gehen. Wenn<br />

wir Entscheidungen treffen, die für alle Menschen gelten sollen, dann<br />

müssen diese auch innerlich begründet und legitimiert sein. Genau das<br />

ist der Platz für die fundamentalen Werte, und diese Diskussion findet<br />

jetzt statt. In diesem Sinne ist unser <strong>Kongress</strong> äußerst aktuell. Weitere<br />

wichtige Ereignisse mit dieser Zielsetzung möchte ich wenigstens kurz<br />

erwähnen. Am vergangenen Wochenende fand der sechste Dialog zwischen<br />

unserer Fraktion und den orthodoxen Kirchen der Beitrittsländer<br />

statt. Im Parlament der Niederlande wird gerade über eine Wertekommission<br />

diskutiert. Ganz wichtig ist natürlich der EU-Konvent, damit<br />

verbunden die Frage nach der Stellung der Grundrechte-Charta. Die Diskussion<br />

über den Bezug auf Gott in der Präambel zeigt ja ganz deutlich,<br />

worum es geht. Wenn wir nicht genau aufpassen, wird die Wertediskussion<br />

völlig an den Rand gedrängt, was meines Erachtens verhängnisvoll<br />

wäre.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Kann man denn im Hinblick auf die Präambel, wo der Gottesbezug eliminiert<br />

worden ist, überspitzt sagen, dass die Kirchen in der aktuellen Diskussion<br />

um die Werte in der Europäischen Union nicht berücksichtigt<br />

werden?<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Leider muss man sagen, dass die Kirchen zu wenig berücksichtigt werden.<br />

Es gibt sehr viele Verbände, die da mitreden. Aber die Kirchen können<br />

sich kaum einbringen. Gerade im Moment liegt eine Resolution vor,<br />

die darauf zielt, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen, auch als Dia-<br />

79


logpartner. Was den Gottesbezug in der europäischen Verfassung betrifft,<br />

wird es sicher noch eine spannende Diskussion geben. Hoffentlich wird<br />

es möglich, einen Bezug zum Religiösen – nicht nur Christlichen – einzubringen,<br />

mit Respekt vor anderen Weltanschauungen.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Damit nähern wir uns gleichzeitig der Frage nach den Auswirkungen der<br />

Werte an. Welche Handlungen und konkreten Schritte ziehen sie nach<br />

sich? Kardinal Lehmann hat in seinem Beitrag davon gesprochen, dass<br />

man die Kirche nicht als NGO, als Nichtregierungsorganisation, betrachten<br />

kann. Aber was ist sie dann?<br />

Zunächst möchte ich aber die Vorstellungsrunde fortsetzen. Bischof van<br />

Luyn ist indirekt bereits angesprochen worden, denn er ist Vizepräsident<br />

der Kommission der Bischofskonferenzen der EU-Mitgliedstaaten, und<br />

da wird er sicher etwas zu den Worten von Frau Dr. Martens sagen können.<br />

Sie sind Bischof von Rotterdam und kommen damit direkt aus der<br />

seelsorgerlichen Praxis. Darf ich Sie um Ihr Statement bitten?<br />

Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />

Meine Diözese hat ungefähr 3,5 Millionen Einwohner, davon gehört<br />

mehr als die Hälfte keiner Kirche mehr an. Die Katholiken umfassen<br />

etwa 20 –25 %, die Protestanten kommen zusammen noch nicht an die<br />

20 %. Sie sehen also: Wir sind zwar reich in Holland, und der Welthafen<br />

Rotterdam bringt diesen Reichtum nach ganz Westeuropa hinein – aber<br />

wie steht es um die geistige Situation? In meiner Diözese haben wir ein<br />

Programm von drei Begriffen entwickelt, die alle mit dem Buchstaben<br />

„S“ anfangen, sodass man sich das leicht behalten kann. Die ersten zwei<br />

Begriffe beziehen sich auf die zwei wesentlichen Beziehungen des evangelischen<br />

Doppelgebots: auf die Beziehung zum Anderen, dem Nächsten,<br />

und auf die Beziehung zum ganz Anderen, zu Gott. Die Begriffe lauten<br />

folgerichtig „Solidarität“ und „Spiritualität“ – Solidarität als Dienst am<br />

Mitmenschen, Spiritualität als Ausdruck persönlicher Erfahrung von Gott<br />

in unserem Leben. Das sind die zwei wichtigsten Beziehungen der<br />

menschlichen Existenz. Dann gibt es noch einen dritten Begriff, der im<br />

Holländischen auch mit „S“ beginnt, „Soberheid“. Das lässt sich nicht<br />

80


direkt ins Deutsche übersetzen. Auf Lateinisch heißt es „temperantia“<br />

oder „sobrietas“. Die „temperantia“ zählt zu den Kardinaltugenden, die<br />

im Deutschen wohl mit „Maßhalten“ umschrieben wird. Genau das ist es<br />

aber, was uns im westlichen Europa fehlt. Der moderne Mensch im Westen<br />

Europas hat weder Maß noch Zeit noch Raum für das Wesentliche, für<br />

den Dienst am Mitmenschen und an Gott. Das Doppelgebot der Liebe<br />

droht völlig verdrängt zu werden. Die „temperantia“ ist eine Bedingung<br />

für authentische Spiritualität und Solidarität.<br />

Wir müssen deshalb – und in meiner Diözese versuche ich das – in der<br />

heutigen Europäischen Union damit beginnen, ausgehend von den drei<br />

„S“ eine Gegenbewegung aufzubauen. Solidarität geht gegen den Individualismus<br />

des „Jeder für sich“, Spiritualität gegen den Säkularismus der<br />

„Welt ohne Gott“ oder, wie Kardinal Lehmann sagte „Etsi deus non<br />

daretur“, und Soberheid gegen den Materialismus oder Konsum. Eine<br />

solche Gegenentwicklung ist unserer westeuropäischen Gesellschaft notwendig.<br />

Dies gilt umso mehr, wenn sich die Union nach Osten erweitert.<br />

Viele Erwartungen werden dort an den Beitritt zur Union geknüpft. Wenn<br />

es keine angemessene Antwort gibt, werden große Enttäuschungen und<br />

Frustrationen die Folge sein.<br />

Die Solidarität muss auch den Ländern in der Dritten Welt gelten. Ich<br />

möchte nur in Erinnerung rufen, dass weltweit 130 Millionen Jungen und<br />

Mädchen im Alter von 6 – 11 Jahren nicht zur Schule gehen. Weitere 150<br />

Millionen verlassen die Schule schon nach vier Jahren. Ohne Bildung<br />

werden sich die Menschen nie aus ihrer Armut befreien können. Die<br />

Weltbank hat geschätzt, dass jährlich etwa fünf Milliarden Euro ausreichten,<br />

um diesen Kindern eine Schulbildung zu geben. Dieses Geld ist eine<br />

langfristige Investition für uns alle, das durch Konsumverzicht bei uns<br />

zusammengebracht werden muss.<br />

Wenige Tage nach Abschluss des Weltgipfels für Nachhaltigkeit in Johannesburg<br />

liegt es schließlich auch nahe, die Solidarität mit den kommenden<br />

Generationen zu erwähnen, die aus einem maßvolleren Umgang<br />

mit unseren natürlichen Ressourcen erwächst. So ist es angesichts der<br />

jüngs ten Umweltkatastrophen bei uns schwer nachzuvollziehen, warum<br />

1,5 Milliarden Menschen heute keinen Zugang zu sauberem und frischem<br />

Trinkwasser haben. Ich bin überzeugt davon, dass eine nachhaltige Ent-<br />

81


wicklung letztlich nur durch einen nachhaltigeren Lebensstil in den reichen<br />

Erdteilen erreicht werden kann. Unser Konsumverzicht ist eine notwendige<br />

Investition für die kommende Generation.<br />

Ein maßvollerer, einfacherer Lebensstil, der sich von der Tugend der<br />

„temperantia“ inspirieren lässt, ist Voraussetzung für eine humane und<br />

humanisierende Zukunft. Der geläuterte Umgang mit dem Konsum von<br />

irdischen Gütern ist eine Investition in Gott. „Temperantia“ heißt letztendlich<br />

„Gott Zeit und Raum“ geben. Sie ist die Voraussetzung für das<br />

vertrauende Herz, das sich für das Wort Gottes öffnet. Das ist ihr letzter<br />

und unüberbietbarer Sinn. Diese „temperantia“ ist heute dringend notwendig<br />

in unserer westlichen Welt als Investition in den Mitmenschen,<br />

um anderen das Leben möglich zu machen.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Ein klares Plädoyer und letztlich eine Handlungsanweisung für jeden von<br />

uns, zugespitzt auf „temperantia“, „Mäßigkeit“ oder „Maßhalten“. Jetzt<br />

haben wir drei sehr konkrete Beispiele gehabt, wie man mit dem Thema<br />

„Werte“ umgehen kann. Am Ende unserer Runde hat nun Professor Juros<br />

das Wort. Wie sein Vorname Helmut verrät, ist er in Oberschlesien geboren.<br />

Er hat Theologie studiert und ist jetzt Direktor des Institutes für Politische<br />

Wissenschaften an der Universität Warschau. Im Vorfeld haben wir<br />

uns noch etwas länger ausgetauscht über etwas, was Kardinal Lehmann<br />

ausgeführt hat: Was sind eigentlich Werte, und wie werden sie gesehen?<br />

Es gibt ja ganz verschiedene Möglichkeiten, an Werte heranzugehen.<br />

Zwei davon sind der juristische und der philosophische Zugang. Können<br />

Sie das ein wenig erläutern?<br />

Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau:<br />

Die Thematik der Werte und ihrer Definierbarkeit, die Definition des<br />

Guten gehörte zu meiner Doktorthese. Ich wollte eben aus diesem<br />

Grunde hier auch etwas Theoretisches ausführen. Unser Generalthema<br />

„Welche Werte bestimmen unser Handeln? Wertepluralismus in modernen<br />

Lebenswelten“ besteht aus zwei Sätzen. Der erste Satz ist mit einem<br />

Fragezeichen ausgestattet, der zweite Satz hat weder einen Punkt noch<br />

ein Ausrufezeichen, sodass sich viele Interpretationsmöglichkeiten erge-<br />

82


en. Man kann vermuten, dass es sich um eine empirische Bestandsaufnahme<br />

der Werte in der Gesellschaft handelt. Heute wurden schon einige<br />

theoretische Fragen gestellt, besonders im Zusammenhang mit der<br />

Wertedebatte im Rahmen der europäischen Integration. Natürlich gibt es<br />

verschiedene philosophische Positionen. Grundsätzlich wird die ganze<br />

Debatte aber von Neopositivisten beherrscht, für die es eigentlich keine<br />

Werte gibt. Angeblich können wir daher nur kulturwissenschaftlich und<br />

soziologisch über Werte sprechen. Deshalb wäre es eigentlich auch<br />

besser, über Europa als Interessengemeinschaft zu sprechen. Europa als<br />

Wertegemeinschaft sei also eine Illusion, meinen die Empiristen in der<br />

Wertedabatte.<br />

Wenn wir aber in der Philosophie, in der Theologie oder im kirchlichen<br />

Raum über Werte sprechen, dann vertreten wir meistens einen ontologischen<br />

Objektivismus und erkenntnistheoretischen Realismus, der davon<br />

ausgeht, dass Werte existieren, ein Faktum bilden und rational intuitiv<br />

erkennbar sind. In diesem Sinne können wir dann auch eine Werte-Ethik<br />

philosophischer oder theologischer Art wissenschaftlich betreiben. Was<br />

sind dann Werte? Wir haben bereits Beispiele für Werte und Antiwerte<br />

gehört. Herr Konrád nannte die Konzentrationslager als Schauplätze von<br />

Werten und Antiwerten. Im Zusammenhang mit der Hochwasserkatastrophe<br />

der letzten Wochen sind ganz plötzlich Nachbarschaft, Solidarität,<br />

Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit als Grundwerte erkannt und akzeptiert<br />

worden, und zwar ohne ideologische Legitimation. Solche Schauplätze<br />

oder Erfahrungsfelder sollten wir uns genau anschauen. Dann<br />

können wir feststellen, dass sich Werte auf einen gemeinsamen Nenner<br />

zurück führen lassen. Das sind dann die Grundwerte, z.B. in der Charta<br />

der Grundrechte der Europäischen Union, und wahrscheinlich kommen<br />

sie in der künftigen Europäischen Verfassung zum Ausdruck. Die ganze<br />

Tätigkeit von <strong>Renovabis</strong> ist auch eine Art von Exerzierplatz, auf dem<br />

Werte erscheinen. Natürlich findet, wie etwa die dritte Europäische Wertestudie<br />

und die Shell-Jugendstudie über Werte bei der deutschen Jugend<br />

zeigen, ein Wertewandel statt, aber immer wieder kommt man zu den allgemein<br />

anerkannten Grundwerten. Daher vertrete ich in dieser Frage<br />

auch nicht den Pessimismus bzw. Nihilismus, der in den Debatten so oft<br />

festzustellen ist.<br />

83


Peter Kujath, München:<br />

Vielen Dank für diesen weiten Bogen von den Neopositivisten, die die<br />

Existenz von Werten grundsätzlich bezweifeln, bis zu den Objektivisten,<br />

die via facti das Vorhandensein von Grundwerten postulieren. Dabei fiel<br />

auch der Begriff „Interessengemeinschaft“. Ich würde das Wort gerne an<br />

Frau Dr. Martens geben, denn die Europäische Union versteht sich wohl,<br />

wenn man ihren Ausführungen folgen darf, nicht nur als eine Interessengemeinschaft.<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Vielleicht arbeitet die Europäische Union von bestimmten Interessen aus.<br />

Die große Gefahr liegt aber gerade darin, dass Gruppeninteressen oder<br />

nationale Interessen den Interessen der Gemeinschaft vorangestellt werden.<br />

Ich denke etwa zum Vergleich an den Demokratiebegriff in „Centesimus<br />

annus“. Am Ende geht es im Vertrag von Nizza und in den anderen<br />

Dokumenten natürlich – wie in der Demokratie – auch um Werte, um gemeinsame<br />

Visionen wie Gemeinwohl und Menschenwürde, um Friede,<br />

Solidarität, Stabilität und Lebensqualität. Wenn wir aber über große Fragen<br />

wie die Migrationproblematik, die internationale Solidarität und den<br />

multikulturellen Dialog diskutieren und dabei nur die Perspektive des<br />

(Eigen)Interesses anlegen, dann weiß ich nicht, wieweit wir kommen.<br />

Deshalb habe ich aufgehorcht, als ich Interessengemeinschaft hörte.<br />

Peter Kujath, München:<br />

„Interessengemeinschaft“ ist also möglicherweise ein Reizwort; es passt<br />

zu der Tatsache, dass die Europäische Union ursprünglich eine reine<br />

Wirtschaftsgemeinschaft gewesen ist. Ich denke aber, dass sie inzwischen<br />

eine ganz andere Entwicklung genommen hat. Sie haben, Herr Bischof<br />

van Luyn, gerade auch deshalb die „temperantia“, das „Maßhalten“ erwähnt.<br />

Hatten Sie eigentlich schon Gelegenheit, Ihre Vorstellungen der<br />

Europäischen Kommission konkret zu unterbreiten?<br />

Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />

Natürlich, wir haben das Thema in den vergangenen Jahren schon mehrfach<br />

behandelt. Mit der Kommission in Brüssel, mit den Mitgliedern des<br />

84


Parlaments, mit den Direktoren wurden etliche Dialoge geführt, an denen<br />

sich alle Bischöfe von den Bischofskonferenzen der Mitgliedsstaaten beteiligt<br />

haben. Diesen konstruktiven und kritischen Dialog haben wir außerdem<br />

auch auf der nationalen Ebene zwischen der Bischofskonferenz<br />

vor Ort und der jeweiligen Regierung geführt. Wir versuchen, die Entwicklungen<br />

in der Europäischen Union kritisch zu verfolgen, und geben<br />

dann unseren Beitrag dazu ab. Aber ich bin auch der Überzeugung<br />

– und deshalb habe ich auch über die „temperantia“ gesprochen –, dass<br />

wir es nicht nur den Regierungen oder der Kommission der Union überlassen<br />

können. Wir Christen müssen auch selbstkritisch sein. Ich bin fest<br />

davon überzeugt, dass es auf der Welt besser aussehen würde, wenn wir<br />

Chris ten solidarischer mit den Gütern der Welt umgehen würden.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Wir haben über Grundrechte gesprochen, über Aufforderungen, wie man<br />

sich jetzt besser verhalten kann, um auch mit anderen etwas zu teilen.<br />

Frau Bell, wenn Sie vor Ort sind mit den Menschen, denen man helfen<br />

sollte – bekommen diese etwas von diesen Diskussionen in den Mitgliedsstaaten<br />

mit? Können sich beispielsweise in Bulgarien die Menschen<br />

mit unseren Grundwerten identifizieren?<br />

Inge Bell, München:<br />

Ich möchte einmal ganz provokant sagen: Wenn über Werte gesprochen<br />

wird, dann ist das erst einmal in Südosteuropa ein ziemlich hohler Begriff.<br />

Man nimmt das Wort gerne in den Mund und gibt sich damit einen<br />

wunderbar intellektuellen Anstrich. Aber man definiert nicht, was diese<br />

Werte sind, was sie überhaupt bedeuten. Als Beispiel möchte ich „Solidarität“<br />

aufgreifen. Ich stelle in meiner täglichen Lebenspraxis in Südosteuropa<br />

fest, dass es momentan gar nicht erstrebenswert ist, solidarisch zu<br />

sein. Es ist momentan eher erstrebenswert, nicht solidarisch zu sein – eine<br />

Entsolidarisierung als Bedürfnis nach einer über 50 Jahre lang verordneten<br />

Pseudosolidarisierung unter dem Kommunismus! Diese Gegentendenz<br />

macht sich jetzt breit. Ähnliches gilt für andere Begriffe.<br />

85


Peter Kujath, München:<br />

Ich würde gerne an dieser Stelle auch die anwesenden Kolleginnen und<br />

Kollegen aus Mittel- und Osteuropa bitten, ihren Standpunkt einzubringen.<br />

Gilt das, was Frau Bell eben über Bulgarien gesagt hat, auch anderswo?<br />

Prof. Dr. Viorel Ionit,a, Genf:<br />

Mein Name ist Viorel Ionit,a, ich bin rumänischer Staatsbürger und arbeite<br />

in Genf bei der Konferenz Europäischer Kirchen, die ich hier vertrete.<br />

Eigentlich hätte ich eher eine Frage an Frau Dr. Martens, möchte<br />

aber doch zunächst sagen, dass ich nicht mit der Aussage von Frau Bell<br />

überein stimme. Man muss doch auch aufpassen, mit welchen Schichten,<br />

Gruppen, Ländern man es zu tun hat. Schon in der kommunistischen Zeit<br />

gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern, und auch heute<br />

sollte man die Länder nicht pauschal betrachten. Ich kann mir deshalb<br />

auch nicht vorstellen, dass ihr Hinweis auf Bulgarien insgesamt zutrifft.<br />

Da ich orthodoxer Theologe bin, bezweifle ich ihn besonders hinsichtlich<br />

der Kirche.<br />

Gerade wegen meines orthodoxen Hintergrundes betone ich die Frage<br />

der Grundwerte und der Werte überhaupt. Wir wollen sie aus unserer Erfahrung,<br />

aus der Leidenserfahrung, aber auch der theologischen Erfahrung<br />

und vor allem vom Glauben her begründen. Wir haben unter den<br />

Kommunisten die Erfahrung gemacht, dass Werte wie etwa Gerechtigkeit<br />

und Solidarität missbraucht worden sind. Daher müssen wir sie heute aus<br />

dem Evangelium ableiten, und genau das haben wir in Gesprächen mit<br />

Jacques Santer und Romano Prodi auch immer wieder betont. Ist dann<br />

eben nicht doch eine höchste Autorität, nämlich Gott, als Basis der Werte<br />

notwendig, etwa wie es Dostojewski sagt „Wenn es Gott nicht gäbe, wäre<br />

alles möglich, doch weil es Gott gibt, ist nicht alles möglich“?<br />

Peter Kujath, München:<br />

Ich würde gerne diese Frage aufnehmen und auch an Frau Dr. Martens<br />

weitergeben. Die Verschiedenheit, die hier angesprochen worden ist, haben<br />

wir in allen Ländern, nicht nur in Mittel- und Osteuropa.<br />

86


Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Die Frage ist natürlich sehr wichtig, aber leider auch schwer zu beantworten.<br />

Im Parlament sitzen 626 Mitglieder aus 15 verschiedenen Ländern<br />

mit unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Traditionen. Die<br />

Werte, die man für wichtig hält, werden ganz unterschiedlich begründet.<br />

Für mich wurzeln sie im christlichen Glauben. Die Politik in einer Demokratie<br />

kann man aber nicht über die Ursachen und Hintergründe von Werten<br />

entscheiden. Ich für mich habe da kein Problem damit, denn wir leben<br />

in einer pluralistischen Gesellschaft. Die Grundrechtecharta bietet doch<br />

immerhin viele wichtige Ansätze, auch wenn sie natürlich nicht ausgesprochen<br />

christlich argumentiert.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Sie machen also in gewisser Weise einen Unterschied zwischen der<br />

persönlichen Sicht und den politischen Sachzwängen. Können Sie, Herr<br />

Professor Juros, das noch etwas vertiefen?<br />

Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau:<br />

Wenn man kirchliches Gedankengut zugrunde legt, dann ist das Naturrecht<br />

nicht nur metaphysisch-philosophisch, sondern auch theologisch<br />

aus der Allmacht Gottes heraus begründbar. Genauso können wir die Basis<br />

der Werte im christlichen Glauben verankern, jedoch können Politiker<br />

in einer pluralistischen Gesellschaft, wie Frau Dr. Martens das gesagt hat,<br />

nicht so einfach argumentieren. Sie berufen sich vielmehr auf eine Übereinstimmung<br />

bei der Anerkennung mancher Werte, die in unserer Kultur<br />

als Grundwerte bezeichnet werden. Meines Erachtens war das in der<br />

Charta von Nizza ein mutiger Schritt, wenn bereits dort von den geistigmoralischen<br />

oder spirituellen Wurzeln der Werte die Rede ist. Darüber<br />

ist, wie wir alle wissen, ein großer Streit entstanden, denn manche wollten<br />

hier genau die Religiosität ausdrücklich erwähnt haben. Die Europäische<br />

Union hat sich dann damit heraus geredet, dass jedes Mitgliedsland<br />

das in der eigenen Sprache ausdrücken sollte. So kam es dazu, dass in der<br />

deutschen Übersetzung expressis verbis die religiösen Wurzeln genannt<br />

werden, in anderen Fassungen spricht man von spirituellen oder von moralischen<br />

Grundlagen. Als Christen und Theologen können wir natürlich<br />

87


der Gesellschaft beibringen, dass eine rationale oder kulturwissenschaftliche<br />

Begründung zu kurz greift. Wir haben sogar noch weitere ultimative<br />

Begründungen, denn wir können mit dem Gott der Offenbarung argumentieren<br />

– genau das ist jedoch für einen Politiker nicht legitim.<br />

Ich möchte noch etwas bemerken. Wenn wir hier über Interessen- und<br />

Wertegemeinschaft sprechen, dann soll man das nicht als „entwederoder“<br />

verstehen, sondern so, dass die Wertegemeinschaft eine Unterstützung<br />

seitens der gesetzlichen Institution braucht, die sich eben in einer<br />

Sprache von Interessen ausdrückt. Interessen können also bei der Durchsetzung<br />

von Werten sehr hilfreich sein.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Herr Bischof van Luyn, Sie haben mit Nachdruck drei Tugenden in den<br />

Mittelpunkt gestellt, die Gottes- und Nächstenliebe mit den Stichworten<br />

„Spiritualität“ und „Solidarität“ und dazu die „temperantia“, das „Maßhalten“.<br />

Lassen sich daraus Werte für den heutigen Menschen und seine<br />

Existenz in der modernen Gesellschaft ableiten?<br />

Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />

Das ist eigentlich die entscheidende Frage, denn jeder Mensch hat eine<br />

bestimmte Vorstellung von Existenz und von Werten. Darüber bekommt<br />

man, wenigstens bei uns in den Niederlanden, keine Klarheit; vielmehr<br />

hängt das von wechselnden Mehrheiten im Parlament ab. Die Autonomie<br />

des einzelnen Menschen wird in unserer Gesellschaft sehr stark betont –<br />

zu stark, man hat kein Gespür mehr für die Heteronomie. Dass eigentlich<br />

das Fundament für die Werte außerhalb des Menschen liegt, in Gott, der<br />

uns so geschaffen hat, wie wir geschaffen sind, das ist aus dem Bewusstsein<br />

verschwunden. Aber wie können wir als Christen die anderen überzeugen?<br />

Das ist sehr schwierig. Wir können in diesem Dialog nur mitreden,<br />

wir dürfen uns unserer Meinung auch nicht schämen. Wir müssen<br />

mit unserem eigenen Beispiel von den Werten, etwa von der Würde des<br />

Menschen, Zeugnis ablegen. Auch Kardinal Lehmann hat dies verschiedentlich<br />

getan. Die Epoche, in der das Christentum allein das Wertesystem<br />

in Europa bestimmt hat, ist wohl unwiderruflich vorbei, aber die<br />

Christen und die Kirchen bleiben aufgerufen, drei fundamentale Werte<br />

88


immer wieder zu betonen: die Idee von einem transzendenten Gott, die<br />

menschliche Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit und die unveräußerliche<br />

Würde der menschlichen Person. Das ist nach meiner Überzeugung<br />

der Weg, um aus christlicher Sicht einen wesentlichen Beitrag im Dialog<br />

über die Werte zu leisten.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Ganz konkret nachgefragt: Spielen diese drei fundamentalen Werte in der<br />

Diskussion im Europäischen Parlament eine Rolle?<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Vielleicht auf persönlicher Ebene, aber in politischen Debatten weniger.<br />

Hoffnungsvoll stimmt aber ein sich abzeichnender Paradigmenwechsel.<br />

In den neunziger Jahren war es ein Paradigma, bestimmte Probleme<br />

anzufassen, beispielsweise die Gegensätze „Arbeit – Kapital“, „links –<br />

rechts“. Inzwischen hat sich die Zugangsweise verändert. Jetzt geht es<br />

um Fragen wie Individualisierung, Autonomie, Gemeinschaft.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Nachdem Deutschland die Niederlande im Bereich des Arbeitsmarktes<br />

als vorbildlich angesehen haben, kommt dieser Paradigmenwechsel vielleicht<br />

jetzt auch zu uns, wenn wir bereit sind, uns auf diese Auseinandersetzung<br />

einzulassen. Ganz wichtig ist sicher das von Bischof van Luyn<br />

betonte gelebte Beispiel. Welche Erfahrungen machen Sie, Frau Bell, in<br />

dieser Hinsicht in den immer mehr individualisierten Gesellschaften Mittel-<br />

und Osteuropas?<br />

Inge Bell, München:<br />

Meist werde ich dort als Exotin angesehen, nach dem Motto „Wie kann<br />

man so etwas machen, Zeit, Nerven, Geld investieren für so etwas, für<br />

Projekte, die doch sowieso zum Scheitern verurteilt sind, weil solchen<br />

Menschen, gefallenen Mädchen, Prostituierten und Behinderten, doch<br />

sowieso nicht mehr zu helfen ist“. Der Umdenkprozess ist dort überhaupt<br />

noch nicht richtig in Gang gekommen. Insofern kann ich aus meiner per-<br />

89


sönlichen Erfahrung heraus einfach sagen, dass das wirklich noch mit<br />

großem Staunen betrachtet wird. Ein solches Engagement hat sich gerade<br />

in Südosteuropa, in Makedonien, Bulgarien, Rumänien, Albanien einfach<br />

noch nicht richtig entwickelt. Etwas anderes ist das sicher in den Staaten<br />

Mittel- und Osteuropas, in Polen, Ungarn, Tschechien, wo generell auch<br />

von westlichen Institutionen und Organisationen sehr viel mehr aufgebaut<br />

worden ist.<br />

Ich möchte noch kurz etwas zu Herrn Ionit,a anmerken. Sie sprachen vorher<br />

– und natürlich haben Sie recht: ich darf nicht pauschalisieren – davon,<br />

dass man genau auf die einzelnen Schichten achten muss, mit denen<br />

man es zu tun hat. Tatsache ist aber doch, und das gilt meines Erachtens<br />

auch für Rumänien, dass die von mir erlebte Wertevakanz quer durch alle<br />

Schichten geht. Von vielen Schichten kann man im Moment sowieso<br />

nicht reden, weil die soziale Schere zwischen der großen Masse Verarmter<br />

und der sehr dünnen wohlhabenden Schicht extrem weit aufgegangen<br />

ist. Selbst bei Intellektuellen beobachte ich eine Paralyse, eine Orientierungslosigkeit.<br />

Wie definiert man da Werte, wie füllt man „Wert“ mit Inhalt?<br />

Bei niedrigen sozialen Schichten herrscht ein absolutes Ellenbogenhandeln<br />

und entsprechendes Denken vor, nach der Devise „Werte – schön<br />

und gut, aber wir müssen hier überleben“. Nur ein Beleg dafür: Im Februar<br />

gab es in Rumänien eine Fernsehsendung, die der Frage nachging,<br />

ob Rumänien weiterhin hinterhältig sein oder moralisch werden solle. Es<br />

ging um die Bereiche Bettlerkinder in Osteuropa, Betrügerbanden, korrupte<br />

Polizisten, korrupter Zoll, Das Ganze wurde auf einem breiten Podium<br />

diskutiert, leider hat darin die Kirche gefehlt.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Bevor wir uns zu sehr mit einem Land beschäftigen, würde ich gerne<br />

noch einmal die Werte im größeren Rahmen diskutieren. Rumänien wird,<br />

wenn ich daran erinnern darf, auch im Mittelpunkt eines Arbeitskreises<br />

stehen. Hier vorne die Dame hat sich gemeldet.<br />

Gisela Paul, Dorsten:<br />

Ich heiße Gisela Paul und arbeite seit zwei Jahren zusammen mit meinem<br />

Mann im Rahmen des Lehrer-Entsendeprogramms „Ost und West“ in<br />

90


Rumänien. Ich kann nur bestätigen, was Frau Bell gesagt hat. Wir vermissen<br />

das Gefühl der Solidarität und haben uns gefragt, woher das kommt.<br />

Selbstentfremdung als Phänomen ist mir noch nie so deutlich geworden<br />

wie in Rumänien. Es klafft eine große Lücke zwischen dem, was sein<br />

soll, und dem, was ist. Leider sind daran die großen Kirchen mit schuld.<br />

Wir erleben die orthodoxe und die katholische Kirche in Rumänien als<br />

Kirchen mit devotem und fast schon erstarrtem Glaubensverständnis. Ich<br />

habe das erschreckend in einem ökumenischen Bibelkreis, den ich ehrenamtlich<br />

leite, erlebt und erfahren, wie wenig man voneinander weiß – und<br />

wie gering dort christliche Grundwerte wie beispielsweise die Gleichberechtigung<br />

und Würde der Frau geachtet werden.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Vielen Dank für den wichtigen Beitrag, der auch auf den Arbeitskreis<br />

zum Thema „Frauen“ überleitet. Ich möchte den Hinweis auf das ehrenamtliche<br />

Engagement aufgreifen und fragen, ob die Kirche bereit ist, dies<br />

mehr zu fördern.<br />

Inge Bell, München:<br />

Welche Kirche denn, die orthodoxe Kirche?<br />

Peter Kujath, München:<br />

Im Moment möchte ich Herrn Bischof van Luyn auf dem Podium dazu<br />

ansprechen, denn er kann dazu sicher Einiges bemerken.<br />

Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />

Das kirchliche Leben in unserem Lande baut tatsächlich auf dem Ehrenamt<br />

auf, das ergeben Umfragen immer wieder. In der Mehrzahl sind es<br />

Frauen. Der Anteil der Ehrenamtlichen ist aber überaltert. 60 % engagieren<br />

sich in der Liturgie, etwa 15 %–18 % in der Diakonie.<br />

Dr. Stefan Garsztecki, Bremen:<br />

Ich arbeite im Bereich der Kulturgeschichte Mittel- und Osteuropas und<br />

befasse mich hauptsächlich mit Polen. Dabei möchte ich an das anknüp-<br />

91


fen, was Frau Bell gesagt hat, und vielleicht ein paar Erklärungsversuche<br />

bieten, warum es zu dieser Wahrnehmung kommt. Ich denke, die Eindrücke<br />

sind regelmäßig da und nicht aus der Luft gegriffen, warum es zu<br />

diesem Mangel an Werten kommt.<br />

Das hängt erstens natürlich mit dem Totalitarismus im 20. Jahrhundert<br />

zusammen. Es besteht die verbreitete Angst in diesen Ländern, von neuen<br />

Ideologien unterdrückt zu werden, zu denen die Religion aber nicht gerechnet<br />

wird. Zweitens sind die Länder in Mittel- und Osteuropa von<br />

einem „brain drain“ betroffen, von einem Abfluss hervorragend ausgebildeter<br />

Leute, die den Gesellschaften fehlen; das gilt, je weiter man nach<br />

Osteuropa kommt, umso stärker, Bulgarien und Rumänien mehr als Polen<br />

und die Tschechische Republik. Drittens denke ich – und das ist ein<br />

Vorwurf an die westliche Adresse – auch an eine falsche Auffassung von<br />

Liberalismus, besonders beispielsweise in Polen. Dort hat es einen Streit<br />

darüber gegeben, ob man im polnischen Parlament ein Kreuz aufhängen<br />

darf, und Liberale oder vermeintlich Liberale betonten, es müsse natürlich<br />

eine Trennung von Staat und Kirche geben, denn „Nur die Polen sind<br />

so katholisch, im Westen gibt’s das gar nicht“. Natürlich gab es auch in<br />

Deutschland und in den USA Streit, es gibt Modelle strikter Trennung<br />

zwischen Werten und staatlichem System. Gerade in Polen hat das aber<br />

viel Staub aufgewirbelt. Viertens denke ich an die wirtschaftlichen Umwälzungen,<br />

und zumindest für Polen kann man sagen, dass es dabei auch<br />

um eine Debatte der Werte ging. Man hat sich am Anfang der neunziger<br />

Jahre auf die Transformation von einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft<br />

konzentriert, auf die Einrichtung eines politisch-demokratischen<br />

Systems; mittlerweile wird jedoch im Zusammenhang mit der Verabschiedung<br />

der Verfassung intensiv über Werte diskutiert. An welche Tradition<br />

möchte man anknüpfen, wie sieht man die eigene Vergangenheit,<br />

auch die vor 1945?<br />

Eine letzte Bemerkung, vielleicht ein bisschen gerichtet an Frau Dr. Martens:<br />

Ich denke, dass es ein Fehler ist, sich auf die angedeutete Trennung<br />

in „persönliche“ und „öffentliche“ Werte einzulassen. Natürlich gibt es<br />

für jeden von uns Werte, die jeder individuell leben muss – und dann versucht<br />

man mühsam, dies in einer Charta irgendwie zu umgehen. Wir werden<br />

aber letztlich um die Wertefrage gar nicht herumkommen. Es ist eine<br />

92


Diskussion, die auch im Westen in der Philosophie, in der Politik, in der<br />

wissenschaftlichen Soziologie ständig geführt wird. In der polnischen<br />

Verfassung hat man in der Präambel eine Lösung gefunden, indem man<br />

sich entweder auf Gott und die christlichen Werte berufen oder auch auf<br />

die humanistischen Werte beziehen kann.<br />

Pater Christoph Wrembek SJ, Hannover:<br />

Ich bin Jesuit aus Hannover, als Priesterseelsorger in der Diözese Hildesheim<br />

tätig und arbeite nebenher seit über elf Jahren in Estland.<br />

Als ich vor 35 Jahren Theologie studierte, wurden die Werte in der Ethik,<br />

grob schematisiert, wie folgt dargelegt: „Es ist Gott, der durch die Offenbarung<br />

seiner Gebote dem Menschen sagt, was gut sei, was ein Wert ist.“<br />

Dieses Offenbarungsschema mit einem transzendenten absoluten Gebieter<br />

könnte man auch als Ausdruck einer sich „monarchisch“ verstehenden<br />

Kirche bezeichnen: Von oben her offenbart sich Gott bzw. das kirchliche<br />

Oberhaupt und schreibt dem unmündigen Menschen vor, was er zu lassen<br />

und zu tun habe. Das waren die einzig richtigen Werte. Dieses Schema<br />

setzt einen entsprechenden Gottes- und Kirchenglauben voraus, stark in<br />

monarchische Strukturen eingefasst – aber solches Denken kommt in<br />

heutigen demokratischen und pluriformen Gesellschaften mit dem „Bürger<br />

Mensch“ nicht mehr an. Es funktioniert nicht mehr, weil die Voraussetzungen<br />

(fast) entschwunden sind.<br />

Einige Theologen sind nun dabei, den umgekehrten Weg zu gehen, vom<br />

Menschen aus, sie fragen: Was ist für den Menschen gut? Und weil es für<br />

den Menschen gut ist, darum hat Gott es auch befohlen! Natürlich eröffnet<br />

dies die Frage: Wer ist der Mensch? Was ist für ihn gut? In einer Welt<br />

des Zusammenschlusses vieler Völker und Kulturen und Religionen mit<br />

sehr unterschiedlichen Gottes- und Menschenbildern können wir nur diesen<br />

zweiten Weg gehen. Allerdings stehen wir erst an seiner Schwelle, es<br />

wird ein langer und schwieriger Weg werden für uns Christen, für alle.<br />

Dabei scheint mir eines wichtig: Wir können die Diskussion um Werte,<br />

um den Menschen nur führen, wenn wir zwischen „Interessen“ und<br />

„Werten“ unterscheiden. Ob New York oder Moskau – da geht es, so befürchte<br />

ich, bald nur noch um „Interessen“, aber nicht mehr um „Werte“.<br />

93


Der Mensch aber muss von Werten her definiert werden, nicht von Interessen;<br />

letzteres wäre gegen seine Würde und machte ihn zum bloßen<br />

Nutz objekt. Wenn ein Mensch die Dimension der Werte nicht mehr kennt,<br />

kann er aber auch unter seinen eigenen Interessen nicht mehr abwägen<br />

und unterscheiden. Interessen liegen in den Händen der jeweils Mächtigeren,<br />

sie sind meistens Ich-orientiert und manipulierbar. Werte aber liegen<br />

in niemandes Händen, sie sind uns entzogen und absolut. Nur wer aus<br />

solchen Werten lebt, kann zwischen Interessen unterscheiden. Hier ist<br />

noch einiges nachzudenken.<br />

Ihre Erfahrungen, Frau Bell, kann ich übrigens auch ein bisschen für Estland<br />

bestätigen.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Der Unterschied zwischen Werten und Interessen wird uns wahrscheinlich<br />

während diesen gesamten <strong>Kongress</strong>es begleiten.<br />

Dr. Iwan Dacko, Weyarn:<br />

Ich hätte eine Frage an Frau Dr. Martens. Ich war beeindruckt, wie Sie die<br />

christlichen Prinzipien vertreten. Als Beauftragter der ukrainischen griechisch-katholischen<br />

Kirche für Auswärtige Beziehungen habe ich auch<br />

Erfahrungen mit einigen Behörden in Brüssel und bin nicht ganz davon<br />

überzeugt, ob die Vertreter der 15 Nationen, die zur Zeit zur Europäischen<br />

Union gehören, wirklich im eigentlichen Sinne des Wortes christlich<br />

sind. Im Gegenteil, einige schämen sich manchmal wegen ihres christlichen<br />

Hintergrundes. Irgendwie ist es nicht populär, sich in Brüssel als<br />

Christ zu bezeichnen, obwohl es dort auch eine ökumenische Kapelle und<br />

andere christliche Einrichtungen gibt. Aber hat man wohl Angst, in der<br />

Zentrale der Europäischen Union als Christ erkannt zu werden.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Eine ganz klare Frage, zu der ich durchaus zustimmendes Gemurmel gehört<br />

habe. Jetzt würde ich gerne Frau Dr. Martens die Möglichkeit zur<br />

Antwort geben. Gibt es in Brüssel nur noch Bürokraten und keine Christen<br />

mehr?<br />

94


Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Nein, es gibt nicht nur Bürokraten, aber Dr. Dacko hat nicht Unrecht. Natürlich<br />

engagieren sich Christen, und zwar in allen Parteien. Aber das<br />

große Problem ist, dass die Frage der Religion und damit die Begründung<br />

der Werte fast außerhalb der politischen Debatte steht. Also sieht man die<br />

aktiven Christen eigentlich kaum in der Politik anwesend. Es gibt allerdings<br />

auch Leute, speziell unter den Liberalen, die gegen Religion, speziell<br />

im politischen Bereich, allergisch sind.<br />

Josef Rottenaicher, Halsbach:<br />

Frau Dr. Martens, die Erweiterung der Europäischen Union führte dazu,<br />

dass sich die geographische Achse immer mehr in Richtung Mittelpunkt<br />

Europas bewegt. Die Mitte Europas liegt östlich von Budapest im Karpatenbecken.<br />

Nun ist es natürlich so, dass geschichtlich bedingt alle europäischen<br />

Institutionen, die Kommission, das Parlament, der Gerichtshof<br />

mehr oder weniger nahe am Atlantik liegen. Politik lebt aber doch auch<br />

von Symbolen und Signalen, von Zeichen. Hat sich eigentlich im Kreis<br />

der politisch Verantwortlichen in Brüssel und Straßburg jemand einmal<br />

Gedanken gemacht, ein solches Zeichen zu setzen? Wenigstens eine dieser<br />

Institutionen sollte in die Nähe der geographischen Mitte Europas<br />

verlegt werden. Wie wäre es z. B. mit einer europäischen Hauptstadt<br />

Prag, Krakau oder Budapest?<br />

Peter Kujath, München:<br />

Ein konkreter Vorschlag für eine weitere europäische Hauptstadt, in die<br />

Frau Dr. Martens dann neben Straßburg, von wo sie gerade kommt, und<br />

Brüssel ebenfalls noch pendeln müsste. Gibt es denn Überlegungen, Institutionen<br />

in den Osten zu verlagern?<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Das wird sicher kommen, denn es kann nicht auf Dauer so bleiben, dass<br />

alle europäischen Institutionen im Westen Europas liegen. Eine weitere<br />

vollständige Hauptstadt ist aber nicht sinnvoll, das würde die Arbeit von<br />

Parlament und Kommission nur noch schwieriger machen, als sie es jetzt<br />

95


schon ist. Wenn so viele neue Länder hinzukommen, dann müssen aber<br />

die Schwerpunkte neu verteilt werden. Wie das geschehen wird, ist aber<br />

noch nicht entschieden.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Vielleicht wird es dann zwar keine europäische Hauptstadt Prag, aber zumindest<br />

ein weiteres europäisches Zentrum in Prag, Budapest oder anderswo<br />

geben. Ich möchte, da die Zeit schon weit voran geschritten ist,<br />

eine abschließende Runde hier auf dem Podium machen. Wir sind ein<br />

sehr weites Feld abgeschritten, haben uns immer wieder genau überlegt,<br />

was eigentlich Grundwerte, Werte in verschiedenen Situationen, Interessen<br />

sind – Themen, die mit Sicherheit auch weiter verfolgt werden müssen.<br />

Ich würde gerne wieder bei Frau Bell beginnen und ihr die Möglichkeit<br />

geben, auch auf den Unterschied zwischen der katholischen Kirche<br />

und der Orthodoxie im Hinblick auf ihre Soziallehre kurz einzugehen.<br />

Inge Bell, München:<br />

Wenn ich mich so im Publikum umschaue, dann fällt mir auf, dass die<br />

Orthodoxie hier nur minimal vertreten ist, obwohl wir doch immer über<br />

Länder reden, die zum großen Teil orthodox sind, etwa in Südosteuropa.<br />

Der eben ausgesprochene Hinweis auf das fehlende Ehrenamt in der Kirche<br />

hat damit zu tun – welche Kirche ist denn gemeint? Traditionell geht<br />

es sicherlich um ein westchristliches Engagement, das in den Ländern<br />

Ost- und Südosteuropas immer sehr verbreitet gewesen ist. Die Orthodoxie<br />

hat da meines Erachtens auch in den letzten Jahren versagt. Erst im<br />

August 2000 hat die russische orthodoxe Kirche eine Soziallehre ausformuliert.<br />

Andere orthodoxe Kirchen haben es meines Wissens bis jetzt<br />

noch nicht geschafft, in dieser Richtung aktiv zu werden. Mein persönlicher<br />

Kritikpunkt und zugleich Wunsch richtet sich an die orthodoxen<br />

Christen, sich mehr in die Wertediskussion einzuschalten und gleichzeitig<br />

zu praktizieren, was die westchristlichen Brüder und Schwestern<br />

schon vormachen.<br />

96


Peter Kujath, München:<br />

Dieser Schwerpunkt wird, davon bin ich überzeugt, sicher im Arbeitskreis<br />

„Orthodoxie und Katholizismus“ noch zu heißen Diskussionen<br />

führen. Frau Dr. Martens, kann man das Problem der fehlenden Christen<br />

in Brüssel und Straßburg vielleicht dadurch beheben, dass die Parteien in<br />

den Nationalstaaten auch wieder christlicher werden müssen, um dann im<br />

Parlament entsprechend zu handeln?<br />

Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />

Ich habe ein Problem mit dem Wort „müssen“, aber vielleicht hat das mit<br />

der niederländischen Konnotation von „müssen“ zu tun. Wenn ich gesagt<br />

habe, dass es im öffentlichen Leben kaum wahrnehmbare Christen gibt,<br />

heißt das ja nicht, dass sie auch im privaten Bereich fehlen. In der Politik<br />

fallen sie weniger auf. Die Religion ist privatisiert worden – also reden<br />

wir darüber auch kaum im politischen und öffentlichen Bereich. Und<br />

dann wird suggeriert, die Politik und die Entscheidungen seien neutral,<br />

aber das sind sie natürlich nicht. Darüber müssen wir, denke ich, im Europaparlament<br />

noch einmal ganz klar reden. Entscheidungen beruhen auf<br />

bestimmten Kriterien, und diese Kriterien haben immer etwas mit einer<br />

Wertehierarchie zu tun. Es gibt darin keine Neutralität. Die Christen bilden<br />

in allen unseren Ländern die Mehrheit und sollten auch als Politiker<br />

den Mut haben, dazu zu stehen. Damit bin ich bei den Kardinaltugenden,<br />

die Herr Bischof van Luyn angesprochen hat. Das sind iustitia, temperantia,<br />

prudentia und fortitudo, also Gerechtigkeit, Maßhalten, Klugheit und<br />

Tapferkeit. Frau Bell bietet ein gutes Beispiel dafür, dass man nicht still<br />

bleibt und statt dessen Verantwortung übernimmt und handelt. Darauf<br />

kommt es an.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Das war schon fast ein wunderbares Schlusswort. Ich möchte trotzdem<br />

den Männern noch kurz die Möglichkeit zu einer Stellungnahme geben.<br />

Sie haben gesagt, Herr Bischof, dass es in den Niederlanden sehr schwer<br />

ist, sich auf gemeinsame Werte zu einigen. Greifen wir dann nicht zu<br />

hoch, wenn wir uns auf europäischer Ebene Gedanken darüber machen,<br />

97


was die Grundwerte sind, und müssen wir nicht vielleicht wieder etwas<br />

niedriger ansetzen? Sie haben das, wenn ich mich recht erinnere, auch so<br />

angedeutet.<br />

Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />

Neben den Kardinaltugenden gibt es auch noch die göttlichen Tugenden,<br />

und eine davon ist die Hoffnung. Hoffnung besteht, dass in den Niederlanden<br />

und anderswo in Westeuropa nicht alles leer und „aussichtlos“ ist.<br />

Gerade beim Weltjugendtreffen in Toronto haben wir viele junge Leute<br />

gesehen, die ermutigende Beispiele gegeben haben. Bei diesen jungen<br />

Leuten spüren wir ein Bedürfnis nach neuer Hingebung, sie sind müde<br />

von all dieser Konsumgesellschaft und ihren materiellen Zwängen. Sie<br />

wollen Ideale. Es wird Zeit, dass die Ideale in die soziale, kulturelle und<br />

politische Debatte über die Zukunft von Europa zurück kehren. Wir müssen<br />

als Christen und als Kirchen dazu beitragen. Wir haben diese Perspektive<br />

vom Evangelium auf die Würde der menschlichen Person, auf<br />

Gott den Schöpfer und Erlöser und auch auf unsere Mitmenschen, unsere<br />

Nächsten, Brüder und Schwestern mit der evangelischen Option für die<br />

Ärmsten. Wir haben das im Hause und dürfen die Türen und Fenster nicht<br />

verschließen. Wir müssen das verständlich heraustragen und glaubwürdig<br />

vorleben – dann kommen die Ideale wieder zurück. Dann hat die Jugend<br />

auch wieder eine Perspektive für ein Europa als eine Wertegemeinschaft,<br />

eine Perspektive, die die heutige und die kommende Generation<br />

inspirieren und motivieren kann.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Herzlichen Dank! Herr Professor Juros, wie ist Ihre Erfahrung in Warschau?<br />

Bleiben wir bei den jungen Leuten und bei den Idealen. Besteht<br />

dort ebenfalls ein Bedürfnis nach Idealen?<br />

Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau:<br />

Wenn ich auf die jungen Leute in Polen schaue, habe ich eine sehr optimistische<br />

Sicht. Direkt nach der Wende, am Anfang des Transformationsprozesses,<br />

wollte man die christlichen Werte nominell in der Verfassung<br />

verankern. Damals hatte die ältere Generation viel mehr Schwierigkeiten,<br />

98


mit der neuen Freiheit umzugehen. Die Jugend konnte sich schneller umgewöhnen,<br />

und die Lebenspraxis zeigt, dass sie sich wieder der Religion<br />

zuwendet. Über 95 % aller Jugendlichen besuchen freiwillig den Religionsunterricht.<br />

In meinem Studienbereich haben wir 15 Kandidaten auf<br />

einen Studienplatz. Die Wirklichkeit ist noch vielgestaltiger, als es die<br />

Fernsehbilder bei den Papstbesuchen oder den Jugendtreffen belegen. Ich<br />

habe die jungen Leute nie gefragt, ob sie religiös sind, habe aber dann<br />

festgestellt, dass alle an der täglichen Morgenmesse teilgenommen haben.<br />

Es gibt auch ein großes Potenzial in Richtung einer Caritas oder<br />

Nächstenliebe. Man darf sicher den hier angesprochenen Wertemangel<br />

nicht unterschätzen. Wenn ich jedoch höre, dass eine Diözese den ganzen<br />

Überschuss der nächsten Getreideernte aufkaufen will, um ihn in die<br />

Dritte Welt zu exportieren, dann ist das schon eine große Leistung. Die<br />

Opferbereitschaft in Polen ist sehr groß.<br />

Die Wertedebatte wird weiter geführt, das Rechtssystem entwickelt sich,<br />

der Pluralisierungsprozess in der Gesellschaft wird weiter laufen, und es<br />

wird auch eine Antimetaphysik weiter geben. Ich war etwas erstaunt, als<br />

Kardinal Lehmann realpolitisch meinte, wir hätten keine Chance, auf die<br />

Einführung des Gottesbezuges in die künftige Verfassung der Europäischen<br />

Union Einfluss zu nehmen. Vielleicht ist das gar nicht notwendig.<br />

Wir brauchen nur gute Vorbilder. Auf jeden Fall müssen wir auch die politischen<br />

Strukturen nützen, um unsere Wertevorstellungen in der Gesetzgebung<br />

durchzusetzen.<br />

Peter Kujath, München:<br />

Es gilt also, für die Durchsetzung von Werten die persönliche ebenso wie<br />

auch die politische Seite zu nutzen. Ich danke Ihnen allen für Ihre Mitwirkung,<br />

vor allen Dingen den Diskutanten auf dem Podium, und wünsche<br />

dem <strong>Kongress</strong> weiterhin einen guten Verlauf.<br />

99


Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn<br />

Christliche Werte und öffentliche<br />

Verantwortung der Kirchen<br />

Unser Thema „Christliche Werte und öffentliche Verantwortung der Kirchen“<br />

beschreibt einen wichtigen Aspekt der Wirkung des Glaubens und<br />

der Rolle der Kirche in der Gesellschaft, genauer gesagt: Für das öffentliche<br />

Wohl. Gewiss ist jedes einzelne Leben im Glauben ein Segen für andere<br />

und damit ein öffentlicher Segen. Uns geht es aber jetzt um das, was<br />

die Kirche und die Christen unmittelbar für das allgemeine Wohl der Gesellschaft<br />

tun und tun müssen. Diesen Dienst zu ermöglichen und zu<br />

fördern, gehört zu den wichtigsten Aufgaben von <strong>Renovabis</strong>. „Christliche<br />

Werte und öffentliche Verantwortung der Kirche“ ist nicht zuletzt ein<br />

konkretes und eminent praktisches Thema. Ich will daher einleitend in<br />

drei Schritten zunächst den europäischen Kontext dieses Themas umgrenzen.<br />

Die europäische Christenheit in West und Ost<br />

Blicken wir als erstes auf jene europäischen Gesellschaften, die schon<br />

vor 1989 in einer freiheitlichen Ordnung lebten. Trotz großer Unterschiede,<br />

die sich aus Geschichte und konfessioneller Eigenart der verschiedenen<br />

Länder ergeben, wird man sagen können: Die fest mit der<br />

Kirche verbundenen Christen erfahren sich auch dort zunehmend als<br />

Minderheit. Die Gesellschaft weist zwar noch eine mehr oder weniger<br />

starke christliche Prägung auf, aber das Christentum ist unverkennbar nur<br />

eine ihrer geistigen Traditionslinien. Für die Stellung und das Selbstverständnis<br />

der Christen ist bedeutsam, dass es in der Geschichte dieser Gesellschaften<br />

zwar Kontinuitätsunterbrechungen gegeben hat, aber keine<br />

100


adikalen Traditionsbrüche. Der Weg der Kirchen in eine freiheitliche<br />

Staats- und Gesellschaftsordnung war oft schmerzhaft, aber heute sieht<br />

sich die Kirche überwiegend im Kontext der Freiheitsgeschichte und verfügt<br />

über Erfahrungen im gesellschaftlichen Dialog und im partnerschaftlichen<br />

Verhältnis von Kirche und Staat. Daher fühlen sich die Christen<br />

wie selbstverständlich als Teil der Gesellschaft. Das gibt ihnen Sicherheit,<br />

kann aber auch dazu führen, die Bedeutung einer klaren Kontur des<br />

Christlichen zu unterschätzen und gleichsam eher aus der Gesellschaft<br />

auf die Kirche zu blicken als aus der Kirche auf die Gesellschaft.<br />

Dagegen haben sich die Christen in jenen europäischen Gesellschaften, die<br />

bis 1989 unter kommunistischer Herrschaft standen, über mehrere Generationen<br />

als benachteiligt oder sogar verfolgt, jedenfalls als nicht zur offiziellen<br />

Gesellschaft gehörend erfahren. Sie waren überdies vielfach eine Minderheit<br />

oder wurden dazu gemacht. Über den Zeitraum von mehreren Generationen<br />

wurde von den in Staat und Gesellschaft Mächtigen eine zur<br />

Gewaltanwendung tendierende Politik des radikalen Traditionsbruchs betrieben,<br />

die – trotz mancher Unterschiede in den betreffenden Ländern –<br />

gegen Kirche und Glauben gerichtet war. Den Christen war eine aktive und<br />

selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt, und sie sollten von<br />

der geschichtlichen Entwicklung ausgeschlossen werden.<br />

Dafür erlebten die Christen die Kirche als einen Raum der Zuflucht und<br />

der Zusammengehörigkeit, ja, als einen Ort der Sehnsucht nach Freiheit<br />

und damit als Alternative zur kommunistisch beherrschten Öffentlichkeit.<br />

Erst ab 1989/90 konnten die Kirchen und die Christen Erfahrungen<br />

im gesellschaftlichen Dialog und Engagement und im wohlwollenden<br />

Gegenüber von Staat und Kirche machen, wenngleich von Land zu Land<br />

in unterschiedlichem Grade. Die neue Situation empfinden manche<br />

Chris ten und kirchliche Amtsträger gleichwohl nicht nur als befreiend,<br />

sondern auch als belastend und enttäuschend. Die lange ersehnte Freiheit<br />

wird jetzt, da sie errungen worden ist, auch als unverständlich, wenn<br />

nicht sogar als bedrohlich erfahren. Daher wird Abwehr gesellschaftlicher<br />

Neuentwicklungen nicht selten christlich motiviert, und es entsteht<br />

gelegentlich die Tendenz, an Stelle des Kommunismus den Liberalismus<br />

als neuen Widerpart zu betrachten.<br />

101


Nach meinem Eindruck wird dabei nicht immer hinreichend unterschieden<br />

zwischen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung des Westens und<br />

einem stark individualistisch orientierten Liberalismus als einflussreicher<br />

Richtung im Westen. Zum Wesen der geistigen und gesellschaftlichen<br />

Freiheit gehören die Pluralität der Überzeugungen und die Offenheit<br />

gegenüber neuen Möglichkeiten und Entwicklungen. Im Gegensatz<br />

zum marxistisch-leninistischen Sozialismuskonzept kennt die freiheitliche<br />

Gesellschaftsordnung für ihre Zukunft also keine fest stehende Perspektive,<br />

sondern jeder gemeinsame Schritt erfolgt im Ergebnis von öffentlichen<br />

Debatten und sich daraus ergebenden Mehrheitsentscheidungen.<br />

Dazu gehört nicht nur die Art und Weise, wie etwas geregelt wird,<br />

sondern zunehmend auch die Frage, ob etwas überhaupt verbindlich zu<br />

regeln ist. An dieser Frage des Maßes von gesellschaftlicher Gemeinsamkeit<br />

setzt der individualistisch orientierte Liberalismus an, da er<br />

prinzipiell jede Art von überindividueller Bindung und Regelung als<br />

freiheitsfeindlich verdächtigt und nur ein unbedingt notwendiges Minimum<br />

an gesellschaftlicher Gemeinsamkeit akzeptieren will. Die Unterscheidung<br />

von freiheitlicher Gesellschaft und liberalistischer Gesellschaftsrichtung<br />

ist, wie uns die Geschichte zeigt, von nicht zu überschätzender<br />

Bedeutung für das Verhältnis der Kirche zur geistigen und<br />

gesellschaftlichen Freiheit. Denn nach christlicher Überzeugung kann<br />

die Mitmenschlichkeit einer Gesellschaft und ihre Zukunft nicht allein<br />

durch individuelles Handeln garantiert werden, sondern es bedarf des<br />

öffentlichen Handelns des Gesetzgebers und der Politik, das sich wiederum<br />

auf gemeinsame Wertevorstellungen in der Gesellschaft stützen<br />

muss. Was die Unterscheidung zwischen Liberalität und Liberalismus<br />

heute freilich erschwert, ist die Offensive eines schrankenlosen Individualismus,<br />

der auf das Scheitern kollektivistischer Gesellschaftsmodelle<br />

verweisen kann und sich durch die abnehmende Rolle der Nationalstaaten<br />

ermuntert fühlt.<br />

Für beide Teile Europas stellt sich heute die Aufgabe, zu einer europäischen<br />

Gesellschaft zusammenzuwachsen. Diese künftige europäische<br />

Gesellschaft kann gewiss keine homogene Größe, sondern nur eine Einheit<br />

in der Vielfalt sein. Sonst würde sie ihrer Geschichte nicht entsprechen<br />

und wäre nur eine Fiktion. Ohne eine europäische Gesellschaft und<br />

102


eine gemeinsame Öffentlichkeit wird es jedoch in Wahrheit niemals eine<br />

auf Dauer lebensfähige Europäische Union geben, wie immer einmal<br />

deren rechtliche Ordnung und deren politisches Gesicht aussehen werden.<br />

Ohne Zweifel haben die beiden Teile Europas auf dem Weg zu einer<br />

europäischen Gesellschaft bisher sehr unterschiedlich lange Strecken zurück<br />

gelegt. Im Westen vollzieht sich der Prozess der europäischen Integration<br />

schon seit mehreren Jahrzehnten. Gleichwohl bleibt noch Wesentliches<br />

zu tun. Das Maß der wechselseitigen Vertrautheit zwischen<br />

den west-, süd- und nordeuropäischen Gesellschaften, die schon lange<br />

am Integrationsprozess beteiligt sind, wird oft überschätzt. Es gibt erst<br />

Ansätze zu europäischen Debatten. Wie das relativ geringe Interesse an<br />

den Wahlen zum Europäischen Parlament und an dessen Verhandlungen<br />

zeigt, gibt es erst Anfänge eines europäischen Bewusstseins.<br />

Ungleich wichtiger als eine gewisse Tendenz zur westeuropäischen<br />

Selbstgefälligkeit scheint mir jedoch, dass im letzten Jahrzehnt des vorigen<br />

Jahrhunderts neue europäische Herausforderungen entstanden sind<br />

oder erheblich an Gewicht zugenommen haben. Folgende Aspekte scheinen<br />

mir dafür wichtig zu sein:<br />

• An erster Stelle ist die Globalisierung, also die zunehmende Verflechtung<br />

der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen, zu nennen.<br />

Sie bewirkt, dass Entscheidungen und Entwicklungen in einem Land<br />

sofort Auswirkungen auf viele andere Länder haben, ohne dass es möglich<br />

ist, diese Prozesse und ihre sozialen und politischen Folgen innerhalb<br />

der einzelnen Länder durch administrative oder gesetzgeberische<br />

Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Die Globalisierung hat zwar<br />

durchaus unterschiedliche Konsequenzen im Westen und im Osten Europas.<br />

Sie sind im Osten weitaus heftiger und belasten zusätzlich die<br />

ohnehin schon schwierige Transformation zur Marktwirtschaft und zu<br />

einer rechtsstaatlichen Demokratie. Dennoch ist dies auch für den Westen<br />

eine neue Rahmenbedingung, deren Beginn im Großen und Ganzen<br />

mit der revolutionären Wende im Osten Europas zusammenfiel. Daher<br />

markiert das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts auch für<br />

den Westen Europas das Ende einer Epoche, nämlich der einer mehr<br />

oder weniger stetigen Aufwärtsentwicklung, an der die meisten Menschen<br />

Anteil hatten.<br />

103


• Die zweite große Herausforderung ist die zunehmende Individualisierung<br />

der Lebensauffassungen, Lebensstile und Lebensformen. Denn<br />

dies reduziert ganz zwangsläufig den gesellschaftlichen Wertekonsens<br />

und schwächt die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstregulierung<br />

in einem Moment, wo die Handlungsfähigkeit des Staates abnimmt.<br />

• Und drittens hat das Ende des Kalten Krieges auch das Ende eines<br />

waffenstarrenden Friedens gebracht, der zwar ständig bedroht war,<br />

aber doch in Europa fast ein halbes Jahrhundert geherrscht hat. Denn<br />

in dieser Zeit drohte der Grundkonflikt zwischen den USA und der<br />

Sowjetunion jeden Krieg zu einem Weltkrieg zu machen. Jetzt sind<br />

lokale Kriege wieder möglich, wie die traurige Realität uns zeigt. Dadurch<br />

ist ein Maß von außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit<br />

gefordert, zu der die europäischen Staaten und die europäischen<br />

Gesellschaften bisher weder strukturell noch mental in der<br />

Lage sind. Oder um es klarer zu sagen: Die Rolle der Europäischen<br />

Union bei der Wahrung oder Wiederherstellung einer europäischen<br />

Friedensordnung ist ziemlich erbärmlich. Zu viele europäische Staaten<br />

klammern sich an ihre immer bedeutungsloser werdende Souveränität,<br />

und zu viele europäische Bürgerinnen und Bürger verweigern<br />

sich aus Eigensucht oder aus gutherziger Naivität der Realität. Diese<br />

Realität heißt im Klartext, dass die Europäische Union nur dann den<br />

europäischen Frieden bewahren kann, wenn ihre Bürgerinnen und<br />

Bürger glaubhaft bereit sind, dafür Opfer zu bringen und notfalls auch<br />

zu kämpfen und zu sterben. Vor dieser Wahrheit kann man sich weder<br />

durch wortreiche Resolutionen noch durch Beschimpfungen der Politik<br />

und auch nicht durch Gesten wie das Anzünden von Kerzen auf<br />

Dauer verstecken.<br />

Europa befindet sich zur Zeit zugleich in einer Verfassungsdebatte und in<br />

einer Orientierungskrise. Das ist, wie die Geschichte lehrt, eine schlechthin<br />

ideale Situation für eine engagierte Debatte über die geistigen Grundlagen<br />

des künftigen Europa, vorausgesetzt, es gelingt, ethische Prinzipien,<br />

geschichtliche Erfahrung und politische Vernunft miteinander zu<br />

verbinden. Sollten dafür die Christen in Europa nicht die besten Voraussetzungen<br />

haben?<br />

104


Die christlichen Werte<br />

Was sind denn nun aber die christlichen Werte, die wir in diese Debatte<br />

einbringen wollen, damit sie das gesellschaftliche Miteinander in Europa<br />

und in unseren Ländern prägen und mitbestimmen? Niemand wird von<br />

mir erwarten, dass ich hier jetzt einen Katalog solcher Werte präsentiere.<br />

Viel wichtiger scheint mir, über den Begriff der christlichen Werte zu<br />

sprechen. Denn ein solches Wort hat ja nur Sinn, wenn es nicht einfach<br />

nur ein anderes Wort ist für den Glauben oder die Frohe Botschaft. Da ist<br />

es zunächst einmal wichtig, sich der Einsicht zu erinnern, dass der Glaube<br />

weder ein politisches Programm noch ein soziales Modell ist. Auch kann<br />

niemand zu den Evangelien greifen, um daraus eine Staatsverfassung zu<br />

formulieren. Der Glaube ist eine von der Geschichte unabhängige Wahrheit.<br />

Und die Frohe Botschaft ist den Menschen aller Zeiten und Völker<br />

gesagt. Der Glaube wirkt aber in konkreten Perioden der Geschichte, und<br />

die Frohe Botschaft ist ein Ruf und ein Zuspruch, dem wir in dieser Zeit<br />

folgen sollen. Glaube und Geschichte, Evangelium und menschliches<br />

Handeln gehören zusammen, aber sie sind nicht das Gleiche, sondern<br />

bilden ein Spannungsfeld. In diesem Spannungsfeld stehen auch die<br />

christlichen Werte, die in einer bestimmten geschichtlichen Zeit wirken.<br />

Sie sind geschichtlich konkrete Schlussfolgerungen aus dem Glauben<br />

und entstehen aus der Auseinandersetzung mit der immer neuen Frage,<br />

wie der Glaube in unserem Leben und durch unser Leben Gestalt annehmen<br />

kann. Das ist eine Frage nicht nur an jeden Einzelnen, sondern auch<br />

an die Kirche als eine Gemeinschaft von Glaubenden, die durch die Geschichte<br />

zu Gott unterwegs ist und sich auf diesem Weg auch ständig<br />

wandeln muss, um ihren Auftrag zu erfüllen. Dabei muss die Kirche immer<br />

wieder um die Frage ringen, wie der Glaube zu verkünden und zu<br />

leben ist. In der Vergangenheit kamen die Impulse meist aus der Mitte der<br />

Kirche. Die Entscheidungen darüber, was der Glaube für die Menschen<br />

und für die Gesellschaft bedeutet, fallen immer in einer bestimmten Zeit<br />

und stehen auch zu dieser Zeit in einer festen Beziehung. Ich will das im<br />

Folgenden an Beispielen erläutern:<br />

• Einer der zentralen Begriffe in der heutigen europäischen Debatte ist<br />

der des Schutzes des menschlichen Lebens und der Menschenwürde.<br />

Die Debatte kreist um die Frage, wie rechtliche Normen, die das Leben<br />

105


und die Würde des Menschen schützen, auszudeuten oder zu definieren<br />

sind. Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik<br />

Deutschland lautet z. B.: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie<br />

zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“<br />

Diese rechtliche Norm ist 1949 formuliert worden als Summe der bösen<br />

und bitteren Erfahrungen, die in Deutschland mit einer staatlichen<br />

Ordnung gemacht worden waren, die ganz ausdrücklich die Rechte des<br />

Menschen negierte und das ganze Volk einem diktatorischen Willen<br />

unterwarf. Zugleich bekannten sich die Schöpfer des Grundgesetzes<br />

damit zur Tradition der Freiheit in der Geschichte Europas und der<br />

westlichen Welt. Die Frage ist jedoch, welche grundsätzlichen Überzeugungen<br />

in dieser Freiheitsgeschichte zum Ausdruck kommen. Für<br />

sich genommen ist nämlich der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde<br />

nur eine Behauptung. Für Christen ist er jedoch die notwendige<br />

Konsequenz aus ihrem Glauben an Gott als den Schöpfer aller<br />

Menschen und an Jesus Christus, der alle Menschen erlöst hat. Ohne<br />

ein solches Fundament hängt der Satz in der Luft. Allerdings müssen<br />

Christen bedenken, dass Menschen auch aus anderen religiösen oder<br />

philosophischen Überzeugungen zu der Einsicht kommen können,<br />

dass die Menschenwürde unantastbar ist. Und die Christen dürfen nicht<br />

vergessen, dass sie selbst erst in einem schwierigen geschichtlichen<br />

Prozess zu der Erkenntnis gelangten, dass es ihrem Glauben angemessen<br />

ist, eine solche rechtliche Norm zu formulieren. Den Grundsatz,<br />

dass die Menschenwürde am Besten durch eine freiheitliche Verfassung<br />

zu schützen ist, hat die Katholische Kirche bekanntlich nicht immer<br />

verfochten. Trotzdem besteht für Christen heute eine wesentliche<br />

Beziehung zwischen der Glaubenswahrheit von der Gotteskindschaft<br />

und der Erlösung aller Menschen und dem politischen Willen, die<br />

Menschenwürde rechtlich zu schützen.<br />

• Was dem Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde jetzt hohe<br />

Aktualität gibt, sind die Fragen nach dem Beginn und dem Ende des<br />

Lebens. Nach christlicher Überzeugung ist das Leben ein Geschenk<br />

Gottes, über das der Mensch weder am Anfang noch am Ende verfügen<br />

darf. Wann aber z.B. das Leben beginnt, welche Bedeutung also – konkret<br />

gesprochen – der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle zukommt,<br />

können wir nicht wissen ohne die Erkenntnisse der Naturwis-<br />

106


senschaften. Das bedeutet nicht, dass der christliche Glaube vom Stand<br />

der wissenschaftlichen Erkenntnis abhängig ist. Was jedoch der Glaube<br />

für eine konkrete Frage des Lebens bedeutet, können wir erst sagen,<br />

wenn uns der Sachverhalt, aus dem sich die Frage ergibt, bekannt ist.<br />

Und auch die Beziehung zwischen der Unantastbarkeit der menschlichen<br />

Würde und der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ist für<br />

die Gegenwart eigentlich nur mit der Kenntnis der naturwissenschaftlich<br />

festgestellten Sachverhalte zu beantworten. Das bedeutet wiederum<br />

nicht, dass wir die Antwort allein aus der Wissenschaft erhalten<br />

oder gar aus dem, was ringsum in der Gesellschaft über die wissenschaftlich<br />

festgestellten Sachverhalte gedacht wird. Sondern wir werden<br />

die Antwort aus dem Glauben heraus nur finden können, wenn wir<br />

die Frage sachgerecht formulieren.<br />

• Im geistigen und politischen Leben wirken die Werte und Wahrheiten<br />

des Glaubens also in enger Wechselwirkung mit dem, was die Christen<br />

als Menschen in ihrer Zeit wissen und denken. Dem christlichen Wert<br />

der unbedingten Achtung der Menschenwürde können sie nur dann gesellschaftliche<br />

Geltung verschaffen, wenn sie als Zeitgenossen handeln<br />

und diesen Wert in den Zusammenhang ihrer geistigen und politischen<br />

Gegenwart einbringen. Für die Menschenwürde kann man wirkungsvoll<br />

nur in der Geschichte und nicht außerhalb der Geschichte eintreten.<br />

Darum hängt es auch ganz generell, aber insbesondere in einer<br />

freiheitlichen Gesellschaft, vor allem von den Laien als den in der Welt<br />

lebenden und tätigen Christen ab, wieweit die Gesellschaft christlich<br />

geprägt ist oder nicht. Eine solche Aufgabe können sie nicht erfüllen,<br />

wenn sie sich nur als Hörende und Ausführende verstehen oder sie so<br />

behandelt werden, sondern dafür müssen sie eigenständig denken und<br />

eigenverantwortlich handeln.<br />

• Das lässt sich an der Gewissensfreiheit zeigen, die eine wichtige Konsequenz<br />

aus dem Respekt vor der Menschenwürde ist. Heute gilt mit<br />

Recht Papst Johannes Paul II. als einer der führenden Mahner und Anwälte<br />

für die Gewissensfreiheit. Papst Pius IX. hatte 1864 in seinem<br />

„Syllabus errorum“ die Gewissensfreiheit noch als Wahnsinn verurteilt.<br />

Das mag man erklären mit den erschreckenden Erfahrungen der<br />

Kirche in der Französischen Revolution, aber das macht aus einem fatalen<br />

Irrtum keine Wahrheit. Bedeutsamer scheint mir freilich, dass<br />

107


katholische Christen, die sich damals in verschiedenen Ländern um die<br />

Freiheit für Glauben und Kirche in einer freiheitlichen Verfassungsordnung<br />

bemühten, sehr bald für die Gewissensfreiheit aller Menschen<br />

eintraten – zunächst in der politischen Praxis, aber dann auch bald in<br />

ihrer politischen Programmatik. Jedenfalls ist es diesen Laien zu danken,<br />

dass die Gewissensfreiheit schon lange als ein christlicher Wert<br />

galt, bevor sie nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen auch<br />

vom Zweiten Vatikanischen Konzil als ein solcher ausdrücklich anerkannt<br />

wurde.<br />

• In gleicher Weise wie die Menschenwürde könnten wir hier weitere<br />

christliche Werte durchbuchstabieren. Ich muss mich aus Zeitgründen<br />

bei den beiden folgenden Beispielen auf wenige Andeutungen beschränken.<br />

Ein wesentliches Feld christlichen Handelns sind Ehe und<br />

Familie. Hier gibt es für Christen grundlegende Werte, die sich unmittelbar<br />

aus der Glaubensbotschaft ergeben. Auch wenn es in Bezug auf<br />

die Sakramentalität der Ehe keine Übereinstimmung mit unseren<br />

evangelischen Geschwistern gibt, so gelten doch allen Christen die<br />

eheliche Treue, die Erfüllung der ehelichen Gemeinschaft in Kindern<br />

und die wechselseitige Verantwortung der Generationen in der Familie<br />

als Tugenden. Jeder weiß, wie sehr dies heute im Kontrast zur gesellschaftlichen<br />

Wirklichkeit steht. Dennoch darf man nicht übersehen,<br />

dass auch die christlichen Werte von Ehe und Familie nur lebendig<br />

bleiben, wenn sie sich nicht außerhalb der Geschichte stellen. Das gilt<br />

vor allem für die gesellschaftliche Stellung der Frau. Es wäre absurd,<br />

wollte man die Bedeutung der Familie gleichsam gegen die Gleichberechtigung<br />

der Frau retten und sich dafür scheinbar christlicher, tatsächlich<br />

aber rein traditioneller Argumente bedienen. Ohne die Wahlfreiheit<br />

der Frau zu gefährden, sich ganz auf ihre Aufgabe als Mutter<br />

zu konzentrieren, wenn sie dies wünscht, muss es für Frauen real möglich<br />

sein, Mutterschaft und Beruf zu verbinden. Genauer gesagt, die<br />

Bedeutung der Familie wird nur bewahrt, wenn es eine gesellschaftliche<br />

Realität wird, Elternschaft und Beruf zu verbinden. Dazu bedarf es<br />

nicht nur fördernder rechtlicher und struktureller Rahmenbedingungen,<br />

sondern auch eines Gesinnungs wandels bei den Vätern, ebenfalls Elternschaft<br />

und Beruf miteinander zu verbinden. Hier ein gutes Beispiel<br />

zu geben, wäre eine christliche Aufgabe.<br />

108


• Ein anderes Feld ist das der sozialen Gerechtigkeit. Hier gibt es auch<br />

unter Christen eine legitime Pluralität der Meinungen über die richtigen<br />

Proportionen zwischen privater Initiative und öffentlicher Verantwortung,<br />

z.B. in der Wirtschaft und in der Kultur. Entsprechendes gilt<br />

einerseits für das rechte Maß von garantierter sozialer Sicherheit und<br />

andererseits eigenverantwortlichem Handeln des Einzelnen. Trotzdem<br />

ist es für Christen grundsätzlich nicht hinnehmbar, wenn es Menschen<br />

real nicht möglich ist, menschenwürdige Existenzbedingungen zu erreichen,<br />

oder wenn ihnen keine gleichwertigen Erfolgs- und Aufstiegschancen<br />

geboten werden. Im Einsatz für soziale Gerechtigkeit kommt<br />

der katholischen Soziallehre eine herausragende Rolle zu. Aber auch in<br />

diesem Falle, wo die Kirche für eine bestimmte geschichtliche Zeit,<br />

nämlich für eine Gesellschaft von Kapital und Arbeit, eine eigene<br />

Lehre entwickelte, gibt es ein geschichtlich begründetes Spannungsfeld<br />

im Maß des heute noch Gültigen. Schwerlich würde man heute<br />

noch auf den Gedanken kommen, die ständestaatlichen Modelle, wie<br />

sie etwa in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931) vorgestellt<br />

werden, zur Grundlage praktischer Politik zu machen. Dagegen sind<br />

die Grundsätze der katholischen Soziallehre, vor allem die Grundsätze<br />

von Solidarität und Subsidiarität und ihr wechselseitiges Verhältnis,<br />

nach wie vor aktuell. Man wird sagen können, dass es ein solcher<br />

grundsatzorientierter, aber praktisch flexibler Umgang war, der die<br />

katholische Soziallehre nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa so<br />

erfolgreich gemacht hat.<br />

Was diese Beispiele des gesellschaftlichen Engagements von Christen<br />

zeigen, das ist die Unsinnigkeit der Behauptung, Religion sei Privatsache.<br />

Bis heute ist dieser Satz in den westlichen Gesellschaften Europas<br />

der Kampfruf eines militanten Laizismus, der die Kirche als Institution<br />

und Gemeinschaft der Gläubigen aus dem öffentlichen Raum verdrängen<br />

will und der nur bereit ist, Religion als Meinung und Lebensprinzip des<br />

Einzelnen hinzunehmen. Sobald es jedoch um öffentliche Entscheidungen<br />

geht, wie z.B. jetzt bei der sogenannten verbrauchenden Embryonenforschung,<br />

wird die Kirche auf die Amtsträger reduziert und diesen das<br />

Recht bestritten, politische Forderungen zu erheben oder an der Debatte<br />

über Gesetzgebung und Gesetzesinterpretation teilzunehmen. Den Laien<br />

109


wird immerhin zugestanden, für ihr persönliches Leben als Sondergruppe<br />

solchen Auffassungen zu folgen. Vertreten sie diese aber gemeinsam in<br />

der politischen Meinungsbildung, dann wird ihnen gern unterstellt, sie<br />

stünden unter der Vormundschaft geistlicher Amtsträger.<br />

Die Erfahrung im östlichen Teil Europas ist ähnlich, aber nicht identisch.<br />

Hier waren Lenin und seine Nachfolger nicht einmal bereit, das Prinzip<br />

„Religion ist Privatsache“ zu akzeptieren. Sie wollten ja nicht nur eine<br />

neue Gesellschaft, sondern auch einen neuen Menschen, und für beide<br />

Ziele galt Religion als schädlich. Deshalb wurden Religion und Kirche<br />

nur noch für eine Übergangszeit geduldet. Am deutlichsten konnte man<br />

das in der Sowjetunion sehen, wo die Kirchen von der kommunistischen<br />

Führung als staatliche Museen behandelt wurden – mit lebendem Inventar<br />

in Gestalt der Geistlichen und Gläubigen, deren Zahl stetig und notfalls<br />

mit Gewalt zu reduzieren war. Es ist klar, dass unter solchen Bedingungen<br />

eine rechtlich verbindliche und tatsächlich auch praktizierte Anerkennung<br />

des Prinzips „Religion ist Privatsache“ für die Gläubigen ein<br />

Vorteil für ihr persönliches Leben gewesen wäre. Aus dem öffentlichen<br />

Raum hatten die leninistischen Marxisten jede eigenständige Regung<br />

ohnehin ausgeschlossen.<br />

Im geschichtlichen Vergleich war die sozialistische Gesellschaft nur eine<br />

Kümmerform von Gesellschaft. Die kommunistische Ideologie war zwar<br />

angetreten, den Staat abzuschaffen und eine klassenlose Gesellschaft zu<br />

errichten. Nachdem die Kommunisten den Staat in die Hand bekommen<br />

hatten, machten sie sich jedoch daran, die Gesellschaft zu verstaatlichen<br />

und jedes Leben einer zentralistischen Kommandostruktur zu unterwerfen.<br />

Die freiheitliche Gesellschaft ist dagegen – jedenfalls potenziell –<br />

eine voll entfaltete Gesellschaft. In ihrem öffentlichen Leben können<br />

Glauben und Kirche jedoch nur zur Wirkung kommen, wenn die Christen<br />

dazu bereit und in der Lage sind, die Herausforderungen einer solchen<br />

Gesellschaft anzunehmen und sich nicht in eine persönliche Glaubensnische<br />

zurückziehen. Selbstverständlich ist auch in der freiheitlichen Gesellschaft<br />

der Glaube eine zutiefst persönliche Sache. Wenn der Glaube<br />

persönliches Lebensprinzip ist, wirkt sich dies auch in der Haltung gegenüber<br />

dem jeweiligen konkreten Mitmenschen aus. Aber dem Glauben<br />

110


geht es nicht nur um die Beziehung zum je konkreten Mitmenschen, sondern<br />

er will das gesellschaftliche Leben prägen. Deshalb muss der christliche<br />

Glaube als eine öffentliche Sache begriffen werden, und die Christen<br />

müssen den Öffentlichkeitsanspruch des Christentums offen und mutig<br />

vertreten. Nichts wäre dafür schädlicher als die nostalgische Verklärung<br />

des den Christen früher durch die kommunistische Herrschaft aufgezwungenen<br />

Sakristeichristentums, wo die Dinge angeblich klar und<br />

einfach waren. Wenn man unter sich ist und die Macht draußen in der<br />

Welt als feindlich erlebt wird, liegt es nahe, in den Kategorien von<br />

Schwarz und Weiß zu denken. Die Wirklichkeit des öffentlichen Lebens,<br />

insbesondere in einer freiheitlichen Gesellschaft, ist aber vielgestaltig<br />

und widersprüchlich. Schwarz-Weiß-Bilder sind zwar bequem, aber fast<br />

immer falsch. In Wahrheit geht es heute darum, dass die Christen öffentlich<br />

handeln und öffentliche Entscheidungen treffen müssen. Unter der<br />

kommunistischen Herrschaft waren die Dinge klar und einfach, weil die<br />

Christen keine öffentlichen Entscheidungen treffen durften und darum<br />

auch keine Entscheidungen zu treffen brauchten. Einen solchen Zustand<br />

sollte sich niemand zurück wünschen, auch wenn die freiheitliche Gesellschaft<br />

komplex und risikoreich ist.<br />

Christliche Werte stehen stets im Wettstreit und im Konflikt mit anderen<br />

Wertvorstellungen – im Leben jedes Einzelnen wie in der Öffentlichkeit.<br />

Die geistige Pluralität ist kein Schönheitsfehler, sondern ein Wesenmerkmal<br />

der freiheitlichen Gesellschaft. Sie ist ein Wesensmerkmal, das<br />

Chris ten ganz ausdrücklich akzeptieren müssen. Zwar macht uns nur die<br />

Wahrheit des Glaubens wirklich frei. Aber zu diesem freimachenden<br />

Glauben können wir uns auch nur in Freiheit entscheiden, weil ein Glaube<br />

aus Zwang oder Unkenntnis kein wirklicher Glaube wäre. In der Freiheit<br />

ringen unterschiedliche Auffassungen vom Leben und Lebenssinn miteinander<br />

und mithin auch unterschiedliche Haltungen zu Gott und zum<br />

Mitmenschen. Was in der freiheitlichen Gesellschaft prägend oder verbindlich<br />

ist, entscheidet sich in diesem ständigen geistigen und politischen<br />

Diskurs. Und es liegt im Wesen eines freiheitlichen Staates, Wertehaltungen<br />

nicht erzwingen zu wollen, sondern sie vorauszusetzen. Dennoch<br />

ist ein Wertekonsens für die innere Stabilität und für die Zukunftsfähigkeit<br />

der freiheitlichen Gesellschaft unverzichtbar. Freilich darf man<br />

111


sich trotz der Bedeutung eines solchen Wertekonsenses über sein Wesen<br />

keine Illusionen machen. Denn erstens handelt es sich meist nur um einen<br />

Minimalkonsens, und zweitens beruhen die in diesem Konsens enthaltenen<br />

Wertegrundlagen einer Gesellschaft nicht auf einem stabilen und<br />

darum verlässlichen Vertrag oder Kompromiss. Der Wertekonsens ist<br />

nichts anderes als das dynamische stets veränderbare Produkt des ständigen<br />

Wertediskurses. Er ist also das Ergebnis von Debatte und Dialog. Um<br />

so wichtiger ist es für die Christen, sich in diesem Wertediskurs wachsam<br />

und offensiv zu engagieren. Nur vom christlichen Engagement, insbesondere<br />

vom Engagement christlicher Laien, hängt es ab, wie weit der gesellschaftliche<br />

Wertekonsens in Gegenwart und Zukunft christlich geprägt<br />

ist. Das bedeutet freilich nicht, dass sich Christen vom gesellschaftlichen<br />

Wertekonsens, auch nicht von seiner rechtlichen Fixierung in Gesetzen,<br />

ihrerseits abhängig machen dürfen. Wenn z. B. die Mehrheitsmeinung<br />

den Schwangerschaftsabbruch oder die so genannte aktive<br />

Sterbehilfe akzeptiert oder sogar für rechtens erklären lässt, so kann dies<br />

kein Grund für Christen sein, auf ihre Wertevorstellungen zu verzichten<br />

oder sie gering zu achten. Auch in diesem Sinne gilt das Prinzip der Freiheit:<br />

Der christliche Glaube hängt nicht von weltlichen Beschlüssen ab.<br />

Weder der Staat noch die vorherrschende Meinung kann den Christen<br />

vorschreiben, was sie für richtig zu halten haben. Übrigens nehmen das<br />

innerhalb der für alle geltenden Verfassung auch die Anhänger anderer<br />

Überzeugungen für sich in Anspruch.<br />

Glaube und öffentliche Verantwortung<br />

Haben wir uns bisher mit den christlichen Werten als dem Inhalt der öffentlichen<br />

Verantwortung der Kirchen beschäftigt, so müssen wir uns nun<br />

der Wirkungsweise dieser öffentlichen Verantwortung zuwenden. Wir<br />

kennen Begriffspaare wie „Kirche und Gesellschaft“ oder „Kirche und<br />

Welt“. Sie sind nützlich und wertvoll, aber sie laden auch ein zu einem<br />

Missverständnis. Gewiss ist die Kirche eine unabhängige Größe, weil sie<br />

sonst ihrem Auftrag, den Glauben zu verkünden und die Sakramente zu<br />

spenden, nicht unverkürzt nachkommen könnte. Denn die Kirche ist vor<br />

allem eine Stiftung Jesu Christi. Damit weist sie über sich selbst hinaus,<br />

112


aber sie bleibt dennoch Teil der Geschichte. Und als geschichtliche Größe<br />

ist sie keine Gegengesellschaft, keine societas perfecta, wie man lange<br />

gemeint hat, um sich von der als gefährlich empfundenen Geschichte und<br />

Gesellschaft der Neuzeit abzugrenzen. Sondern die Kirche wirkt als unabhängige<br />

und eigenständige Kraft in der Gesellschaft, die jedoch zugleich<br />

der lebendige Zusammenhang ist, aus dem sie nicht ausbrechen<br />

und aus dem sie nicht ausgeschlossen werden kann, ohne beiden zu schaden<br />

– der Gesellschaft und der Kirche. Der Zusammenhang zwischen<br />

Kirche und Gesellschaft wird durch die Menschen hergestellt, insbesondere<br />

durch jene, die in der Gesellschaft leben, handeln und entscheiden.<br />

Darum ist die Kirche auch keine Armee, die unter einem zentralen Kommando<br />

in Reih‘ und Glied durch die Geschichte marschiert. Eine solche<br />

Vorstellung von Kirche ist ein Zerrbild, das mit der geschichtlichen Realität<br />

nichts zu tun hat. Würde die Kirche versuchen, sich so durch eine<br />

freiheitliche Gesellschaft zu bewegen, wäre sie bald nicht mehr als eine<br />

kleine Sekte ohne jede geistige und gesellschaftliche Wirkung.<br />

Ich sage das in solcher Klarheit, weil ich aus der doppelten Erfahrung im<br />

Osten Deutschlands, nämlich aus der Zeit des Nationalsozialismus und<br />

aus der Zeit des Kommunismus, weiß, dass ideologisch motivierte Diktaturen<br />

als erstes danach trachten, die Öffentlichkeit mit Hilfe staatlicher<br />

Gewalt zu monopolisieren und darum auch jedes selbständige und eigenverantwortliche<br />

Handeln von christlichen Laien aus der Gesellschaft zu<br />

verbannen. In einer solchen Situation bleibt als einziger Ort von Laienaktivität<br />

der Kirchenraum. Und da auch dieser Raum stets gefährdet ist,<br />

kann Laienaktivität unter solchen Bedingungen nur unter der Verantwortung<br />

des geistlichen Amtes erfolgen. Dessen wichtigste Aufgabe besteht<br />

darin, dafür zu sorgen, dass die Quelle des Glaubens nicht gewaltsam<br />

völlig verschlossen wird. In solchen Zeiten der Bedrückung und Gefährdung<br />

haben Bischöfe, Priester und Laien Bewunderungswürdiges getan<br />

und oft eine neue Art von Gemeinschaft entwickelt. Diese wertvolle geschichtliche<br />

Erinnerung kann aber nicht vergessen lassen, dass es äußerer<br />

Zwang war, der die Kirche in ihrer Bewegung eingeschränkt und so zu<br />

einer Ruine gemacht hat – und das nicht nur in ihren Gebäuden. Die Kirche<br />

und die Christen konnten nicht eigenständig in der Gesellschaft auftreten<br />

und tätig sein und sich nicht an öffentlichen Debatten beteiligen.<br />

113


Die Theologie wurde aus den Universitäten und aus dem Dialog der Wissenschaften<br />

ausgeschlossen. Den praktizierenden Christen wurde der<br />

Zugang zu Bildung und Kultur verwehrt. Die Ortskirchen konnten nicht<br />

mit der Gemeinschaft der Weltkirche im geistigen und praktischen Austausch<br />

stehen. Die Kirche konnte sich nicht selbst als eine dialogische<br />

Gemeinschaft begreifen, weil sie ständig überwacht und belauert wurde.<br />

Eine Kirche, die man gewaltsam daran hindert, frei zu leben und ständig<br />

an sich weiter zu bauen, wird zur Ruine. Daher bedarf es in der gesellschaftlichen<br />

Freiheit des Muts zur Bewegung und der Entschlossenheit<br />

zum Handeln, um diesen aufgezwungenen Zustand rasch zu überwinden.<br />

Dabei ist die Angst vor der Freiheit ein schlechter Ratgeber.<br />

Freilich ist jede Bewegung nach vorn ein Risiko, insbesondere, wenn<br />

man jahrzehntelang an der Bewegung gehindert war. In jenem Teil Europas,<br />

der nach dem Zweiten Weltkrieg unter kommunistische Herrschaft<br />

geriet, gab es vorher in den meisten Ländern nur geringe Erfahrungen mit<br />

der geistigen und politischen Freiheit. Auch war diese Freiheit, weil sie<br />

vertraute Lebens- und Herrschaftsformen in Frage stellte, von den Kirchen<br />

nicht selten mit Misstrauen betrachtet worden. Zwar gab es immer<br />

die Forderung nach der Freiheit der Kirche. Nur wurde darunter meist<br />

allein das Entscheidungsrecht der kirchlichen Autorität verstanden. Eine<br />

so verstandene Freiheit der Kirche steht nicht notwendigerweise im Widerspruch<br />

zu einer autoritären Staatsordnung. Aber die Zeit vor der kommunistischen<br />

Machtergreifung ist ohnehin für immer vorbei. Und jeder<br />

Versuch, dahin zurückzukehren, könnte nur in einer Katastrophe enden.<br />

Die Welt hat sich weiter bewegt, die Kirche hat sich weiter bewegt, die<br />

Menschen haben sich weiter bewegt. Es führt kein Weg zurück in eine<br />

Gesellschaft unangefochtener Autoritäten, es führt kein Weg zurück zur<br />

Kirche vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, es führt kein Weg zurück<br />

zu Menschen, die sich bevormunden lassen. Wirkliche Freiheit der Kirche<br />

gibt es heute nur in einer freiheitlichen Gesellschaft. Und wenn die<br />

Unabhängigkeit der Kirche – so wie in freiheitlichen Verfassungen<br />

selbstverständlich – rechtlich gesichert ist, bedeutet heute Freiheit für die<br />

Kirche das Gleiche wie für alle anderen Institutionen und Gemeinschaften,<br />

nämlich die Chance und das Risiko eigener Existenz. Diese Freiheit<br />

kann die Kirche nur als geschwisterliche Gemeinschaft des Volkes Gottes<br />

114


estehen. Hinsichtlich der Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung<br />

der Kirche in Politik, Gesellschaft und Kultur kommt vor allem den Laien<br />

eine wichtige Aufgabe zu.<br />

Orientierung durch das Zweite Vatikanische Konzil<br />

Für das rechte Verständnis dieser Aufgabe der Laien hat das Zweite Vatikanische<br />

Konzil Bahnbrechendes geleistet, und seine Beschlüsse gründlich<br />

und immer wieder zu lesen, bleibt aktuell. Bekanntlich nahm das<br />

Konzil Abschied von der ungeschichtlichen Vorstellung, man könne aus<br />

den Glaubenswahrheiten und den darauf aufbauenden kirchlichen Lehren<br />

deduktiv ein politisches und gesellschaftliches Programm ableiten, das<br />

vom kirchlichen Amt festgesetzt oder bestätigt wird und unter dessen<br />

Leitung von den Laien umzusetzen ist. In der Kirchenkonstitution<br />

„Lumen gentium“ wurde die Vorstellung eines über die Hierarchie vermittelten<br />

und von dieser abgeleiteten gesellschaftlichen Laienapostolats<br />

durch den Gedanken eines eigenständigen Laienapostolats ersetzt. Art.<br />

31 lautet: „Den Laien ist der Weltcharakter in besonderer Weise eigen …<br />

Sache der Laien ist es, kraft der ihnen eigenen Berufung in der Verwaltung<br />

und Gott gemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes<br />

zu suchen…“ (Lumen gentium, 31).<br />

Auf die Frage, wie diese Aufgabe zu bewältigen sei, gibt die Pastoralkonstitution<br />

„Gaudium et spes“ in Art. 43 eine ebenso klare wie realistische<br />

Antwort. Es gibt keine kirchenamtlich vorgegebene Programmatik und<br />

damit auch keine falsche Sicherheit für die Laien. Sie werden vielmehr<br />

dazu ermutigt, „die jedem einzelnen (Sach)Bereich eigenen Gesetze“ zu<br />

kennen. Oder, wie es in Art. 36 heißt, sie müssen die Tatsache erkennen,<br />

„dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen<br />

Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen<br />

und gestalten muss“. Und sie müssen sich „um gutes fachliches<br />

Wissen und Können in den einzelnen Sachgebieten bemühen“ (Gaudium<br />

et spes, 43). Daraus folgt jedoch kein Automatismus des Sachzwanges,<br />

sondern die Aufgabe der Laien besteht vielmehr darin, als Christ in der<br />

Welt nach bestem Wissen und Gewissen in Freiheit zu handeln. Und ganz<br />

115


wesentlich für die öffentliche Verantwortung der Kirchen und der Christen<br />

ist, was das Zweite Vatikanische Konzil in diesem Zusammenhang<br />

über das Verhältnis von geistlichem Amt und Laien sagt. Denn von den<br />

letzteren heißt es, „Aufgabe ihres dazu von vornherein richtig geschulten<br />

Gewissens ist es, das Gebot Gottes im Leben der profanen Gesellschaft<br />

zur Geltung zu bringen. Von den Priestern aber dürfen die Laien Licht<br />

und geistliche Kraft erwarten. Sie mögen aber nicht meinen, ihre Seelsorger<br />

seien immer in dem Grade kompetent, dass sie in jeder, zuweilen auch<br />

schweren Frage, die gerade auftaucht, eine konkrete Lösung schon fertig<br />

haben könnten oder die Sendung dazu hätten. Die Laien selbst sollen<br />

vielmehr im Licht christlicher Weisheit und unter Berücksichtigung der<br />

Lehre des kirchlichen Lehramtes darin ihre eigene Aufgabe wahrnehmen“<br />

(Gaudium et spes, 43).<br />

Dass diese Aufgabe spannungsvoll ist und eben kein lehramtlich zu regelnder<br />

Vollzug, das macht das Konzil gleich anschließend deutlich, in dem es<br />

die Pluralität als notwendige Konsequenz geistiger und gesellschaftlicher<br />

Freiheit anerkennt. Aus der geschichtlichen Erfahrung beschreibt das Konzil<br />

nämlich ganz nüchtern das Fiasko einer eindimensionalen Ableitung<br />

gesellschaftlicher Ziele aus dem Glauben: „Oftmals wird gerade eine<br />

christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten<br />

Situation nahe legen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es<br />

häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in<br />

der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen. Wenn dann die<br />

beiderseitigen Lösungen … von vielen anderen sehr leicht als eindeutige<br />

Folgerungen aus der Botschaft des Evangeliums betrachtet werden, so<br />

müsste doch klar bleiben, dass in solchen Fällen niemand das Recht hat,<br />

die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung<br />

in Anspruch zu nehmen“ (Gaudium et spes, 43) Die Meinungsbreite, die es<br />

auch unter katholischen Christen z.B. in Bezug auf die Wege zur sozialen<br />

Gerechtigkeit oder bei der Bewahrung oder Wiederherstellung eines gerechten<br />

Friedens gibt, ist also völlig normal und legitim.<br />

Auch den Weg zum Konsens oder zur Toleranz, die sich zwingend aus der<br />

Pluralität ergibt, benennt das Konzil, wenn es sagt: „Immer aber sollen<br />

sie in einem offenen Dialog sich gegenseitig zur Klärung der Frage zu<br />

116


helfen suchen; dabei sollen sie die gegenseitige Liebe bewahren und vor<br />

allem auf das gemeinsame Wohl bedacht sein“ (Gaudium et spes, 43).<br />

Dem wird im Art. 76 noch eine wichtige Mahnung hinzugefügt: „Sehr<br />

wichtig ist besonders in einer pluralistischen Gesellschaft, dass man das<br />

Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und der Kirche richtig<br />

sieht, sodass zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund<br />

im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen<br />

geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen<br />

mit ihren Hirten tun, klar unterschieden wird.“<br />

Es ist also völlig in Ordnung, wenn sich Christen zum gemeinsamen politischen<br />

Handeln zusammen schließen und sie sich dabei auch ganz ausdrücklich<br />

auf ihre christliche Verantwortung berufen. Es wäre nicht in<br />

Ordnung, wenn sie bei ihren öffentlichen Aktionen auf kirchenamtliche<br />

Unterstützung setzen würden. Die Kirche ist in jedem Christen präsent,<br />

der sich öffentlich engagiert – das gilt im Guten wie im Bösen –, aber<br />

kein Christ kann für sich beanspruchen, die Kirche, das heißt das Amt<br />

und das ganze Volk Gottes, zu repräsentieren. Daher müssen wir den Begriff<br />

der öffentlichen Verantwortung sorgfältig differenzieren.<br />

Wenn Christen öffentliche Ämter übernehmen und Entscheidungen treffen,<br />

die für viele ihrer Mitbürger Konsequenzen haben, dann müssen sie<br />

aus dem Geist des Glaubens und in Verantwortung vor ihrem Gewissen<br />

handeln. Es liegt im Wesen der Freiheit, dass dieser Dienst der öffentlichen<br />

Verantwortung auch im Meinungsstreit steht. Denn ob es z.B. im<br />

Sinne der sozialen Gerechtigkeit ist, soziale Einrichtungen mit öffentlichen<br />

Krediten zu finanzieren, oder ob man dies wegen der Belastung für<br />

künftige Generationen nicht für verantwortbar hält, das kann nicht allein<br />

auf Grund eines Glaubenssatzes entschieden werden, sondern ist eine<br />

Sache der gewissenhaften Abwägung der verschiedenen Güter. Freilich<br />

ist auch wahr, dass im alltäglichen Geschäft und beim Kampf um Einfluss<br />

und Positionen die prinzipiellen Maßstäbe aus dem Blick geraten oder<br />

sogar völlig verloren gehen können. Daher muss es unter Christen in der<br />

öffentlichen Verantwortung, auch wenn sie unterschiedlichen politischen<br />

Richtungen folgen, immer wieder zum Dialog über die Grundsätze kommen,<br />

die nach christlicher Überzeugung für die Mitmenschlichkeit in der<br />

117


Gesellschaft notwendig sind. Und diese Mitmenschlichkeit ist auch in<br />

einer freiheitlichen Gesellschaft bedroht. Denn diese Gesellschaft wird<br />

von Konflikten vorangetrieben, und deshalb haben in ihr individuelle Interessen<br />

eine große und nicht selten eine übergroße Bedeutung.<br />

Selbstverständlich sind solche Grundsatzdebatten und die dialogische<br />

Suche nach einem Konsens im Streit zunächst ebenfalls eine Aufgabe der<br />

Laien. Aber es ist zugleich eine Ebene, auf der die Kirche als Institution<br />

und Gemeinschaft eine prinzipielle, ja, eine prophetische Aufgabe wahrnehmen<br />

kann und gelegentlich auch wahrnehmen muss. Das eigentliche<br />

Feld der öffentlichen Verantwortung der Kirche in diesem Sinne ist die<br />

Wahrung und Förderung des Gemeinwohls als Garant der Mitmenschlichkeit<br />

und dabei insbesondere die Achtung der Menschenrechte und der<br />

Schutz der Schwachen in der Gesellschaft.<br />

Ganz fraglos gibt es in Deutschland ein starkes gesellschaftliches Engagement<br />

der katholischen Laien – sowohl in den Parteien und Parlamenten<br />

als auch in den Verbänden und Initiativen. Dennoch ist es in der öffentlichen<br />

Debatte von großem Gewicht, dass die katholischen Bischöfe zu<br />

grundsätzlichen Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des gerechten Friedens<br />

und des unbedingten Schutzes des menschlichen Lebens und der<br />

menschlichen Würde das Wort ergreifen. Ein herausragendes Beispiel<br />

war das gemeinsame Sozialwort der katholischen und der evangelischen<br />

Kirche, das ein großes öffentliches Echo hatte. Wie die Erfahrung lehrt,<br />

ist die Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung der Kirche um so<br />

wirkungsvoller, je glaubwürdiger die Bereitschaft zum Dialog mit allen<br />

demokratischen Kräften in der Politik ist. Nichts ist schädlicher für die<br />

öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber kirchlichen Erklärungen und die<br />

Bereitschaft zum nachdenklichen Gespräch darüber als der Eindruck parteipolitischer<br />

Einseitigkeit. Und nichts ist wirkungsvoller, als wenn die<br />

Repräsentanten des kirchlichen Amtes und die sich in der Gesellschaft<br />

engagierenden Laien vertrauensvoll, aber in Achtung der jeweiligen eigenen<br />

Verantwortung zusammen wirken.<br />

Ich möchte auch das an einem Beispiel aus Deutschland erläutern, weil ich<br />

die Situation im eigenen Land naturgemäß am Besten kenne. Vor zwei Jah-<br />

118


en hatten wir in Bezug auf die Frage, ob menschliche Embryonen für Forschung<br />

oder Therapie verbraucht werden sollten, in der öffentlichen Meinung<br />

durchaus eine ambivalente Haltung. Im Herbst des Jahres 2000 gelang<br />

es dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken durch ein Symposium,<br />

der warnenden Stimme aus dem organisierten Laienkatholizismus<br />

erste größere Aufmerksamkeit zu verschaffen, was sich dann bald durch<br />

das unterstützende Auftreten katholischer Verbände und Einzelpersönlichkeiten<br />

verstärkte. Im Frühjahr des Jahres 2001 gab es dann je eine Erklärung<br />

der Deutschen Bischofskonferenz und einen Beschluss des Zentralkomitees<br />

der deutschen Katholiken, die große Beachtung in der öffentlichen<br />

Debatte fanden und die Möglichkeit von ethischen Allianzen für den<br />

Embryonenschutz verbreiterten. Bei den Debatten des Deutschen Bundestages<br />

Ende 2001/Anfang <strong>2002</strong> hatte schließlich eine Initiative von Bundestagsabgeordneten<br />

aus unterschiedlichen Parteien, die dem Zentralkomitee<br />

der deutschen Katholiken angehören, erhebliches Gewicht, auch wenn der<br />

Mehrheitsbeschluss des Bundestages ihnen letztlich zwar grundsätzlich,<br />

aber nicht in allen Punkten folgte. Natürlich machen wir uns keine Illusionen<br />

darüber, dass dies nur ein vorläufiger Erfolg war und der bioethische<br />

Streit im europäischen und weltweiten Kontext anhält. Unter den Bedingungen<br />

der Freiheit gibt es eben niemals einen endgültigen Abschluss einer<br />

Debatte. Darin liegt ja die Bedeutung unseres Themas von den christlichen<br />

Werten und der öffentlichen Verantwortung der Kirche.<br />

Unser Thema ist nicht zuletzt eine gemeinsame Aufgabe der europäischen<br />

Katholiken. Auch darin sollte sich Katholizität verwirklichen, dass<br />

wir voneinander lernen, jeweils unsere Stärken zu erhöhen und unsere<br />

Schwächen zu vermindern. Dafür ist <strong>Renovabis</strong> ein guter Ort.<br />

Ergänzende und weiterführende Literatur<br />

Ernst-Wolfgang Böckenförde / Annette Schavan (Hrsg.), Salz der Erde. Christliche<br />

Spiritualität in der Welt von heute, Ostfildern: Schwaben, 1999.<br />

Thomas Brose (Hrsg.), Gewagter Glaube, Berlin: Morus, 1998.<br />

Thomas Brose (Hrsg.), Zeitenwende – Glaubenswende, Leipzig: St. Benno, 1998.<br />

119


Hans Buchheim / Felix Raabe (Hrsg.), Christliche Botschaft und Politik. Texte des<br />

Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Politik, Staat, Verfassung und Recht,<br />

Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1997.<br />

Tomásˇ Halík, „Du wirst das Angesicht der Erde erneuern“. Kirche und Gesellschaft<br />

an der Schwelle zur Freiheit, Leipzig: St. Benno, 1993.<br />

Franz-Xaver Kaufmann, Wie überlebt das Christentum? Freiburg: Herder, 2000.<br />

Hans Joachim Meyer (Hrsg.), Dialog und Solidarität. Christen in der pluralistischen<br />

Gesellschaft. Studientagung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Erfurt<br />

1997, Münster: LIT, 1999.<br />

Hans Joachim Meyer / Annette Schavan (Hrsg.), Gott an den Menschen verpflichtet.<br />

Ansichten zum Katholizismus in Deutschland, München: Don Bosco, 2000.<br />

Peter Neuner, Der Laie und das Gottesvolk, Leipzig: St. Benno, 1989.<br />

Annette Schavan, Der Geist weht, wo er will. Christliches Zeugnis in Kirche und<br />

Welt, Ostfildern: Schwaben, <strong>2002</strong>.<br />

Wolfgang Thierse (Hrsg.), Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf: Patmos, 2000.<br />

120


Erzbischof Josip Bozanić, Zagreb<br />

Kroatien – eine Gesellschaft im Umbruch<br />

Einleitende Gedanken<br />

An den Beginn meines Beitrags möchte ich ein Zitat des Papstes stellen:<br />

„Gibt es vielleicht auf der Karte von Europa und der Welt nicht Nationen,<br />

welche eine wunderschöne geschichtliche Souveränität besitzen, die aus<br />

ihrer Kultur hervorgeht, gleichzeitig aber ihrer vollen Souveränität beraubt<br />

sind? Ist das nicht ein wichtiger Punkt für die Zukunft menschlicher<br />

Kultur, wichtig vor allem in unserer Zeit, in der es so wichtig ist, die<br />

Reste des Kolonialismus zu beseitigen?“<br />

Diese Frage stellte Johannes Paul II. in Paris, in der Ansprache an die<br />

Organisation der Vereinten Nationen für die Erziehung, Wissenschaft und<br />

Kultur (UNESCO) am 2. Juni des nun schon längst vergangenen Jahres<br />

1980. Eine solche Betrachtungsweise war in dieser Zeit nicht üblich, besonders<br />

nicht für Politiker und andere öffentlich wirkende Personen. Die<br />

Worte des Papstes kündigten fast prophetisch an, was sich ereignen sollte.<br />

Auf der Karte Europas tauchten die Staaten derjenigen Nationen auf, die,<br />

wie der Papst es sagte, eine geschichtliche Souveränität haben, die aus<br />

ihrer Kultur hervorgeht, aber lange ohne politische Souveränität geblieben<br />

sind. Das ereignete sich in ganz Europa – vom Baltikum bis<br />

zur Adria.<br />

Der Fall der Berliner Mauer ist ein Symbol für das Ende der kommunistischen<br />

Utopie und ein Zeichen für den Abschluss der Aufteilung Europas<br />

in die großen politischen Blöcke. Kroatien, das sich zu dieser Zeit im Föderalstaat<br />

Jugoslawien befand, wurde in den Jahren 1989 und 1990 von<br />

diesen Prozessen erfasst. Für Kroatien war das nicht nur ein Prozess der<br />

Befreiung aus der kommunistischen Diktatur, sondern auch, ebenso wie<br />

121


für einige andere europäische Länder, ein Prozess der Erlangung der vollen<br />

staatlichen Souveränität. Leider ging das in Kroatien nicht ohne einen<br />

Krieg über die Bühne, durch den von 1991 bis 1995 einige Gebiete der<br />

Republik Kroatien entlang der serbischen und bosnisch-herzegowinischen<br />

Grenze betroffen waren.<br />

Heute ist Kroatien, zusammen mit so vielen Ländern Ost(Mittel)Europas,<br />

die unter den kommunistischen Regime standen, ein Reformland, ein<br />

Land im Übergang. Auch Kroatien möchte sich mit den neuen Herausforderungen<br />

für den demokratischen Staat, für die neue Kooperation und<br />

eine neue menschenwürdige und zukunftsfähige Gesellschaft auseinandersetzen.<br />

In meinem Vortrag werde ich einige Herausforderungen für<br />

die katholische Kirche in Kroatien darstellen. Das tue ich in den drei<br />

Schritten: l. Kroatien und Europa, 2. Kirche und Staat, 3. Kirche in einer<br />

pluralistischen Gesellschaft.<br />

Kroatien und Europa<br />

Kroatien ist ein mediterranes und mitteleuropäisches Land. Wir mögen<br />

nicht, wenn man zu uns „westlicher Balkan“ sagt. Der Religion nach ist<br />

Kroatien ein Land mit einer katholischen Mehrheit. 88 % der Bevölkerung<br />

bezeichnete sich in der Volkszählung des Jahres 2001 als zur katholischen<br />

Kirche gehörig. In der Religions- und Konfessionslandschaft Europas befindet<br />

sich Kroatien im Grenzgebiet zur Orthodoxie und zum Islam. In<br />

Kroatien ist der Wunsch nach Integration in Europa sehr groß. Eigentlich<br />

gibt es dazu auch keine Alternative. Die Mehrheit der Bevölkerung, besonders<br />

die Jugendlichen, ist gegenüber den Prozessen der europäischen<br />

Integration sehr offen, nur ein kleiner Teil der Bürger ist skeptisch. Die<br />

Integration in die Europäische Union ist ein politisches Ziel aller bisherigen<br />

kroatischen Regierungen. Jedoch bringt die Aufnahme in den europäischen<br />

Integrationsprozess neue Probleme mit sich, bietet aber auch neue<br />

Möglichkeiten zur Entwicklung des Gemeinwesens.<br />

Durch demokratische Veränderungen, aufgrund des plebiszitären Willens<br />

der Bürger von Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Make-<br />

122


donien, aber leider auch durch den aufgezwungenen Krieg mit zahlreichen<br />

Opfern zerfiel der jugoslawische Staat. Dieses Staatsgebilde, das<br />

1918 entstanden war und bis 1991 Bestand hatte, erwies sich als ein politischer<br />

Misserfolg, das letzten Endes durch viele tragische Ereignisse des<br />

Zweiten Weltkriegs und des Krieges am Beginn der neunziger Jahre des<br />

vorigen Jahrhunderts scheiterte. Ebenso groß war der Anteil der Diktaturen<br />

vor und nach dem Zweiten Weltkrieg am Untergang dieses Staates.<br />

Deshalb möchte ich die große Empfindlichkeit und Ablehnung der kroatischen<br />

Bürger betonen, wenn es um die Projekte geht, welche die Integration<br />

und das Zusammenfügen auf der Linie des misslungenen jugoslawischen<br />

Staates vorschlagen und vorschreiben, wie auch immer eine solche<br />

Initiative genannt wird. Eine gewisse Sensibilität gegenüber den<br />

Bürgern und ihrem Gedächtnis ist notwendig. Es ist vernünftig und verantwortlich,<br />

die gemeinsame Zukunft der Kooperation auf zuverlässigere<br />

Fundamente zu stellen. Es ist nötig, Brücken zu allen Nachbarn zu bauen,<br />

aber man darf nicht nur auf ein Schema konzentriert bleiben, sondern es<br />

ist entscheidend, nach neuen Rahmen der Gemeinsamkeiten und der Verbindungen<br />

zu suchen. In diesem Sinn hat die katholische Kirche in Kroatien<br />

die Initiative zu einem Mitteleuropäischen Katholikentag, den wir<br />

für die Jahre 2003 und 2004 vorbereiten, begrüßt und unterstützt.<br />

Kirche und Staat<br />

Unter der kommunistischen Herrschaft waren die Machthaber stark gegen<br />

die Kirche eingestellt, und so wurde die Verbindung der Kirche mit<br />

dem Volk die Hauptquelle für die Kraft der Kirche als Institution. Die<br />

Kirche hat, soziologisch betrachtet, gewusst, wer ihr Feind ist; das weckte<br />

die Kraft und die Sympathie vieler, auch solcher, die nicht gerade gläubig<br />

waren. Zum Teil ist es auch heute noch so. Der Katholizismus ist in Kroatien<br />

in geschichtlicher und kultureller Hinsicht eine wichtige Komponente.<br />

Diesem Umstand soll eine reale und konkrete Politik Rechnung<br />

tragen, wobei die Konkretisierung der Lösungen in einem wahrhaft demokratischen<br />

Prozess erfolgen muss, die den Willen der Bürger respektiert.<br />

123


Mit den demokratischen Veränderungen in Kroatien entstanden die ordnungsgemäßen<br />

Verhältnisse für die rechtliche Regulierung der Beziehungen<br />

zwischen Kirche und Staat. Vorbild dafür waren die Regelungen in<br />

den Ländern, die dem gleichen Kulturkreis angehören und in religiöser,<br />

kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht Kroatien ähnlich sind. So wurden<br />

von 1996 bis 1998 vier Verträge zwischen der Republik Kroatien und<br />

dem Heiligen Stuhl geschlossen: über rechtliche Fragen, über Kooperation<br />

auf dem Gebiet der Erziehung und der Kultur, über Seelsorge der<br />

katholischen Gläubigen im Heer und in der Polizei der Republik Kroatien<br />

sowie über wirtschaftliche Fragen. Diese Verträge beinhalten im Großen<br />

und Ganzen alle Fragen, die regelmäßig Objekt eines Konkordates sind.<br />

Daher kann man sagen, dass mit diesen Verträgen ein solider rechtlicher<br />

Rahmen für das Wirken der katholischen Kirche in Kroatien geschaffen<br />

worden ist. Diese Verträge gaben dem kroatischen Recht einen neuen<br />

Beitrag und eröffneten einen neuen Bereich der Zusammenarbeit zwischen<br />

dem kanonischen und dem bürgerlichen Recht.<br />

Die kroatischen Verträge entstanden in der postkommunistischen Zeit, im<br />

Geist der Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils und stellen unter<br />

diesen Umständen und dem Inhalt nach ein gewisses Modell für die zeitgemäße<br />

Methode der Regelung der Beziehungen zwischen der Kirche<br />

und dem Staat dar, besonders für die Länder, die aus einem kommunistischen<br />

Regime hervorgegangen sind. Sie wurden aufgrund der international<br />

anerkannten Prinzipien über die Religionsfreiheit als das unveräußerliche<br />

Recht jeder menschlichen Person abgeschlossen und beinhalten<br />

auch das Recht auf die öffentliche Manifestation des Glaubens. Einerseits<br />

wird der Grundsatz der Trennung zwischen Kirche und Staat beachtet,<br />

der besagt, dass sie in je ihrem Bereich unabhängig und selbstständig<br />

sind; andererseits wird eine gesunde Kooperation zwischen Kirche und<br />

Staat gefördert. Eine solche Kooperation ist wünschenswert, weil Kirche<br />

und Staat – auf ihre je eigene Art und Weise – im Dienst desselben Menschen<br />

stehen.<br />

Diese allgemein akzeptierten Prinzipien gelten nicht nur für die katholische<br />

Kirche, sondern auch für die anderen Kirchen und Glaubensgemeinschaften<br />

in Kroatien. Mit den Verträgen hat die katholische Kirche in<br />

124


Kroatien ihnen den Weg eröffnet, sodass sie in ähnlicher Weise ihre Beziehungen<br />

mit dem Staat regeln, den Grundsatz über die Religionsfreiheit<br />

respektierend und der Struktur der eigenen Gemeinschaft entsprechend.<br />

Die Verträge erfordern aber eine weitere Durchführung auf der unteren<br />

Ebene. Bis jetzt sind vier Durchführungsverträge zwischen der Kroatischen<br />

Bischofskonferenz und der kroatischen Regierung abgeschlossen<br />

worden (Geschäftsordnung über die Struktur und das Wirken des Militärordinariats<br />

in der Republik Kroatien, Vertrag über den katholischen<br />

Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen und über die Glaubenserziehung<br />

in den öffentlichen vorschulischen Einrichtungen, Übereinkommen<br />

über die Durchführungsweise der festgelegten finanziellen Verpflichtungen<br />

der Republik Kroatien gegenüber der katholischen Kirche<br />

und Übereinkommen zwischen dem Kroatischen Rundfunk und Fernsehen<br />

und der Kroatischen Bischofskonferenz). Zwei weitere Dokumente<br />

(über die Gefängnisseelsorge und über die Eintragung der Rechtspersonen<br />

der katholischen Kirche ins Staatsregister) sind bereits vereinbart<br />

und zur Unterzeichnung vorbereitet.<br />

Durch die Verträge ist der Rechtsrahmen für das Wirken der katholischen<br />

Kirche in Kroatien gegeben. Mehrere Punkte der Verträge sind noch nicht<br />

gänzlich umgesetzt. Dafür wird es noch Zeit und viel guten Willen brauchen.<br />

Zahlreiche Fragen, die das Eigentum betreffen, sind ungelöst geblieben,<br />

besonders die Rückgabe des Besitzes, der unter dem kommunistischen<br />

Regime enteignet worden ist. Dennoch gibt das, was bis jetzt getan<br />

wurde, auf vielen Gebieten die rechtliche Sicherheit für das Wirken<br />

der katholischen Kirche. Zugleich hilft das indirekt dem Staat in seiner<br />

Entwicklung zum Rechtsstaat.<br />

Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft<br />

Kroatien ist ein Reformland auf dem Weg der Demokratisierung. Die<br />

Kirche, die in dieser pluralistischen Gesellschaft dem Evangelium nach<br />

Sauerteig sein möchte, nimmt Rücksicht auf diese gesamte Situation und<br />

versucht das zu unternehmen, was sie ihrer Natur nach in den eigenen<br />

125


Reihen ad intra und ad extra machen kann. Religionssoziologische Untersuchungen<br />

gibt es von Seiten der Kirche erst seit kürzerer Zeit. Bis jetzt<br />

sind einige Untersuchungen durchgeführt worden. Auf diesem Gebiet ist<br />

das von der Kroatischen Bischofskonferenz im Jahr 1997 gegründete<br />

Zentrum für die Förderung der Soziallehre der Kirche besonders aktiv.<br />

Die Kirche möchte im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils weder<br />

Privilegien haben, noch verlangt sie, dass die staatliche Politik die eine<br />

oder andere Weltanschauung vertritt, obwohl sie Wert darauf legt, dass<br />

die fundamentalen Werte ihrer Soziallehre auf profane und demokratische<br />

Weise in der Gesellschaft Fuß fassen und Wurzeln schlagen.<br />

In ihrem Wirken ist die Kirche durch die Liebe Christi motiviert, die sie<br />

in der Caritas entfalten möchte. Dank der Hilfe anderer Ortskirchen, besonders<br />

der deutschen Bistümer, wurde in Kroatien in den schwierigen<br />

Kriegsjahren 1991–1995 die Diözesancaritas relativ gut organisiert; sie<br />

wirkt auch in der Nachkriegszeit in den verschiedenen Bereichen der Kirche<br />

und der Gesellschaft. Die kroatische Caritas arbeitete in der letzten<br />

Zeit zusammen mit der Caritas auf internationaler Ebene in mehreren<br />

europa- und weltweiten Hilfsaktionen.<br />

Um die Löhne der Priester und der anderen kirchlichen Bediensteten anzugleichen<br />

und die Solidarität zwischen den Priestern mehr zu fördern,<br />

wurde im Jahr 2001 auf dem Gebiet der Kroatischen Bischofskonferenz<br />

ein neues einheitliches Finanzsystem geschaffen. Dabei wirken auch die<br />

Laien in den Pfarrgemeinden und als Mitglieder der Pfarrwirtschaftsräte<br />

aktiv mit.<br />

Die theologische Bildung der Laien und ihre Eingliederung in den Dienst<br />

der Kirche ist eine besondere Aufgabe der Kirche in Kroatien. Auf allen<br />

kroatischen kirchlichen Hochschulen studiert eine große Anzahl von<br />

Laien. Bis jetzt übernimmt die Mehrheit von ihnen nach dem Abschluss<br />

des theologischen oder religionspädagogischen Studiums eine Stelle als<br />

Religionslehrer oder Religionslehrerin in den Grund- oder Mittelschulen.<br />

In den Diözesen bemüht man sich im Hinblick auf die Ausbildung der<br />

Laien auch um spezielle Seminare für die Mitglieder der Pfarrgemeinde-<br />

126


äte, der Pfarrwirtschaftsräte und der Pfarrcaritas. Für die Erneuerung des<br />

kirchlichen Lebens in den Ortskirchen werden in manchen Bistümern<br />

Diözesansynoden abgehalten bzw. geplant.<br />

Abschließend möchte ich noch einige Aufgaben aufzählen, die in gewissem<br />

Sinn eine vorrangige Bedeutung für das Wirken der Kirche in der<br />

Gesellschaft Kroatiens haben. Unsere Gesellschaft befindet sich in einem<br />

Umbruch, der auch zu einer Verschärfung der sozialen Lage geführt hat.<br />

Daher sind besonders wichtig:<br />

• Förderung des Unternehmergeistes und zugleich Entfaltung der christlichen<br />

Sensibilität für die soziale Sicherheit der Arbeiter und für die<br />

Solidarität mit den Schwächeren und Ärmeren;<br />

• Förderung der politischen Kultur: des Dienens, der Kooperation, der<br />

Verantwortung und der demokratischen Verhaltensweisen;<br />

• Förderung des Dialogs im Hinblick auf die tiefere Erkenntnis der<br />

Wirklichkeit und auf die Erziehung zur Toleranz als Frucht des Verständnisses<br />

der anderen;<br />

• Förderung der Ökumene und des interreligiösen Dialogs;<br />

• Förderung des Friedens und der Friedfertigkeit als einer fundamentalen<br />

christlichen Haltung, besonders durch die Erziehung zum Frieden.<br />

Das Thema der Vergebung und der Versöhnung hat in Kroatien eine besondere<br />

Bedeutung. In einer säkularen Gesellschaft können diese Argumente<br />

sehr leicht instrumentalisiert werden. Wir Christen sind berufen,<br />

Zeugen der transzendentalen Dimension der Vergebung zu werden, die<br />

Frieden schafft. Es ist schwierig, über die Vergebung zu reden, ohne über<br />

Gott zu sprechen.<br />

Schlussbemerkung<br />

Wir befinden uns heute auf einem Internationalen <strong>Kongress</strong>, der von der<br />

verdienstvollen Einrichtung der deutschen Katholiken <strong>Renovabis</strong> organisiert<br />

wurde. Unser Thema ist die europäische Gesellschaft: Europa als<br />

eine Wertegemeinschaft und die christlichen Fundamente der europä-<br />

127


ischen Gesellschaft. Das tun wir dreizehn Jahre nach dem Fall der Berliner<br />

Mauer, der den europäischen Integrationsprozess auf dem ganzen<br />

Kontinent ermöglichte.<br />

Ich spreche aus der Position eines Landes, das sich im Übergang befindet.<br />

Ohne Zweifel stehen solche Länder viel schwächer da im Vergleich mit<br />

den europäischen Ländern, die bereits in der Europäischen Union sind,<br />

umso mehr, weil viele Reformländer recht kleine Länder sind, die vor<br />

noch nicht allzu langer Zeit von einem kommunistischen Regime beherrscht<br />

wurden. Daher stellt sich die Frage: Auf welche Weise können<br />

die Christen Europas den europäischen Integrationsprozess beschleunigen?<br />

Die Berliner Mauer ist gefallen. Das Europa des 21. Jahrhunderts<br />

darf es sich nicht erlauben, dass auf seinem Kontinent eine neue Mauer<br />

errichtet und neue Blöcke geschaffen werden.<br />

128<br />

Prof. Dr. Vladimir Fedorov


Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg<br />

Christen in Russland an der Schwelle<br />

des 21. Jahrhunderts<br />

Heute ist ein besonderer Tag, der Gedenktag des Metropoliten Nikodim.<br />

Während der Audienz bei Papst Johannes Paul I. ist er am 5. September<br />

1978 in Rom gestorben. Er war fünfzehn Jahre Metropolit in Leningrad<br />

und Nowgorod, 1963 bis 1978, und gerade diese Zeit bildete eine Blütezeit<br />

für die Ökumene, für die Beziehungen zwischen der römisch-katholischen<br />

und der russischen orthodoxen Kirche. Wenn ich heute hier zu<br />

Ihnen spreche, dann habe ich ein ganz eigenartiges, fast schon mystisches<br />

Gefühl. Obwohl ich nicht von meiner Kirche zum <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong><br />

delegiert worden bin – ich wurde persönlich eingeladen –, fühle ich mich<br />

vom Metropoliten Nikodim delegiert. Er war mein Metropolit, er hat<br />

mich vor 25 Jahren zum Studium als Stipendiat der Deutschen Bischofskonferenz<br />

nach Deutschland geschickt. Ich studierte damals am Ostkirchlichen<br />

Institut in Regensburg.<br />

Gerade in der aktuellen Situation bedeutet Metropolit Nikodim für uns<br />

sehr viel. Heute muss ich ehrlich sagen, dass er uns (nicht nur in Russland!)<br />

sehr fehlt. Alle seine Mitbrüder in der Hierarchie sind heute noch<br />

im Dienst. Wenn ich heute über die Christen in Russland spreche, dann<br />

müssen Menschen wie Metropolit Nikodim genannt werden – dank ihnen<br />

haben wir Religionsfreiheit und Perestroika. All das war schon damals<br />

vorbereitet, auch in der Kirche.<br />

Heute brauchen wir Leute wie Metropolit Nikodim, weil er meiner Meinung<br />

nach sehr stark missionarisch orientiert war und ihm langfristige<br />

Strategien sehr wichtig waren. Darum hatte für ihn die theologische Ausbildung<br />

Priorität. In erster Linie ging es ihm um die theologische Ausbildung,<br />

dann aber auch um persönliche Kontakte mit den Kadern, mit<br />

129


damaligen und künftigen Professoren. Eine persönliche Eigenschaft war<br />

sehr charakteristisch für ihn – er vertraute allen, die zu ihm kamen. Und<br />

von jedem erwartete er die gleiche Hingabe zur Kirche. Deshalb haben<br />

sich auch viele junge Priester und Bischöfe von ihm ordinieren lassen.<br />

Heute sehen wir, dass seine Strategie sehr klug war. Die gegenwärtigen<br />

Spannungen zwischen Unierten und Orthodoxen in der Ukraine könnte<br />

man mit seiner Strategie überwinden. In St. Petersburg, im Orthodoxen<br />

Institut für Missiologie und Ökumene, möchten wir deshalb ein<br />

Gedenkjahr für ihn proklamieren, und zwar ab dem 5. September 2003<br />

bis zum 15. Oktober 2004. Am 15. Oktober 2004 würde er 75 Jahre alt.<br />

Leider gibt es aber in patriotisch-fundamentalistischen Kreisen in Russland<br />

starke Widerstände gegen die Verehrung von Metropolit Nikodim.<br />

Diese Leute sind ganz und gar gegen die ökumenischen Beziehungen<br />

eingestellt, besonders gegen die orthodox-katholischen Einheitsbemühungen.<br />

Dennoch ist das Thema „Die Rolle des Metropoliten Nikodim<br />

und die Ökumenische Bewegung für Wiedergeburt der Kirche in Russland“<br />

ganz aktuell. Jetzt ist die Zeit gekommen, dies genauer zu analysieren.<br />

Vieles verstehen wir heute nicht, weil wir die damalige Situation in<br />

der Breshnew-Ära nicht genug analysieren oder falsch analysieren.<br />

Oft wird Fedor Tjutchev, ein russischer Dichter des 19. Jahrhunderts, zitiert:<br />

„Es ist unmöglich, Russland mit dem Kopf zu verstehen, an Russland<br />

kann man nur glauben“. Das ist wohl richtig, aber über die Russen<br />

kann sicher etwas sagen. Was ist eigentlich Russland, gehört es überhaupt<br />

zu Europa? Was in den Lehrbüchern der Geographie steht, ist oft etwas<br />

ganz anderes als das, was in den Köpfen der Leute steckt. Vor 25 Jahren<br />

habe ich mit einer alten Frau in Paris gesprochen; ich war damals als<br />

deutscher Stipendiat für einige Tage nach Frankreich geschickt worden,<br />

und sie hat mich gefragt: „Woher sind Sie?“ Ich habe geantwortet: „Ich<br />

komme aus Deutschland.“ Da hat sie weiter gefragt: „Aus welchem<br />

Deutschland, aus dem asiatischen Deutschland oder aus dem europäischen<br />

Deutschland?“ Diese Bilder sind bis heute ganz lebendig in mir.<br />

Ich komme aus St. Petersburg, das liegt sicher in Osteuropa. Wir stammen<br />

aus dem Osten, sind von östlicher Mentalität. Aber genauso bin ich<br />

130


westlich, denn ich stamme in gewisser Weise vom äußersten Westen Asiens.<br />

Das ist eine sehr schwierige Sache, die im Einzelnen noch gar nicht<br />

genau analysiert ist und vielleicht auch gar nicht analysiert werden kann.<br />

Im Folgenden möchte ich aber wenigstens einige Punkte zur Klärung anführen.<br />

Noch vor der Taufe Russlands (988) waren wir in Russland ein<br />

Teil Europas, nach der Taufe wurden wir noch europäischer. Die heutige<br />

europäische Integration hat eine lange Geschichte, wobei zu beachten ist,<br />

dass die Kategorien „West“ und „Ost“ oft nicht kulturell, sondern politisch<br />

zu verstehen sind.<br />

Wir leben jetzt im 21. Jahrhundert, sind aber aus dem 20. Jahrhundert in<br />

dieses Jahrhundert mit besonderen Erfahrungen gekommen. Die Religion<br />

hat den totalitaristischen Atheismus überlebt – das war jedoch nur möglich<br />

durch die Solidarität des Westens mit uns und durch den weltweiten<br />

Prozess der Liberalisierung. Wir sind glücklich sagen zu können „Wir<br />

sind wieder frei“. Nur vergessen viele Menschen in Russland und in der<br />

Orthodoxie, dass das nicht einfach ein Wunder war, sondern Teil eines<br />

welthistorischen Vorgangs, eine Frucht des 20. Jahrhunderts, eine Frucht<br />

der Globalisierung. Auch der technologische Fortschritt spielte, so seltsam<br />

das hier klingen mag, eine wichtige Rolle.<br />

Dieses Wunder kam durch Gottes Plan, viele Leute haben dafür gearbeitet<br />

– und dann gibt es gerade in Russland viele, die dem Globalisierungsprozess<br />

kritisch gegenüber stehen und nur über dessen negative Momente<br />

reden. Viele Russen können nicht erfassen, dass es eine Epoche ähnlich<br />

wie andere in der Weltgeschichte ist. Heute brauchen wir Christen in<br />

Russland gute theologische und religiöse Analysen der Geschichte, wir<br />

brauchen christliche Visionen von Begriffen wie Humanismus, Aufklärung<br />

usw. „Christlicher Humanismus“ ist beispielsweise ein ganz normaler<br />

Begriff in der römisch-katholischen Kirche, in der orthodoxen Kirche<br />

kann man diesen Begriff so noch nicht verwenden. „Christliche Aufklärung“<br />

klingt im Westen besonders gut, hat aber auf Russisch einen sehr<br />

negativen Beigeschmack. Aber christliche Aufklärung brauchen wir gerade<br />

heute unbedingt!<br />

Die geschichtliche Analyse hilft uns zu verstehen, warum wir heute eine<br />

solch problematische Situation in der Ökumene haben. Wir sind oft kri-<br />

131


tisch zu den kirchendiplomatischen Beziehungen; wir denken, es sei einfach<br />

nur ein diplomatischer Fehler, wenn da etwas nicht so gut läuft –<br />

aber kirchendiplomatische Beziehungen sind ein Teil der Realität, und<br />

wir bemerken nicht, wie viele Leute überhaupt nichts von anderen Kirchen<br />

verstehen. Das kann schon entmutigen, aber als Christen sind wir<br />

geborene Optimisten.<br />

Wie lassen sich diese Probleme beheben? Ganz entscheidend ist nach der<br />

Analyse der Probleme die Heranbildung von qualifiziertem theologischem<br />

Nachwuchs. Es gibt zwar in Russland theologische Fakultäten und<br />

Institute, aber davon kommt immer noch zu wenig in die Praxis. Wir<br />

müssen unsere Geistlichen so ausbilden, dass sie ihre theologischen<br />

Kenntnisse mit den für unsere Gesellschaft entscheidenden missiologischen<br />

und missionarischen Aktivitäten zusammenbringen. Gestern bin<br />

ich gefragt worden, wieso es möglich ist, dass orthodoxe Geistliche in<br />

Russland überhaupt nicht mit katholischen Priestern zusammenarbeiten<br />

möchten. Ich kenne diese Situation. Wir brauchen Geduld und Verständnis,<br />

dann wird sich das nach und nach ändern, und wir brauchen nicht so<br />

sehr über kirchendiplomatische Schritte nachzudenken, sondern sollten<br />

mehr und mehr gemeinsam auf praktische Fragen antworten.<br />

Es ist ganz interessant, dass sich die Situation am Anfang des 21. Jahrhunderts<br />

in Russland so ähnlich darstellt wie am Anfang des 20. Jahrhunderts.<br />

Viele Leute sprechen in Russland von der Zeit vor 1917 als dem<br />

„heiligen Russland“. Die meisten haben aber keine Vorstellung von den<br />

wirklichen Zuständen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in Russland<br />

zwar eine religiöse Wiedergeburt – trotzdem waren 95 % der Intelligenz<br />

nicht gläubig, wie eine erste und sehr schlichte soziologische Untersuchung<br />

1911 ergeben hat, die wohl einigermaßen zuverlässig ist. 1 Wie<br />

lässt sich dieser Widerspruch erklären?<br />

Der Anfang des 21. Jahrhundert ist noch eine Fortsetzung des ausgehenden<br />

20. Jahrhunderts. Die derzeitige religiöse Wiedergeburt in Russland<br />

1 A. Vvedenskij, Prichinyi neverija russkoj intelligentzii (Die Ursachen des Unglaubens der russischen<br />

Intelligenz), in: Strannik, StP, 1911, S. 672.<br />

132


hat eine Vorgeschichte. Am Anfang des 20. Jahrhunderts existierte eine<br />

interessante Bewegung der Intelligenz hin zur Kirche. Man kann über<br />

eine Parallele sprechen, und wir sollten auch eine Lehre aus dieser<br />

Geschichte ziehen. Was aber die Intelligenz am Vorabend der Revolution<br />

betrifft, so wurden bereits zur damaligen Zeit von den Vertretern dieser<br />

Intelligenz viele aufrichtige Reuebekenntnisse, bittere und vorwurfsvolle,<br />

gleichzeitig aber auch warme Worte ausgesprochen, die von Hoffnung<br />

auf eine religiöse Wiedergeburt erfüllt waren. Hinweisen möchte<br />

ich nur auf den Sammelband „Die Wegzeichen“ (Vechi). Als Beispiel<br />

seien noch einige wenig bekannte Aussagen des bedeutenden russischen<br />

Wissenschaftlers und Denkers V. I. Vernadskij angeführt: „Die russische<br />

Intelligenz ist unter den Trümmern der Revolution untergegangen, und es<br />

ist auch gut so, denn auf ihr, auf der alten russischen Intelligenz, liegt die<br />

Schuld für vieles, was geschehen ist und was jetzt geschieht ... Mehr noch<br />

– die russische Intelligenz war nicht einmal atheistisch, sie war antireligiös.<br />

Sie hat zu leben versucht, ohne religiöse Fragen wahrzunehmen, sie<br />

verschwieg sie. So war es. Aber so wird es in der Zukunft nicht mehr sein<br />

... Es entsteht eine neue Intelligenz für ein neues Russland. Die Umrisse<br />

dieser neuen Intelligenz zeichnen sich ab. Das sich bildende Interesse für<br />

soziale Fragen und Versuche, die reale Orthodoxie wiederzubeleben, sind<br />

Tatsachen von großer Wichtigkeit. Ganz zu Unrecht fürchten sich viele<br />

davor und betrachten dies als Symptome für Reaktion und Stagnation.<br />

Nein. Die Geschichte lehrt uns, dass der menschliche Geist auf dem Gebiet<br />

der wissenschaftlichen Erkenntnis nur dann etwas Neues erfassen<br />

kann und nicht auf der Stelle tritt, wenn die wissenschaftliche Kreativität<br />

mit einer breiten religiösen Kreativität Hand in Hand geht. Die moderne<br />

religiöse Bewegung in Russland ist ein Unterpfand für das zukünftige<br />

Aufblühen der russischen Wissenschaft.“ 2<br />

Das sind lange, aber wichtige Zitate. Vernadskij zeigt Optimismus nicht<br />

nur in Bezug auf die Rolle der Intelligenz in der Zukunft, sondern überhaupt<br />

in Bezug auf Wissenschaft und Zivilisation. An einer anderen<br />

Stelle behauptet er, dass „die Wissenschaft eine große Kraft ist. Sie führt<br />

2 Russkaja intelligencija i novaja Rossija. Doklad na sezde Tavriceskoj naucnoj asso-ciacii, in:<br />

Tavriceskij golos (Simferopol'), 09.11.1920. Zit. nach: V.Vernadskij; Dovol'no krovi i stradani,<br />

in: Vek XX i mir 1/1990, S. 28.<br />

133


zur Verbundenheit der ganzen Menschheit. Sie ist aber ihrem Wesen<br />

nach nicht imstande, den Menschen eine vollständige Vorstellung über<br />

das Leben zu liefern. Sie kann weder Religion noch Kunst ersetzen. Die<br />

westliche Zivilisation mit ihrer materiellen Kultur ist keine Abweichung<br />

von der idealen Ordnung. Die materielle Zivilisation der Menschheit ist<br />

ein kosmischer Prozess in der Geschichte der Erde. Sie ist die gleiche<br />

Erscheinung des Lebenden wie auch das Lebende selbst auf unserem<br />

Planeten.“ 3<br />

Wie mir scheint, haben die Worte von Vernadskij bis heute nichts von ihrer<br />

Aktualität eingebüßt. Wir verbinden die Hoffnung auf das Aufblühen<br />

der Kultur wieder mit einer immer stärkeren Verkirchlichung der Intelligenz.<br />

Schon in 1970er Jahren zeichnete sich in den großen Städten ein<br />

reges Interesse für die Religion besonders unter der Intelligenz ab. Auch<br />

unter der Jugend war das religiöse Suchen hauptsächlich im intellektuellen<br />

Milieu verbreitet. Das verpflichtete die Priester, die sich früher hauptsächlich<br />

auf alte Frauen und den ungebildeten Teil der Bevölkerung konzentrierten,<br />

zur Umorientierung. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es in<br />

Russland ein breites Interesse an Spiritualität und an der Suche nach<br />

Wahrheit, das aber nicht kirchlich gebunden war. Bis dahin stammten die<br />

Seminaristen fast nur aus Priesterfamilien. Das änderte sich in den Jahrzehnten<br />

kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Eine kleine Welle von jungen<br />

Menschen, die nicht aus „kirchlichen“ Familien stammten, ging nun in<br />

die Seminare. Die daraus strömende Erneuerungsenergie für Kirche und<br />

Gesellschaft war aber nicht stark genug, um den folgenden Umwälzungen<br />

zu widerstehen.<br />

Die geistige Einordnung unserer heutigen Intelligenz ist nicht einfach,<br />

weil es ein reiches Spektrum der Haltungen gibt. Der größte Teil ist und<br />

bleibt agnostisch, es gibt aber auch viele Gläubige, und selbst engagierter,<br />

oft leider auch fundamentalistischer Glaube kommt vor. Selbst absurde<br />

Thesen und Weltverschwörungstheorien wie die „Protokolle der<br />

Weisen von Zion“ werden von manchen Menschen bis heute für bare<br />

3 Pis'ma k russkoj i ukrainskoj molodezi. Nabroski, ijun 1924 goda. – Archiv AN SSSR, f. 518, op.<br />

l, d. 220. Zit. nach V. Vernadskij (wie Anm. 2), S. 30.<br />

134


Münze gehalten. Diese Mentalität ist leider bei vielen Leuten verbreitet,<br />

die heute an der Spitze der Wissenschaft stehen.<br />

Viele sind schon vor zwanzig oder mehr Jahren zur Kirche gekommen<br />

sind, sie setzen sich stark für die christliche Kultur ein. Statistisch lässt sich<br />

das alles kaum erfassen. Heute werden in Russland viele religiös-soziologische<br />

Untersuchungen durchgeführt, meist aber von Leuten, die mit der<br />

Kirche praktisch nicht zusammenarbeiten. Entsprechend unterschiedlich<br />

sind die Ergebnisse. Meistens heißt es, dass zwischen 60 % und 70 % der<br />

Bevölkerung gläubig seien, einige Untersuchungen kommen aber nur auf<br />

40 %. Wenn man dann die Untersuchungen näher ansieht, werden die Ergebnisse<br />

noch unklarer. Bei Fragen wie „Sind Sie orthodox?“ sagen 70 %<br />

„Ja“, bei „Glauben Sie an Gott?“ sind es dann nur noch 50 %, bei der Frage<br />

nach monatlichem Kirchenbesuch nur noch 10 %. Was kann die orthodoxe<br />

Kirche in dieser Situation machen? Es gibt keinen Grund für übertriebene<br />

Hoffnung, aber verglichen mit den zurückliegenden Jahrzehnten können<br />

wir doch vertrauensvoll in die Zukunft schauen. Das gilt gerade auch für<br />

den Bereich der christlichen Werte – wenn die Menschen wirklich gläubig<br />

sind, dann werden sie auch ein gutes Verhältnis zu diesen Werten haben.<br />

Ein besonderes Thema ist das Verhältnis zwischen Kirche und Staat.<br />

Dazu möchte ich nur ganz kurz auf das hinweisen, was Präsident Putin<br />

vor wenigen Tagen, am 30. August <strong>2002</strong>, auf dem Dritten Weltkongress<br />

der Tataren gesagt hat: „Nur Religion kann wirklich allgemein menschliche<br />

Werte in unsere Gemeinschaft bringen.“ Die Kommunistische Partei<br />

mit ihren Erziehungsidealen habe versagt, nur die Religion könne allgemein<br />

menschliche Werte vermitteln. Es gab aber sofort Proteste in der<br />

Staatsduma; einige Abgeordnete der Liberalen Partei sagten, der Präsident<br />

dürfe sich zu diesen Fragen nicht äußern. In diesem Zusammenhang<br />

möchte ich auf eine ganz interessante Situation hinweisen. Unsere Hierarchen<br />

sagen, es solle keine Staatskirche mehr geben. Wenn aber in einer<br />

Region ein großes öffentliches Ereignis ansteht, dann wird von den Bürgermeistern<br />

zusammen mit dem Polizeichef und anderen Personen der<br />

Nomenklatur der Bischof eingeladen, weil das als große Ehre gilt. Das ist<br />

schon fast normal, aber viele Leute meinen: „Oh, jetzt sind sie wieder alle<br />

beisammen.“<br />

135


Ein Thema möchte ich unbedingt noch kurz ansprechen, und zwar den<br />

Fundamentalismus. Man könnte dem Phänomen auch andere Namen geben;<br />

entscheidend ist, dass es in jeder Kirche, in jedem Land, in jeder<br />

Kultur existiert. Meiner Erfahrung nach bestehen dabei normalerweise<br />

zwischen den verschiedenen Kirchen keine Probleme. Vielmehr handelt<br />

es sich um innerkirchliche Meinungsverschiedenheiten. So bin ich für<br />

viele meiner Mitbrüder nicht orthodox genug, weil ich ihrer Meinung<br />

nach zu enge Kontakte zu Katholiken und Lutheranern pflege. Diese<br />

patriotisch-bolschewistische Haltung liegt sehr nah an einer fundamentalistischen<br />

Einstellung, etwa im Sinne von „Feinde sind überall“. Die<br />

Hauptaufgabe für Leute mit diesem Komplex besteht nicht in positiver<br />

und konstruktiver Arbeit, sondern darin, Feinde zu suchen und zu vernichten.<br />

Mit dem bolschewistischen Komplex ist das Phänomen des Fundamentalismus<br />

ganz stark verbunden. In der sowjetischen Zeit wurden<br />

die „Imperialisten“ als Feinde definiert – jetzt sucht man die Feinde bei<br />

den Nicht-Orthodoxen. Toleranz geht den Fundamentalisten gänzlich ab.<br />

Das Hauptmotiv für eine Rückkehr zur orthodoxen Kirche in Russland ist<br />

für viele Menschen immer noch die Ideologie und nicht der Glaube! Besonders<br />

gut erkennbar ist diese Haltung in der Armee. Das alles verstehe<br />

ich unter dem Phänomen des Fundamentalismus, das wesentliche Grundlagen<br />

des Christentums zerstört, indem es von eigentlichen Aufgaben der<br />

Kirche in der Welt, etwa im sozialen Bereich, ablenkt. Hier sehe ich noch<br />

sehr viel Arbeit für uns.<br />

In den vergangenen Jahren hat die russische orthodoxe Kirche viel gegen<br />

den Fundamentalismus hin in die Richtung „Stellungnahme zu sozialen<br />

Problemen“ unternommen. Im Jahre 2000 wurde eine Soziallehre formuliert,<br />

worin z.B. auf Gewissensfreiheit und Menschenrechte eingegangen<br />

wird. Ich möchte daraus zitieren: „Das Prinzip der Gewissensfreiheit,<br />

welches als juristischer Terminus im 18.–19. Jahrhundert formuliert<br />

wurde, wird erst im Anschluss an den Ersten Weltkrieg zu einem grundlegenden<br />

konstituierenden Bestandteil der zwischenmenschlichen Beziehungen.<br />

Mittlerweile hat es Eingang in die Allgemeine Deklaration der<br />

Menschenrechte sowie die Verfassungen der Mehrheit der Staaten gefunden.<br />

Die Entwicklung des Prinzips der Gewissensfreiheit ist ein Beleg<br />

dafür, dass heutzutage die Religion von einer ‚öffentlichen‘ zu einer ‚pri-<br />

136


vaten‘ Angelegenheit des Menschen geworden ist. An sich ist diese Entwicklung<br />

ein Beweis für den Zerfall des geistigen Wertesystems, dafür<br />

dass der überwiegende Teil der Gesellschaft, der sich zum Prinzip der<br />

Gewissensfreiheit bekennt, des Strebens nach Heil verlustig gegangen<br />

ist. Und wenn der Staat ursprünglich als Instrument der Durchsetzung des<br />

göttlichen Gesetzes in der Gesellschaft gegründet wurde, so verwandelt<br />

die Gewissensfreiheit den Staat endgültig in eine ausschließlich irdische,<br />

an keine religiösen Verpflichtungen gebundene Institution. Die Durchsetzung<br />

der Gewissensfreiheit als legales Prinzip verweist auf den Verlust<br />

von religiösen Zielen und Werten in der Gesellschaft, den massenhaften<br />

Abfall vom Glauben sowie der faktischen Indifferenz gegenüber dem<br />

Auftrag der Kirche und der Überwindung der Sünde. Dieses Prinzip<br />

erweist sich jedoch als eines der Mittel, die die Existenz der Kirche in der<br />

nichtreligiösen Welt ermöglichen, insofern es dem legalen Status der Kirche<br />

sowie ihrer Unabhängigkeit gegenüber den anders- oder nichtgläubigen<br />

Schichten der Gesellschaft zugrunde liegt.“ 4<br />

Über diese Frage brauchen wir noch eine breite Diskussion in der orthodoxen<br />

Kirche ebenso wie auch im ökumenischen Bereich. Toleranz und<br />

christlichen Spiritualität spielen dabei eine ganz wichtige Rolle. Was<br />

können wir also machen, um die russische Gesellschaft zu verändern, um<br />

ihr wirksam Werte zu vermitteln? Wir brauchen ein neues Konzept von<br />

Erziehung und von Ausbildung, wahrscheinlich von der alten klassischen<br />

Erziehung ausgehend, aber mit neuen Schwerpunkten. Das müssen alle<br />

Konfessionen in Mittel- und Osteuropa unterstützen, und auch <strong>Renovabis</strong><br />

kann dazu viel beitragen.<br />

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Ausdruck „Liturgie nach der Liturgie“<br />

populär geworden. Damit wurde die soziale und karitative Arbeit<br />

(Diakonia) bezeichnet. Ich spreche sehr gerne auch über die „Liturgie vor<br />

der Liturgie“ – das meint nicht nur den Katechismus oder die Vorbereitung<br />

zur Heiligen Kommunion, sondern Ausbildung des Menschen auch<br />

4 Absatz III.6 der Soziallehre, Text nach: Josef Thesing/Rudolf Uertz (Hrsg.): Die Grundlagen der<br />

Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Deutsche Übersetzung mit Einführung und<br />

Kommentar, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2001, S. 32.<br />

137


auf dem Weg zu Gott und zum Mitmenschen. Das ist aber eine ökumenische<br />

Aufgabe, und ohne eine solche Zusammenarbeit der Kirchen in<br />

Russ land sehe ich keine Zukunft für die Kirche und das Christentum.<br />

Ich selbst bin zur Zeit beim Weltkirchenrat verantwortlich für die theologische<br />

Ausbildung in Mittel- und Osteuropa und sehe, wo die besonderen<br />

Probleme liegen. Vieles hat sich bereits verbessert, dennoch ist es noch<br />

ein weiter Weg, den Russland zu gehen hat, bis dass es endgültig im<br />

21. Jahrhundert angekommen ist.<br />

Diskussion zu den Vorträgen von Professor Meyer, Erzbischof<br />

Bozanić und Professor Fedorov (Auszüge):<br />

Prof. Dr. Philipp Harnoncourt, Graz:<br />

Meine Frage richtet sich an Erzbischof Bozanić. Über die Situation in<br />

Kroatien seit den neunziger Jahren habe ich einen etwas anderen Eindruck.<br />

Ich bin schon in der Tito-Zeit häufig in Jugoslawien gewesen und<br />

habe öfter mit kroatischen Priestern theologische Veranstaltungen gehalten.<br />

Ich habe den Eindruck, dass der Abschied vom Kommunismus im<br />

ehemaligen Jugoslawien nicht im gleichen Maß stattgefunden hat wie in<br />

den übrigen Ländern des Ostblocks, weil Tito offiziell einen Neutralitätskurs<br />

verfolgte und er nicht zu einem der Blöcke gehört hat. Das hat aber<br />

den Kommunisten die Möglichkeit gegeben, durch rechtzeitiges Umsatteln<br />

auf das nationale Pferd an der Macht zu bleiben. Kollegen aus Slowenien<br />

haben mir das bestätigt und gesagt, eine tatsächliche Demokratisierung,<br />

weg vom kommunistischen System, sei außerordentlich schwierig<br />

und müsse langsam, Schritt für Schritt gehen, auch heute noch.<br />

Die zweite Frage betrifft die Situation in Russland. Ich war 1990 mit Kardinal<br />

König in Audienz bei Patriarch Aleksij; Erzbischof Schönborn war<br />

später ebenfalls dort. Diese Gespräche waren immer sehr schön und<br />

kooperativ; von Proselytismus war nie die Rede, statt dessen von der ge-<br />

138


meinsamen Verantwortung der Christen angesichts einer Säkularisierung<br />

der Welt. Ist es da nicht notwenig, dass man einer Kirche, die große interne<br />

Probleme hat, eine gewisse ökumenische Schonzeit lässt und sie<br />

nicht ökumenisch „erpresst“? Sicher gibt es interne Probleme der russischen<br />

orthodoxen Kirche, und wie es so oft bei innenpolitischen Problemen<br />

geschieht, wird dann nach außen abgelenkt.<br />

Pater Eugen Hillengass SJ, München:<br />

Ich kann vielleicht an die Frage von Herrn Professor Harnoncourt anknüpfen.<br />

Darin taucht meines Erachtens indirekt auch wieder das Thema<br />

der Grenzen Europas auf. Und das ist eben nicht nur eine geographische<br />

Frage. Vielmehr ist es eine Frage, die sich auf die Menschen bezieht, auf<br />

deren Einstellungen und deren Überzeugungen, und sie wird sich deshalb<br />

auch im Laufe der Zeit immer wieder wandeln. Ich persönlich glaube,<br />

dass die Grenze Europas am Pazifik liegt, weil ohne das ganze Russland<br />

die europäische Geistlichkeit und Geistigkeit unvollständig wäre. Das ist<br />

aber natürlich – und das möchte ich betonen – eine Vision, die aber auch<br />

mit dem zu tun hat, was Professor Meyer gesagt hat, nämlich mit der Freiheitsfrage.<br />

Wie steht es darum? Aus meinen Kontakten zum Osten habe<br />

ich den Eindruck, dass ein Zuviel an Freiheit als Bedrohung der eigenen<br />

Wesenheit empfunden wird und dass man sich deshalb im Osten oft gegen<br />

zu viel Freiheit wehrt. Damit ist zugleich die Frage an uns alle gestellt:<br />

Haben wir genügend getan, dass Freiheit und freiheitliches Leben<br />

in der rechten Weise verstanden werden?<br />

Herr Professor Fedorov, Sie haben eben gesagt „wir sind wieder frei“. Ist<br />

das Wort „wieder“ in diesem Satz, wenn man die Zeit vor dem Kommunismus<br />

betrachtet, eigentlich ganz richtig? Was bedeutet es dann für uns,<br />

und was bedeutet es für die unveräußerlichen Werte der Orthodoxie, die<br />

diesem ganzen orthodoxen Lebenssystem auch eine Stärke und eine Geschlossenheit<br />

geben? Da müssen auch wir im Westen uns fragen, was wir<br />

dazu beitragen, damit da nicht etwas mit Gewalt aufgebrochen wird, sondern<br />

damit es auch allmählich und behutsam wächst.<br />

Meine letzte Frage hat auch etwas damit zu tun. Es geht mir um den Mitteleuropäischen<br />

Katholikentag. Herr Erzbischof, können Sie etwas zur<br />

139


Thematik und zu den Terminen sagen? Das wird sicher viele hier im Saal<br />

interessieren.<br />

Prof. Dr. Viorel Ionit,a, Genf:<br />

Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Professor Meyer, für das, was Sie über<br />

Osteuropa gesagt haben, bedanken. Besonders gut gefallen hat mir, wie<br />

Sie auf das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft hingewiesen<br />

haben. Darauf bezieht sich meine Frage, eigentlich mehr eine Ergänzung.<br />

Kirche und Gesellschaft sind in Osteuropa, etwa in meiner Heimat Rumänien,<br />

wo ich in verschiedenen Positionen innerhalb der rumänisch-orthodoxen<br />

Kirche engagiert bin, nicht unbedingt zwei sich völlig gegenüberstehende<br />

Wirklichkeiten. Die Kirche steht mitten im Staat, mitten in<br />

der Gesellschaft. In ihr sind Gruppen, nicht nur einzelne Menschen, tätig,<br />

die sich oft päpstlicher als der Papst verhalten und mit ihrer orthodoxfundamentalistischen<br />

Mentalität Karriere machen. Meine Frage lautet<br />

daher, ob Sie etwas dazu sagen könnten, wie Kirchen und Kirchenleitungen<br />

auf solche Gruppen reagieren sollten. Würde es schwere Folgen<br />

für die Kirche haben, wenn der Einfluss solcher Gruppen gebremst<br />

würde?<br />

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn:<br />

Beim Begriffspaar „Kirche und Gesellschaft“ ging es mir darum zu sagen,<br />

dass das zwar sicherlich ein richtiges Begriffspaar ist, das bestimmte<br />

Aspekte präzise beschreibt; in einer freiheitlichen Gesellschaft kommen<br />

Christen und Kirchen aber nur dann zur Wirkung, wenn sie sich nicht als<br />

ein Gegenüber zur Gesellschaft empfinden, sondern in der Gesellschaft<br />

leben. Nun haben Sie mit Recht darauf hingewiesen, dass es Menschen in<br />

der Kirche, Geistliche und Laien, gibt, die nicht bereit sind, sich auf diese<br />

Herausforderung der Freiheit einzulassen. Die Freiheit wird von diesen<br />

Menschen nur als Chance für sich selbst verstanden, nicht aber als eine<br />

Chance für die, die eine andere Auffassung vertreten. Als Trost kann ich<br />

dazu nur sagen, dass Kirche und Christen in einer freiheitlichen Gesellschaft<br />

nur dann zur Wirkung kommen werden, wenn sie sich auf die Bedingungen<br />

und Herausforderungen von Freiheit einlassen. Die Freiheit<br />

kann man nicht zu einem halben Preis bekommen.<br />

140


Freiheit gibt es nicht unter bestimmten Garantien oder Einschränkungen.<br />

Für die Katholiken in Westeuropa, natürlich auch in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, ist das ein schwieriger Lernprozess gewesen. Mein Vorgänger<br />

im Amt des Präsidenten des ZdK, Hans Maier, hat auf diese Situation<br />

schon in der ersten Hälfte der sechziger Jahre hingewiesen. Die katholischen<br />

Christen müssen sich auf die Herausforderungen der freiheitlichen<br />

Demokratie einlassen. Freiheit bekommt man immer nur ganz. In der jetzigen<br />

Gesellschaft gibt es – und ich fürchte mehr noch unter den Laien als<br />

unter den Amtsträgern – Menschen, Katholiken, die diese Herausforderung<br />

von Freiheit noch nicht verstanden haben. Die machen es natürlich<br />

der Kirche, ihren Katholiken und ihren Mitchristen schwer, in der Gesellschaft<br />

zu wirken. Dessen bin ich mir wohl bewusst. Aber ich wollte das<br />

Problem doch wenigstens kurz angerissen haben.<br />

Erzbischof Josip Bozanić, Zagreb:<br />

Titos Jugoslawien war kommunistisch, aber auf eine etwas andere Art als<br />

die anderen kommunistischen Länder in Mittel- und Osteuropa. Wir hatten<br />

gewisse Freiheiten, z. B. konnten wir frei Bischöfe ernennen, was<br />

etwa in der damaligen Tschechoslowakei nicht möglich war. Aber in<br />

Jugoslawien herrschte die kommunistische Partei auf der Grundlage der<br />

kommunistischen Ideologie, die im Prinzip in allen kommunistischen<br />

Ländern gleich war. Unser heutiges Problem besteht darin, dass die kommunistische<br />

Mentalität, die fünfzig Jahre auf die Menschen gewirkt hat,<br />

nicht einfach verschwunden ist. Ihre Folgen sind immer noch zu spüren.<br />

Privatunternehmertum, Eigeninitiative, Verantwortungsgefühl – all das<br />

wurde während des Kommunismus nicht nur nicht gefördert, sondern<br />

vielmehr brutal unterdrückt. Deswegen ist ein längerer Prozess notwendig,<br />

um diese Mentalität zu überwinden. Vielleicht muss man noch<br />

weitergehendere Studien anstellen, um Wege zur Lösung dieses Problems<br />

zu finden.<br />

Zum Mitteleuropäischen Katholikentag möchte ich Folgendes ergänzen.<br />

Er wird von den Kirchen in Österreich, Polen, der Tschechischen Republik,<br />

der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina<br />

veranstaltet. Der Katholikentag hat eine doppelte Aufgabe. Zum einen<br />

betrifft er die gemeinschaftliche Ebene all dieser Länder, zum ande-<br />

141


en bezieht er sich jeweils auf die einzelnen Länder, wobei aber beide<br />

Teile miteinander verbunden sind und eine wechselseitige Information<br />

erfolgen wird. In diesen Ländern gibt es ganz bestimmte Traditionen von<br />

Pilgerfahrten und Wallfahrten; deswegen ist beschlossen worden, dass<br />

dieser gemeinsame Katholikentag mit einem gemeinsamen Pilgerzug der<br />

Gläubigen im Jahr 2004 nach Mariazell enden wird. Dabei wird besonderer<br />

Wert auf das Treffen junger Gläubiger gelegt werden. Außerdem sollen<br />

in den einzelnen Ländern Symposien abgehalten werden, die immer<br />

von mindestens zwei Bischofskonferenzen mitorganisiert werden. Diese<br />

Symposien werden sich mit Themen wie Kirche und Staat, Familie und<br />

Gesellschaft beschäftigen.<br />

Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg:<br />

Herr Professor Harnoncourt, die von Ihnen erwähnte Begegnung liegt<br />

schon einige Jahre zurück. Damals war die Atmosphäre sehr angenehm,<br />

und es gab viele Pläne zur Zusammenarbeit. Heute ist das leider ganz<br />

anders. Ich kann nur wiederholen: Ohne ökumenische Zusammenarbeit<br />

in Russland sehe ich keine Zukunft für die Evangelisierung und die Missionstätigkeit<br />

der Kirche. Im Gegenteil, Fundamentalismus, Triumphalismus,<br />

Radikalismus – alles, was den Frieden, d.h. das Leben in Christus,<br />

stört, wird zunehmen.<br />

Ich danke Ihnen, Pater Hillengass, für Ihre Bemerkung, mit der ich völlig<br />

einverstanden bin. Einige sagen schon, wir seien wieder frei, aber ich<br />

kann nur erklären und wiederholen, wie ich es sehe. Erstens waren wir<br />

vor 1917 nicht ganz frei, und ich weiß nicht, ob wir heute wirklich schon<br />

frei sind. Auf jeden Fall befinden wir uns in einer ganz neuen Situation.<br />

Auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft stehen wir erst ganz<br />

am Anfang in Russland, und wir haben auch keine Erfahrung damit. Für<br />

viele Russen ist Demokratie ein Schimpfwort, und nach Ansicht mancher<br />

Soziologen stehen 37 % der Bischöfe der Demokratie kritisch gegenüber.<br />

Daher kann ich es an dieser Stelle leider nur noch einmal wiederholen:<br />

Wir stehen erst am Anfang eines mühseligen Weges.<br />

142


Vizepräsident Dr. Ingo Friedrich MdEP, Straßburg/Brüssel<br />

Wertediskussion in Europa an der Schwelle<br />

zur Osterweiterung<br />

Am letzten Tag des <strong>Kongress</strong>es haben Sie, meine Damen und Herren,<br />

natürlich bereits vielfältige Informationen erhalten. Manches davon wird<br />

in unsere Diskussion einfließen. Zuvor möchte ich aber das mir vorgegebene<br />

Thema in drei Aspekten beleuchten.<br />

Grundrechtekonvent und Grundrechtecharta<br />

Den ersten Teil meines Vortrags möchte ich mit „Europa und der Grundrechtekonvent“<br />

überschreiben. Dieser Konvent, der erste in der Geschichte<br />

der Europäischen Union, wurde vom Europäischen Rat 1999<br />

einberufen und nahm seine Arbeit am 17. Dezember desselben Jahres auf.<br />

Den Vorsitz hatte der frühere Bundespräsident Roman Herzog inne. Das<br />

Ergebnis der Arbeiten, die Charta der Grundrechte der Europäischen<br />

Union, wurde am 7. Dezember 2000 anlässlich des Gipfeltreffens der<br />

Staats- und Regierungschefs in Nizza feierlich proklamiert. Als Wortführer<br />

der konservativen Parteien durfte ich an dem 54 Artikel umfassenden<br />

Rechtstext an vorderster Stelle mitwirken.<br />

Europa ist mehr als eine wirtschaftliche oder geographische Gemeinschaft.<br />

Das Argument der Geographie greift zu kurz, wie das Beispiel der Türkei<br />

anschaulich zeigt. Istanbul bildet, zumindest was den Westteil betrifft,<br />

unumstritten einen Teil Europas. Ob die Türkei jedoch wirklich ganz zu<br />

Europa passt, das ist eine ganz andere Frage. Vielmehr muss es darum gehen,<br />

ob die Türkei wirtschaftlich und politisch überhaupt in der Lage ist,<br />

Mitglied in der EU mit ihren bisher 370 Millionen Menschen zu werden.<br />

143


Das Gesicht Europas – das ist meine erste Aussage – ist im Wesentlichen<br />

durch das Christentum geprägt. Der Kontinent ist von der Atlantikküste<br />

bis Osteuropa überzogen von Marksteinen christlichen Einflusses. Vor<br />

wenigen Tagen habe ich die Freude und Ehre gehabt, einen Tag lang auf<br />

dem Jakobsweg zu wandern, diesen Weg, der sich wie ein Spinnennetz in<br />

Richtung Santiago di Compostela über ganz Europa verbreitet hat. Interessant<br />

ist, dass im Augenblick sowohl im katholischen als auch evangelischen<br />

Lager der Jakobsweg wieder entdeckt wird.<br />

Nun zur Grundrechtecharta: Da ging es zunächst einmal darum, die traditionellen<br />

Menschenrechte in Europa zu verankern. Die Charta fasst bürgerliche,<br />

politische, wirtschaftliche und soziale Grundrechte der EU-<br />

Bürger zusammen. Sie hat die Aufgabe, die Rechte der Bürger gegenüber<br />

der Europäischen Union zu formulieren. In der öffentlichen Diskussion<br />

wurde dieser Aspekt meist vernachlässigt. Oft hieß es, die Charta formuliere<br />

grundsätzliche Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Die Europäische<br />

Union ist aber subsidiär aufgebaut. Abwehrrechte der Bürger gegenüber<br />

den einzelnen Nationalstaaten wie Deutschland oder Frankreich<br />

muss jeder Staat selber regeln, die Grundrechtecharta kann dagegen nur<br />

Abwehrkräfte gegenüber den Institutionen der Europäischen Union formulieren.<br />

Von besonderem Interesse ist hier sicherlich die Frage um die so genannte<br />

„invocatio Dei“, die Anrufung Gottes in der Verfassung. Die Kirchenvertreter<br />

haben während der Arbeiten an der Grundrechtecharta – wenn auch<br />

vielleicht ein wenig spät – darauf hingewiesen, dass die Charta einen ähnlichen<br />

Bezug zu Gott aufweisen müsse wie das deutsche Grundgesetz.<br />

Dort ist die Formulierung „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“<br />

festgeschrieben. Als Stimmführer der Christdemokraten habe ich es übernommen,<br />

um eine solche Einfügung zu kämpfen. Das war ein sprichwörtlicher<br />

„Stich ins Wespennest“. So rief etwa der französische Staatspräsident<br />

Jacques Chirac bei Roman Herzog an und beschwerte sich: „Lieber<br />

Herr Präsident Herzog, wir haben seit der Französischen Revolution von<br />

1789 um den Laizismus gegen eine Staatskirche gerungen und ihn endlich<br />

durchgesetzt. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir uns im 21. Jahrhundert<br />

durch euch zwingen lassen, das wieder zu ändern.“<br />

144


Als ich bei der CSU-Gruppe im Deutschen Bundestag über meine Initiative<br />

sprach, meinte ein Bundestagskollege, der Gottesbezug solle unbedingt<br />

Teil der Charta bilden. Ich sagte, das könne vielleicht über eine entsprechende<br />

Entschließung des Deutschen Bundestages erfolgen. Da waren<br />

sich die Kollegen in Berlin einig: „Das bringen wir doch nie im<br />

Deutschen Bundestag durch.“ Als dann darüber diskutiert wurde, man<br />

müsse auch auf andere Traditionen – etwa das humanistische, griechische,<br />

arabische oder jüdische Erbe Europas – Rücksicht nehmen müsse,<br />

konnte ich weitere Diskussionen abwehren. Danach folgte das statistische<br />

Argument: Welche Länder Europas kennen denn überhaupt die „invocatio<br />

dei“ in der Verfassung? Das ist in Polen der Fall, in Irland, in der<br />

Schweiz, in Deutschland und in Bayern. Von den 15 EU-Staaten haben<br />

gerade einmal Deutschland und Irland die „invocatio dei“ in der Verfassung,<br />

nicht einmal „katholische“ Südländer wie Spanien oder Italien.<br />

Mit der Forderung nach einem Gottesbezug stand ich anfangs ziemlich<br />

allein im Grundrechtekonvent und habe Präsident Herzog angekündigt:<br />

„Wenn der Bezug auf die geistigen und religiösen Wurzeln Europas nicht<br />

Teil der Charta bildet, ziehen die 16 Christdemokraten im Konvent geschlossen<br />

unter Protest aus.“ Herzog hat mehrfach mit dem französischen<br />

Premierminister Jospin und mit Staatspräsident Chirac gestritten, mich<br />

dabei immer wieder angerufen und einbezogen. Die Formulierung war ein<br />

Kompromiss, mit dem alle Seiten zufrieden sein konnten: „Die Völker<br />

Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine<br />

friedliche Zukunft miteinander zu teilen, indem sie sich zu einer immer<br />

engeren Union verbinden. Im Bewusstsein ihres geistig-religiösen und<br />

sittlichen Erbes gründet sich diese Union auf die unteilbaren Werte der<br />

Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“<br />

Diese Formulierung war heiß umkämpft. Französische Kollegen rechneten<br />

sogar nach, dass in der Grundrechtecharta nicht weniger als neunmal<br />

das Wort „religiös“ oder „Religion“ vorkommt. Dies sei also eine völlige<br />

Abkehr von der bisherigen Entwicklung der großen Nation Frankreich.<br />

„Le Monde“ schrieb sogar, im Grundrechtekonvent passiere Unglaubliches,<br />

denn offenbar habe der Papst einen Agenten in der Versammlung in<br />

Gestalt des Ingo Friedrich. Nun ist die Wahrheit ein bisschen komplexer,<br />

denn ich bin zwar mit einer katholischen Frau seit 33 Jahren verheiratet,<br />

145


aber Lutheraner geblieben. Gerade wird im zweiten Konvent, der bis<br />

Sommer den Entwurf für einen Verfassungstext vorlegen soll, darüber<br />

diskutiert, den Wortlaut noch einmal zu ändern. Angeregt durch eine Initiative<br />

von meinem Abgeordnetenkollegen Joachim Wuermeling und mir,<br />

hat der Konvent erneut über den Gottesbezug diskutiert. Der Verlauf der<br />

Debatte stimmt hoffnungsfroh, dass ein Gottes bezug ähnlich der polnischen<br />

Verfassung in der EU-Verfassung Niederschlag finden könnte. Die<br />

Minimalforderung ist natürlich die vollständige Integration der Charta an<br />

prominenter Stelle in die europäische Verfassung.<br />

Oft werde ich gefragt, warum ich dem Gottesbezug eine so große Bedeutung<br />

beimesse. Alle Grundrechte haben, wenn man ihnen auf den Grund<br />

geht, einen christlichen Ursprung. Das gilt für die Gleichberechtigung von<br />

Mann und Frau oder auch für das in der Grundrechtecharta erstmals verankerte<br />

Recht der Kinder und das Recht der älteren Menschen. Die Gleichberechtigung<br />

der Frau, die unantastbare Würde des Menschen, Gleichheit<br />

aller vor Gott – das ist genuin christlich. In diesem Sinne ist auch die<br />

Grund rechtecharta christlich. Sie erwähnt in Art. 10 auch die Gedanken-,<br />

die Gewissens-, die Religionsfreiheit, im Art. 21 findet sich die Nichtdiskriminierung<br />

einer Religion. Aber es wurde darüber schon ganz heiß diskutiert,<br />

weil uns die deutschen Kirchen gebeten haben, ihre kooperative<br />

Identität und Unantastbarkeit zu verankern, d. h. die Stellung der Kirchen<br />

als Anstalt des öffentlichen Rechtes. Das war sehr schwierig, weil Sekten<br />

natürlich auch eine solche Rechtsstellung beanspruchen könnten.<br />

Die erste europäische Grundrechtecharta hat Religion und Religiosität<br />

verankert. Sie basiert auf christlichen Werten, ist aber im Sinne der Kirchen<br />

keine christliche Charta, in der expressis verbis stünde „Europa ist<br />

christlich“. Damit kommt etwas ganz Feingliedriges zum Ausdruck: Europa<br />

hat Wurzeln verschiedenster Art. Eine der zentralen Wurzeln ist die<br />

geistig-religiöse Grundlage des Christentums. An dieser Stelle möchte<br />

ich eine Anekdote aus dem Jahre 1983 einfügen. Ich habe 1981 bereits<br />

eine gemeinsame Flagge für die damalige Europäische Gemeinschaft beantragt.<br />

Damals benutzten die unterschiedlichen europäischen Institutionen<br />

verschiedene Symbole. Es gab die so genannte „Churchill‘sche Unterhose“,<br />

ein grünes E, und die nur gelegentlich verwendete Flagge des<br />

146


Europarats, zwölf Sterne vor blauem Hintergrund. Mein Antrag zielte<br />

darauf ab, dieses Symbol zur offiziellen Europaflagge zu erheben. Dafür<br />

habe ich wirklich – vor allem gegen den erbitterten Widerstand der Niederländer<br />

– kämpfen müssen. Als Europa-Hymne war bereits Beethovens<br />

„Ode an die Freude“ festgelegt. Weil es mir um die Symbolkraft ging,<br />

habe ich weiter an meinem Ziel festgehalten. Otto von Habsburg, im Plenum<br />

zwei Stühle neben mir, hat dieses Tun wohlwollend und lächelnd<br />

begleitet. Als die Sache dann endlich unter Dach und Fach war, fragte ich<br />

ihn: „Herr von Habsburg, warum haben Sie immer so geschmunzelt?“ Da<br />

sagte er mir Folgendes: „Weil Sie armer Lutheraner, ohne es zu wissen,<br />

ein Mariensymbol zur Flagge Europas gemacht haben. Wenn Sie sich die<br />

mittelalterlichen Madonnenfiguren anschauen, dann ist sehr häufig ein<br />

zwölfsterniger goldener Kranz um das Haupt der Maria gelegt. Schaut<br />

man das Haupt dieser Statue von unten an, ist der goldene Sternenkranz<br />

vor dem blauen Himmel die Europaflagge.“ Ich war fast ein bisschen<br />

böse und habe gefragt: „Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?<br />

Nicht dass ich es dann etwas anders gemacht hätte, sondern umgekehrt –<br />

ich hätte es mit größter Freude und bestem Gewissen gemacht, weil ich<br />

finde, dass Europa ein Mariensymbol gut zu Gesicht steht.“<br />

Einheit in Vielfalt<br />

Nun möchte ich zum zweiten Aspekt meines Vortrags kommen. Bei einer<br />

Befragung an 1.000 Gymnasien in Europa, mit welchem Motto man Europa<br />

am besten beschreiben könnte, entschieden sich die meisten Schülerinnen<br />

und Schüler für „Einheit in Vielfalt“. Das passt hervorragend. Politische<br />

Entscheidungen haben offenbar nur dann eine Chance, sich langfristig<br />

zu bewähren, wenn sie es schaffen, zwei Prinzipien, die auf den<br />

ers ten Blick nicht zusammen passen, intelligent zusammen zu fügen. Unser<br />

ganzes Leben ist geprägt von einer Dichotomie: hell und dunkel,<br />

rechts und links, oben und unten, Mann und Frau. Zu viel Einheit führt zu<br />

Engstirnigkeit, zu viel Vielfalt zum Chaos.<br />

Gerade das ist auch ein ganzes wichtiges positives Signal: In der europäischen<br />

Einheit ist es nicht dazu gekommen, dass Regionen gleich ge-<br />

147


schliffen worden sind. Vielmehr haben die Regionen in diesem neuen<br />

Europa mehr Bedeutung als je zuvor in der Geschichte. Schottland hat<br />

nach 343 Jahren wieder ein eigenes Parlament. Südtirol lebt in einer Autonomieform<br />

mit Rechten, die es seit der Trennung von Süd- und Nordtirol<br />

nach dem Ersten Weltkrieg noch nie gab. In Belgien besteht sogar<br />

Anlass zur Sorge, dass das Land auseinander fällt, weil Wallonien und<br />

Flandern verhältnismäßig eigenständig geworden sind. Weitere Beispiele,<br />

die ich nicht erläutern muss, sind Bayern und das Elsass. Unter der<br />

Überschrift „Einheit in der Vielfalt“ haben die Regionen ihre Chance im<br />

21. Jahrhundert, und dies ist sicher auch ein Wert, der zutiefst mit Heimat,<br />

mit Verwurzelung des Menschen, mit Chance zur Stabilität in einer instabil<br />

erscheinenden Welt zu tun hat.<br />

Europa steht an der historischen Schwelle zur EU-Osterweiterung. Die<br />

Kriterien für den Beitritt osteuropäischer Länder haben auch – Gott sei<br />

Dank – einen Wertebezug. Dort lautet die oberste Bedingung nicht, dass<br />

die Länder gleich wohlhabend sein müssen wie die anderen. Vielmehr<br />

muss der Schutz der Menschenrechte, die Achtung der Minderheiten<br />

und eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung mit funktionsfähiger<br />

Marktwirtschaft gewährleistet sein. Nur so können diese Staaten<br />

dem Wettbewerbsdruck der Marktkräfte innerhalb der Europäischen<br />

Union standhalten. Dazu möchte ich noch etwas zur sozialen Marktwirtschaft<br />

ergänzen: Wenn man eine Gesellschaft nur auf dem sozialen<br />

Aspekt gründen würde, was moralisch und wertemäßig auf den ersten<br />

Blick vielleicht sympathisch erscheint, hätte diese Gesellschaft in der<br />

heutigen Welt keinerlei Chancen. Eine Gesellschaft, die aber nur auf<br />

Marktkräften gegründet ist, wäre unmenschlich, denn der Markt berücksichtigt<br />

in keiner Weise menschliche Gerechtigkeitsaspekte, sondern<br />

entscheidet allein nach Angebot und Nachfrage. Wenn die drei Tenöre,<br />

so schön wie sie singen, eine Million Dollar oder Euro pro Tag<br />

bekommen, hat das mit Gerechtigkeit nichts zu tun, stattdessen mit<br />

Nachfrage und Angebot. Gerade deshalb ist Ludwig Erhards Gedanke<br />

so genial, mit einer sozialen Marktwirtschaft zwei auf den ersten Blick<br />

sich ausschließende Prinzipien intelligent miteinander zu vernetzen.<br />

Nur so besteht die Chance auf eine langfristige Stabilisierung einer großen<br />

europäischen Gemeinschaft.<br />

148


Osterweiterung<br />

Die Osterweiterung bildet den dritten Teil meines Vortrags. Im Mai 2004<br />

werden zehn Staaten Mittel- und Osteuropas der EU beitreten: Polen,<br />

Ungarn, Slowenien, die Tschechische Republik, die Slowakei, Lettland,<br />

Litauen, Estland, Zypern und Malta. Die Mittelmeerinsel hat ein positives<br />

Zeichen gesetzt und die Serie der Referenden in den Kandidatenländern<br />

über den EU-Beitritt eröffnet. Die Mehrheit der Malteser sprach sich<br />

dabei für eine Vollmitgliedschaft in der EU aus. Die Gemeinschaft muss<br />

mit der Osterweiterung die größte Herausforderung in ihrer Geschichte<br />

stemmen. Bisher leben in der EU rund 370 Millionen Menschen, mit der<br />

Erweiterung kommen knapp 100 Millionen dazu.<br />

Der Ruf nach einer Verschiebung der Osterweiterung wurde häufig laut.<br />

Können wir aber wirklich in einer überdurchschnittlich stabilen Region<br />

mit kalkulierbaren Verhältnissen, in einer der global gesehen attraktivsten<br />

Regionen der Welt – vergleichbar allenfalls mit Nordamerika – als überzeugte<br />

Christen ernsthaft sagen „Wartet noch ein bisschen“? Die Staatschefs<br />

haben schließlich den Polen bereits 1998 die Mitgliedschaft binnen<br />

zwei Jahren versprochen, ganz ähnlich den Ungarn. Ich war dabei, als am<br />

20. August 1996 in Budapest der damals 38-jährige Ministerpräsident<br />

Viktor Orban mit 200.000 Menschen die 1000-Jahrfeier der Christianisierung<br />

Ungarns gefeiert hat. Er zog mit Kardinal Paskai und Otto von Habsburg<br />

durch die Straßen der Hauptstadt. Den meisten Beifall haben der<br />

Kardinal und Otto von Habsburg bekommen, nicht die Mitglieder der<br />

Regierung. Der Ministerpräsident erinnerte an die Krönung Stefans I. als<br />

erster christlicher König Ungarns. Tausend Jahre später, sagte er, habe er<br />

die Freude, zu verkünden, dass das ungarische Volk nach Unterdrückung,<br />

Krieg und Armut in der Familie der Völker Europas aufgenommen wird.<br />

Kann man dann wirklich noch diese Länder vertrösten, auch wenn sie wie<br />

z.B. Estland und Litauen riesige finanzielle Probleme haben? Hier stoßen<br />

das nüchtern-pragmatische Prinzip mit den vehementen Wünschen der<br />

Völker zusammen, die nicht zurück gestoßen werden dürfen.<br />

Persönlich sehe ich durchaus eine Grenze für das erweiterte Europa, und<br />

zwar östlich von Polen oder östlich von Griechenland, auch wenn diese<br />

149


Grenzziehung vielleicht ungerecht erscheinen mag. In der Ukraine gibt es<br />

mit Lemberg eine nahezu „europäische“ Stadt. Und natürlich bemühen<br />

sich in der Türkei viele Eliten, den Staat zu europäisieren. Aus Sicht der<br />

Türkei wurden bereits riesige Fortschritte auf dem Weg zum Westen gemacht,<br />

etwa die Abschaffung der Todesstrafe, für die Türkei ein Quantensprung!<br />

Überhaupt haben sich die Verhältnisse in den türkischen Gefängnissen<br />

entschieden zum Besseren gewandelt. Die Gefängnisaufseher<br />

müssen die Häftlinge als Menschen behandeln. Ich kann das aus eigener<br />

Anschauung bestätigen, denn als ich das erste türkische Gefängnis vor<br />

neun Jahren gesehen habe, ist mir klar geworden, was der Satz „Die<br />

Würde des Menschen ist unantastbar“ bedeutet. Da hat sich seither doch<br />

sehr viel verändert.<br />

Die Osterweiterung „in den Köpfen“ braucht natürlich auch Zeit, sie wird<br />

sicher sehr viel länger dauern als der faktische Beitritt 2004 oder 2005. Es<br />

ist schwierig, auf die Souveränität zugunsten einer größeren Einheit ganz<br />

oder teilweise zu verzichten. Um das zu illustrieren, genügt schon ein<br />

Rückblick ins Mittelalter. Eine Stadt wie Nürnberg mit etwa 40.000 Einwohnern<br />

verfügte über die volle Souveränität. Dazu gehörten das Recht<br />

zur Verhängung der Todesstrafe ebenso wie rigorose Wirtschaftsgesetze,<br />

wonach z. B. Handwerker aus Fürth nichts in Nürnberg verkaufen durften.<br />

Die Außenpolitik lag beim Kaiser, die Souveränität war bei der Stadt<br />

Nürnberg. Dann veränderte sich im 19. Jahrhundert die Landkarte, Bayern<br />

wurde souveränes Königreich und hat Nürnberg annektiert, dessen<br />

Souveränität dahin war. 1835 hatte der Volkswirt Friedrich List dann die<br />

unglaubliche Idee, einen Zollverein zu gründen, der natürlich die Souveränität<br />

in Wirtschaftsfragen beseitigte. Zwischen Bayern und Württemberg<br />

gab es plötzlich keine Grenzen mehr – und ebenso gibt es heute<br />

keine Grenzen mehr zwischen Frankreich und Deutschland.<br />

Die Souveränität in Wirtschaftsfragen ist in der Europäischen Union von<br />

den Nationalstaaten auf die europäische Ebene gewandert. Sie wird dort<br />

allerdings nicht stehen bleiben. Denken Sie etwa an den Patentschutz, der<br />

nicht nur europäisch, sondern global wirksam sein muss. Fairer Handel in<br />

Europa nutzt wenig, wenn China die Welt mit Billigprodukten überflutet.<br />

Das Internet und seine ungeheueren Möglichkeiten, die globale Vernet-<br />

150


zung ganzer Wirtschaftszweige und der Finanzwelt – all das sind Herausforderungen,<br />

denen sich die Europäische Union in den nächsten Jahrzehnten<br />

stellen muss. Damit stellt sich die Frage nach der Souveränität in<br />

völlig neuer und veränderter Form. Durch die globale Vernetzung müssen<br />

wir mit einem neuen Druck leben. Das Tempo der Veränderung wird sich<br />

noch einmal erhöhen, der Druck auf die weniger Starken wird noch größer<br />

werden. Es bedarf auch immer mehr Spielregeln, um der sozialen<br />

Komponenten dieser Entwicklung gerecht zu werden.<br />

Lassen Sie mich mit folgendem Hinweis schließen: Was wir unter dem<br />

Aspekt der Werte und der Berücksichtigung des Menschen langfristig<br />

brauchen, ist eine soziale Marktwirtschaft auf der gesamten Welt. Erste<br />

bereits vorliegende Analysen besagen, dass dieses komplexe Vertragssystem<br />

Europas ein Vorbild für eine global vernetzte Welt sein kann,<br />

wenn z.B. innerhalb Europas Verantwortung für arme Regionen wie Portugal<br />

und die neuen Bundesländer übernommen wird. Dies wird dann<br />

ebenso geschehen, wenn die Europäische Union für Staaten Afrikas oder<br />

Südamerikas entsprechend handelt, egal ob aus christlichen oder rein<br />

pragmatischen Motiven. Die Welt ändert sich mit einer unglaublichen<br />

Geschwindigkeit, das Christentum wird aber meines Erachtens immer<br />

eine zentrale Voraussetzung für menschenwürdiges Leben bleiben.<br />

Diskussion zum Vortrag von Vizepräsident Friedrich<br />

(Auszüge):<br />

Burkhard Haneke, Freising:<br />

Sie haben ausgeführt, dass im Zuge der weiteren Integration Europas „die<br />

Souveränität wandert“. Das gilt natürlich für viele Bereiche der Gesetzgebung<br />

auf europäischer Ebene, und ich möchte zu einem ganz bestimmten<br />

Bereich der Gesetzgebung eine Frage stellen. Unser <strong>Kongress</strong> steht<br />

unter dem Motto „Europa – eine Wertegemeinschaft“, und ich glaube,<br />

was uns Christen doch sehr am Herzen liegt, das sind die Grundfragen der<br />

151


Menschenwürde, die sich gerade im Bereich der neuen biomedizinischen<br />

Forschung stellen. Ich meine besonders die Grenzfragen am Anfang und<br />

am Ende des menschlichen Lebens. Wir hatten erst kürzlich in Deutschland<br />

die heftige Diskussion um die Frage des Imports embryonaler<br />

Stammzellen; eine andere ähnlich brisante Frage wäre die nach der<br />

Euthanasie. All dies sind aber Dinge, die in Europa unterschiedlich gehandhabt<br />

werden. Wir sind alle in einer gewissen Sorge, dass in diesen<br />

sensiblen Bereichen in anderen Ländern eine größere Liberalität gegeben<br />

ist als bei uns in Deutschland. Was haben wir aber dann von Europa unter<br />

dem Gesichtspunkt einer „Wertegemeinschaft“ bezüglich der Gesetzgebung<br />

noch zu erwarten?<br />

Pater Dietger Demuth CSsR, Freising:<br />

Als Vizepräsident des Europäischen Parlaments sprechen Sie ganz selbstverständlich<br />

für den Bereich der Europäischen Union. <strong>Renovabis</strong> hat jedoch<br />

einen weiteren Europa-Begriff, denn wir möchten gerade auch für<br />

die europäischen Länder da sein, die aus dem Prozess der Erweiterung<br />

herausfallen. Meinen Sie nicht, dass man in der Europäischen Union auch<br />

ein bisschen stärker an diese Länder denken müsste?<br />

Dr. Johannes Oeldemann, Paderborn:<br />

Zwei kurze Fragen möchte ich stellen. Wenn die Grenzen Europas östlich<br />

von Polen und östlich von Griechenland gezogen werden, möchte ich um<br />

eine Begründung dafür bitten. Sind es pragmatische Gründe, weil die<br />

Europäische Union das nicht mehr verkraftet, oder gibt es andere Gründe<br />

dafür? Meine zweite Frage: Wenn Europa jetzt weiter wächst, dann wird<br />

die Zahl der Staaten, die zur Europäischen Union gehören und gleichzeitig<br />

Mitglied im Europarat sind, immer größer. Wie sehen Sie das Verhältnis<br />

dieser Institutionen zueinander? Könnte man den Europarat – vereinfacht<br />

gesagt – als eine „Wertegemeinschaft“ bezeichnen, während die<br />

Europäische Union eher eine „Wirtschaftsgemeinschaft“ bildet?<br />

Prof. Dr. Manfred Spieker, Osnabrück:<br />

Ich knüpfe an Ihrem letzten Punkt zur Globalisierung an und sehe einen<br />

gewissen Widerspruch zwischen dem, was Sie zum Deutschen Zollverein<br />

152


sagten, dessen Früchte Sie in höchsten Tönen priesen, und Ihren Bemerkungen<br />

zur Globalisierung, bei der Sie nur den Druck betonen, der aus ihr<br />

erwächst. Vielleicht können Sie doch noch etwas zu den positiven Früchten<br />

der Globalisierung sagen. Globalisierung ist ein Instrument, und es<br />

hängt davon ab, was die Menschen aus ihr machen. Können Sie außerdem<br />

noch etwas zu dem skandalösesten Beschluss des Europäischen<br />

Parlaments in den letzten zwanzig Jahren sagen, der auf Initiative einer<br />

spanischen Sozialistin hin gefasst worden ist? Er wirft der katholischen<br />

Kirche vor, undemokratisch und fundamentalistisch zu sein, und fordert<br />

von ihr, ihre innere Ordnung zu ändern, z.B. das Priesteramt für Frauen<br />

einzuführen. Dabei handelt es sich um einen massiven Eingriff in die<br />

Religionsfreiheit. Sie wissen sicher, welchen Beschluss ich meine.<br />

Josef Rottenaicher, Halsbach:<br />

Ich kann zwar alles unterstreichen, was Sie gesagt haben, aber eines ist<br />

mir aufgestoßen. Sie haben die soziale Marktwirtschaft als ökonomische<br />

Leitidee für ganz Europa vorgestellt. Ich meine, dass es an der Zeit ist,<br />

nach den Konferenzen von Rio de Janeiro und von Johannesburg und angesichts<br />

zunehmender Naturkatastrophen die ökologische Komponente<br />

mit aufzunehmen. Ziel muss es sein, die soziale Marktwirtschaft zu einer<br />

ökologisch-sozialen Marktwirtschaft weiter zu entwickeln, zu einem<br />

neuen Leitbild auch im Sinne der Schöpfungsverantwortung.<br />

Vizepräsident Dr. Ingo Friedrich, Straßburg/Brüssel:<br />

Ich möchte versuchen, in aller Kürze zu diesen wichtigen Fragen Stellung<br />

zu nehmen. Zunächst zur Gentechnologie: Die Grundrechtecharta enthält<br />

leider nur das Verbot des reproduktiven Klonens, das heißt also der<br />

Schaffung eines Zwillings von einer bestimmten Person. Über alle Parteien<br />

hinweg ist man sich einig, dass das verboten ist. Das lässt sich auch<br />

ziemlich schnell begründen. Nicht verankert hingegen ist das so genannte<br />

medizinische Klonen. Die Diskussion muss an dieser Stelle weitergehen.<br />

Stammzellenimport- und Stammzellenexportverbote gibt es in den meisten<br />

Ländern. England schert leider ein bisschen aus. Solchen „Tourismus“,<br />

etwa den Abtreibungstourismus, gibt es in vielfältiger Form, und<br />

das wird es natürlich auch in Zukunft geben, solange nicht in ganz Eur-<br />

153


opa in diesen Fragen ein einheitliches Recht existiert. Warum sollte man<br />

aber eigentlich nicht ein Herz klonen können? Man braucht dazu allerdings<br />

eine omnipotente Stammzelle, also eine solche, aus der sich ein<br />

Mensch entwickelt – und da sage ich nein. Anders wäre es, wenn es sich<br />

um eine begrenzt potente Stammzelle handelt, sozusagen eine pluripotente<br />

Zelle, aus der man ein Herz nachklonen könnte. Es wird aber noch<br />

Jahre dauern, bis das möglich ist. Die Diskussion wird uns noch lange<br />

begleiten.<br />

Die Europäische Union und ihre künftigen Grenzen: Dieses Thema bewegt<br />

uns natürlich auch im Europäischen Parlament. Zahlreiche Firmen<br />

investieren jetzt schon in Polen, in Ungarn, in der Tschechischen Republik,<br />

in Slowenien, weil sie wissen, dass diese Staaten 2004 beitreten.<br />

Unsere Sorgenkinder sind Rumänien, Bulgarien und die Ukraine.<br />

Damit möchte ich gleich die Frage nach dem „Warum“ dieser Grenze beantworten.<br />

Es gibt verschiedene Gründe. Europa würde implodieren,<br />

wenn es statt um 100 Millionen um zwischen 150 Millionen und 200 Millionen<br />

Menschen erweitert würde; allein die Türkei hat 80 Millionen<br />

Menschen. Ich habe das bewusst vorsichtig formuliert und bitte, dies für<br />

absehbare und lange Zeit mitzunehmen. In 80 oder 100 Jahren kann das<br />

natürlich alles anders aussehen. Aber wenn man jetzt gleich alle Länder,<br />

die in Frage kommen, also die Ukraine, Weißrussland und die Türkei,<br />

dazunehmen würde, dann können wir die Europäische Union vergessen,<br />

weil sie dann unregierbar und unverwaltbar wäre. Europa wäre selber<br />

gefährdet. Daher muss man schrittweise vorgehen. So wie zunächst der<br />

Zollverein Deutschland geeint hat, dann kam die deutsch-französische<br />

Freundschaft, danach die Sechsergemeinschaft, schließlich die Zehnergemeinschaft,<br />

heute die Fünfzehnergemeinschaft; in fünf Jahren wird es<br />

die 27er-Gemeinschaft sein – und dann sehen wir weiter. Nur dieses<br />

schrittweise Vorgehen birgt in sich die Chance, dass man auch die Aufgaben<br />

bewältigt. Was nicht heißt, dass mit anderen Ländern eine enge Form<br />

der Partnerschaft statt einer Vollmitgliedschaft ausgeschlossen ist. Gott<br />

sei Dank gibt es eine Vielzahl von Programmen, die heute Ländern helfen,<br />

die nicht zur EU gehören können. Ich denke etwa an den Barcelona-<br />

Dialog, zu dem alle Länder ums Mittelmeer eingeladen sind. Sogar<br />

Ägypten gehört dazu. Israel ist mit der Europäischen Union assoziiert.<br />

154


Das globale Ziel lautet, Europa als Insel der Stabilität zu vergrößern, soweit<br />

die Bürger dies wünschen. Aber das geht eben nur schrittweise und<br />

nicht auf einmal.<br />

Die Zeit ist immer ein wichtiger Faktor, und das spielt gerade auch bei<br />

einem Land wie der Türkei eine wesentliche Rolle. Die Türkei braucht<br />

vielleicht noch 100 Jahre, um in etwa den europäischen Standard zu erreichen<br />

im Hinblick auf Menschenrechte oder Rechte der christlichen<br />

Kirchen. Vor diesem Hintergrund halte ich die genannten Grenzen für<br />

berechtigt.<br />

Auch der deutsche Zollverein war der Ausgangspunkt des wirtschaftlichen<br />

Aufblühens der deutschen Bundesstaaten. Eine Grenzöffnung bringt<br />

langfristig immer Vorteile. Das Problem ist die Kurzfristigkeit. Wenn<br />

heute jemand die Grenze zur Tschechischen Republik aufmacht und man<br />

privat problemlos den Wohnort zwischen Cham und Marienbad hin- und<br />

herwechseln kann, so ist das sehr positiv. Wenn aber plötzlich das Zementwerk<br />

oder die Porzellanindustrie verlagert wird, wenn viele zum Essen auf<br />

die andere Seite gehen, wenn der Zahnarzt auf der anderen Seite besucht<br />

wird, weil er billiger ist, dann sind das schmerzhafte Folgen der Anpassung,<br />

die es zu überwinden gilt. Dazu braucht man einen langen Atem.<br />

Das galt für Nürnberg und für die deutschen Bundesstaaten im 19. Jahrhundert,<br />

das gilt für den europäischen Binnenmarkt und es gilt global.<br />

Langfristig ist das in Ordnung – die Probleme liegen in der kurzfristigen<br />

Anpassung der Struktur an eine derart gigantische Veränderung durch<br />

Öffnung der Grenzen zwischen zwei sehr unterschiedlichen Niveaus.<br />

Als 1992 die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich geöffnet<br />

wurde, da habe ich selbst Folgendes erlebt. Ich lebte im Hotel in Kehl, da<br />

sagte mein Bäcker: „Lieber Herr Abgeordneter, ich mag Sie eigentlich,<br />

aber jetzt machen Sie einen totalen Blödsinn, Sie öffnen die Grenze nach<br />

Frankreich. Überlegen Sie doch einmal, jetzt können die Leute hinüber<br />

fahren und drüben ihre Baguette kaufen, und wir gehen pleite!“ Umgekehrt<br />

sagte mein französischer Friseur: „Sie sind Stammkunde bei mir,<br />

aber was machen Sie jetzt für einen Blödsinn, schauen Sie, das Benzin in<br />

Deutschland ist um 20 Pfennig billiger, jetzt werden alle mittelständischen<br />

Tankstellen auf der Grenze bis Kehl auf der französischen Seite<br />

zumachen, weil die Leute zum Tanken hinüberfahren.“<br />

155


All das hat zum Teil gestimmt. Nur blühen heute beide Regionen auf,<br />

übrigens ist das Benzin heute auf der deutschen Seite teurer als auf der<br />

französischen Seite. Das Problem liegt in der Kurz- und Mittelfristigkeit<br />

und außerdem in dem Erfordernis von globalen Spielregeln. Was uns<br />

fehlt, ist eine globale Kartellbehörte, die die globale Marktwirtschaft<br />

durchsetzen würde.<br />

Zu dem Beschluss im Europäischen Parlament möchte ich Folgendes bemerken:<br />

Wir Christdemokraten bilden ein Drittel der Abgeordneten im<br />

Europäischen Parlament; von daher ist es manchmal erstaunlich, was alles<br />

möglich ist. Ab und zu setzen sich besonders extreme Meinungen durch,<br />

aber der Beschluss, den Sie, Herr Professor Spieker, meinten, ist nur mit<br />

drei Stimmen Mehrheit gefasst worden. Das Ganze beeinflusst die Atmosphäre,<br />

bleibt aber Gott sei Dank ohne formaljuristische Folgen.<br />

Bei der ökologischen Komponente stimme ich Ihnen völlig zu. Die Nachhaltigkeit<br />

ist ein ganz zentrales Prinzip, das wir in unser gesamtes Handeln<br />

einbauen müssen, nicht nur wegen der Bewahrung der Schöpfung.<br />

Die Ökologie bildet ein zentrales Lebenselement unserer Zukunft und<br />

bietet auch wieder ein schönes Beispiel dafür, dass die Souveränität wandert.<br />

Was nützt heute ein bayerischer oder deutscher Umweltbeschluss,<br />

selbst ein europäischer Umweltbeschluss wirklich, wenn Treibhausgase<br />

und andere Klimaveränderungen global bekämpft werden müssen? China<br />

plant 43 Kernkraftwerke – also hat ein Beschluss, bei uns in ganz Europa<br />

die Nutzung der Kernkraft zu verbieten, keinen Sinn, wenn wir nicht<br />

auch dafür globale Spielregeln einführen.<br />

Mit dem Wandern der Souveränität wandelt sich auch die Identität der<br />

Menschen, und das ist ein sehr komplexer Prozess. Mein Vater konnte<br />

mir noch genau erklären, worin der Unterschied zwischen Franzosen,<br />

Deutschen und Engländern besteht. Heute sind wir Bayern, wir sind<br />

Deutsche, wir sind Europäer von unserer Identität her, und ich nehme an,<br />

dass wir auch irgendwann weltbürgerliche Identität entwickeln werden.<br />

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die Kirche von Rom<br />

einer der ersten globalen Faktoren der Welt war und ist. In ihrer grandiosen<br />

Entwicklung mit allen Höhen und Tiefen ist sie ein gutes Beispiel<br />

für eine Einheit in Vielfalt.<br />

156


Podiumsgespräch<br />

Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung<br />

Teilnehmer: Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb<br />

Beata Broczky, Budapest<br />

Pavol Kossey, Bratislava<br />

Rita Waschbüsch, Lebach<br />

Moderator: Dr. Gerhard Albert, Freising<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Ich möchte noch einmal auf das Podium des ersten Abends zurückkommen.<br />

Da gab es manche Feststellungen, die nicht unwidersprochen blieben,<br />

wonach die Werte in bestimmten Regionen Mittel- und Osteuropas<br />

noch leere Begriff seien. Dort zeige sich eine starke Bewegung hin zum<br />

Individualismus, der nach dem verordneten Kollektivismus nun einfach<br />

die herrschende Lebensform sei. Auch Professor Meyer hat gestern in<br />

seinem umfassenden Vortrag hervorgehoben, dass zur Zeit in ganz Europa<br />

die Offensive eines schrankenlosen Individualismus festzustellen ist.<br />

Kämpfen wir also auf verlorenem Posten, können wir bestenfalls im abgeschlossenen<br />

Kirchenraum Werte leben?<br />

Meiner Einschätzung nach gibt es in Ost- und Westeuropa viele Beispiele,<br />

die dem widersprechen. Unser Podium umfasst Personen aus ganz unterschiedlichen<br />

Bereichen, Initiativen und Aktivitäten, die sich dafür einsetzen,<br />

dass Werte gelebt, weitergegeben und sogar immer mehr zum Leitbild<br />

werden können. Eröffnen möchte ich unser Gespräch mit Professor<br />

Stjepan Baloban. Er hat im Auftrag der kroatischen Bischöfe das Zentrum<br />

zur Förderung der Soziallehre in Kroatien aufgebaut, eine Einrichtung,<br />

die eine der Prioritäten im Verkündigungsauftrag und in der pastoralen<br />

Strategie der Bischofskonferenz bildet. Wie dieses Zentrum in die Gesellschaft<br />

wirkt, wie es in dieser schwierigen Neuorientierungsphase Akzente<br />

setzen kann, wird er uns am besten selbst sagen.<br />

157


Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb:<br />

Schon gestern hat Erzbischof Josip Bozanić von Zagreb dargelegt, dass<br />

sich die kroatische Gesellschaft im Umbruch befindet. Kroatien hat zwar<br />

viele Probleme, aber auch gute Perspektiven auf dem Weg in die Europäische<br />

Union. Was tun nun die Christen, wenn die Frage nach ihrem gesellschaftlichem<br />

Handeln gestellt wird? 87,8 % der Bevölkerung rechnen<br />

sich nach der Volkszählung von 2001 zur katholischen Kirche. Ich<br />

möchte besonders auf zwei Dinge hinweisen, unsere Laientreffen und das<br />

Zentrum zur Förderung der Soziallehre.<br />

Nach der Wende haben wir seit 1990 bis heute in Kroatien drei große<br />

Treffen von Laien organisiert. Mehr als 600 Laien aus verschiedenen Teilen<br />

Kroatiens haben 1992 über das Thema „Der Christ in der Kirche und<br />

in der Gesellschaft“ diskutiert. Im Mittelpunkt stand das Apostolische<br />

Schreiben „Christifideles laici“ von Papst Johannes Paul II. 1995 fand in<br />

Zagreb ein großes Treffen von ungefähr 1.000 Christen unter dem Thema<br />

„Kirche, Demokratie und Gemeinwohl in Kroatien“ statt. Dort haben wir<br />

über die Rolle der Laien in der Demokratie, in der Politik, in der Schule<br />

und in der Wirtschaft diskutiert. Im Oktober 2001 fand noch ein Treffen,<br />

diesmal in Osijek, über verschiedene aktuelle Fragen statt, und zwar unter<br />

dem Titel „Möglichkeiten der organisierten Tätigkeit von Laien in<br />

Kroatien“.<br />

Im November 1997 hat mit finanzieller Unterstützung von <strong>Renovabis</strong> das<br />

Zentrum zur Förderung der Soziallehre der Kirche seine Arbeit aufgenommen.<br />

Ich möchte mich als Leiter des Zentrums dafür bei <strong>Renovabis</strong><br />

ganz herzlich bedanken. Das Zentrum ist bis heute die einzige Institution<br />

dieser Art in Kroatien und spielt seit einigen Jahren in der kroatischen<br />

Gesellschaft mit seinen Veranstaltungen, Büchern, Rundfunksendungen<br />

und Seminaren eine wichtige Rolle. Grundsätzlich arbeiten wir in zwei<br />

Richtungen: a) Verbreitung der Soziallehre der Kirche; b) sozioreligiöse<br />

Untersuchungen zusammen mit der Theologischen Fakultät der Universität<br />

Zagreb. Einige Themen, die bisher bearbeitet wurden, möchte ich<br />

kurz nennen: der Christ im öffentlichen Leben; Herausforderungen der<br />

Zivilgesellschaft in Kroatien; die kroatische Familie im Umbruch; die<br />

soziale Zukunft der Kroaten; Christen, Nation, Politik und Europa. Bis<br />

158


jetzt haben wir neun Bücher herausgegeben, eins davon zweisprachig in<br />

deutsch und kroatisch. 1999 haben wir ein Treffen für Politiker unter dem<br />

Titel „Christentum, Kirche und Politik“ organisiert.<br />

Kroatien ist ein Reformland, in dem der Kommunismus im Leben und<br />

der Mentalität der Menschen tiefe Spuren hinterlassen hat. Die vergangenen<br />

zwölf Jahre haben gezeigt, dass die kroatische Gesellschaft nur<br />

schwer mit sozialen Problemen umgehen kann. Was dieser Gesellschaft<br />

fehlt, ist Wissen, Bildung und auch Tradition. In den postkommunistischen<br />

Gesellschaften muss es unbedingt zu einem Strukturwandel und<br />

auch zu einem Bewusstseinswandel kommen. In Kroatien gibt es kein<br />

adäquates Netz von Institutionen und Mechanismen, das den Menschen<br />

die Möglichkeit böte, den zweifellos vorhandenen guten Willen in gute<br />

Taten einmünden zu lassen. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem<br />

Zusammenhang die Frage der Entstehung und Entfaltung der Zivilgesellschaft.<br />

Die Gefahr besteht, dass die Zivilgesellschaft in den Reformländern<br />

ohne Engagement und Einflussnahme der christlichen Laien geschaffen<br />

wird. Die Christen können und müssen aber beim Aufbau der<br />

Demokratie eine bedeutende Rolle spielen.<br />

Unser Zentrum bemüht sich gerade deshalb auch darum, das Interesse für<br />

soziale Fragen bei den Laien, in den Pfarreien, in Laienorganisationen<br />

und nicht zuletzt bei den Medien weiter zu entwickeln. Wichtig ist die<br />

Heranbildung von Multiplikatoren unter den jungen Leuten in den einzelnen<br />

Diözesen, die dann planmäßig die Soziallehre der Kirche in das<br />

ganze Land tragen sollen. Außerdem werden Seminare für Personen veranstaltet<br />

werden, die in den Diözesen Sozialbüros leiten sollen. Schließlich<br />

führt das Zentrum zusammen mit der kroatischen Caritas ein Projekt<br />

über die Erforschung der Armut in Kroatien durch. In den nächsten drei<br />

Jahren ist in einigen kroatischen Diözesen die Eröffnung von Zweigstellen<br />

des Zentrums geplant.<br />

Der 6. Internationale <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> neigt sich dem Ende zu. Haben<br />

wir Antworten auf die verschiedenen Fragen erhalten? Ich halte es für<br />

wichtig, dass wir am Schluss noch einmal den Untertitel „Gesellschaftliches<br />

Handeln in christlicher Verantwortung“ aufgreifen. Bernhard Häring,<br />

einer meiner Lehrer in Rom, ein bekannter Moraltheologe, hat für<br />

159


das christliche Leben folgendes Motto vorgeschlagen „Die Verantwortung<br />

kommt aus der kreativen Freiheit und der kreativen Treue“. Die Referate<br />

und Diskussionen auf dem <strong>Kongress</strong> haben gezeigt, dass das größte<br />

Problem für die Christen in Deutschland, in Westeuropa ebenso wie für<br />

die Christen in den Reformländern folgendes ist und bleibt: Wie kann<br />

man als Christ im öffentlichen Leben, in den Medien, in der Politik, in der<br />

Wirtschaft mit Erfolg wirken? Ich habe bisher keine überzeugenden Rezepte<br />

gehört – und das ist auch gut so. Wir alle, die Christen in den ehemals<br />

kommunistischen Ländern und die Christen in den westeuropäischen<br />

Demokratien sind aufgerufen, für die neue Situation neue Wege zu<br />

suchen. In diesem gemeinsamen Suchen können wir uns gegenseitig bereichern.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Rechts neben mir sitzt Frau Rita Waschbüsch, die auf ein vielfältiges Engagement<br />

in Politik und gesellschaftlichem Handeln über viele Jahre<br />

hinweg im katholischen Raum in Deutschland zurückblicken kann, das<br />

sie weiterhin noch tatkräftig mitgestaltet. Frau Waschbüsch ist maßgeblich<br />

mit der Gründung der Aktion <strong>Renovabis</strong> verbunden als damalige<br />

Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Auch jetzt ist<br />

sie noch in unseren Gremien an verantwortlicher Stelle im Aktionsausschuss<br />

und im Vorstand tätig.<br />

Frau Waschbüsch, vorgestern Abend fiel im Hinblick auf die Gesellschaften<br />

in Mittel- und Osteuropa der Begriff „Entsolidarisierung“. Auch bei<br />

uns im Westen konnte man in den letzten Jahren immer wieder vergleichbare<br />

Warnungen hören, wonach Solidarität ein verblassender Wert sei. Ist<br />

er inzwischen noch weiter verblasst? Teilen Sie diese Skepsis, wenn Sie<br />

auf Ihr Engagement und auf Ihre Erfahrung zurückblicken?<br />

Rita Waschbüsch, Lebach:<br />

Keineswegs teile ich diese Skepsis. Die Skepsis in Osteuropa ist entstanden,<br />

weil Solidarität und Wille zur Solidarität missbraucht worden sind.<br />

Diktaturen missbrauchen die guten Absichten der Menschen, leiten sie<br />

oft in falsche Bahnen – und das weckt Enttäuschung. Die guten Erfahrun-<br />

160


gen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland mit der Solidarität gemacht<br />

haben, sind ein Ansporn für uns. Unabhängig davon bleibt der<br />

Auftrag an die Christen, aus dem Evangelium heraus solidarisch zu sein<br />

und das Gebot „Liebe deinen Nächsten!“ ernst zu nehmen.<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich an die jüngere Geschichte erinnern,<br />

an die Gründer Europas, so wie wir es anstreben, an Robert Schuman,<br />

Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer. Natürlich ist Gott der<br />

Herr der Geschichte, aber Menschen handeln in der Geschichte, und gerade<br />

diese drei Personen, die am Anfang der europäischen Idee stehen,<br />

haben sich Gott verpflichtet gefühlt. Ihr Wirken war auch Diakonia,<br />

Weltdienst von Christen. Auch die Geschichte der Deutschen in der Bundesrepublik<br />

Deutschland sollte man erwähnen, in der versucht worden<br />

ist, etwa in unserem Grundgesetz, aus den schlimmen und bitteren Erfahrungen<br />

der Nazizeit Konsequenzen zu ziehen. Vieles davon dürfte<br />

unseren ausländischen Gästen nicht so sehr präsent sein, darum möchte<br />

ich doch betonen, dass es vor allem Christen waren, die zusammen mit<br />

anderen Gutwilligen das geschaffen haben, worauf wir eine Gesellschaft<br />

aufbauen konnten, die die freieste ist, die es bisher auf deutschem Boden<br />

gegeben hat. Das von den Christen geforderte Prinzip der Solidarität<br />

spielte dabei eine entscheidende Rolle. Dass Christen sich engagiert haben,<br />

dass sie sich herausgefordert fühlen, hat auch mit der Geschichte<br />

des Katholizismus in Deutschland zu tun. Mehrfach wurde hier das Zentralkomitee<br />

der deutschen Katholiken (ZdK) erwähnt. Den Menschen aus<br />

den ehemaligen kommunistischen Länder sage ich immer: „Seien Sie<br />

getrost, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat es schon lange<br />

vor den kommunistischen Zentralkomitees auf der Welt gegeben, und es<br />

wird länger bestehen als alle kommunistischen Zentralkomitees.“ Der<br />

Name mag merkwürdig klingen, aber es ist tatsächlich der Zusammenschluss<br />

von Christen, von katholischen Laien in enger Verbindung mit<br />

den Bischöfen und den Priestern seit 150 Jahren gewesen. Mitte des<br />

19. Jahrhunderts dachte man darüber nach, was in der Gesellschaft und<br />

für die Gesellschaft aus christlichem Engagement heraus getan werden<br />

könne. Menschen aus diesem Umfeld des ZdK, und natürlich auch evangelische<br />

Christen, engagierte evangelische Laien, haben auch 1949 erkannt,<br />

dass gehandelt werden muss. Nicht nur die aktuelle Diskussion<br />

161


um Fragen der Bioethik in Deutschland ist ein Beispiel dafür, sondern es<br />

ging von Anfang an um Mitgestaltung in vielen Feldern der Politik und<br />

Gesellschaft. Die Christen in Deutschland haben sich in Fragen der Familienpolitik,<br />

des Lebensschutzes, der sozialen Gerechtigkeit zu Wort<br />

gemeldet und ihre Überzeugungen vertreten. Sie waren und sind aber<br />

auch zum Handeln bereit, indem sie in den Gemeinden, in den Landesparlamenten<br />

und im Bundestag Mandate übernommen haben – also<br />

nicht nur mitreden, sondern auch selbst handeln, mit allen damit verbundenen<br />

Risiken. Denn eines ist sicher: Wer handelt, wer sich einsetzt,<br />

setzt sich immer auch der Kritik aus, wird immer auch Fehler machen.<br />

Wenn wir aber aus festem Willen und bestem Gewissen heraus handeln<br />

– und wir Christen haben ja im Evangelium das Rüstzeug dazu –, können<br />

wir unsere Anliegen überzeugt vertreten. Natürlich sagt das Evangelium<br />

nicht, wie man Steuergesetze gerecht macht, aber den Grundgedanken<br />

der Gerechtigkeit kann man daraus ableiten, ebenso den Grundgedanken,<br />

wie Leben zu schützen ist.<br />

So beurteile ich die Chancen für die Umsetzung christlicher Werte in unserem<br />

Land. Ich sehe das nicht naiv in zu rosigen Farben, sondern weiß<br />

auch um die Schwierigkeiten. Professor Meyer hat dies gestern erwähnt.<br />

Sein Vorgänger im Amt des Präsidenten des ZdK, Hans Maier, hat ein<br />

sehr lesenswertes Büchlein mit dem Titel „Welt ohne Christentum – was<br />

wäre anders?“ geschrieben. Wie würde die Welt denn eigentlich ohne das<br />

Christentum, ohne die christlichen Werte aussehen? Wie stünde es denn<br />

mit der aktuellen bioethischen Debatte, wenn nicht – manchmal unter<br />

sehr großen Mühen und mit sehr großem Widerstand und Gegenwind –<br />

die evangelischen und katholischen Christen gemeinsam in diesem Land<br />

um die Bewusstseinsbildung nicht nur der Abgeordneten, sondern auch<br />

der Bevölkerung dafür gestritten hätten, dass das menschliche Leben von<br />

seinem natürlichen Beginn als Embryo bis zum natürlichen Tod zu schützen<br />

ist? Wie stünde es um die Familienpolitik in diesem Lande, wenn<br />

nicht immer wieder die Christen mit anderen Gleichgesinnten darauf hingewiesen<br />

hätten, dass heutzutage Familien Kinder groß ziehen, deren<br />

Zukunft in diesem Wohlstandsland nicht gut gesichert ist?<br />

In drei Wochen wird ein neuer Bundestag gewählt, und bei allen Parteien<br />

ist die Familienpolitik ein Thema. Der Kanzler hat noch vor vier Jahren<br />

162


gesagt, Frauen und Familienpolitik seien „Gedöns“, womit er sich vielleicht<br />

scherzhaft, aber doch ziemlich abwertend zu dieser entscheidenden<br />

Thematik geäußert hat. Ich möchte das hier nicht vertiefen. Ich möchte<br />

nur noch einmal betonen, dass es überhaupt nichts nützt, wenn Christen<br />

schöne Beschlüsse in Freising oder anderswo fassen. Entscheidend ist<br />

unser Handeln. Gott hat nur unsere Hände, nur unsere Füße und nur unseren<br />

Kopf in dieser Gesellschaft. Wir müssen bereit sein, uns selbst in<br />

diese Gesellschaft einzubringen.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Ich begrüße weiterhin auf dem Podium Frau Beata Broczky. Sie ist die<br />

Geschäftsführerin der ungarischen Kommission „Justitia et Pax“. An dieser<br />

Stelle möchte ich einmal etwas weiter ausholen: Es war die Rede von<br />

Missbrauch, Monopolisierung und Instrumentalisierung der Werte und<br />

Wertbegriffe durch totalitäre Ideologien. Frieden und Gerechtigkeit<br />

waren solche Begriffe, die in ganz besonderem Maße in der kommunistischen<br />

Ideologie vereinnahmt wurden und dann von Werten zu Herrschaftsinstrumenten<br />

oder zumindest zu Propagandaworthülsen degradiert<br />

worden sind. Die Kommission „Justitia et Pax“ gibt es weltweit seit dem<br />

Pontifikat Papst Paul VI., der ihre Gründung im Vollzug des Zweiten Vatikanischen<br />

Konzils angeregt hat. In den mittel- und osteuropäischen<br />

Staaten war die Entstehung die Kommissionen naturgemäß erst nach<br />

1989 möglich, weil die Monopolisierung der Beschäftigung mit diesen<br />

Begriffen durch die kommunistischen Systeme das vorher verhindert hat.<br />

In den Kommissionen „Justitia et Pax“ versucht man, zentrale christliche<br />

Begriffe als Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Die ungarische Kommission<br />

„Justitia et Pax“ hat sich – ich möchte das besonders hervor heben<br />

– in den letzten Jahren eine Namen gemacht, weil sie versucht, in Südosteuropa<br />

in der dortigen Situation nach den Kriegen auf dem Balkan<br />

Plattformen für Gespräche anzubieten und Modelle zu gestalten, wie die<br />

Gesellschaften nach dem Ende des Krieges, nach den Verheerungen moralischer<br />

und materieller Art wieder Fuß fassen können und wie vor allem<br />

konkrete Hilfe beschlossen werden kann. Frau Broczky, berichten Sie<br />

bitte etwas über diese auch internationale Dimension von Solidarität und<br />

Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit!<br />

163


Beata Broczky, Budapest:<br />

Unsere große Chance besteht darin, dass „Justitia et Pax“ sich im öffentlichen<br />

Leben einsetzen kann, ohne selbst eine Partei zu sein. Die Kommission<br />

entstand 1994 im Rahmen eines Strukturaufbauprogramms der europäischen<br />

Konferenz „Justitia et Pax“, auch dank der großzügigen Hilfe<br />

von <strong>Renovabis</strong>. Die Arbeit in Ungarn konnte 1997 aufgenommen werden.<br />

Wir möchten dafür unseren Partnern in Deutschland und in den<br />

anderen Ländern Westeuropas noch einmal herzlich danken. Grundlage<br />

unserer Tätigkeit sind die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils<br />

und die christliche Soziallehre. Unsere Arbeit umfasst Projekte zu Themen<br />

wie Versöhnung und Globalisierung. Dies möchte ich mit einigen<br />

Beispielen illustrieren.<br />

Versöhnungsarbeit ist an sich nicht neu, denn die Beziehungen zwischen<br />

den Völkern in der Nachbarschaft Ungarns sind durch Vorwürfe und Vorurteile<br />

vergiftet. Weil Kirche und Religion in diesem Prozess bis heute<br />

eine große Rolle spielen, müssen wir die Frage nach ihrem Einfluss auf<br />

die Nationen und die Nationalkultur stellen. Dabei sind die Ergebnisse<br />

gemischt, es gibt nicht nur „schwarz“ und „weiß“. So haben wir im Rahmen<br />

des Stabilitätspakts im Mai 2000 religiöse Würdenträger nach Budapest<br />

eingeladen. Erinnern Sie sich bitte daran, dass die Situation in Südosteuropa,<br />

besonders im ehemaligen Jugoslawien, damals sehr kritisch<br />

und voller Spannungen war! Anwesend waren neben katholischen und<br />

orthodoxen Würdenträgern auch der Obermufti von Bulgarien als Vertreter<br />

der türkischen Minderheit, weitere islamische Würdenträger und Vertreter<br />

der Konferenz europäischer Kirchen. Ökumenische bzw. interreligiöse<br />

Zusammenarbeit ist in einer solchen Krisenlage ganz entscheidend.<br />

Natürlich waren auch ungarische Regierungsvertreter und Journalisten<br />

dabei. Ein solches Treffen trägt zum Abbau von Spannungen bei.<br />

Als weiteres Beispiel möchte ich die Beziehungen zwischen der Slowakei<br />

und Ungarn ansprechen. Unsere Kommission hat dazu zwei Treffen in den<br />

letzten beiden Jahren organisiert, in Komárom und Esztergom, Grenzstädten<br />

an der Donau. Die neue Brücke zwischen der Slowakei und Ungarn ist<br />

zwar noch nicht ganz fertig, aber wir haben versucht, eine „lebendige“<br />

Brücke zu errichten. Mehr als hundert Teilnehmer aus den beiden Ländern<br />

haben über die geschichtlichen Fundamente der beiderseitigen Beziehun-<br />

164


gen diskutiert und kamen zu dem Ergebnis, dass es zwischen Ungarn und<br />

der Slowakei viele Konflikte gibt, die nicht von einem einseitigen Standpunkt<br />

aus betrachtet oder gar gelöst werden können. Das ist ein schmerzhafter<br />

Prozess, in dem wir sehr viel voneinander lernen können.<br />

1998 organisierten wir eine Konferenz über sicherheitspolitische Fragen,<br />

an der u.a. Jan Čarnogourski aus der Slowakei, Adrian Severin, der ehemalige<br />

Außenminister von Rumänien, und mehrere katholische Bischöfe<br />

aus Rumänien teilgenommen haben. Dort ging es um die Konsequenzen<br />

der ungarischen NATO-Mitgliedschaft. Diese Veranstaltung wurde übrigens<br />

zusammen mit der österreichischen Kommission „Justitia et Pax“<br />

organisiert.<br />

Ein anderer Themenbereich ist die Globalisierung. Wir haben im November<br />

2000 eine Konferenz zur Frage „Globalisierung und internationale<br />

Kapitalbewegung“ durchgeführt. Unsere Gäste waren Ökonomen aus allen<br />

gesellschaftlichen Bereichen, also nicht nur Christen, Vertreter von<br />

Banken und Politiker, u.a. der jetzige Ministerpräsident, der damals Präsident<br />

einer ungarischen Handelsbank war. Sehr viele positive Ergebnisse<br />

zeigten sich auch von dieser Konferenz. Am 29. und 30. November <strong>2002</strong><br />

werden wir zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung eine Konferenz<br />

zum Thema „Globalisierung und europäische Werte“ veranstalten,<br />

an der deutsche, österreichische und ungarische Fachleute, Professoren<br />

und kirchliche Würdenträger teilnehmen werden. Außerdem führen wir<br />

die Südosteuropa-Konferenzen unter dem Thema „Die Korrelation zwischen<br />

Kultur und Kirche“ weiter. Das sollen nur einige Beispiele für unsere<br />

weitgespannte Arbeit sein.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Herzlichen Dank für dieses eindrucksvolle Bild und die vielfältigen Engagements!<br />

Schließlich ist Herr Pavol Kossey aus Bratislava in der Slowakei<br />

auf das Podium gekommen. Er war einige Jahre lang geschäftsführender<br />

Sekretär der Laienkommission der slowakischen Bischofskonferenz;<br />

heute ist er als internationaler Sekretär der christlich-demokratischen<br />

Bewegung, also einer politischen Partei, tätig. Ich möchte eine<br />

Frage an Sie richten. Herr Professor Baloban hat festgestellt, dass der<br />

Einfluss der katholischen Laien auf die Zivilgesellschaft in Kroatien zu<br />

165


schwach ist und dass sich Zivilgesellschaften ohne den Beitrag der katholischen<br />

Laien zu bilden drohen. Nun ist die Slowakei ein Land, in dem<br />

sich katholische Laien schon bald nach der Wende in großer Vielfalt wieder<br />

organisiert und innerhalb und außerhalb der Kirche zu Wort gemeldet<br />

haben. Können Sie die Feststellungen von Professor Baloban bestätigen<br />

oder haben Sie andere Erfahrungen?<br />

Pavol Kossey, Bratislava:<br />

Meine Aufgabe, in der slowakischen Gesellschaft aktiv christliche Prinzipien<br />

zu vertreten, ist nicht so schwer wie die von Professor Fedorov im<br />

großen Russland. Trotzdem haben wir unsere Schwierigkeiten, denn auch<br />

in der Slowakei läuft nicht alles so einfach. Als Einstiegsinformation<br />

möchte ich ganz kurz von den Resultaten der Volkszählung im Mai letzten<br />

Jahres sprechen. Im Vergleich mit der Zählung von 1991 hat der Anteil<br />

der Christen zugenommen. Zur römisch-katholischen Kirche bekennen<br />

sich 69 % der Bevölkerung, zur griechisch-katholischen etwa 4 %,<br />

zur evangelischen Kirche ca. 7 %, das macht zusammen 80 %, mit den<br />

sonstigen Christen ungefähr 84 % der Bevölkerung. Diese großen Zahlen<br />

belegen, dass die Religion in der Slowakei immer noch eine wichtige<br />

Rolle spielt. Die reale Präsenz der Gläubigen in der Gesellschaft entspricht<br />

aber meiner Meinung nach gar nicht diesem Prozentsatz. Es gibt<br />

Schätzungen, nach denen in den großen Städten ca. 10 %-15 % der Bevölkerung<br />

regelmäßig die Kirche besuchen, auf dem Land 15 %-20 % –<br />

aber es gibt auch noch Dörfer, besonders in der Nord- und Ostslowakei,<br />

wo mehr als 50 % der Bewohner zu den Sonntagsmessen gehen.<br />

Trotz aller Schwierigkeiten glaube ich sagen zu können, dass mein Apostolat<br />

und der Einsatz vieler anderer Gleichgesinnter aus christlicher Sicht<br />

in der Gesellschaft wirksam ist. Es gibt ca. 30 Laienbewegungen, die in<br />

der ganzen Slowakei tätig sind, und ca. 40 christliche Vereine und Organisationen,<br />

die in verschiedenen Bereichen zur Christianisierung der Gesellschaft<br />

beizutragen versuchen. Wenn ich diese Zahlen und ihre Qualität<br />

beschreiben soll, möchte ich mit einer Episode aus dem Leben Papst<br />

Johannes XXIII. antworten. Er wurde einmal gefragt, wieviele Mitarbeiter<br />

im Vatikan arbeiten. Er hat dann eine Weile nachgedacht und geantwortet:<br />

„Etwa die Hälfte.“<br />

166


Die Hauptstrukturen zur Koordinierung und Unterstützung des Laienapostolates<br />

befinden sich noch in einer Entwicklungsphase. Das ist vielleicht<br />

zu bedauern, wird aber hoffentlich bald vorbei sein. Bei der Bischofskonferenz<br />

gibt es den Rat für apostolische Laienbewegungen, daneben<br />

das Forum für christliche Institutionen. Ich kann jetzt nicht auf alle<br />

Details eingehen, meiner Überzeugung nach entwickelt sich die Situation<br />

der Kirche und besonders der Laienorganisationen jedoch ziemlich positiv.<br />

Allerdings müsste die Koordination der Laienorganisationen verbessert<br />

werden, was dann zu Selbstvertrauen und mehr Professionalität führen<br />

würde.<br />

Die Diskussion mit der Gesellschaft und in der Gesellschaft über ihre<br />

Zukunft als Bürgergesellschaft hat bereits begonnen. Im Juni dieses Jahres<br />

hat das Forum für öffentliche Fragen eine öffentliche Diskussion in<br />

der Universität in Bratislava organisiert, an der 600 Personen teilgenommen<br />

haben. Im Oktober wollen wir eine weitere Diskussion mit Spitzenpolitikern<br />

über die Grundwerte in der Gesellschaft führen. Dabei sollen<br />

auch Fragen wie Schutz des Lebens, Familienunterstützung, Umgang mit<br />

Drogen angesprochen werden.<br />

Die slowakischen Laien gelten als sehr papsttreu. Heilige sind wir sicher<br />

nicht, aber wir versuchen, Gottes Willen zu gehorchen, offen für ihn zu<br />

sein und ihn im täglichen Leben in der Gesellschaft zu verwirklichen, am<br />

Arbeitsplatz, im Familienleben und allgemein in der Nächstenliebe. Das<br />

nächste Treffen des Forums der christlichen Institutionen wird unter dem<br />

Thema „Träger der Hoffnung in der Gesellschaft“ stehen. Das ist für uns<br />

der Kern dessen, was wir als Laien für die Gesellschaft leisten sollten: in<br />

ihr Zeichen der Hoffnung sein.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Ich möchte nun das Publikum einladen, Fragen an das Podium zu richten.<br />

Prof. Dr. Manfred Spieker, Osnabrück:<br />

Meine Frage geht an Herrn Professor Baloban. Sie haben die Tätigkeitsfelder<br />

Ihres Zentrums beschrieben. Das sind alles wichtige Aufgaben,<br />

167


und man kann dazu nur gratulieren. Ein wichtiges Feld fehlte mir aber,<br />

die Priesterausbildung. Welche Rolle spielt die Soziallehre der Kirche in<br />

der Priesterausbildung? Jetzt werden Sie vielleicht sagen, dass es nicht<br />

Sache Ihres Zentrums sei, sondern der Fakultät oder später der Weiterbildung<br />

derjenigen Priester, die schon im Amt sind und die Soziallehre der<br />

Kirche in kommunistischen Zeiten nicht kennen lernen konnten. Das ist<br />

in allen Transformationsländern ein großer Schwachpunkt und scheint zu<br />

bestätigen, was zwei amerikanische Jesuiten in einem Buch beschrieben<br />

haben, das den Titel „Die Soziallehre der Kirche. Our best kept secret“ –<br />

„Das bestgehütete Geheimnis der Kirche“ trägt.<br />

Pater Eugen Hillengass SJ, München:<br />

Für mich ist sehr beeindruckend, was sowohl in der Slowakei als auch in<br />

Ungarn bereits alles geschieht. Besonders würde mich interessieren, ob<br />

die Arbeit von „Justitia et Pax“ auch weiter nach Osten ausstrahlt. Kann<br />

<strong>Renovabis</strong> dabei noch mehr als bisher helfen?<br />

Dr. Anton Neuwirth, Bojnice:<br />

Ich komme aus der Slowakei und möchte meine Frage an Frau Broczky<br />

richten. Frau Broczky hat ein sehr wichtiges Thema angeschnitten, die<br />

Beziehungen zwischen den Nationen. Wir haben aus historischen Gründen<br />

tatsächlich Probleme zwischen den Slowaken und den Ungarn, aber<br />

ich meine, diese Probleme wären nicht so groß, wenn die Kinder von der<br />

ersten Schulklasse an einen richtigen Geschichtsunterricht hätten. Jede<br />

Nation erklärt nämlich gewisse Ereignisse der Geschichte aus ihrer Sicht,<br />

und das ist meist nicht rational, sondern affektiv und damit einseitig. Dadurch<br />

wurden beispielsweise die Franzosen zu den Erbfeinden der Deutschen<br />

gemacht. Ähnlich ist es zwischen den Ungarn und den Slowaken.<br />

Gemeinsam erstellte Schulbücher würden da sicher Abhilfe schaffen<br />

können. Es hat zwar schon einige Kommissionen dazu gegeben, aber sie<br />

haben den Fehler begangen, dass sie einfach einen Durchschnitt gemacht<br />

haben, der keiner Seite ganz gerecht geworden ist. Wir müssen aber irgendwie<br />

versuchen, feindliche Grundhaltungen schon bei den Kindern zu<br />

überbrücken. Vielleicht kann da „Justitia et Pax“ etwas bewirken. Auch<br />

für <strong>Renovabis</strong> wäre das eine wichtige Aufgabe.<br />

168


Prof. Dr. Philipp Harnoncourt, Graz:<br />

Meine Frage geht in die Richtung des Vertrauensverhältnisses zwischen<br />

den Laien und den Geistlichen in den ehemals kommunistischen Ländern.<br />

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Kardinal Bengsch, 1975 oder<br />

noch früher; er hat mir damals gesagt, in einer kommunistischen Diktatur<br />

könnte die Kirche nur durch den Klerus sprechen, für Laieninitiativen<br />

wäre das außerordentlich schwierig. Vor drei Jahren hat es ein ähnliches<br />

Podium wie das heutige in der Ukraine gegeben, wo über die Verantwortung<br />

der Kirche und der Christen gesprochen worden ist. Daran haben nur<br />

Geistliche teilgenommen, und es ist ihnen in erster Linie darum gegangen,<br />

dass die Kirche ihre Rechte bekommt. Hier und heute sehe ich mit<br />

großer Freude, dass Laien in diesen Ländern christliche Verantwortung<br />

übernehmen. Wieweit dürfen sie das in Eigenverantwortung, wieweit<br />

erlauben die einzelnen Bischöfe den Laien, dies zu tun?<br />

Bischof Dr. Szilárd Keresztes, Nyiregyhaza:<br />

Ich habe keine Frage an das Podium, sondern eine allgemeine Bemerkung<br />

zum <strong>Kongress</strong>. Priester und Laien in ganz Europa leben heute in einer<br />

stark kirchenfernen, oft sogar antichristlichen Umgebung. Wenn wir<br />

das christliche Erbe bewahren wollen, ist der Einsatz aller, gerade auch<br />

der christlichen Politiker, sehr wichtig. Für die Politik und die Wirtschaft<br />

haben wir heute morgen die von Dr. Friedrich angeführten Beispiele gehört.<br />

Alle Christen in Europa sind dazu aufgefordert, einen neuen Weg zu<br />

finden, wie ihn das Evangelium beschrieben hat. Dazu gehören Geduld,<br />

Demut, Dienstbereitschaft, Freundschaft und Respekt für den Nächsten.<br />

Ich bin sehr dankbar, dass <strong>Renovabis</strong> einen <strong>Kongress</strong> organisiert hat, auf<br />

dem wir uns mit dieser Realität Europas auseinandersetzen konnten. Nur<br />

das offene Gespräch kann uns weiterhelfen.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Herzlichen Dank für diese ermutigenden Worte, die auch für die Arbeit<br />

von <strong>Renovabis</strong> sehr wichtig sind! Nun möchte ich das Wort an Professor<br />

Baloban weitergeben.<br />

169


Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb:<br />

Vielen Dank für Ihre Frage, Herr Professor Spieker! Ich lehre an der<br />

Theologischen Fakultät der Universität Zagreb Moraltheologie und Soziallehre<br />

und bemühe mich daher, diese Themen dem Priesternachwuchs<br />

zu vermitteln. Auch die Laien, die Theologie studieren, beschäftigen sich<br />

mit der Soziallehre. Das eigentliche Problem besteht aber darin, wie die<br />

Soziallehre der Kirche in die Praxis umgesetzt werden kann. Ich glaube,<br />

dass wir dafür einfach Zeit brauchen, damit die jungen Leute ihr Wissen<br />

in der Praxis, in den Gemeinden anwenden können. Was das Verhältnis<br />

zwischen Priestern und Laien angeht, bestehen Schwierigkeiten auf beiden<br />

Seiten. Nach der Wende 1990 versuchten wir, neue Beziehungen<br />

zwischen Priestern und Laien in Kroatien zu finden und zu fördern. Das<br />

Ganze müsste sich aber noch offener gestalten. Auf Seiten der Bischöfe<br />

und Priester ebenso wie auf Seiten der Laien braucht es guten Willen,<br />

aber auch Zeit.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Zwei Fragen haben sich im Wesentlichen an Frau Broczky gerichtet. Zum<br />

einen ging es um die Auswirkungen der Arbeit von „Justitia et Pax“ über<br />

den engeren Raum Ungarns hinaus, zum anderen um die Vermittlung<br />

eines neuen Geschichtsbildes zwischen Ungarn und der Slowakei.<br />

Beata Broczky, Budapest:<br />

Die Öffnung nach Osten, Pater Hillengass, ist für uns sehr wichtig. In<br />

diesem Jahr haben wir mit verschiedenen Kursen begonnen, teils als Mitveranstalter,<br />

für die ungarische Minderheiten in Siebenbürgen (Rumänien),<br />

in Tirgu Mures¸ und in Oradea. Wir wollen uns dort für die Verbreitung<br />

christlicher Modelle in der Verwaltung und der Politik einsetzen.<br />

Darüber hinaus möchten wir mittelfristig einer „Justitia et Pax“-Kommission<br />

in Rumänien auf die Beine helfen.<br />

Was die Minderheiten, ihr Zusammenleben und das Geschichtsbild angeht,<br />

so kann ich sagen, dass es da auch ermutigende Ansätze gibt. Natürlich<br />

gab es Spannungen, aber auch Phasen friedlichen Zusammenlebens.<br />

Die ungarische Kommission „Justitia et Pax“ engagiert sich mit bei der<br />

170


Gestaltung eines gemeinsamen Lehrbuches über die Geschichte der<br />

Ungarn und Slowaken.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Frau Waschbüsch wollte zu diesen beiden Fragen ebenfalls kurz Stellung<br />

nehmen.<br />

Rita Waschbüsch, Lebach:<br />

Die Frage der Minderheiten, des Verhältnisses zwischen Ungarn und Slowaken,<br />

hat mich berührt, denn ich stamme aus dem westlichen Teil der<br />

Bundesrepublik, nahe der französischen Grenze, wo es eine ähnliche Entwicklung<br />

gegeben hat. Diese Grenzregion wurde in der Geschichte von<br />

viel Schmerz und Leid geprägt. Seit 1945 hat sich das völlig geändert,<br />

jetzt gibt es überhaupt keine Probleme mehr. Das hat meines Erachtens<br />

damit zu tun, dass man die Minderheiten gegenseitig als solche anerkennt<br />

und sie als Gewinn betrachtet. Wenn die Europäische Union bei ihrer Erweiterungspolitik<br />

darauf drängt, dass man entsprechende Minderheitenstandards<br />

einführt und beachtet, dann eben deshalb, damit sich die Minderheiten<br />

entfalten und Freundschaften zwischen unterschiedlichen<br />

Menschen entstehen können. Das baut nämlich die Vorurteile ab. Die<br />

Frage des Geschichtsunterrichts spielt dabei natürlich eine ganz wichtige<br />

Rolle. Ich denke da, wenn es um Deutschland und Frankreich geht, an<br />

meine Jugend, als meine Großmutter den Refrain eines Gedichtes zitierte,<br />

den nach dem Krieg 1870/71 alle deutschen Kinder lernen mussten „und<br />

ewig dräuet, dräuet der Erbfeind“. Die Franzosen waren der „Erbfeind“,<br />

und in den Schulen Frankreichs waren es umgekehrt die Deutschen.<br />

Heute sind die Saarländer aus meiner Heimat stolz, wenn sie zu einem<br />

Volksfest auf die andere Seite der Grenze gehen. Auch die Franzosen haben<br />

gelernt und ermöglichen es heute, dass die Elsässer und Lothringer<br />

deutscher Zunge ihre Muttersprache pflegen können.<br />

Ich wollte noch etwas zum Vertrauensverhältnis zwischen Priester und<br />

Laien bemerken. Herr Kossey hat gesagt, die Slowaken seien sehr papsttreu.<br />

Manche Deutsche glauben das von sich selbst nicht so sehr, aber im<br />

Grunde genommen sind sie es doch. Mir hat einmal eine junge Polin beim<br />

<strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong> vor ein paar Jahren gesagt: „Ihr deutschen Laien kriti-<br />

171


siert den Papst zu sehr, ihr liebt ihn nicht.“ Ich habe ihr geantwortet: „Wir<br />

lieben ihn vielleicht etwas kritischer als die Polen, aber wir lieben ihn<br />

auch.“ Es kann unterschiedliche Herangehensweisen geben, auch im Verhältnis<br />

Laien und Priester. Ich möchte dazu etwas aus der Geschichte von<br />

<strong>Renovabis</strong> ergänzen. Vor einigen Jahren haben wir eine Arbeitsgruppe<br />

„Laien“ gegründet, und diese Arbeitsgruppe „Laien“ hat die Bischöfe, die<br />

in den osteuropäischen Ländern für Laienarbeit zuständig sind, nach Freising<br />

eingeladen. Weihbischof Schwarz hat damals die Einladung an die Bischöfe<br />

unterschrieben, es kamen zwölf Bischöfe – und sie waren, glaube<br />

ich, ein wenig schockiert, als bei der Eröffnung des Gesprächs nicht Weihbischof<br />

Schwarz in der Mitte saß, sondern ich. Er hatte nämlich vorher zu<br />

mir gesagt: „Sie sind die Vorsitzende, also arbeiten Sie jetzt einmal.“ Er hat<br />

sich dann zur Seite gesetzt, und ich habe die Bischöfe, die für die Laienarbeit<br />

zuständig sind, begrüßt. Das fanden sie offensichtlich sehr merkwürdig<br />

– ein Laie und dazu auch noch eine Frau! Wir haben zwei Tage miteinander<br />

diskutiert, und ich glaube, dass den Laien die Sorge der Bischöfe deutlich<br />

geworden ist, aber auch, dass die Bischöfe gemerkt haben, dass es uns genauso<br />

ein Anliegen ist, dass Kirche lebt und wächst. Einem Bischof, der<br />

sehr skeptisch war, habe ich am Rande des Gespräches gesagt: „Warum<br />

glauben Sie nicht, dass den Laien die Kirche genauso am Herzen liegt wie<br />

Ihnen? Ich bin Mutter von fünf Kindern, ich muss doch genauso interessiert<br />

sein, dass Kirche lebt, dass Kirche existieren kann. Warum glauben Sie<br />

nicht, dass Taufe und Firmung auch die Laien verpflichten und binden?“<br />

Begegnungen dieser Art sind ganz entscheidend. Nur so kann die Kirche,<br />

der eine Leib Christi mit unterschiedlichen Gliedern und unterschiedlichen<br />

Gaben, die verschiedenen Aufgaben erfüllen. Ich denke an die schon<br />

erwähnte Magna Charta der Laienarbeit, an „Christifideles laici“, und<br />

würde mir wünschen, dass dieses großartige Dokument über die Rolle<br />

der Laien in der Kirche bei der Priesterausbildung in Ost und West stärker<br />

berücksichtigt würde.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Vielen Dank für Ihre ausführliche Stellungnahme! Ich möchte zur<br />

Schlussrunde kommen und stelle eine Frage, deren Antwort bei jedem<br />

von Ihnen möglichst aus nur einem Satz bestehen sollte. Wie setzt man<br />

172


die Werte in der Gesellschaft um? Herr Professor Baloban, Sie haben<br />

gesagt, „unser größtes Problem ist es, wie man es mit Erfolg tun kann“.<br />

Nun ist Erfolg keiner der Namen Gottes, aber er hindert uns wirklich<br />

nicht daran, uns Ziele zu setzen. Herr Kossey, was ist Ihr nächstes Ziel?<br />

Pavol Kossey, Bratislava:<br />

Ich schließe mit einer Ermahnung von Otto von Habsburg, der uns im<br />

Dezember voriges Jahr bei einer Veranstaltung in Bratislava ermuntert<br />

hat, als Christen in der Gesellschaft mitzuwirken, um damit Gott in die<br />

Gesellschaft hineinzubringen. Gott darf nicht aus dieser Gesellschaft verschwinden,<br />

und dafür wollen wir uns mit Zuversicht einsetzen.<br />

Beata Broczky, Budapest:<br />

Die ungarische Kommission „Justitia et Pax“ ist bestrebt, durch Zusammenarbeit<br />

mit Politikern, Verantwortlichen und so genannten Entscheidungsträgern<br />

christliche Werte in unsere Gesellschaft zu bringen. Diese<br />

Lobby-Arbeit ist ganz wichtig für uns in Ungarn. Wir müssen dazu, wie<br />

Bischof Keresztes schon gesagt hat, Geduld und Demut aufbringen. Die<br />

Zahl der engagierten Laien ist zum Glück schon sehr groß.<br />

Rita Waschbüsch, Lebach:<br />

Immer, wenn ich besonders traurig und mutlos bin oder in meiner Arbeit<br />

etwas ganz falsch gemacht habe, bin ich getröstet, wenn ich die Bibel<br />

nehme und den Satz lese „Ich bin bei euch alle Tage“. Dann weiß ich,<br />

dass alles zu einem guten Ende kommen wird.<br />

Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb:<br />

Was werden wir weiter tun? Wir werden in der Kirche Kroatiens als<br />

Pries ter und Laien neue Wege des Zusammenlebens suchen.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />

Danke schön! Vielen Dank an alle, die hier auf dem Podium und im Plenum<br />

mit diskutiert haben. Das letzte Wort hat jetzt der Geschäftsführer<br />

von <strong>Renovabis</strong>, Pater Dietger Demuth, für das Schlusswort.<br />

173


Am Podium von links:<br />

Prof. Dr. Stjepan Baloban, Rita Waschbüsch,<br />

Dr. Gerhard Albert, Beata Broczky, Pavol Kossey


III. Berichte aus den Arbeitskreisen


Blick in Arbeitskreis 6 (oben) und auf die Podien<br />

der Arbeitskreise 2 (Mitte) und 5 (unten)


Arbeitskreis 1<br />

Christlicher Humanismus – Angebot einer<br />

gemeinsamen Wertebasis?<br />

Referenten: Dr. Maria Martens MdEP,<br />

Straßburg/Brüssel<br />

Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau<br />

Moderation: Prof. Dr. András Máté-Tóth, Szeged/Ungarn<br />

Der Arbeitskreis – mit ca. 20 Personen und einer starken Präsenz von<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus den östlichen Nachbarländern –<br />

knüpfte unmittelbar an die Hauptthematik des <strong>Kongress</strong>es an. Sie aufgreifend<br />

und zuspitzend, formulierte der Moderator als Ausgangsfragen:<br />

1. Welche Werte werden den europäischen Prozess tragen? 2. Gibt es<br />

spezifisch christliche Werte, die wir in die Wertediskussion einzubringen<br />

haben und wo werden sie für die Praxis relevant? Ein Blick auf die<br />

europäische Wertedebatte zeigt, dass ein solcher Beitrag seitens der<br />

Chris ten und der Kirchen heute von vielen Politikern erwartet wird.<br />

Während Frau Martens auf das unleugbar in der christlichen Tradition<br />

wirksame Humanitätspotential hinwies (in den Niederlanden sind die<br />

Christen Spitzenreiter bei Sammlungen für soziale Zwecke), betonte<br />

Professor Juros die Notwendigkeit, den Begriff des christlichen Humanismus<br />

genauer zu definieren. Damit gab er das Stichwort für zahlreiche<br />

Diskussionsbeiträge, die um den offensichtlich nicht ganz einfachen<br />

Begriff des christlichen Humanismus kreisten. Worin liegt das Unterscheidende<br />

des christlichen Humanismus gegenüber den Humanismen<br />

anderer, z.B. liberaler oder sozialistischer Prägung? Gibt es einen ethischen<br />

„Mehrwert“ des Christlichen? Wenn ja, worin besteht er, worin<br />

gründet er?<br />

177


So sehr diese Frage die Teilnehmer umtrieb, so klar war, dass die Diskussion<br />

nur Annäherungen erbringen konnte. Dabei verwies eine Reihe von<br />

Diskussionsrednern auf das dem Christentum eigene ganzheitliche Verständnis<br />

des Menschen, das den Menschen auf eine letzte Wahrheit und<br />

ein unbedingtes Gute ausgerichtet sieht. Hier komme ein „Absolutes“ in<br />

den Blick, das den Einzelnen dem Zugriff alter (politischer) und neuer<br />

(gesellschaftlicher) Totalitarismen entziehe und als Bezugspunkt für die<br />

notwendige Verständigung über die Werte, die in Europa gelten sollen,<br />

unverzichtbar sei.<br />

Andere argumentierten eher offenbarungstheologisch, indem sie das spezifisch<br />

Christliche weniger in der Abgrenzung von den universellen humanen<br />

Werten als in deren Radikalisierung, Begründung und Vertiefung<br />

erblickten. Christlicher Humanismus könne nicht davon absehen, dass<br />

Gott in Jesus Christus nicht nur sich selbst, sondern auch dem Menschen<br />

den Menschen geoffenbart habe. Der unbedingte Anspruch des Evangeliums,<br />

die Gleichsetzung von Nächsten- und Gottesliebe, das neue Gebot<br />

(Lieben wie Er, bis zum Kreuz) setzen menschliche Werte nicht außer<br />

Kraft, sondern entbinden, tragen und stützen sie. Gibt es überhaupt einen<br />

Humanismus ohne dieses Fundament? Zeigt nicht gerade die europäische<br />

Geschichte das Scheitern einer Ethik ohne Gott? Warum konnte „Weimar“<br />

das in seiner Nachbarschaft liegende „Buchenwald“ nicht verhindern?<br />

Es wurde aber auch davor gewarnt, ein bestimmtes Ethos ausschließlich<br />

Christen zuzuschreiben. Findet man nicht mitunter außerhalb des Bezirks<br />

der Kirchen überzeugendere Beispiele „evangeliumsgemäßen“ Handelns?<br />

Es wurde an Karl Rahner erinnert, der von einem „anonymen<br />

Christentum“ sprach. Viele fühlen sich den ethischen Maßstäben des<br />

Evangeliums verpflichtet, ohne an Jesus Christus zu glauben. Das muss<br />

bei den Christen Interesse wecken. Hier eröffnen sich Felder solidarischer<br />

Zusammenarbeit. Spielen offenbarungstheologische oder metaphysische<br />

Begründungen überhaupt eine Rolle, wenn es um praktisches<br />

Handeln geht?<br />

Wie man diese Frage auch beantworten mag, einig war man sich im Arbeitskreis,<br />

christliches Ethos erweise sich in der Praxis vor allem in der<br />

178


Zuwendung zu den Kleinen und Schwachen, zu den Alten und Kranken.<br />

Christlich sei es, dem anderen einen „Vorschuss“ an Liebe entgegenzubringen,<br />

ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Christen sollten bereit<br />

sein, den ersten Schritt zu tun, wo die Verhältnisse in rein menschlicher<br />

Hinsicht ausweglos erscheinen. Die Relevanz einer solchen Haltung für<br />

das Zusammenwachsen Europas zeige sich beispielsweise im Umgang<br />

mit Minderheiten und allen gesellschaftlichen Gruppen, die auf besondere<br />

Solidarität angewiesen sind. Aufschlussreich war in diesem Zusammenhang<br />

auch der Hinweis auf die Gefahr der Manipulation des Menschen<br />

durch humangenetische Eingriffe, wie sie ein aktueller „Posthumanismus“,<br />

dem zufolge der Mensch erst noch zu kreieren sei, empfiehlt.<br />

In einem zweiten Gesprächsgang versuchte der Arbeitskreis, die Frage<br />

des christlichen Humanismus mit konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen<br />

zu verbinden. Wo sind heute Werte bedroht? Was sind unsere<br />

Antworten? Die Schilderung einer Teilnehmerin aus Litauen machte die<br />

Dramatik der Fragestellung deutlich. Litauen weist im Weltmaßstab eine<br />

der höchsten Suizidraten bei alten Menschen auf. In einem zunehmend<br />

materialistischen Klima erfahren sich alte Menschen vorwiegend als<br />

Last. Reicht hier eine verbesserte soziale Betreuung (falls Geld zu finden<br />

ist)? Ist hier nicht auch ein Umdenken in der Gesellschaft erforderlich?<br />

Wie kann dieses politisch gefördert werden?<br />

Andere Stimmen verwiesen auf den allgemeinen Trend zur Ellenbogengesellschaft,<br />

die ethisches Verhalten als Schwäche bestraft und unsolidarisches<br />

Verhalten prämiiert. Doch wo die „Gefahr“ nahe, da ist auch das<br />

„Rettende“ nicht fern. Als Symptome eines gegenläufigen Trends wurden<br />

die überraschend große Hilfsbereitschaft bei Katastrophen und die Hochschätzung<br />

von Liebe, Gemeinschaft und Solidarität in der jungen Generation<br />

genannt.<br />

In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Zeit musste es bei solchen<br />

Hinweisen bleiben. Die schlichte Feststellung, dass Werte (als Qualitäten<br />

des Handelns) nur da sind, wenn jemand nach ihnen handelt, sollte in jede<br />

Reflexion über christlichen Humanismus und Werte Eingang finden.<br />

Man mag die heutige Situation als „Werterelativismus“ oder „bloß“ als<br />

179


„Werteverschiebung“ beschreiben, fest steht: sie fordert Christen zum<br />

Dialog heraus – zu einem Dialog im Respekt vor der Meinung des Anderen<br />

und in Anerkenntnis der unsere Gesellschaft prägenden Autonomie<br />

(Martens). Christlicher Humanismus erweist sich dabei weniger in der<br />

Verteidigung eines spezifischen Wertekatalogs als im Bezeugen der befreienden<br />

Erfahrung, dass „Gott in Jesus Christus jeden Menschen als<br />

wertvoll angenommen hat“ (Juros).<br />

180<br />

Wilhelm Rauscher, Berlin


Arbeitskreis 2<br />

Politik aus christlicher Verantwortung:<br />

Anspruch und Wirklichkeit<br />

Referenten: Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn<br />

Prof. Dr. Manfred Spieker, Osnabrück<br />

Erzabt Asztrik Várszegi, Pannonhalma/Ungarn<br />

Moderation: Burkhard Haneke, Freising<br />

Der Arbeitskreis stellte sich die Frage, wie der Mensch christliche Werte<br />

in der Politik verwirklichen und Politik aus christlicher Verantwortung<br />

gestaltet werden kann. Vor Wahlterminen (Bundestagswahl im September<br />

<strong>2002</strong>) rücken Themen, die sich mit christlichen Werten auseinandersetzen,<br />

stärker in den Vordergrund. Welche Bedeutung haben heute diese<br />

christlichen Werte? Spielen sie im täglichen Umgang miteinander eine<br />

Rolle? Nach dem Wahlsieg der SPD im Jahre 1998 verzichteten einige<br />

SPD-Minister bei der Vereidigung auf den Passus „so wahr mir Gott<br />

helfe“. Brauchen wir also Gott und die Kirche in der Politik? Häufig wird<br />

gar die Frage gestellt, was überhaupt der Glaube in der Politik zu suchen<br />

habe. Gibt es somit eine Orientierungskrise in der Gesellschaft? Was ist<br />

überhaupt eine Bürgergesellschaft? An diese eingangs vorgebrachten<br />

Überlegungen von Burkhard Haneke gingen die drei Referenten unterschiedlich<br />

heran.<br />

Professor Meyer stellte fest, dass das ZdK keine parteipolitische Nähe zu<br />

einer der Parteien einnehmen dürfe. In fast allen deutschen Parteien seien<br />

aktive Christen tätig. Es gäbe kein Parteiprogramm der Christen. In<br />

Deutschland habe es historische Ursachen für die Gründung einer CDU<br />

gegeben. Evangelische und katholische Christen hätten die Gründung<br />

dieser Partei als Notwendigkeit nach den Ereignissen vor und während<br />

181


des Zweiten Weltkriegs gesehen. Dieser Anspruch, die Christen in einer<br />

Partei zu einen, habe natürlich auch Kritik auf sich gezogen. Heute müsse<br />

man sich auch in der CDU die Frage stellen, ob eine solche Partei eine<br />

Zukunft habe, wenn Christen in der Gesellschaft in der Minderheit seien.<br />

Erzabt Várszegi setzte sich äußerst kritisch mit der Situation der Kirche<br />

und der Politik in Ungarn auseinander. Die Gesellschaft sei feudal. Es<br />

herrsche eine Art „Josephinismus“. Bis vor zwölf Jahren habe es in Ungarn<br />

eine Staatskirche gegeben. Die Vision der Kirche, eine Volkskirche<br />

zu sein, sei nicht gegeben. Heute fühle sich die Kirche als Mehrheit und<br />

benehme sich wie eine Minderheit. Es gebe Christen, die sich aktiv in der<br />

Politik einbringen, aber es müsse hinterfragt werden, ob es dadurch eine<br />

christliche Politik gebe. Es müsse grundsätzlich geklärt werden, wie die<br />

Kirche sich zum Staat stelle. In vielen postkommunistischen Ländern<br />

seien heute die Kirche und der Staat schwach. Der Staat brauche vielfach<br />

die Kirche zur Legitimation seiner Ordnung. Somit ergebe sich die paradoxe<br />

Situation, dass die Kirche an der Seite der Mächtigen eine vermeintlich<br />

starke Position gewinnt. In Ungarn erzielten Parteien mit historischen<br />

Wurzeln eine gewichtigere Bedeutung. Derzeit befänden sich die „Partei<br />

der Kleinwirte“ und die der „Jungdemokraten“ im Aufschwung.<br />

Professor Spieker mahnte, dass das Verhältnis von Glaube und Politik<br />

richtig bestimmt werden müsse, da man sonst leicht in Sackgassen geraten<br />

könne. In der heutigen Zeit sei es bedeutsam, dass auch die Presse die<br />

christlichen Werte nicht verletze. Ein arbeitsfähiges Pressegesetz sei notwendig.<br />

Für die Politik stellte er fünf Leitlinien auf:<br />

– Politik hat eine sittliche Bedeutung;<br />

– kein Reich dieser Welt ist eine Verwirklichung der christlichen Werte;<br />

– legitime Autonomie der Politik;<br />

– Sachgerechtigkeit politischer Entscheidungen (Sachkompetenz);<br />

– legitimer Pluralismus politischer Entscheidungen (Suche nach dem<br />

kleinsten Übel).<br />

Die anschließende Diskussion stellte Macht als eine Notwendigkeit für<br />

das politische Gestalten und Weiterkommen dar. Kritisch wurde angemerkt,<br />

dass Christen häufig mit dem Faktor „Macht“ Schwierigkeiten<br />

182


hätten. Die kontroverse Diskussion, die nicht zu einem abschließenden<br />

Ergebnis gelangte, soll hier in Fragmenten wiedergegeben werden:<br />

• Der Gebrauch von Macht sei ein Mittel zur Zielerlangung. Die Macht<br />

erlaube es zu gestalten, aber stelle dabei keinen Wert dar. Die Verachtung<br />

von Macht sei Drückebergerei. Der aktive Mensch müsse Entscheidungen<br />

suchen. Das christliche Menschenbild sei dabei ein genereller<br />

Orientierungspunkt.<br />

• Der Gestaltungsakteur in der Politik sei der christliche Mensch. Er<br />

könne mit der ihm auf Zeit übertragenen Macht die Politik gestalten. Er<br />

könne Ideen und Werte verwirklichen. Für die Zielerlangung habe er<br />

die Möglichkeit, sich in Interessenverbänden zusammenzuschließen.<br />

Das christ liche Weltbild stelle eine Orientierungshilfe dar.<br />

• In unserer heutigen Gesellschaft seien Parteien notwendig; Politik sei<br />

Parteipolitik. Der Einzelne müsse sich organisieren, um Ziele zu erreichen.<br />

Man müsse auch andere Auffassungen tolerieren. Die Rolle der<br />

Opposition gehöre zur modernen Demokratie. Kritische Äußerungen<br />

kamen von Vertretern aus den Staaten Mittel- und Osteuropas. Die Bürger<br />

würden nach nahezu 50 Jahren totalitärer Herrschaft nun Demokratie<br />

erleben. Leider zeige sich heute die Politik vielfach von der schmutzigen<br />

Seite. Die Grundelemente der Demokratie müssten noch erlernt<br />

werden. Uneinigkeit bestand dabei, wie die Kirche sich verhalten solle.<br />

Das Meinungsspektrum reichte von aktiver Einmischung in tagespolitische<br />

Abläufe bis hin nur zur Beschränkung auf die Verkündigung des<br />

Wortes Gottes.<br />

• Übereinstimmend begrüßt wurde eine politische Schulung für engagierte<br />

Christen. Sie sollten den Herausforderungen der Umbruchzeit<br />

nicht tatenlos ausgeliefert sein. Die Kirche sollte sich zu Grundsatzfragen<br />

äußern. Die Bischöfe könnten Laien unterstützen, aber keine Regelungen<br />

vorschlagen. Hier stelle sich die Frage, woher sie denn die<br />

Kompetenz hätten. Politik lebe von Wahlen und Veränderungen.<br />

Hierzu seien Parteien notwendig. Die Parteien müssten Programme<br />

formulieren. Zur Formulierung von Programmen müssten Sachverhalte<br />

diskutiert werden. Abschließend müssten Entscheidungen gefunden<br />

werden. Hierzu müssten Lernprozesse ablaufen. Die Kirche könne<br />

diese Diskussionen anregen und ein Forum bieten. Der Laie in der Kirche<br />

könne für die Politik trainieren. Nur durch Bildung und Erziehung<br />

183


könne man aktive Politik gestalten. Die historischen Umbrüche in der<br />

ehemaligen DDR und Polen zeigten, dass die Kirche Politik beeinflussen<br />

könne.<br />

• Politik sei existenziell für die Gesellschaft. Der Bürger ist der politische<br />

Akteur. Der Politiker werde gewählt und sei nur der Vertreter der<br />

Bürger. Politik ist nicht alles, aber in allem. Die Bischöfe sollten sich<br />

politisch weiterbilden. Sie müssten eine gewisse Befangenheit abbauen.<br />

• Die Kirche benötige Lobbyisten. Christen müssten ihre Anliegen deutlicher<br />

artikulieren. Zwischen Politik und Kirche müsse ein informelles<br />

Netzwerk aufgebaut werden. Beide Seiten sollten verstärkt gegenseitiges<br />

Vertrauen aufbringen. Für die anstehenden Probleme brauche die<br />

Kirche die Politik und die Politik die Kirche.<br />

184<br />

Paulis Apinis, Bonn


Arbeitskreis 3<br />

Die Benesˇ-Dekrete – eine „offene Wunde“ auf dem<br />

Weg nach Europa?<br />

Referenten: Abg. Ing. Jaroslav Lobkowicz, Pilsen<br />

Dr. Walter Rzepka, München<br />

Moderation: Dr. Gerhard Albert, Freising<br />

Das deutsch-tschechische Verhältnis ist bis heute durch die Auswirkungen<br />

der so genannten Benesˇ-Dekrete belastet. Darunter wird eine Reihe<br />

von Verfügungen des Präsidenten Edvard Benesˇ zusammen gefasst, die<br />

am Ende des Zweiten Weltkrieges die Rechtsgrundlage für die Enteignung<br />

und Vertreibung der deutschen und ungarischen Bevölkerung aus<br />

der damaligen Tschechoslowakei bildeten. Nach Ansicht politischer Beobachter<br />

in Deutschland und in der Tschechischen Republik wird die<br />

Frage der Bewertung dieser Dekrete auch im Zusammenhang mit dem<br />

geplanten Beitritt Tschechiens (und der Slowakei) zur Europäischen<br />

Union eine wichtige Rolle spielen. Die Alternative lautet, ob die Dekrete,<br />

die zu einer lang anhaltenden Diskriminierung der im Lande verbliebenen<br />

Deutschen führten, aufgehoben werden müssen – so etwa die sudetendeutsche<br />

Sicht – oder ob sie formell weiter bestehen sollten, jedoch<br />

ohne irgendwelche Rechtsfolgen für die in Tschechien lebenden Deutschen,<br />

da andernfalls – so die überwiegende Haltung der heutigen Tschechen<br />

– schwerwiegende Folgen für den Staatsaufbau der Tschechischen<br />

Republik zu befürchten seien. Eine abgewogene Auseinandersetzung mit<br />

der Problematik wird leider durch populistische Äußerungen beiderseits<br />

der Grenzen erschwert.<br />

Am Arbeitskreis, der sich mit dieser Thematik auseinandersetzte, nahmen<br />

28 Personen teil. Experten waren Ing. Jaroslav Lobkowicz, Abge-<br />

185


ordneter des Tschechischen Parlaments (Fraktion KDU-CSL/Christliche<br />

Demokraten) und Dr. Walter Rzepka, Bundesgeschäftsführer der sudetendeutschen<br />

Ackermann-Gemeinde. Im Anschluss an die Vorstellung<br />

der beiden Gesprächspartner entwickelte sich ein Gespräch mit den<br />

Schwerpunkten:<br />

– grundsätzliche Überlegungen zur Entstehung und Bedeutung der Dekrete;<br />

– Vorstellung politischer und kirchlicher Dokumente und Äußerungen<br />

zur Beurteilung der Benesˇ-Dekrete;<br />

– die Dekrete im Zusammenhang mit dem Beitritt der Tschechischen<br />

Republik zur EU;<br />

– rechtliche und politische Bewertung in der Slowakei.<br />

Eine wichtige Rolle zur Verbesserung des deutsch-tschechischen Verhältnisses<br />

kommt den Erklärungen der Kirchen und christlich orientierter<br />

Organisationen wie der Ackermann-Gemeinde zu (z.B. Gemeinsame Erklärung<br />

der Bischofskonferenzen 1995). Als Zeichen der Verständigung<br />

ist auch die Teilnahme von Erzbischof Jan Graubner, dem Vorsitzenden<br />

der Tschechischen Bischofskonferenz, am Sudetendeutschen Tag <strong>2002</strong><br />

zu werten. Ing. Lobkowicz und Dr. Rzepka betonten die Bedeutung des<br />

persönlichen Kennenlernens, z.B. durch Jugendtreffen und internationale<br />

Tagungen. Auch der Versöhnungsfonds wurde in diesem Zusammenhang<br />

erwähnt.<br />

Problematisch bleibt der Vorwurf der Kollektivschuld gegen die Sudetendeutschen,<br />

der in den Dekreten erhoben wird, weshalb nach Ansicht von<br />

Dr. Rzepka eine Aufhebung unabdingbar sei. Mit rechtsstaatlichen Prinzipien<br />

sei die in den Dekreten enthaltene Straffreiheit ebenfalls nicht vereinbar.<br />

Ing. Lobkowicz betonte, die Dekrete seien aus dem Geist der Zeit<br />

zu verstehen und hätten heute keine praktische Auswirkung mehr, was<br />

Dr. Rzepka allerdings nicht vorbehaltlos unterstützen konnte.<br />

Nach übereinstimmender Ansicht aller Teilnehmer ist es noch ein beschwerlicher<br />

Weg zur Überwindung der Spannungen zwischen Deutschen<br />

und Tschechen. Die Benesˇ-Dekrete bilden derzeit ein großes Hin-<br />

186


dernis auf dem Weg zur deutsch-tschechischen Versöhnung. Ob sich das<br />

in naher Zukunft ändern wird, hängt sehr stark von den politisch verantwortlichen<br />

Personen in beiden Ländern ab.<br />

Dr. Gerhard Albert, Freising<br />

Im Rahmen des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong> fand ein<br />

erstes Treffen von <strong>Renovabis</strong>-Stipendiaten statt. Schwester Waltraud<br />

Schulte PIJ, zu diesem Zeitpunkt noch als <strong>Renovabis</strong>-Referentin für<br />

die Stipendien zuständig, freute sich, die Basis für ein Netzwerk der<br />

im deutschsprachigen Raum studierenden jungen Menschen mit auf<br />

den Weg bringen zu können.<br />

187


Arbeitskreis 4<br />

Frauen in Mittel- und Osteuropa:<br />

Aufbruch – Stagnation – Resignation?<br />

Referenten: Inge Bell, München<br />

Judit Féher, Aachen/Budapest<br />

Renata Jankeviciute, Vilnius<br />

Moderation: Eva Wawrzyniak, Freising<br />

Vorstellung der Referentinnen<br />

– Inge Bell: geboren in Siebenbürgen/Rumänien, seit 1972 in Deutschland,<br />

Studium der Geschichtswissenschaften; freie Journalistin in<br />

München, besonders <strong>Dokumentation</strong>en und Reportagen zum Thema<br />

„Frauenhandel“ (Berichte aus Bulgarien, Makedonien, Rumänien).<br />

– Judit Féher: Studium der Germanistik und Anglistik in Budapest; mehrere<br />

Jahre Tätigkeit als Lehrerin, z. Zt. zweijähriger Europa-Studiengang<br />

in Aachen.<br />

– Renata Jankeviciute: Studium der Germanistik; Gymnasiallehrerin,<br />

Mitarbeit in der katholischen Laienarbeit in Litauen.<br />

Schwerpunkte der Statements<br />

(Die Diskussion knüpfte teilweise direkt an einzelne Punkte an.)<br />

a) Inge Bell<br />

– Weitverbreitete zerrüttete Familiensituation, Kinder fliehen aus ihren<br />

Familien (Alkohol, Drogen, Arbeitslosigkeit);<br />

– „vorauseilende Resignation“ vieler Frauen: selbstständige (berufliche)<br />

Initiative hat ohnehin keinen Sinn; Ursache: „Aushungerung“ der<br />

MOE-Länder im Kommunismus;<br />

188


– Falle für viele Frauen: Verlockung des „schnellen Geldes“ im Westen<br />

und Wagnis zum Neuanfang im westlichen Ausland;<br />

– „Frauenhandel“: Thema, das mit unvorstellbarem Leid für viele Frauen<br />

verbunden ist (auch eine Anfrage an die westlichen Gesellschaften:<br />

Frauenhandel „boomt“ durch Nachfrage!); rumänische Frauen verkaufen<br />

sogar ihre Kinder wegen extremer materieller Armut; solche Mütter<br />

kommen oft schon aus geschädigten Familien (Teufelskreis!);<br />

– die Kirche muss gerade die Frauen zur Initiative ermutigen und Starthilfe<br />

geben (materiell, moralisch). (Dazu mehrere kritische Anfragen<br />

aus dem Teilnehmerkreis: Welche fördernde bzw. entmündigende<br />

Rolle spielen die Kirchen in MOE in dieser Frage?);<br />

– entsprechende Projekte brauchen Zeit, um nachhaltig zu wirken (mindestens<br />

drei Jahre); EU-Projekte sind häufig zu kurzfristig angelegt;<br />

– Rumänien ist besonders problematisch hinsichtlich der Rechtslage: bei<br />

Straffälligkeit im Ausland werden Frauen mit Passentzug und Ausreiseverbot<br />

bestraft;<br />

– nachweisbare Zusammenhänge zwischen konfessioneller Prägung und<br />

Mentalität (orthodoxe Frauen sind im Durchschnitt „schicksalsergebener“<br />

als katholische Frauen);<br />

– in Rumänien fehlen die Ansätze zu einer Zivilgesellschaft noch völlig.<br />

b) Renata Jankeviciute<br />

– In Litauen ist die Rate von Frauen in der Erwerbstätigkeit sehr hoch;<br />

– kirchliches Engagement von Frauen steht in den Anfängen, da Strukturen<br />

von Laienarbeit erst im Aufbau sind;<br />

– traditionell eine hohe Bildungsbereitschaft der Frauen, bedeutende Frauenliteratur<br />

in der litauischen Geschichte, hohe Akademikerinnenrate;<br />

– aktuelle Problematik: hohe Rate von Kindestötungen und -aussetzungen;<br />

– Caritas Litauen sucht mit Zentren für Mutter und Kind gegenzusteuern,<br />

ein Adoptionsprogramm ist in Planung.<br />

c) Judit Féher<br />

– Ungarn hat die höchste Selbstmordrate in Europa;<br />

– es gibt eine gewisse Bewegung des „stillen Aufbruchs“ von Frauen in<br />

Ungarn;<br />

189


– die Rechte der Frauen sind im Vergleich zur allgemeinen Entwicklung<br />

im Transformationsprozess noch wenig entwickelt (Feminismus ist ein<br />

Schimpfwort in Ungarn); das „Frauenthema“ ist weitgehend unpopulär<br />

in Ungarn; es ist überhaupt kein „Männerthema“;<br />

– noch immer herrscht eine patriarchalische Familienordnung in Ungarn<br />

vor (Trennung zwischen Arbeit (Mann) und Familie/Erziehung (Frau);<br />

wie im Westen Mehrfachbelastung von Frauen;<br />

– Heiratsalter: vor der Wende zwischen 20 und 23 mit Kindern in frühen<br />

Ehejahren (staatliche Vergünstigungen), nach der Wende zwischen 27<br />

und 30;<br />

– heute: ausgeprägte Single-Kultur (Zahl der Eheschließungen geht stark<br />

zurück);<br />

– Rate der Ehescheidungen bei über 50 % – viele Ehemänner verstehen<br />

sich nicht als Partner, die ihre Frau in verschiedenen Lebenssituation/<br />

Lebenslagen unterstützen;<br />

– vielfache Belastung durch Alkohol- und Drogenprobleme;<br />

– stark entwickelter Dienstleistungs-Sektor: bessere Chancen für die<br />

Frauen auf dem Arbeitsmarkt – dennoch ungleiche Chancen und Verdienste<br />

für Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt (Verdienstunterschied<br />

hat sich aber etwas angeglichen);<br />

– Frauen müssen Belastungen durch die Arbeitslosigkeit ihrer Männer<br />

ausgleichen (Kind(er) und Beruf);<br />

– die Quote der Frauen mit Hochschulstudium ist nach der Wende angestiegen;<br />

– Frauen sind besonders im kommunalpolitischen Bereich aktiv;<br />

– nach der Wende haben sich neue Frauenorganisationen entwickelt (u.a.<br />

demokratischer Neuanfang des „Ungarischen Frauenrats“ (staatlich<br />

kontrollierte Organisation)).<br />

Als offene Frage bleibt stehen, ob mit der Erweiterung der Europäischen<br />

Union nach Osten und dem Beitritt von Ländern wie Ungarn, Litauen und<br />

Rumänien eine nachhaltige Verbesserung der Rechte der Frauen in diesen<br />

Staaten erwartet werden kann. Anzumerken ist außerdem, dass es mit den<br />

Rechten auf dem Papier nicht getan ist – entscheidend wird der tatsächliche<br />

Wandel zum Besseren sein.<br />

190<br />

Thomas Müller-Boehr, Freising


Arbeitskreis 5<br />

Bosnien-Herzegowina:<br />

Ein Gott – drei Glauben – gemeinsame Werte?<br />

Referenten: Pater Mile Babić, Sarajevo<br />

Prof. Dr. Niko Ikić, Sarajevo<br />

Pfarrer Jovan Marić, Wuppertal<br />

Moderation: Prof. Dr. Thomas Bremer, Münster<br />

In den Eingangsstatements zur Situation der Ökumene in Bosnien-Herzegowina<br />

stimmten die Diskutanten in ihrer Einschätzung darin überein,<br />

dass eine Dialogkultur zwischen den Religionsgemeinschaften als Basis<br />

für ein ökumenisches Zusammenleben nicht existiere. Professor Ikić<br />

sprach von „Gesprächsbarrikaden“ und „Requiematmosphäre“; Pater<br />

Babić wies auf den Zusammenhang von religiöser und nationaler Zugehörigkeit<br />

im kommunistischem System hin und warf den Religionsgemeinschaften<br />

vor, sich nicht ausreichend vom Nationalismus distanziert<br />

zu haben. Pfarrer Marić machte auf die Instrumentalisierung der Religionen<br />

für politische Zwecke nach dem Zusammenbruch des Kommunismus<br />

in Jugoslawien aufmerksam. Kritisch fragte er, ob die kirchlichen Würdenträger<br />

tatsächlich für ihre Gläubigen sprächen und Nächstenliebe<br />

predigten. Das Wesen der abrahamitischen Religionen liege schließlich<br />

im Vertrauen und der Liebe, darauf lasse sich die Zukunft von Bosnien-<br />

Herzegowina aufbauen. Inzwischen hätten die Religionsgemeinschaften<br />

Schritte hin zum Dialog gemacht, was lokale Initiativen bewiesen.<br />

Wie konnte aus dem ehemals friedlichen Zusammenleben<br />

Feindschaft entstehen?<br />

Auf die Frage, wie es möglich gewesen sei, dass aus friedlichem Zusammenleben<br />

Feindschaft entstanden sei, antwortete Professor Ikić, der Dia-<br />

191


log im religiösen Sinn habe nie eine höhere Stufe erreicht. 50 Jahre kommunistischer<br />

Ära bedeuteten eine Zeit des Verlusts ethischer und moralischer<br />

Werte. Dialog brauche aber die ständige Praxis und Vertiefung; dies<br />

sei nicht gegeben gewesen, sodass eine Angstatmosphäre entstanden sei,<br />

in der programmierter Hass auf die Existenz des Anderen und gegen Andersgläubige<br />

geschürt und die Grenzen zwischen Gut und Böse aufgelöst<br />

worden seien. Theologisch gesprochen: das Bild vom Anderen sei in seiner<br />

Wahrheit nicht akzeptiert worden. Der Krieg habe die Radikalisierung<br />

verstärkt, auch durch den zunehmenden Einfluss von Fundamentalisten,<br />

was den „Anschein eines Religionskriegs“ erweckt habe, in dem die Heiligtümer<br />

der Religionsgemeinschaften zu Zielscheiben geworden seien.<br />

Pfarrer Marić bemerkte, dass früher ein Dialog zwischen Katholiken,<br />

Protestanten und Orthodoxen stattgefunden habe, er aber häufig an der<br />

Oberfläche geblieben sei. Kontakte zu islamischen Vertretern seien darüber<br />

hinaus noch schwieriger zu knüpfen.<br />

Welche Werte für Bosnien-Herzegowina?<br />

Aktuell würden die Wertvorstellungen von Westeuropa und den USA<br />

übernommen, was eine Verabsolutierung und Ideologisierung ökonomischer<br />

Werte nach sich ziehe, kritisierte Pater Babić, und forderte den Vorrang<br />

geistiger vor materiellen Werten. Pfarrer Marić sprach den Werteverlust<br />

hinsichtlich der Menschenrechte an: „Nirgends ist ein Menschenleben<br />

billiger als in Bosnien.“ Vor diesem Hintergrund merkte Professor<br />

Bremer an, dass das Zusammenleben der Religionsgemeinschaften schon<br />

vor dem Krieg nicht stabil gewesen sein könne. Die Verletzung der Menschenrechte<br />

könne nur gestoppt werden, wenn im Zuge des „institutionbuilding“<br />

private Konflikte in staatliche Verantwortung gelegt würden.<br />

Aber wer definiere „Menschenrechte“? Wolle man beispielsweise muslimischen<br />

Gemeinschaften Regeln aufzwingen, die nicht ihrer Tradition<br />

entsprächen? Gibt es eine Universalität der Menschenrechte?<br />

Ökumene – „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“?<br />

Auf das Stichwort von Professor Bremer wurde besonders mit Blick auf<br />

die islamischen Gemeinschaften eingegangen. Während des Krieges<br />

sei der traditionell säkularisierte bosnische „Euro-Islam“ stärker von ex-<br />

192


tremen Strömungen geprägt worden, wobei sich die Diskutanten darin<br />

einig waren, dass dafür „importierte fundamentalistische Kräfte“ verantwortlich<br />

zu machen seien. Diese Entwicklung sei schwer rückgängig zu<br />

machen.<br />

Die Rolle der Hilfsorganisationen<br />

Die Diskutanten stimmten in der Einschätzung überein, dass die Vertreter<br />

von Hilfsorganisationen häufig die offizielle Regierungspolitik ihrer jeweiligen<br />

Herkunftsländer verfolgten. Ein weiteres Problem liege in pauschalen<br />

Beurteilungen der Region und Konfliktsituation sowie mangelndem<br />

Verständnis für die Komplexität der Probleme. Über Hilfsorganisationen<br />

mit konfessionellem Hintergrund werde weiterhin Einfluss auf die<br />

Empfänger von Hilfsgütern genommen, z.B. durch kostenloses Verteilen<br />

von Büchern mit extremen religiösen Ansichten, wobei von dieser Praxis<br />

alle Religionsgemeinschaften betroffen seien.<br />

Kann der bosnisch-europäische Islam eine Brückenfunktion<br />

übernehmen?<br />

Als problematisch wurde die unterschiedliche Verwendung finanzieller<br />

Unterstützung eingeschätzt: Während die christlichen Gemeinschaften<br />

einen hohen Nachholbedarf hätten, was den Bau von Kirchen angehe,<br />

förderten islamische Länder v. a. Moscheebauten; verwiesen wurde auf<br />

das Projekt „1.000 Moscheen für Bosnien und Herzegowina“, von denen<br />

bereits 500 renoviert bzw. neu gebaut worden seien. Dieses Vorgehen<br />

werde als ein Akt der Provokation verstanden von den Menschen, die aus<br />

ihren ursprünglichen Heimatgebieten vertrieben worden seien, welche<br />

inzwischen mehrheitlich von muslimischen Einwohnern bewohnt würden.<br />

Dagegen investiere der Westen eher in den Aufbau der Infrastruktur.<br />

Gibt es positive Erfahrungen des Dialogs zwischen den<br />

Religionsgemeinschaften?<br />

Die Bilanz von Professor Ikić fiel ernüchternd aus: Gemeinsame Gebete<br />

und Zusammenkünfte seien bisher nur auf privater Ebene möglich, ein<br />

institutioneller Austausch finde kaum statt. Es gebe zwar das Sprichwort<br />

193


„Not verbindet“, doch in Bosnien-Herzegowina habe die Not die Menschen<br />

voneinander getrennt. Ökumene werde als überflüssig betrachtet,<br />

der Wille zur Verständigung fehle beim Großteil beider Seiten, was auch<br />

daran liege, dass viele Menschen Ökumene mit dem Verlust ihrer religiösen<br />

Identität gleichsetzten.<br />

194<br />

Pia Kohorst, Münster


Arbeitskreis 6<br />

Rumänien: Nebeneinander oder Miteinander in Christus<br />

Referenten: Prof. Dr. Viorel Ionit,a, Genf<br />

Dr. Dan Ruscu, Cluj Napoca<br />

Pfr. Sorin Ghilezan, Temesvar/Timis¸oara<br />

Moderation: Martin Buschermöhle, Freising<br />

Arbeitskreis 6 begann mit einem stellvertretend von Pfarrer Sorin Ghilezan<br />

vorgetragenen Grußwort des rumänisch-orthodoxen Metropoliten Nicolae<br />

Corneanu, Bischof von Temesvar/Timis¸oara, der ursprünglich als<br />

Gast auf dem Podium erwartet worden war. Darin hob der Metropolit<br />

hervor, dass katholische und orthodoxe Christen gemeinsam Verantwortung<br />

für den Kontinent Europa übernehmen müssen. Voraussetzung dafür<br />

sei der Wunsch, dass Orthodoxe und Katholiken als Brüder und Schwestern<br />

leben wollen. Er zeigte weiterhin Felder gemeinsamen Handelns<br />

auf: die gemeinsame Feier liturgischer Feste, z.B. durch eine mögliche<br />

Angleichung des Datums der Osterfeier, weiterhin die Verbesserung des<br />

ökumenischen geistlichen Lebens und gemeinsame Hilfsaktionen. 1<br />

Bei aller Versöhnungsbereitschaft, die dem Schreiben des Bischofs zugrunde<br />

lag, wurden die Spannungen zwischen der orthodoxen und insbesondere<br />

der griechisch-katholischen Kirche in den Beiträgen der Podiums-<br />

und Diskussionsteilnehmer überdeutlich. Dr. Dan Ruscu, Historiker<br />

an der griechisch-katholischen Theologischen Fakultät in Cluj, wies in<br />

seinem Beitrag auf das Verbot der griechisch-katholischen Kirche durch<br />

die Kommunisten und die Übertragung ihrer Güter an die orthodoxe Kirche<br />

in Rumänien im Jahr 1948 hin. Er würdigte den mutigen Schritt des<br />

1 Vgl. dazu auch OST-WEST. Europäische Beziehungen 3/<strong>2002</strong>, S. 226–229.<br />

195


Metropoliten Corneanu, der nach der Wende schon im Jahre 1990 zahlreiche<br />

enteignete Kirchen den ursprünglichen Eigentümern oftmals in<br />

feierlicher Form zurückgegeben hatte. Dr. Ruscu betonte jedoch auch,<br />

dass dieses auf das Banat begrenzte Handeln eine Ausnahme sei, die<br />

allein dem unermüdlichen Bemühen des Metropoliten um den interkonfessionellen<br />

Dialog geschuldet sei. Andere orthodoxe Diözesen seien<br />

diesem Beispiel leider nicht gefolgt, hätten sogar gewaltsam juristisch<br />

erstrittene Rückgaben von Kircheneigentum verhindert.<br />

Der Kommunismus habe die Grundlage des rumänischen Denkens zerstört,<br />

Chauvinismus und Intoleranz gesät. So wurden Andersdenkende,<br />

insbesondere Intellektuelle und religiöse Menschen, mundtot gemacht<br />

und ins Gefängnis geworfen. Alle griechisch-katholischen Bischöfe wurden<br />

in dieser Zeit politischer Verfolgung umgebracht. Nach den schrecklichen<br />

Verwerfungen durch die jüngere rumänische Geschichte bedarf es<br />

einer „sanatio ad radicem“. Ruscu mahnte ferner: „Jedes Volk braucht<br />

eine Ikone.“ Für das rumänische Volk könnte diese die christliche Liebe<br />

sein.<br />

Professor Ionit,a fügte dieser Darstellung ein Modell gelungenen ethnischen<br />

und religiösen Zusammenlebens hinzu, das er der älteren Geschichte<br />

insbesondere Siebenbürgens entlehnte. Erst die Zerstörungswut<br />

des Kommunismus und die postkommunistische „nationale Besinnung“<br />

habe aus einem wenigstens friedlichen Nebeneinander ein feindliches<br />

Gegeneinander erzeugt, bestätigt er. Außerdem verwies Ionit,a auf die<br />

pogromartigen Ausschreitungen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre<br />

in Tirgu Mures¸ und anderen Städten. Während der kommunistischen Unterdrückung<br />

habe es eine „Ökumene unter dem Kreuz“ gegeben. Der<br />

Beitritt der orthodoxen Kirche Rumäniens zum ÖRK ermöglichte seinerzeit<br />

wenigsten einen theologischen Austausch und den Kontakt zur Weltkirche,<br />

der heute leider wieder am Boden liege.<br />

Die Geister der Diskussionsteilnehmer schieden sich im nachfolgenden<br />

Austausch an der Frage des kirchlichen Baubooms. In Rumänien wurden<br />

– so lautete ein Vorwurf – im letzten Jahrzehnt mehr Kirchen errichtet als<br />

im ganzen zwanzigsten Jahrhundert. Der Bauboom aller Konfessionen<br />

196


wird als Ausdruck der Konkurrenz zwischen den Kirchen und als <strong>Dokumentation</strong><br />

ihrer Präsenz und Stärke gedeutet.<br />

Ein Theologe unter den Diskussionsteilnehmern wies darauf hin, dass<br />

die Institution Kirche Konfessionen und ihre vielfältigen Ausdrucksformen<br />

brauche. Eine praktizierte Ökumene sei heute in Rumänien zwar die<br />

Ausnahme. Umso wichtiger seien aber gelungene Beispiele der Verständigung,<br />

etwa ein gemeinsames Forschungsprojekt, das die Theologischen<br />

Fakultäten von vier christlichen Konfessionen an der Universität<br />

Cluj angeregt haben. Man könne sich auch erinnern, dass es noch bis<br />

1948 üblich gewesen sei, dass sich in Kleinstädten orthodoxe und griechisch-katholische<br />

Priester bei Abwesenheiten gegenseitig vertreten<br />

hätten. Auch hätten die Ehefrauen der Priester nicht bei ihren Ehemännern<br />

gebeichtet, sondern die Frau des griechisch-katholischen Priesters<br />

beim orthodoxen Priester und umgekehrt dessen Frau beim griechischkatholischen<br />

Pries ter.<br />

In der weiteren Diskussion wurde auch die Frage nationalistischer Tendenzen<br />

in Rumänien berührt. Das Land liegt ökonomisch am Boden. Die<br />

Menschen sind oft arm und verzweifelt. Sie suchen nach einfachen Lösungen,<br />

die von Kommunisten und insbesondere Nationalisten angeboten<br />

werden. Nachdem die christdemokratische Regierungspartei bis zum<br />

Jahre 2000 keine einschneidenden Veränderungen erbracht habe, wird<br />

Rumänien wieder von den Ex-Kommunisten unter Einbeziehung einer<br />

Nationalistischen Partei regiert. Der Glaube an die Hilfe aus dem Ausland<br />

ist erschüttert und die Furcht vor einer Vereinnahmung des Westens groß.<br />

In dieser mitunter hoffnungslosen und spannungsvollen Situation, so ein<br />

Teilnehmer, wird die tiefe Religiosität der Rumänen zu einer wichtigen<br />

Ressource. Die Kirchen stehen vor der großen Aufgabe, eine Kultur der<br />

Werte neu zu beleben. In Cluj beispielsweise werde an der theologischen<br />

Fakultät ein Studiengang zum Sozialarbeiter angeboten, der sehr erfolgreich<br />

sei. Weitere Erfolgsgeschichten wurden erzählt, etwa von einem<br />

Haus für gefährdete Frauen in Ias¸i unter der Leitung der Kirche, von Ausbildungsgängen<br />

für Religion – ein Fach, das erst nach 1989 wieder an öffentlichen<br />

Schulen unterrichtet werden darf –, oder vom Bau von Waisenhäusern,<br />

die ebenso wichtig seien wie Kirchbauten.<br />

197


Professor Ionit,a betonte zum Abschluss, dass auch die rumänisch-orthodoxe<br />

Kirche, in einer Zeit, in der sie um Orientierung ringe, eine Soziallehre<br />

dringend brauche. Richtlinien für die Praxis christlichen Lebens<br />

seien gefordert. Er hob hervor, dass der rumänisch-orthodoxe Patriarch<br />

von Bukarest eine Abteilung „Kirche und Gesellschaft“ gegründet habe,<br />

die sogar die größte der ganzen Verwaltung des Patriarchats sei: ein weiteres<br />

Hoffnungszeichen auf dem Weg zu einem Miteinander in Christus.<br />

198<br />

Michael Schirmer, Göppingen


Arbeitskreis 7<br />

Orthodoxie und Katholizismus:<br />

Zwischen „Tauwetter“ und „neuer Eiszeit“<br />

Referenten: Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg<br />

Dr. Johannes Oeldemann, Paderborn<br />

Weihbischof Stanislav Schyrokoradiuk, Kiev<br />

Moderation: Dr. Christof Dahm, Freising<br />

Mit der Errichtung der ordentlichen Hierarchie in Russland durch Papst<br />

Johannes Paul II. im Februar <strong>2002</strong> brach ein offener Streit zwischen der<br />

römisch-katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche aus, der während<br />

des gesamten Jahres <strong>2002</strong> und auch darüber hinaus zu einer erheblichen<br />

Verschlechterung der beiderseitigen Beziehungen geführt hat. Die<br />

Auseinandersetzungen mündeten in gegenseitige Schuldvorwürfe ein,<br />

wonach man auf beiden Seiten die besonderen Rechte, Gegebenheiten<br />

und Empfindlichkeiten nicht beachtet habe. Vor diesem Hintergrund ist<br />

es verständlich, dass der Arbeitskreis „Orthodoxie und Katholizismus“<br />

von zeitweise mehr als 50 Teilnehmern besucht war, zumal die Experten<br />

recht unterschiedliche Ansätze in ihren Statements und Beiträgen wählten<br />

und aus dem Publikum eine Reihe wichtiger Ergänzungen gemacht<br />

wurden.<br />

Prof. Dr. Vladimir Fedorov beschrieb eingangs in sehr persönlich vorgetragener<br />

Skizze seine Sicht der Ursachen der jetzigen verfahrenen Situation.<br />

Er knüpfte dabei an seine Ausführungen vom Vormittag an und<br />

stellte in einem weiten Bogen die Entwicklung der orthodoxen Kirche in<br />

Russland vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dar. Als Folge jahrzehntelanger<br />

Unterdrückung ist die russische Orthodoxie von tiefer Verunsicherung<br />

und Verletzung geprägt. Dies bewirkt u.a. eine Verhaftung<br />

199


in alten Denkmustern und historisch verwurzelten Vorurteilen gegenüber<br />

„Rom“. Das müsse man auf katholischer Seite stärker berücksichtigen.<br />

Entscheidend ist, wie er betonte, die Tatsache, dass die orthodoxe Kirche<br />

in Russland zwar ein Erbe von 1000 Jahren habe, damit aber nicht für die<br />

heutige Situation gerüstet sei. Es habe durchaus Phasen enger Zusammenarbeit<br />

zwischen der orthodoxen und katholischen Kirche gegeben,<br />

z.B. im 16. Jahrhundert, und auch das Problem des Proselytismus werde<br />

seiner Erachtens überbetont.<br />

Als „Außenstehender“ stellte Dr. Johannes Oeldemann seine Sicht zur<br />

Genese des Konflikts dar. Er verwies auf Weichenstellungen seit den<br />

achtziger Jahren, etwa unter dem Schlagwort „Identität durch Abgrenzung“.<br />

Die Situation der russischen Orthodoxie sei durch eine langsame,<br />

aber doch stetige Verbesserung der Strukturen gekennzeichnet. Dies<br />

zeige sich z.B. in einer Verbesserung der theologischen Ausbildung – die<br />

aber immer noch nicht ausreichend sei – und beeinflusse auch die sich<br />

positiv entwickelnden Weihezahlen. Insgesamt trete die Orthodoxie<br />

selbstbewusster als noch vor wenigen Jahren auf, und das habe sicher<br />

auch mit zu den aktuellen Spannungen beigetragen.<br />

Eine in mehrfacher Hinsicht von der Minderheitensituation geprägte<br />

Stellung vertrat Weihbischof Stanislav Schyrokoradiuk. Die römisch-katholische<br />

Kirche in der Ukraine befinde sich gegenüber der ukrainischunierten<br />

Kirche und der in drei rivalisierende Richtungen gespaltenen<br />

Orthodoxie in einer kleinen Randlage, die allerdings auch gewisse Chancen<br />

biete, da man sozusagen im Windschatten lebe. Allerdings sei das<br />

Verhältnis zwischen unierten und römischen Katholiken in den vergangenen<br />

Jahren auch nicht immer ganz spannungsfrei gewesen.<br />

Die Schwerpunkte der Diskussion lassen sich wie folgt zusammenfassen:<br />

– Die Spannungen sind in Russland besonders dort zu erkennen, wo<br />

durch äußere Faktoren (z. B. Medien, Lokalpolitiker) Vorurteile geschürt<br />

und Missstimmung künstlich erzeugt wird – bis hin zu Ausweisung<br />

von Geistlichen, Anschlägen gegen kirchliche Einrichtungen<br />

usw.<br />

200


– Das historisch gewachsene Ungleichgewicht zwischen Orthodoxie und<br />

Katholizismus werde von vielen Menschen in Russland so gedeutet,<br />

als ob „Rom“ mit materieller und personeller Überlegenheit Russland<br />

„erobern“ und „bekehren“ wolle. Die katholische Seite müsse – so eine<br />

von vielen Mitdiskutierenden vorgetragene Mahnung – mehr Sensibilität<br />

an den Tag legen und ggf. auch zur Zurücknahme überzogener Positionen<br />

bereit sein.<br />

– Der aktuelle Konflikt spiegelt nur ein tieferes Nichtverstehenwollen<br />

bzw. -können auf beiden Seiten. Bezogen auf die Orthodoxie ist der<br />

Konflikt „Rom – Moskau“ Teil einer Reihe weiterer ungelöster Problemfelder.<br />

Erinnert sei an die Situation in der Ukraine, in der orthodoxen<br />

Auslandskirche von Großbritannien und auf dem Athos.<br />

– Unklar ist, wieweit ein Dialog auf höchster Ebene zur Verbesserung<br />

der Situation beitragen kann. Das immer wieder angemahnte Treffen<br />

zwischen Papst und Patriarch von Moskau hat bis heute nicht stattgefunden.<br />

Ob es wirklich zur Klärung beitragen würde, lässt sich nicht<br />

eindeutig sagen.<br />

Als Fazit kann man festhalten: Entscheidend sind die persönlichen Kontakte,<br />

die zum Abbau von Missverständnissen und Vorurteilen beitragen.<br />

Auf der Ebene von Mensch zu Mensch ist das Verhältnis zwischen Katholiken<br />

und Orthodoxen in Russland und in den benachbarten GUS-<br />

Staaten erheblich besser als auf offizieller Ebene.<br />

Ein großes Problem bilden nach wie vor die Ausbildung des orthodoxen<br />

Nachwuchses und die Vertiefung der Kenntnisse auf katholischer Seite<br />

über die Orthodoxie. Bessere Kenntnisse des jeweils anderen (auf beiden<br />

Seiten!) tragen wesentlich zum Abbau von Misstrauen und zum Miteinander<br />

im Sinne von „Einheit in der Vielfalt“ bei. Natürlich sind damit<br />

nicht alle Grundprobleme gelöst; vor allem über das Selbstverständnis<br />

der Kirche und das Miteinander der Kirchen sollte im Anschluss an das<br />

Zweite Vatikanische Konzil weiter nachgedacht werden. Der Dialog zwischen<br />

den Kirchen ist aber schon voll im Gange und wird, wie die Gesprächsteilnehmer<br />

betonten, auch nicht mehr abreißen.<br />

Dr. Christof Dahm, Freising<br />

201


Arbeitskreis 8<br />

An der Schwelle zur Europäischen Union:<br />

Beitrittsländer zwischen Zuversicht und Skepsis<br />

Referenten: Cornelius Fetsch, Düsseldorf<br />

Nawojka Cieslińska-Lobkowicz, Warschau/München<br />

Dr. Volker Treier, Bamberg<br />

Moderation: Wolfgang Grycz, Königstein<br />

Einführungsgedanken von Frau Nawojka Cieslińska-Lobkowicz<br />

In Polen gibt es einen breiten Konsens bezüglich des Beitritts zur EU. Mit<br />

Ausnahme der Partei von Andrzej Lepper sind alle Parteien mehr oder<br />

weniger deutlich für den EU-Beitritt. In der Bevölkerung beträgt die<br />

Zustimmungsquote derzeit etwa 65 %. Trotzdem ist der Ausgang des Referendums<br />

im Frühsommer 2003 noch offen, weil damit auch regionale<br />

oder nationale Themen verknüpft werden.<br />

Einführungsgedanken von Cornelius Fetsch<br />

Bei der bevorstehenden Erweiterung der EU kommen etwa 100 Millionen<br />

Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern dazu. Dabei<br />

geht es mehr als nur um eine europäische Wiedervereinigung. Der Einigungsprozess<br />

ist niemals einseitig; er verändert sowohl die bestehenden<br />

als auch die neu hinzu kommenden Staaten. Skeptisch in den neuen Ländern<br />

sind vor allen Dingen Landwirte, ältere Menschen und gering Qualifizierte.<br />

Der Zusammenschluss ist in erster Linie politisch motiviert:<br />

Frieden statt Krieg. Wichtig sind gemeinsame Werte, die auf dem Christentum<br />

basieren, besonders die soziale Marktwirtschaft und eine engagierte<br />

Bürgergesellschaft. Auf dem Weg zur künftigen Gesellschaft<br />

braucht Europa ein Wertefundament. Die Osterweiterung ist kein Endpunkt,<br />

sondern vielmehr Start in eine neue Zukunft.<br />

202


Einführungsgedanken von Dr. Volker Treier<br />

Die mitteleuropäischen Beitrittsländer sind in sich und untereinander so<br />

unterschiedlich strukturiert wie auch die westeuropäischen Länder. Die<br />

in diesen Staaten wirtschaftlich weit verbreitete Skepsis ist vergleichbar<br />

mit den Argumenten der Globalisierungsgegner weltweit. Vorteile des<br />

EU-Beitritts aus der Sicht der mittelosteuropäischen Länder sind freier<br />

Güterhandel und erweiterte Produktionsmöglichkeiten aufgrund komparativer<br />

Kostenvorteile. Befürchtungen bestehen wegen des möglichen<br />

Aufkaufes von Land und Betrieben sowie eines Ausverkaufs von qualifizierten<br />

Menschen.<br />

Schwerpunkte der Diskussion<br />

a) Skepsis<br />

– mentale Unterschiede bleiben bestehen, weil es über Generationen hinweg<br />

unterschiedliche Erfahrungen gegeben hat;<br />

– Warnung vor dem Überstülpen wirtschaftlicher und politischer Konzepte;<br />

– an der neuen Ostgrenze der EU gibt es neue Probleme („silberner Vorhang“);<br />

– ein besonders sensibler Bereich ist die Landwirtschaft, hier insbesondere<br />

in Polen;<br />

– Sorge, ob in den Beitrittsländern auch Wertediskussionen geführt<br />

werden;<br />

– mangelnde bzw. wenig sachgerechte Informationspolitik in Mittel- und<br />

Osteuropa bezüglich der EU;<br />

– zentrale Ängste: Souveränitätsverlust, nachdem die Länder erst seit ca.<br />

zehn Jahren frei sind;<br />

– in Slowenien ist man skeptisch, z. B. bei ausländischen Investitionen<br />

(Banken, Brauereien).<br />

b) Zuversicht<br />

– die unternehmerischen Initiativen in Mittel- und Osteuropa sollten<br />

grundsätzlich positiv aufgenommen werden;<br />

– viele bereits stattgefundene Begegnungen, Austauschprogramme und<br />

wirtschaftliche Verflechtungen stimmen zuversichtlich;<br />

203


– die Rolle der Heimatvertriebenen ist teilweise sehr konstruktiv, wenn<br />

diese zurückkommen und anpacken;<br />

– die bereits bestehenden Euregios bringen sehr viel Gemeinsamkeit;<br />

– Hoffnung, dass der Beitritt von zehn relativ dynamischen Reformstaaten<br />

einen neuen Schub zur Aufhebung von westlichen Reformstaus<br />

bringen wird;<br />

– die Kirche unterstützt in allen Beitrittsländern den EU-Beitritt.<br />

Vorschlag<br />

– Die Kirche(n) soll(en) noch viel mehr für Begegnungen, Pfarr- und<br />

Verbändepartnerschaften, das Anbahnen von Kommunalpartnerschaften<br />

usw. tun.<br />

204<br />

Sepp Rottenaicher, Halsbach


Liste der Referenten und Moderatoren<br />

Dr. Gerhard Albert<br />

Stellvertretender Geschäftsführer<br />

von <strong>Renovabis</strong>, Freising<br />

Pater Mile Babić<br />

Franziskaner, Sarajevo<br />

Prof. Dr. Stjepan Baloban<br />

Zentrum zur Förderung der<br />

Soziallehre, Zagreb<br />

Inge Bell<br />

Journalistin, München<br />

Erzbischof Josip Bozanić<br />

Erzbischof von Zagreb<br />

Prof. Dr. Thomas Bremer<br />

Ökumenisches Institut der Katholisch-Theologischen<br />

Fakultät,<br />

Universität Münster<br />

Beata Broczky<br />

Kommission „Justitia et Pax“, Budapest<br />

Martin Buschermöhle<br />

Länderreferent bei <strong>Renovabis</strong>,<br />

Freising<br />

Nawojka Cieslińska-Lobkowicz<br />

Kunsthistorikerin und Kulturpublizistin,<br />

Warschau/München<br />

Dr. Christof Dahm<br />

Wissenschaftlicher Referent<br />

bei <strong>Renovabis</strong>, Freising<br />

Prof. Dr. Vladimir Fedorov<br />

Leiter des Orthodoxen Instituts<br />

für Missiologie, Ökumene und<br />

neue religiöse Bewegungen,<br />

St. Petersburg<br />

Judit Féher<br />

Studentin, Budapest/Aachen<br />

Cornelius Fetsch<br />

Ehrenvorsitzender des Bundes<br />

Katholischer Unternehmer,<br />

Düsseldorf<br />

Dr. Ingo Friedrich MdEP<br />

Vizepräsident des Europäischen<br />

Parlaments, Straßburg/Brüssel<br />

Pfr. Sorin Ghilezan<br />

Pfarrer in Temesvar/Timis¸oara<br />

205


Wolfgang Grycz<br />

Wissenschaftlicher Berater bei<br />

<strong>Renovabis</strong>, Königstein<br />

Burkhard Haneke<br />

Leiter der Abteilung Kommunikation<br />

und Kooperation bei<br />

<strong>Renovabis</strong>, Freising<br />

Prof. Dr. Niko Ikić<br />

Dozent an der Theologischen<br />

Hochschule in Sarajevo<br />

Prof. Dr. Viorel Ionit,a<br />

Studienleiter der Konferenz Europäischer<br />

Kirchen (KEK), Genf<br />

Renata Jankeviciute<br />

Caritas Litauen,Vilnius<br />

Prof. Dr. Helmut Juros<br />

Ordinarius für Sozialethik,<br />

Politik- und Gesellschaftswissenschaften,<br />

Kardinal-Stefan-<br />

Wyszyński-Universität, Warschau<br />

György Konrád<br />

Präsident der Akademie der<br />

Künste, Berlin/Budapest<br />

Pavol Kossey<br />

Sekretär der christlich-demokratischen<br />

Bewegung, Bratislava<br />

206<br />

Peter Kujath<br />

Leiter des Bereichs Zentrale<br />

Aufgaben in der Hörfunkdirektion<br />

des Bayerischen Rundfunks,<br />

München<br />

Karl Kardinal Lehmann<br />

Bischof von Mainz und Vorsitzender<br />

der Deutschen Bischofskonferenz<br />

Abg. Ing. Jaroslav Lobkowicz<br />

Abgeordneter des Tschechischen<br />

Parlaments, Pilsen<br />

Adrian H. van Luyn SDB<br />

Bischof von Rotterdam,<br />

stellvertretender Vorsitzender<br />

der ComECE<br />

Erzpriester Jovan Marić<br />

Serbisch-orthodoxe Kirchengemeinde,<br />

Wuppertal<br />

Dr. Maria Martens MdEP<br />

Mitglied der Fraktion der<br />

Europäischen Volkspartei,<br />

Straßburg/Brüssel<br />

Prof. Dr. András Máté-Tóth<br />

Dozent an der Forschungsstelle<br />

für angewandte Religionswissenschaften,<br />

Szeged


Prof. Dr. Hans Joachim Meyer<br />

Präsident des Zentralkomitees der<br />

deutschen Katholiken, Bonn<br />

Dr. Johannes Oeldemann<br />

Johann-Adam-Möhler-Institut<br />

für Ökumenik, Paderborn<br />

Dr. Dan Ruscu<br />

Dozent für Kirchengeschichte<br />

an der Griechisch-katholischen<br />

Theologischen Fakultät der<br />

Universität Cluj-Napoca<br />

Dr. Walter Rzepka<br />

Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde,<br />

München<br />

Weihbischof Stanislav<br />

Schyrokoradiuk<br />

Römisch-katholische Diözese<br />

Kiev-Zhitomir<br />

Prof. Dr. Manfred Spieker<br />

Ordinarius für Christliche Sozialwissenschaften,<br />

Institut für<br />

Katholische Theologie,<br />

Universität Osnabrück<br />

Dr. Volker Treier<br />

Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl<br />

für Finanzwissenschaft,<br />

Universität Bamberg<br />

Bischof Asztrik Várszegi<br />

Erzabt der Erzabtei Pannonhalma<br />

Rita Waschbüsch<br />

Stellvertretende Vorsitzende des<br />

Aktionsausschusses <strong>Renovabis</strong>,<br />

Lebach<br />

Eva Wawrzyniak<br />

Wissenschaftliche Referentin<br />

bei <strong>Renovabis</strong>, Freising<br />

207

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