Kongress-Dokumentation Nr. 6 (2002) herunterladen - Renovabis
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5. bis 7. September <strong>2002</strong><br />
in Freising<br />
<strong>Dokumentation</strong><br />
Europa – eine Wertegemeinschaft?<br />
Gesellschaftliches Handeln<br />
in christlicher Verantwortung<br />
6. Internationaler<br />
Europa – eine<br />
<strong>Kongress</strong><br />
<strong>Renovabis</strong><br />
Wertegemeinschaft?<br />
Gesellschaftliches Handeln in<br />
christlicher Verantwortung
Internationale <strong>Kongress</strong>e <strong>Renovabis</strong><br />
6/<strong>2002</strong>
6. Internationaler <strong>Kongress</strong><br />
<strong>Renovabis</strong><br />
<strong>2002</strong><br />
Europa – eine<br />
Wertegemeinschaft?<br />
Gesellschaftliches Handeln<br />
in christlicher Verantwortung<br />
Veranstalter und Herausgeber:<br />
<strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />
mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa
Redaktion: Christof Dahm<br />
© <strong>Renovabis</strong> – Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken<br />
mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa,<br />
Kardinal-Döpfner-Haus, Domberg 27, D-85354 Freising.<br />
ISBN 3-88916-234-7<br />
Zu beziehen durch:<br />
MVG Medienvertriebsgesellschaft,<br />
Postfach 101 545, 52015 Aachen<br />
Bestellnummer: 3 518 03<br />
Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Herausgebers.<br />
Die hier abgedruckten Beiträge sind autorisiert. Sie stimmen nicht unbedingt und in jedem<br />
Fall mit der Meinung des Veranstalters und der Teilnehmer des <strong>Kongress</strong>es überein.<br />
Umschlag: Grafik-Design Willweber, München<br />
Satz: Vollnhals Fotosatz, Mühlhausen<br />
Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden
INHALT<br />
Vorwort ....................................................................................... 9<br />
I. ANSPRACHEN UND GRUSSWORTE<br />
P. Dietger Demuth CSsR, Freising:<br />
Begrüßung der <strong>Kongress</strong>teilnehmer ................................................ 13<br />
Weihbischof Leo Schwarz, Trier:<br />
Eröffnung des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong> ................... 17<br />
Staatsminister Hans Zehetmair, München:<br />
Grüße der Bayerischen Staatsregierung ........................................... 19<br />
Grußworte an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es ................................................... 23<br />
P. Dietger Demuth CSsR, Freising:<br />
Schlusswort .................................................................................. 38<br />
II. REFERATE UND PODIUMSGESPRÄCHE<br />
Karl Kardinal Lehmann, Mainz:<br />
Christliche Wurzeln einer europäischen Gesellschaft. ....................... 43<br />
György Konrád, Budapest/Berlin:<br />
Einige tausend Schuljahre noch.<br />
Gedanken zum Humanismus in Europa ........................................... 62
Podiumsgespräch:<br />
Welche Werte bestimmen unser Handeln?<br />
Wertepluralismus in modernen Lebenswelten<br />
Leitung:<br />
Peter Kujath, München<br />
Auf dem Podium:<br />
Inge Bell, München<br />
Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau<br />
Bischof Adrian H. van Luyn SDB, Rotterdam<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel. .............................. 75<br />
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn:<br />
Christliche Werte und öffentliche Verantwortung der Kirchen ......... 100<br />
Erzbischof Josip Bozanić, Zagreb:<br />
Kroatien – eine Gesellschaft im Umbruch. ..................................... 121<br />
Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg:<br />
Christen in Russland an der Schwelle des 21. Jahrhunderts ............. 129<br />
Vizepräsident Dr. Ingo Friedrich MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Wertediskussion in Europa an der Schwelle zur<br />
Osterweiterung ........................................................................... 143<br />
Podiumsgespräch:<br />
Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung<br />
Leitung:<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising<br />
Auf dem Podium:<br />
Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb<br />
Beata Broczky, Budapest<br />
Pavol Kossey, Bratislava<br />
Rita Waschbüsch, Lebach ........................................................ 157
III. BERICHTE AUS DEN ARBEITSKREISEN<br />
Arbeitskreis 1<br />
Christlicher Humanismus –<br />
Angebot einer gemeinsamen Wertebasis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />
Arbeitskreis 2<br />
Politik aus christlicher Verantwortung:<br />
Anspruch und Wirklichkeit .......................................................... 181<br />
Arbeitskreis 3<br />
Die Benesˇ-Dekrete – eine „offene Wunde“<br />
auf dem Weg nach Europa? .......................................................... 185<br />
Arbeitskreis 4<br />
Frauen in Mittel- und Osteuropa:<br />
Aufbruch – Stagnation – Resignation? .......................................... 188<br />
Arbeitskreis 5<br />
Bosnien-Herzegowina:<br />
Ein Gott – drei Glauben – gemeinsame Werte?. .............................. 191<br />
Arbeitskreis 6<br />
Rumänien:<br />
Nebeneinander oder Miteinander in Christus ................................. 195<br />
Arbeitskreis 7<br />
Orthodoxie und Katholizismus:<br />
Zwischen „Tauwetter“ und „neuer Eiszeit“ .................................... 199<br />
Arbeitskreis 8<br />
An der Schwelle zur Europäischen Union:<br />
Beitrittsländer zwischen Zuversicht und Skepsis ............................ 202<br />
Liste der Referenten und Moderatoren .......................................... 205
Vorwort<br />
Gut ein Jahrzehnt nach der politischen Wende im östlichen Europa und<br />
der aufkeimenden Hoffnung auf eine rasche Überwindung der Spaltung<br />
des Kontinents macht sich Ernüchterung breit. Zwar gibt es Fortschritte<br />
in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und hinsichtlich der Osterweiterung<br />
der Europäischen Union, aber bilden ökonomische Faktoren allein<br />
ein tragfähiges Fundament für das „europäische Haus“? Bedarf das zusammenwachsende<br />
Europa nicht auch einer geistigen Basis? In diesem<br />
Zusammenhang werden immer wieder die gemeinsamen abendländischen<br />
Grundwerte beschworen, die in Christentum, Humanismus und<br />
Aufklärung wurzeln. Allerdings stellt sich die Frage, ob über diese Wertorientierung<br />
tatsächlich noch ein breiter Konsens aller gesellschaftlichen<br />
Schichten in Europa besteht.<br />
Unter dem Thema „Europa – eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches<br />
Handeln in christlicher Verantwortung“ versuchte der 6. Internationale<br />
<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> eine Klärung dieses Problems. Repräsentanten aus<br />
Kirche, Politik und Gesellschaft haben in Vorträgen vor dem Plenum,<br />
Podiumsgesprächen und Arbeitskreisen ihre Positionen dargelegt. An<br />
Stelle der Ausführungen des früheren Staatspräsidenten von Estland,<br />
Lennart Meri, der wegen einer Erkrankung leider nicht am <strong>Kongress</strong> teilnehmen<br />
konnte, fand ein weiteres Podiumsgespräch statt. Der vorliegende<br />
Band dokumentiert nicht nur die Grundsatzreferate, sondern auch<br />
wesentliche Diskussionsbeiträge aus dem Auditorium. Allen, die zum<br />
Gelingen des <strong>Kongress</strong>es beigetragen haben, sei an dieser Stelle noch<br />
einmal ausdrücklich gedankt.<br />
Die Gestaltung der Europäischen Union ist noch nicht abgeschlossen.<br />
Dies zeigen sowohl die Verhandlungen über eine gemeinsame Verfassung<br />
– einschließlich der Frage des Gottesbezuges in der Grundrechte charta –<br />
als auch die Diskussionen um den Einzugsbereich und damit um die Definition<br />
eines vereinigten „Europa“, etwa die Frage, ob die Türkei Mitglied<br />
werden könne. Aber auch jenseits des europäischen Horizonts ist<br />
eine Verständigung über die Grundwerte der Menschheit und ihre Verwirklichung<br />
unabdingbar angesichts einer sich immer rascher verändernden<br />
Welt und der zunehmenden Globalisierung. Dazu möchte die vorliegende<br />
<strong>Dokumentation</strong> einen Beitrag leisten.<br />
Freising, im März 2003 Christof Dahm, Redaktion<br />
9
I. Ansprachen und Grußworte
Oben links Staatsminister Hans Zehetmair, oben rechts Pater<br />
Dietger Demuth CSsR am Rednerpult. Unten Blick ins Plenum<br />
(Aula des Dom-Gymnasiums Freising). –<br />
Alle Fotos des <strong>Dokumentation</strong>sbandes stammen von Thomas Schumann
P. Dietger Demuth CSsR<br />
Begrüßung der <strong>Kongress</strong>teilnehmer<br />
<strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen<br />
in Mittel- und Osteuropa, lädt nun schon zum sechsten Mal zu<br />
einem Internationalen <strong>Kongress</strong> nach Freising ein. Zum ersten Mal habe<br />
ich als neuer Geschäftsführer die Ehre, Sie hier auf dem über tausendjährigen<br />
Domberg zu begrüßen. Auch in diesem Jahr sind wir Gäste des<br />
Domgymnasiums, dem ich für die Gastfreundschaft herzlich danke.<br />
Mehr als 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind aus allen Teilen Europas<br />
angereist. Dies zeigt, dass das Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es<br />
„Europa – eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches Handeln in christlicher<br />
Verantwortung“ von grenzüberschreitendem Interesse für die<br />
Chris ten in Europa ist.<br />
„Die Welt von heute ist sich immer mehr bewusst, dass die Lösung der<br />
ernsten nationalen und internationalen Probleme nicht nur eine Frage der<br />
Wirtschaft oder der Rechts- oder Gesellschaftsordnung ist, sondern klare<br />
sittlich-religiöse Werte sowie die Änderung der Gesinnung, des Verhaltens<br />
und der Strukturen erfordert“ (Centesimus annus, 60). Diese Worte<br />
Papst Johannes Pauls II. aus dem Jahr 1991 haben an Aktualität nichts<br />
verloren, sondern eher noch an unmittelbarer Plausibilität hinzu gewonnen.<br />
Gerade im zusammenwachsenden Europa werden immer wieder die<br />
gemeinsamen Grundwerte beschworen und kirchliche Vertreter werden<br />
nicht müde, auf die gemeinsame geschichtliche Prägung unseres Kontinents<br />
durch das Christentum hinzuweisen.<br />
Dennoch stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß es so etwas wie<br />
einen breiten Wertekonsens in Europa überhaupt gibt. Muss man mit Blick<br />
auf die Realität nicht viel mehr von einem Wertepluralismus sprechen?<br />
Können sich Menschen, die unterschiedlichen Religionen oder Weltan-<br />
13
schauungen, unterschiedlichen Nationen, Ethnien, Kulturen, unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Schichten und Lebenswelten angehören, wenigstens<br />
auf ethische Mindeststandards einigen? Wenn wir „Kirche in der Welt<br />
von heute“ (Gaudium et spes) sein und am ethisch-geistigen Fundament<br />
des künftigen Europa mitbauen wollen, müssen wir Christen uns der Wertediskussion<br />
mit anderen gesellschaftlichen Strömungen stellen. Dabei<br />
darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch bei Einigkeit über allgemeine<br />
ethische Maximen und Werte in der praktischen Umsetzung mehr<br />
als nur eine Lösungsmöglichkeit gefunden werden kann. Ein Grundkonsens<br />
ermöglicht legitime Vielfalt im konkreten Handeln. In diesem Bereich<br />
können auch Christen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Es ist<br />
gerade ein Kennzeichen erwachsener Menschen und mündiger Christen,<br />
dadurch entstehende Spannungen aushalten zu können. Ich bin überzeugt,<br />
dass mündige Christen auch mündige Bürger eines vielgestaltigen Europa<br />
sein werden, Europäer, denen das Wohlergehen aller am Herzen liegt.<br />
Als Hilfswerk für Mittel- und Osteuropa pflegt <strong>Renovabis</strong> in besonderer<br />
Weise die partnerschaftliche Solidarität mit den östlich von Deutschland<br />
gelegenen Ländern. Ein aktuelles Beispiel der wechselseitigen Solidarität<br />
von West und Ost möchte ich Ihnen kurz berichten. Am 19. August<br />
übermittelte uns Bischof Pickel aus Russland die Nachricht, dass die<br />
katholische Gemeinde in Stepnoje, einem Ort an der mittleren Wolga,<br />
beschlossen hat, einen Monat lang täglich ein Geheimnis des Rosenkranzes<br />
für die Opfer des Hochwassers in Deutschland zu beten. Hier füllt<br />
sich das Motto vom Austausch der Gaben mit Leben.<br />
Ich freue mich sehr, dass in diesem Jahr Teilnehmer aus 22 Ländern Europas<br />
sich auf den Weg nach Freising zu unserem <strong>Kongress</strong> gemacht haben.<br />
Wir werden uns dem Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es über unterschiedliche<br />
Zugänge annähern und es aus verschiedenen Perspektiven<br />
betrachten. Dazu konnten wir eine Reihe namhafter Referenten gewinnen.<br />
Es ist uns eine ganz besondere Ehre, dass der Vorsitzende der Deutschen<br />
Bischofskonferenz, Seine Eminenz Karl Kardinal Lehmann, das<br />
erste Referat halten wird. Sehr verehrter Herr Kardinal, herzlich willkommen!<br />
Begrüßen darf ich auch György Konrád, den Präsidenten der<br />
Akademie der Künste in Berlin, der heute Nachmittag als zweiter Refe-<br />
14
ent auftreten wird. Für Samstag erwarten wir den Vizepräsidenten des<br />
Europäischen Parlaments, Dr. Ingo Friedrich. Jetzt schon grüßen kann ich<br />
als weiteres Mitglied des Europäischen Parlaments Frau Dr. Maria Martens<br />
aus den Niederlanden.<br />
Begrüßen möchte ich mit großer Freude Herrn Staatsminister Hans Zehetmair,<br />
der als Vertreter der bayerischen Staatsregierung zu uns sprechen<br />
wird. Wie ich erfahren habe, waren Sie sowohl Schüler als auch Lehrer<br />
des Domgymnasiums. Weitere Politiker und Experten aus Bund und Ländern<br />
ebenso wie aus der europäischen Metropole Brüssel sind anwesend<br />
oder werden noch zu uns stoßen. Ihnen gilt ebenso mein Gruß wie den<br />
anwesenden Vertretern des konsularischen Korps von Kroatien, Polen<br />
und Ungarn. Für die Verbundenheit der Stadt Freising mit <strong>Renovabis</strong><br />
steht die Anwesenheit von Herrn Oberbürgermeister Dieter Thalhammer,<br />
den ich mit herzlichem Dank willkommen heiße.<br />
Ein besonderer Gruß gilt allen Vertretern der katholischen Kirche, darunter<br />
auch den Mitgliedern der unierten Kirchen. Nennen möchte ich<br />
Adrianus van Luyn, Bischof von Rotterdam und Vizepräsident der<br />
Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft<br />
(ComECE). Auch der Generalsekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen<br />
(CCEE), Dr. Aldo Giordano, ist unter uns. Herzlich<br />
willkommen sage ich an dieser Stelle auch Weihbischof Leo Schwarz,<br />
Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong>, und natürlich Pater<br />
Eugen Hillengass, meinem Vorgänger.<br />
Ich freue mich sehr, dass viele Bischöfe aus Mittel- und Osteuropa gekommen<br />
sind, denn das ist ein Zeichen der Gemeinschaft und des geistigen<br />
Austauschs zwischen Ost und West. Namentlich nennen möchte ich<br />
Josip Bozanić, Erzbischof von Zagreb und Vize-Präsident des CCEE,<br />
sowie Jan Graubner, Erzbischof von Olmütz und Vorsitzender der Tschechischen<br />
Bischofskonferenz. Verehrter Herr Erzbischof, wir haben nicht<br />
vergessen, dass auch Tschechien von der Flutkatastrophe betroffen ist.<br />
Die unmittelbare Katastrophenhilfe leistet zwar absprachegemäß Caritas<br />
internationalis, die betroffenen Diözesen werden jedoch auch eine Solidaritätshilfe<br />
von <strong>Renovabis</strong> erhalten.<br />
15
Grüße gehen weiterhin an die Repräsentanten zahlreicher katholischer<br />
Organisationen, die mit <strong>Renovabis</strong> in vielfacher Weise verbunden sind.<br />
Stellvertretend genannt sei das Zentralkomitee der deutschen Katholiken,<br />
dessen Präsident, Proffessor Hans Joachim Meyer, auch zum Kreis der<br />
Referenten zählt.<br />
Ein herzliches Willkommen gilt auch den Repräsentanten der Orthodoxen<br />
Kirchen, mit denen <strong>Renovabis</strong> schon seit Jahren auf vielfältige Weise<br />
zusammenarbeitet. Namentlich begrüßen möchte ich Erzbischof Jonathan<br />
von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche aus Cherson. Weiterhin<br />
gelten meine Grüße auch allen anderen Teilnehmern aus den Orthodoxen<br />
Kirchen.<br />
Unsere Gäste aus den evangelischen Kirchen in ganz Europa begrüße ich<br />
sehr herzlich. Von unserer evangelischen Schwesterorganisation „Hoffnung<br />
für Osteuropa“ ist Frau Diana Auwärter zu uns gekommen. Ebenso<br />
heiße ich herzlich willkommen Herrn Dekan Jochen Hauer vom evangelischen<br />
Dekanat Freising.<br />
Aus nah und fern haben <strong>Renovabis</strong> Grußbotschaften erreicht, in denen<br />
dem <strong>Kongress</strong> ein guter und erfolgreicher Verlauf gewünscht wird. Besonders<br />
erwähnen möchte ich die Grüße von Kurienkardinal Walter<br />
Kasper, des Metropoliten Augoustinus von Deutschland, des Vorsitzenden<br />
des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred<br />
Kock, des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard<br />
Schröder, des EU-Kommissars Günter Verheugen und von Hans-Gert<br />
Pöttering, dem Vorsitzenden der Fraktion der Europäischen Volkspartei<br />
(EVP) im Europäischen Parlament.<br />
Nun wünsche ich uns allen Gottes Segen für ein gutes Gelingen des <strong>Kongress</strong>es,<br />
anregende Gespräche und neue Anstöße für die künftige Arbeit.<br />
Lieber Herr Weihbischof Schwarz, ich darf Sie jetzt schon bitten, nach<br />
den Grußworten als Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong><br />
und als Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz den 6. Internationalen<br />
<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> zu eröffnen.<br />
16
Weihbischof Leo Schwarz, Trier<br />
Eröffnung des 6. Internationalen<br />
<strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong><br />
Eminenz, Exzellenzen,<br />
liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,<br />
sehr geehrte Damen und Herren,<br />
liebe Freunde von <strong>Renovabis</strong>,<br />
Zum sechsten Mal lädt <strong>Renovabis</strong>, die Solidaritätsaktion der deutschen<br />
Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, zu einem Internationalen<br />
<strong>Kongress</strong> auf den Freisinger Domberg ein. Ich freue mich,<br />
dass ich als Vorsitzender des Aktionsausschusses von <strong>Renovabis</strong> den<br />
6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> eröffnen kann.<br />
„Europa – eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches Handeln in christlicher<br />
Verantwortung“ – so lautet das Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es.<br />
Wenn der Begriff der europäischen Wertegemeinschaft hier mit einem<br />
Fragezeichen versehen ist, zeigt sich bereits, dass der Konsens über<br />
das ethisch-geistige Fundament durchaus nicht einfach vorausgesetzt<br />
werden kann. Ich wünsche uns, dass wir alle bereit sind, uns von den<br />
Gedanken und Überlegungen zu diesem Thema beschenken lassen.<br />
Die Gestaltung Europas – und ich möchte betonten, Europa ist viel größer<br />
als die Europäische Union! – ist nicht abgeschlossen, sondern ein fortwährender<br />
Prozess. Wir Christen tragen Mit-Verantwortung dafür, dass<br />
die Menschen in Europa sich an Werte gebunden wissen, über die nicht<br />
per Abstimmung entschieden werden kann. Dazu gehört, dass die Kirchen<br />
immer wieder die gleiche Würde aller Menschen betonen. Nur<br />
durch das Insistieren auf der Gleichheit und Ebenbürtigkeit aller Men-<br />
17
schen vor Gottes Angesicht können die Kirchen für den Erhalt der aus<br />
christlicher Sicht grundlegenden gesellschaftlichen Werte eintreten, ohne<br />
dabei als „Wertelieferant“ für eine orientierungslose Gesellschaft vereinnahmt<br />
zu werden.<br />
Die Internationalen <strong>Kongress</strong>e <strong>Renovabis</strong> sind als ein Forum für Informationen,<br />
Gespräche und Begegnungen gedacht und sollen dem Austausch<br />
von Gaben und Erfahrungen aus Ost und West dienen. Das große<br />
Interesse bestätigt, wie wichtig solche Veranstaltungen sind, und wie<br />
groß der Bedarf an Dialog ist. Ich schließe daher mit der Bitte, dass wir<br />
uns dem Wirken des Geistes Gottes öffnen, der uns auf unserem gemeinsamen<br />
Weg führen und leiten wird.<br />
Somit eröffne ich den 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> mit dem<br />
Wunsch, dass er uns darin bestärken möge, christliche Werte in Tat und<br />
Wort gesellschaftlich geltend zu machen.<br />
18
Staatsminister Hans Zehetmair, München<br />
Grüße der Bayerischen Staatsregierung<br />
Zum 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> begrüße ich Sie ganz herzlich<br />
hier in Freising und überbringe Ihnen die besten Wünsche von Ministerpräsident<br />
Dr. Edmund Stoiber. Als Solidaritätsaktion der deutschen<br />
Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa wurde <strong>Renovabis</strong><br />
auf Anregung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken im März<br />
1993 von den deutschen Bischöfen gegründet. Seither vermittelt die Solidaritätsaktion<br />
Partnerschaften und unterstützt Projekte zur Erneuerung<br />
des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens in 27 ehemals kommunistischen<br />
Ländern.<br />
Die Aktion <strong>Renovabis</strong> im Jahr <strong>2002</strong> lenkt den Blick besonders auf den<br />
Mut, die Schaffenskraft und die Erwartungen der Frauen, weil sie in den<br />
sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen der<br />
Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas eine herausragende Rolle spielen.<br />
Dabei kann man den Beitrag vieler lebenserfahrener, starker Frauen<br />
beim Auf- und Wiederaufbau von menschenwürdigen Lebensverhältnissen<br />
gar nicht hoch genug einschätzen. Hinzu kommt das Zeugnis jener –<br />
meist älteren – Frauen, die den Glauben über Generationen weitergegeben<br />
haben. Diesen Frauen haben wir es zu verdanken, dass die Botschaft<br />
Jesu über die Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa<br />
nicht in Vergessenheit geriet.<br />
Der diesjährige <strong>Kongress</strong> hat das Thema „Europa – eine Wertegemeinschaft?<br />
Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung“. Ich<br />
bin überzeugt: Wir müssen unsere in über 2000 Jahren gewachsene<br />
christlich-abendländische Kultur bewahren. Wir dürfen uns unsere<br />
christliche, europäisch geprägte Kultur weder von ideologischen Gesellschaftsveränderern<br />
noch von Extremisten nehmen lassen, aus welchem<br />
19
Lager sie auch stammen. Wir müssen unsere religiösen, philosophischen<br />
und politischen Wertvorstellungen verteidigen, weil wir wollen, dass<br />
Europa künftigen Herausforderungen gewachsen ist. Unsere parlamentarische<br />
Demokratie und unser politischer und gesellschaftlicher Pluralismus<br />
sind auf Dauer nur lebensfähig, wenn die Grundordnung durch einen<br />
gemeinsamen Ordnungs- und Wertekonsens zusammengehalten wird.<br />
Diese Werteordnung ist wesentlich von der Tradition des Katholizismus<br />
und des Christentums geprägt. Christliche Werte sind das Fundament<br />
unseres Staates. Mit dem Verlust dieser Werteordnung käme uns ein Teil<br />
unserer Gemeinsamkeit abhanden. Unsere ethische Orientierung wäre<br />
bedroht. Ein Staat, dessen weltanschauliches Fundament wegbricht, ist<br />
jedoch auf Dauer nicht lebensfähig.<br />
Die Grundpfeiler einer christlich begründeten Wertordnung für Staat und<br />
Gesellschaft sind die Würde des Menschen, das Recht auf Entfaltung der<br />
Persönlichkeit, der Schutz des Lebens und die Bewahrung der uns von<br />
Gott anvertrauten Schöpfung, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, der<br />
Schutz von Ehe und Familie und die daraus abzuleitenden unveräußerlichen<br />
Menschen- und Grundrechte. Dies ist das Fundament der Gerechtigkeit.<br />
Hierzu stellt der Kirchenvater Augustinus, der im abendländischen<br />
Kultur- und Geschichtsbewusstsein wie kaum ein anderer fortlebt, in seinem<br />
Werk „Wahrheit und Liebe“ fest: „Fehlt einem Staate die Gerechtigkeit,<br />
was ist er denn anderes als eine große Räuberbande!“ Wenn es eines<br />
Beweises bedurft hätte, dass eine gottlose Staatsphilosophie in Korruption<br />
und Unterdrückung endet, haben ihn die Nationalsozialisten sowie<br />
die Kommunisten und Sozialisten in der DDR und in den osteuropäischen<br />
Staaten erbracht. Wir Katholiken sehen den Menschen als ein einmaliges<br />
Geschöpf Gottes an, mit unantastbarer Würde, selbstverantwortlich und<br />
frei und in seinem Gewissen gebunden. Politik aus christlicher Verantwortung<br />
ist deshalb auf die Person, auf das Individuum bezogen: Im Mittelpunkt<br />
steht der an Werte gebundene, nicht der von der Gesellschaft gegängelte<br />
und gesteuerte, nicht der von der Wiege bis zur Bahre vom Staat<br />
bevormundete Bürger und Mitmensch.<br />
Der Staat kann die ethischen Voraussetzungen, von denen er lebt, nicht<br />
selber schaffen. Deshalb ist es die zentrale Aufgabe des Staates und we-<br />
20
sentliche Leitlinie unserer Politik, die christlich begründeten Wertvorstellungen<br />
zu schützen. Für mein persönliches und politisches Handeln ist die<br />
Orientierung an christlichen Werten und Normen oberster Grundsatz.<br />
Schließlich können wir die verfassungsrechtlichen Errungenschaften eines<br />
freiheitlichen Rechtsstaates und die Garantie der Menschen- und Grundrechte<br />
nur aus diesem christlichen Erbe heraus verstehen. Wir alle müssen<br />
dazu beitragen, unser gemeinsames Wertebewusstsein konsequent weiterzuentwickeln<br />
und zu stärken, damit wir den nachfolgenden Generationen<br />
die grundlegende ethische Orientierung geben können. Übersteigerter Individualismus<br />
gefährdet unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung; Toleranz,<br />
Hilfsbereitschaft und Hinwendung zum Mitmenschen jedoch erfüllen<br />
sie mit Leben. „Ehrfurcht vor Gott“ und „Achtung vor religiöser Überzeugung“<br />
spielen bereits in der schulischen Erziehung eine große Rolle und<br />
gehören in Bayern zu den obersten Bildungszielen. Nach Artikel 135 unserer<br />
Bayerischen Verfassung sind unsere Schulen als christliche Gemeinschaftsschulen<br />
definiert. Die Kruzifixe in den Klassenzimmern bringen<br />
dies zum Ausdruck. Wir müssen eine solide Wertebasis, auch den notwendigen<br />
gemeinsamen Grundkonsens, schon bei den jungen Menschen festigen.<br />
Der Staat ist verpflichtet, jene Fähigkeiten, Überzeugungen und<br />
Tugenden nach Kräften zu fördern, die für das gute Zusammenleben seiner<br />
Bürgerinnen und Bürger unentbehrlich sind – und die Schule ist dabei ein<br />
entscheidendes Instrument.<br />
Wir können zentrale Fragen unseres Lebens nur mit Hilfe der christlichen<br />
Wertorientierung lösen, die die Grundlage der Bayerischen Verfassung<br />
und auch des Grundgesetzes darstellt. Kultur, Geschichte und Religion<br />
formen den Kernbestand gemeinsamer Grundüberzeugungen, sie sind<br />
die Bindemittel für den Zusammenhalt der Nation. Dazu gehört ganz zentral<br />
unser christlicher Glaube. Kulturelle und historische Identität gibt<br />
den Menschen Prägung, Unverwechselbarkeit und Halt. Nationale Identität<br />
macht den Menschen selbstbewusst und weniger anfällig für Ideologien<br />
und Ängste aller Art. In diesem Sinne wünsche ich dem diesjährigen<br />
<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> mit seinen hoch aktuellen Fragestellungen einen<br />
erfolgreichen Verlauf.<br />
21
Grußworte an die<br />
Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
des 6. Internationalen<br />
<strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong>
Interessierte<br />
Zuhörer, oben von<br />
links: Weihbischof<br />
Schwarz, Erz bischof<br />
Bozanić, Kardinal<br />
Lehmann;<br />
unten von links:<br />
Professor Fedorov,<br />
Professor Meyer,<br />
Professor Bremer,<br />
Pater Demuth
Grußwort des Vorstehers der Griechisch-Orthodoxen<br />
Metropolie von Deutschland und des Exarchats von Zentraleuropa<br />
des Ökumenischen Patriarchats<br />
Mit großem Bedauern muss ich auch in diesem Jahr dem <strong>Renovabis</strong>-<br />
<strong>Kongress</strong> fernbleiben wegen dienstlicher Termine, die ich nicht verlegen<br />
kann. Deshalb grüße ich auf diese Weise alle Teilnehmer der Tagung in<br />
Freising auf das herzlichste!<br />
Die Themen der bisherigen <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong>e fielen nicht nur durch<br />
ihre aktuelle Wichtigkeit auf, sondern auch durch ihre grundsätzlich-gültige<br />
Bedeutung, die über den jeweiligen <strong>Kongress</strong> weit hinausreichte. So<br />
ist es auch in diesem Jahr! Es ist unbestritten, dass die so genannten Grundwerte<br />
eine entscheidende Rolle beim Zusammenwachsen der Völker Europas<br />
spielen müssen. Leider ist aber das Nachdenken und das Ge spräch über<br />
die Werte unseres Lebens und Handelns in den letzten Jahren mehr und<br />
mehr zurückgetreten. Zwar gibt es gelegentlich Anstöße zur Diskussion<br />
bei Einzelproblemen – wie z.B. der Genforschung mit allen ihren Folgen – ,<br />
die dann allerdings oft auf juristische Weise gelöst werden.<br />
Ich begrüße es daher sehr, dass auf dem diesjährigen <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong><br />
von den grundlegenden Werten unserer künftigen euro päischen Gesellschaft<br />
gesprochen werden soll. Dass es für uns dabei in erster Linie um<br />
christliche Werte gehen muss, ist selbstverständlich – und das nicht nur<br />
deshalb, weil wir als Kirchen sprechen und handeln, sondern weil ich zutiefst<br />
davon überzeugt bin, dass nur die Werte des christlichen Glaubens<br />
und Lebens die wahren Werte sind, die allen Stürmen der Zeit standhalten<br />
sowie die Veränderungen der Welt- und Geistesge schichte überdauern<br />
können.<br />
Zu dieser Arbeit wünsche ich dem <strong>Kongress</strong> den Beistand des dreieinen<br />
Gottes und Seinen Segen, damit er seinerseits ein Segen werde für das<br />
werdende vereinte Europa und seine Völker.<br />
Metropolit Augoustinos von Deutschland<br />
und Exarch von Zentraleuropa<br />
25
Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
Mit der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Staaten in die Europäische<br />
Union wird die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig<br />
überwunden. Die politischen und wirt schaftlichen Aspekte der EU-<br />
Erweiterung werden allerorts dis kutiert; der 6. Internationale <strong>Kongress</strong><br />
<strong>Renovabis</strong> geht indes der Frage nach, ob das geeinte Europa auch für<br />
gemeinsame Werte steht.<br />
Die traditionellen Werte des europäischen Abendlandes beruhen auf dem<br />
christlichen Menschenbild, auf der Aufklärung und den daraus abgeleiteten<br />
politischen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger. Ich bin überzeugt,<br />
dass diese Grundwerte für die Men schen in Europa heute aktueller sind<br />
denn je. Es geht darum, sie lebendig zu erhalten und Entwicklungen entgegen<br />
zu wirken, die unter dem Deckmantel der Modernität oder der<br />
Globalisie rung den humanistischen Traditionen Europas zuwiderlaufen.<br />
In diesem Prozess stehen auch die christlichen Kirchen in schwierigen<br />
Herausforderungen. <strong>Renovabis</strong>, die Solidari tätsaktion der deutschen Katholiken<br />
mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, wird dazu – davon<br />
bin ich überzeugt – mit ihrem <strong>Kongress</strong> auch in diesem Jahr einen wichtigen<br />
Beitrag leisten. Ich wünsche intensive, fruchtbare und er geb nisorientierte<br />
Beratungen.<br />
26<br />
Wolfgang Clement
Grußwort des Präsidenten des Päpstlichen Rates<br />
für die Einheit der Christen<br />
Zuerst möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung zum 6. Internationalen<br />
<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> mit dem Thema „Europa – eine Wertegemeinschaft?<br />
Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung“ bedanken.<br />
Leider kann ich durch verschiedene andere Verpflichtungen nicht persönlich<br />
teilnehmen. Dies bedauere ich umso mehr, da ich mich der Arbeit<br />
von <strong>Renovabis</strong> und besonders dieser Initiative verbunden fühle. Auch das<br />
gewählte Thema des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es ist für mich von größtem Interesse,<br />
denn es zeigt die unauflösbare Verbindung des allgemeinen gesellschaftlichen<br />
und sozialen Lebens und der Kirche, die darin ihren Ort hat.<br />
Der Fall der Mauer in Europa war kein Zufall. Der Zusammenbruch einer<br />
künstlichen und gewaltsamen Trennung war der Ausdruck des natürlichen<br />
Wunsches von Menschen, die zusammen gehören, auch zusammen<br />
zu leben. Es ist deshalb ebenso wenig ein Zufall, dass wir vom gemeinsamen<br />
europäischen Haus sprechen, wenn wir die Vision formulieren, die<br />
wir für Europa haben.<br />
Etwas mehr als zehn Jahre nach dem Fall der Mauer kann man zwei Feststellungen<br />
machen: Eine Ideologie, welche die spirituelle Dimension des<br />
Menschen leugnete, betrieb nicht nur einen materiellen, sondern auch<br />
einen moralischen Raubbau. Andererseits muss man genauso sagen, dass<br />
inzwischen die Gefahr besteht, dass materieller Fortschritt und ökonomischer<br />
Erfolg den Platz von grundlegenden humanen Werten einnehmen<br />
wollen, die dem Menschen Sinn geben. Der wirtschaftliche Erfolg verdrängt,<br />
reduziert und relativiert menschliche Werte. Diese beiden Realitäten,<br />
die eine schon gescheitert, die andere zum Scheitern verurteilt,<br />
muss man im Blick behalten, wenn man sich über den Aufbau des<br />
gemeinsamen Hauses Europa Gedanken macht: Wir können im individuellen<br />
und gesellschaftlichen Leben von fundamentalen Werten nicht absehen<br />
und müssen sowohl die materielle als auch die spirituelle Dimension<br />
des Menschen im Blick behalten. Nur so können wir eine glückliche<br />
und friedliche Zukunft Europas gestalten.<br />
27
Europa hat ohne Zweifel christliche Wurzeln. Ja, man kann sogar sagen,<br />
ohne das Christentum wäre Europa nicht zu der kulturellen Größe geworden,<br />
die wir Europa nennen. Die eine christliche Tradition hat jedoch<br />
schon in den ersten Jahrhunderten in Ost und West unterschiedliche spirituelle,<br />
institutionelle, liturgische und theologische Ausdrucksformen gefunden.<br />
Die Berliner Mauer ist zwar gefallen, aber der kulturelle Unterschied<br />
und die Entfremdung zwischen West- und Ostrom wirken noch<br />
immer nach. Wir werden das eine gemeinsame Haus Europa nicht errichten<br />
können, wenn es nicht gelingt, zu einer ökumenischen Annäherung<br />
zwischen dem lateinischen und dem byzantinisch-slawischen Christentum,<br />
welche beide die Kultur der jeweiligen Völker geprägt haben, zu<br />
kommen. Dabei hat die zutiefst religiös geprägte Kultur Osteuropas<br />
Westeuropa vieles zu geben.<br />
Aber noch immer ist in Ost- und Westeuropa viel zu tun, um alte Vorurteile<br />
abzubauen und zu einem besseren und tieferen gegenseitigen Verständnis<br />
und zu einer gegenseitigen Achtung und Wertschätzung zu kommen<br />
und so eine Wertegemeinschaft aufzubauen, welche über den materiellen<br />
und ökonomischen Fortschritt hinausgeht und zu einer dauerhaften<br />
Versöhnung der Herzen der Menschen führt.<br />
<strong>Renovabis</strong> hat für diese große Aufgabe schon bisher einen wichtigen Beitrag<br />
geleistet, der Dank und Anerkennung verdient. Ich wünsche Ihrer<br />
Tagung gute Ergebnisse, um auf dem eingeschlagenen Weg mit neuen<br />
Ideen, mit Engagement und mit Zuversicht weiterzugehen. In diesem<br />
Sinn sende ich Ihnen meine herzlichsten Segenswünsche.<br />
28<br />
Walter Kardinal Kasper
Grußwort des Ratsvorsitzenden<br />
der Evangelischen Kirche in Deutschland<br />
Der 6. Internationale <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> findet in einer Zeit statt, in der<br />
im „Konvent zur Zukunft Europas“ die Mitgliedsstaaten der Europäischen<br />
Union und die Beitritts länder gemeinsam darüber beraten, auf<br />
welcher Grundlage Europa weiter zusam menwachsen soll. Die Evangelische<br />
Kirche in Deutschland und die Deutsche Bi schofskonferenz sind<br />
sich mit ihren ökumenischen Partnern darüber einig, dass da bei nicht nur<br />
politische und ökonomische Fragen sowie institutionelle Regelungen zu<br />
bedenken sind. Es muss vielmehr auch die Wertegebundenheit der Europäischen<br />
Union bei der Überarbeitung des Europäischen Vertragswerks<br />
deutlich gemacht werden. Dazu gehören die Religionsfreiheit und das<br />
Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Reli gionsgemeinschaften.<br />
Versöhnung, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind<br />
Themen, die die Kirchen seit langem in die europäische Debatte einbringen.<br />
Sie plädieren für ein Europa, in dem Eigenverantwortung und Solidarität<br />
gerecht austariert werden.<br />
Deutlich ist: Eine Europäische Union, die sich als Wertegemeinschaft<br />
versteht, muss anerkennen, dass sie auf Voraussetzungen beruht, die sie<br />
sich nicht selbst schaffen kann. Die Kirchen und Christen in Europa müssen<br />
diese Wertegebundenheit aus drücklich machen und sich darüber verständigen,<br />
wie sie in konkretes gesellschaftli ches Handeln umgesetzt<br />
werden kann.<br />
Ich bin dankbar, dass der 6. Internationale <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> sich dieser<br />
Thematik stellt, und wünsche den Beratungen einen guten Verlauf.<br />
Manfred Kock<br />
29
Grußwort des Vorsitzenden der Fraktion der Europäischen<br />
Volkspartei (Christlich-Demokratische Fraktion) im<br />
Europäischen Parlament<br />
In diesem Jahr beschäftigt sich der <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong> mit dem so<br />
grundsätzlichen und wichtigen Thema der gemeinsamen Grundwerte im<br />
zusammenwachsenden Europa des 21. Jahrhunderts. Ich begrüße es sehr,<br />
dass Sie die Auseinandersetzung mit den ethisch-geistigen Grundlagen<br />
Europas in den Mittelpunkt Ihrer Diskussionen stellen.<br />
Das Wertefundament, mit dem das europäische Haus unterlegt ist, stellt<br />
das Ergebnis europäischer Geschichte und Kultur dar. Die christliche<br />
Vorstellung von der unantastbaren Würde jedes Menschen sowie die davon<br />
abgeleiteten unveräußerlichen Menschenrechte bilden das Kernstück<br />
dieser historisch gewachsenen Wertegemeinschaft. Schon die Gründerväter<br />
der Europäischen Union, Konrad Adenauer, Robert Schuman und<br />
Alcide de Gasperi, waren den geistig-religiösen Wurzeln Europas zutiefst<br />
verhaftet und stellten bei ihren Überlegungen das Individuum in den Vordergrund.<br />
Mit Recht können wir behaupten, dass Europa mehr als nur<br />
eine auf wirtschaftliche Faktoren zu reduzierende Zweckgemeinschaft<br />
ist. Europa ist vielmehr ein enger Staatenverbund, dessen Handeln von<br />
klaren ethischen Prinzipien geleitet ist. Diese Prinzipien gilt es nun auch<br />
bei den vor uns liegenden wegweisenden Entscheidungen über die Erweiterung<br />
der Europäischen Union zum Tragen zu bringen und somit<br />
Europa als Wertegemeinschaft weiter zu festigen.<br />
Ich wünsche dem 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> einen erfolgreichen<br />
Verlauf und den Teilnehmerinnen und Teilnehmer viele interessante<br />
Vorträge und Gespräche.<br />
30<br />
Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering MdEP
Grußwort des Bundeskanzlers<br />
der Bundesrepublik Deutschland<br />
Den Veranstaltern, Teilnehmern und Gästen des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es<br />
<strong>Renovabis</strong> <strong>2002</strong> übermittle ich meine herzlichen Grüße.<br />
Unserer Generation bietet sich die großartige Chance, Europa zu einem<br />
Ort der Demokratie, des Friedens und der Wohlfahrt seiner Menschen zu<br />
machen. Diese Chance zu nutzen, ist nicht Aufgabe der Politik allein. Gefordert<br />
sind alle gesell schaftlichen Gruppen, gefordert sind nicht zuletzt<br />
auch die Kirchen.<br />
Die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken <strong>Renovabis</strong> und die jährlichen<br />
<strong>Kongress</strong>e mit Teilnehmern aus ganz Europa verbinden praktische<br />
Hilfe mit einer breiten öffentlichen Debatte über die künftige Ausgestaltung<br />
Europas.<br />
Fundamentale Werte liegen dem europäischen Einigungswerk zugrunde:<br />
Recht staatlichkeit, Demokratie und ein Katalog von Menschenrechten,<br />
wie er in der Europäischen Menschenrechtskonvention und inzwischen<br />
auch in der Grund rechtecharta der Europäischen Union niedergelegt<br />
ist. Daneben aber gehören auch Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Anteilnahme,<br />
Zivilisiertheit und Verantwortlichkeit zu unserem ethischen Fundament.<br />
Die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in<br />
Mittel- und Osteuropa trägt es bereits im Namen: Das Engagement –<br />
haupt- und ehrenamtlich oder durch Spenden – zur Versöhnung, zur Ermutigung,<br />
als Hilfe zur Selbsthilfe.<br />
Ich wünsche Ihnen allen ein gutes Miteinander, anregende Gespräche<br />
und Stunden der gemeinsamen Besinnung.<br />
Gerhard Schröder<br />
31
Grußwort des Ministerpräsidenten des Landes<br />
Baden-Württemberg<br />
Die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verbindungen zu unseren<br />
mittel- und osteuropäischen Nachbarn sind in den letzten Jahren intensiver<br />
geworden. Lebhafte Dynamik kennzeichnet unsere vertrauensvolle<br />
Zusammenarbeit, die sowohl im Großen als auch im Kleinen unsere<br />
Partnerschaft hat erblühen lassen.<br />
Diesen Weg zu einer großen europäischen Gemeinschaft gilt es fortzusetzen,<br />
um Frieden und Freiheit für unsere Kinder zu sichern. Die grundlegende<br />
Voraussetzung für den Aufbau einer Gemeinschaft stellt ein gemeinsamer<br />
Konsens der Werte dar. Diese Werte können nicht von oben<br />
angeordnet werden, sie müssen aus der Mitte der Gesellschaft kommen.<br />
Aus diesem Grund bin ich den Veranstaltern der Solidaritätsaktion der<br />
deutschen Katholiken, <strong>Renovabis</strong>, sehr dankbar, dass sie sich für diese<br />
Diskussion einsetzen und sie weiter tragen. Die Kirchen müssen auch<br />
weiterhin eine zentrale Stellung bei der Vermittlung wichtiger Werte wie<br />
Toleranz, Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit einnehmen. Ihr Beitrag für<br />
Menschenrechte und Demokratie unter der kommunistischen Herrschaft<br />
und beim Aufbau der neuen Ordnung bleibt unvergessen. Viele Projekte<br />
der Solidaritätsaktion wären ohne die Hilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter<br />
nicht möglich. Ich möchte ihnen an dieser Stelle meinen Dank aussprechen<br />
für ihr Engagement und ihren Einsatz.<br />
Allen Teilnehmern wünsche ich konstruktive und wertvolle Gespräche<br />
und Diskussionen. Die Ergebnisse werden die Entwicklung der gemeinsamen<br />
europäischen Zukunft bereichern.<br />
32<br />
Erwin Teufel
Grußwort des Präsidenten<br />
des Deutschen Bundestages<br />
„Europa – eine Wertegemeinschaft?“ – Das Thema, dem sich der 6. Internationale<br />
<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> widmet, ist eines der wichtigsten für die<br />
künftige Entwicklung Europas, gerade mit Blick auf die anstehende EU-<br />
Osterweiterung.<br />
Politisch und auch ökonomisch ist der europäische Einigungsprozess<br />
über fünf Jahrzehnte insgesamt erfolgreich verlaufen. Wenn es aber um<br />
die Entwicklung eines verbindenden Europabewusstseins, um Orientierung<br />
des Denkens und Handelns an gemeinsamen Werten geht, liegt noch<br />
ein beträchtlicher Weg vor uns. Die Entwicklung zu einer europäischen<br />
Bürgergesellschaft ist jedoch von entscheidender Bedeutung für die<br />
Zukunft Europas. Gerade für die Menschen in Mittel- und Osteuropa ist<br />
wichtig, dass sie die Europäische Union nicht ausschließlich als Wirtschaftsmacht<br />
wahrnehmen. Die Ökonomie allein kann für Europa kein<br />
tragfähiges Konzept sein. Deshalb muss auch im Westen unseres Kontinents<br />
immer wieder ins Bewusstsein gerückt werden: Vor allem anderen<br />
ist die Europäische Union eine Wertegemeinschaft, die der Achtung der<br />
Menschenwürde, der Sicherung von Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit,<br />
der Fortentwicklung von Solidarität und bürgerschaftlichem<br />
Engagement verpflichtet ist.<br />
Für das Einfordern dieser Wertorientierung sind die Kirchen besonders<br />
wichtig. Schließlich praktizieren sie seit langem über Grenzen hinweg<br />
Solidarität, engagieren sich für alte, kranke und behinderte Menschen,<br />
nehmen im europäischen Rahmen gesamtgesellschaftliche Verantwortung<br />
wahr. Damit fördern sie gemeinschaftliches Denken und Handeln<br />
der Europäer in Ost und West. Die Ausbildung eines so verstandenen Europabewusstseins<br />
wird in den kommenden Jahren weiter an Bedeutung<br />
gewinnen. Deshalb wünsche ich dem 6. Internationalen <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong><br />
erfolgreiche Beratungen.<br />
Wolfgang Thierse<br />
33
Grußwort des Kommissars der Europäischen Union<br />
für Erweiterung<br />
Die europäische Integration ist, unbeschadet aller einzelnen Problem und<br />
Mängel, eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Sie schuf Frieden und Verständigung<br />
zwischen den Mitgliedstaaten und löste so die Hoffnungen<br />
und Sehnsüchte vieler Generationen Europäer ein. Die westeuropäischen<br />
Gesellschaften blühten auf und erreichten ein nie gekanntes Wohlstandsniveau.<br />
Es ist diese Integrationsleistung, die die Europäische Union zu<br />
einem attraktiven Partner für andere machte und die sie heute in die<br />
Pflicht nimmt, als globaler Akteur ihrer internationalen Verantwortung<br />
voll nachzukommen. Das Fundament der Integration ist solide: sie ruht<br />
auf den universellen Werten, die im Europa der Aufklärung ihren Ausgangspunkt<br />
haben. In Artikel 6 des EU-Vertrags heißt es dazu: „Die<br />
Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung<br />
der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtstaatlichkeit.“<br />
Diese Werte werden von der Europäischen Union nachdrücklich<br />
verteidigt. Das gilt auch für den Erweiterungsprozess, der einen wichtigen<br />
weiteren Schritt zur Einigung des europäischen Kontinents darstellt.<br />
Das politische Bekenntnis des EU-Staaten zur Erweiterung ist zunächst<br />
und zuallererst daran geknüpft, dass neue Mitgliedstaaten willens und in<br />
der Lage sind, die universellen Werte zu erfüllen und gemeinsam mit uns<br />
zu verteidigen. Die Kandidatenländer, die dieses Beitrittskriterium erfüllen,<br />
wurden zu Verhandlungen um die Mitgliedschaft in der Europäischen<br />
Union eingeladen, und es ist unzweifelhaft, dass diese Haltung der Europäischen<br />
Union in den mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern<br />
die schnelle Etablierung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, die<br />
Achtung der Menschen- und den Schutz der Minderheitenrechte klar befördert<br />
hat. Wenn alles nach dem vorliegenden Zeitplan verläuft, dann<br />
werden wir bis zu zehn neue Mitgliedstaaten noch vor den Europawahlen<br />
im Jahr 2004 willkommen heißen können.<br />
Das sich erweiternde Europa ist nicht zuallererst von wirtschaftlichen<br />
Überlegungen bestimmt, sondern von politisch-moralischen und strategischen<br />
Zielen. Europa wird stärker werden, in der Verteidigung seiner<br />
34
Werte und Vorstellungen über das gesellschaftliche Zusammenleben von<br />
Menschen. Europa wird aber auch differenzierter werden. Schon jetzt<br />
können wir beobachten, dass die Kandidatenländer, die viele leider noch<br />
als bloße künftige finanzielle Bürde wahrnehmen, zwar zu Recht auf<br />
unsere Solidarität setzen, aber weit über finanzpolitische Erwägungen<br />
hinaus sich um ihren originären Beitrag für den Zusammenhalt der erweiterten<br />
Union sorgen und dabei Themen wie die Gestaltung der Beziehungen<br />
zu unseren künftigen Nachbarn im Süden und Osten Europas genauso<br />
eine Rolle spielen wie die Verteidigung von Werten und der eigenen Identität.<br />
Um dieses Potenzial besser zu nutzen, muss die europäische<br />
Integration weiter gestärkt werden. Nur ein Mehr an Europa wird es uns<br />
ermöglichen, in der globalisierten Welt den spezifischen europäischen<br />
Weg zu verteidigen und stärker in der internationalen Politik zu verankern.<br />
Gleichzeitig muss dieses Europa für seine Bürger wieder attraktiv<br />
sein. Transparenz und möglichst bürgernahe Entscheidungen sind dafür<br />
unerlässlich. Aber genauso unerlässlich ist auch, dass eine Mehrheit wieder<br />
offensiv für die Integration einsteht. Die politischen, geistlichen, wissenschaftlichen<br />
und kulturellen Eliten sind hier in der Pflicht. Selbstverständlich<br />
bleibt richtig, dass nicht alles so weiter gehen kann und darf wie<br />
bisher. Aber ebenso richtig ist auch, dass die europäische Einigung eine<br />
Friedensleistung ist, die niemand im Interesse des künftigen gutnachbarlichen<br />
Zusammenlebens zwischen den unterschiedlichsten Völkern und<br />
Kulturen kleinreden oder gar aufgeben darf.<br />
Ich freue mich deshalb um so mehr, dass sich der diesjährige <strong>Renovabis</strong>-<br />
<strong>Kongress</strong> eingehend mit der Frage beschäftigt, auf welchen Werten dieses<br />
zusammenwachsende Europa gebaut ist und welche Bedeutung ihnen<br />
heute noch in unseren Gesellschaften zukommt. Daher begrüße ich Sie<br />
alle ganz herzlich und wünsche Ihnen allen eine informative, anregende<br />
und angenehme Zeit in Freising.<br />
Günter Verheugen<br />
35
Grußwort des Thüringer Ministerpräsidenten<br />
Vor 2500 Jahren schrieb der griechische Geschichtsschreiber Herodot:<br />
„Von Europa weiß kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist,<br />
noch wonach es benannt ist, noch wer es war, der ihm den Namen Europa<br />
gegeben hat.“ Bis heute gibt es die Schwierigkeit zu definieren, was<br />
Europa ausmacht. Europa ist eben nicht nur ein vager geographischer<br />
Begriff, sondern – wie der französische Philosoph Henri-Bernard Lévy<br />
gesagt hat – „eine Idee“.<br />
Politiker wie Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi, Paul-<br />
Henri Spaak, Konrad Adenauer und andere haben begonnen, der Idee eines<br />
friedlichen und geeinten Europas Gestalt zu geben. Die Sehnsucht<br />
nach Frieden, Stabilität und Wohlstand schuf die Bereitschaft zur Zusammenarbeit.<br />
Es war aber auch die Erfahrung und die Anschauung zweier<br />
totalitärer Regime, die die Menschen – zunächst leider nur in Westeuropa<br />
– zueinander finden ließ.<br />
Vor diesem historischen Hintergrund war die Bedeutung der Grundwerte<br />
– die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />
– im freien Teil Europas nach dem Zweiten Weltkrieg niemals<br />
umstritten. Im Gegenteil: Die Besinnung auf diese Werte, deren<br />
Wurzeln in der gemeinsamen jüdisch-christlich-abendländischen Kultur<br />
liegen, bildete die geistige Grundlage für das Zusammenwachsen der<br />
Völker Europas, und sie ist es bis heute geblieben. Europa ist eine Wertegemeinschaft!<br />
Wirtschaftliche und politische Zusammenschlüsse gibt es<br />
inzwischen viele auf der Welt, aber keine andere Gemeinschaft hat sich<br />
eine Grundrechtecharta gegeben.<br />
Die Visionen von damals, ein geeintes und demokratisches Europa zu<br />
schaffen, sind zu einem großen Teil Wirklichkeit geworden. Leider fehlt<br />
uns heute gelegentlich die Kraft, neue Visionen zu entwickeln, und wir<br />
können es jungen Leuten nicht übel nehmen, dass sie es wenig spannend<br />
finden, wenn wir ihnen sagen: „Seid dankbar, dass die Visionen von damals<br />
erfüllt sind.“ Es reicht eben nicht, in Europa über Milch-, Fleisch-<br />
36
oder Bananenquoten zu debattieren. Dann werden die Bürgerinnen und<br />
Bürger in den Mitgliedstaaten die Europäische Union auf Dauer nicht<br />
mehr als die ihre betrachten. Wir brauchen eine Diskussion über unsere<br />
Grundsätze und Ziele.<br />
Durch die abscheulichen Attentate vom 11. September 2001 hat diese<br />
Diskussion noch mehr an Bedeutung gewonnen. Die Anschläge in New<br />
York und Washington waren ein Angriff auf die ganze freie Welt. Auch<br />
deswegen müssen wir uns erneut klar machen, wofür Europa und die<br />
demokratische Staatengemeinschaft stehen und wofür wir in Zukunft<br />
eintreten wollen.<br />
„Europa – eine Wertegemeinschaft?“ lautet der Titel des 6. Internationalen<br />
<strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong>. Das Fragezeichen fordert uns heraus, neu über<br />
die geistigen Grundlagen Europas nachzudenken. Eine Herausforderung,<br />
für die ich <strong>Renovabis</strong> dankbar bin! Gerade Christen sind dazu aufgerufen<br />
mitzuhelfen, wenn es darum geht, die gemeinsame Wertebasis in Europa<br />
weiter zu stärken und klar zu machen, dass Europa selbstverständlich nur<br />
als Wertegemeinschaft eine Zukunft hat.<br />
Europa ist unsere Zukunft in einer globalisierten Welt, die wir nicht zu<br />
fürchten brauchen, sondern die wir mit gestalten müssen. Schreckensszenarien<br />
von einer globalisierten Welt beschwören meist nur diejenigen,<br />
denen es an Selbstbewusstsein und klaren Wertmaßstäben mangelt. Wenn<br />
wir unsere grundlegenden Werte zur Maxime unseres Handelns machen,<br />
dann kann auch eine globalisierte Welt eine humane Welt sein. Bei allen<br />
Problemen, die uns bewegen – gerade wir Christen sollten uns einig sein:<br />
Zuversicht ist angebracht – nicht Resignation!<br />
Dr. Bernhard Vogel<br />
37
P. Dietger Demuth CSsR<br />
Schlusswort<br />
Am Ende des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong> ist es sicher noch<br />
zu früh, eine umfassende Bilanz zu ziehen. Ich möchte daher lediglich<br />
stichwortartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit noch einmal einige<br />
Aspekte aufgreifen, die in den vergangenen zwei Tagen zum Thema „Europa<br />
– eine Wertegemeinschaft? Gesellschaftliches Handeln in christlicher<br />
Verantwortung“ zur Sprache kamen.<br />
Zunächst wurde festgehalten, dass die Kultur Europas unzweifelhaft von<br />
christlichen Wurzeln mitgeprägt ist. Unter den Bedingungen freiheitlicher<br />
Gesellschaften besagt dies jedoch keineswegs, dass christliche<br />
Werte unangefochten allgemeine Akzeptanz erfahren. Wer sich auf die<br />
Bedingungen der Freiheit einlässt, der muss mit Pluralismus leben lernen.<br />
Die Tugend der Toleranz, die nicht Gleichgültigkeit bedeutet, ist hierfür<br />
unabdingbar. Wenn wir keinen in der Gefahr des Fundamentalismus stehenden<br />
Rückzug der Kirchen aus dem öffentlichen Leben wollen, müssen<br />
wir uns als Christen dem Dialog der unterschiedlichen gesellschaftlichen<br />
Kräfte stellen.<br />
Interkonfessionelle Kooperation ist dabei gerade in der Soziallehre und<br />
-verkündigung wichtig, denn das Wort der Christen wird um so glaubwürdiger<br />
und gewichtiger, wenn sich die Kirchen bei gesellschaftlich<br />
relevanten Themen mit einer Stimme am öffentlichen Diskurs beteiligen.<br />
Spaltung oder Uneinigkeit der Christen, zwischen oder auch quer durch<br />
die verschiedenen Konfessionen, können sich in diesem Bereich besonders<br />
negativ auswirken.<br />
Das viel zitierte Wort, dass der Staat die Voraussetzungen, von denen er<br />
lebt, nicht selber schaffen kann, verweist auch darauf, dass die Gesell-<br />
38
schaft selbst dafür Verantwortung trägt, nach welchen Werten ihr Leben<br />
ausgerichtet ist. Politik und Gesetzgebung können – zumal in einer Demokratie<br />
– nur Werte stützen und schützen, die von der Mehrheit der<br />
Menschen bejaht werden. Abgesehen von den fundamentalsten Grundwerten<br />
sind regionale und kulturelle Unterschiede etwa in der Wertehierarchie<br />
der Normalfall. Ost und West können sich hier gegenseitig mit ihren<br />
jeweils besonders ausgeprägten und in der Lebenspraxis konkret<br />
erfahrbaren Wertvorstellungen bereichern.<br />
Ich möchte zum Abschluss einmal in Anlehnung an eine Formulierung<br />
von Immanuel Kant sagen – und hinzufügen: auch von Rita Waschbüsch<br />
– „Handeln ohne Orientierung an Werten ist blind, Wertbekenntnisse<br />
ohne entsprechendes Handeln sind blutleer, haben keine Lebens- und<br />
Überzeugungskraft.“ Christen können ihre Werte nur vorleben und verkünden<br />
– und sie sollten den Mut zum öffentlichen christlichen Bekenntnis<br />
haben. Gerade aus dem Glauben begründete Wertvorstellungen drängen<br />
darauf, im Leben verwirklicht zu werden. In einer säkularisierten<br />
Umwelt hat vor allem das Zeugnis der Laien große Bedeutung. Erlauben<br />
Sie mir, bei dieser Gelegenheit zu erwähnen, dass auch aus diesem<br />
Grund die Förderung des Laienapostolats <strong>Renovabis</strong> ein besonderes<br />
Anliegen ist.<br />
Zwei Grundwerte und Prinzipien der christlichen Soziallehre wurden in<br />
den vergangenen beiden Tagen immer wieder als besonders fundamental<br />
herausgestellt, nämlich die Würde des Einzelnen, also die Personalität,<br />
und das Gemeinwohl. Diese werden uns mit Sicherheit auch beim Thema<br />
des nächsten <strong>Kongress</strong>es beschäftigen. Im kommenden Jahr werden wir<br />
uns nämlich mit der Frage der „Migration“ befassen. Die genaue Formulierung<br />
des Themas steht noch nicht fest, der Arbeitstitel lautet „Grenz(en)<br />
überschreitend – Probleme und Chancen der Migration in Europa“. Als<br />
Termin, den Sie sich bitte vormerken wollen, ist der 28.–30. August 2003<br />
vorgesehen, als Tagungsort wiederum Freising. Fühlen Sie sich jetzt<br />
schon herzlich eingeladen!<br />
In Ihren Tagungsunterlagen finden Sie einen Fragebogen, in dem wir Sie<br />
bitten, uns Ihre Eindrücke und Anregungen mitzuteilen. Unsere Bitte um<br />
39
Rückmeldung bezieht sich sowohl auf inhaltliche als auch auf organisatorische<br />
Fragen. Wenn Sie den Fragebogen nicht schon jetzt ausgefüllt<br />
haben, schicken Sie ihn bitte möglichst bis Ende September an uns zurück.<br />
Abschließend möchte ich mich nochmals bei allen bedanken, die zum<br />
Gelingen unseres 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es beigetragen haben:<br />
• den Referenten und Teilnehmern an den Podiumsdiskussionen;<br />
• den Moderatoren im Plenum und in den Arbeitskreisen;<br />
• Weihbischof Schwarz für die Eröffnung;<br />
• den Zelebranten und Predigern in den Gottesdiensten: Erzbischof<br />
Graubner, Erzbischof Bozanić, Erzabt Bischof Asztrik, Bischof<br />
Kauneckas, Bischof Kabashi und Weihbischof Sudar;<br />
• den Journalisten und allen anderen Vertretern der Medien;<br />
• dem Direktor und den Mitarbeitern des Domgymnasiums;<br />
• Herrn Direktor Anneser und den Teams des Kardinal-Döpfner-Hauses<br />
und des Vinzenz-Pallotti-Hauses;<br />
• allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von <strong>Renovabis</strong>, besonders den<br />
Vordenkern und Vorbereitern des <strong>Kongress</strong>es: Herrn Dr. Albert, Herrn<br />
Professor Bremer, Herrn Dr. Dahm, Herrn Grycz, Herrn Haneke und<br />
Herrn Dr. Oeldemann.<br />
Ihnen allen danke ich für Ihr Interesse, Ihr Mitdenken und Mitdiskutieren.<br />
Ich hoffe, Sie können einige wertvolle Anregungen mit nach Hause nehmen,<br />
denn der <strong>Kongress</strong> ist wirklich ein gutes Beispiel für den Austausch<br />
der Gaben zwischen Ost und West. Ich wünsche Ihnen Gottes Segen eine<br />
gute Heimreise. <strong>Renovabis</strong> würde sich freuen, Sie auch im nächs ten Jahr<br />
wieder als Teilnehmer des <strong>Kongress</strong>es begrüßen zu können.<br />
40
II. Referate und Podiumsgespräche
Oben: Karl Kardinal Lehmann,<br />
links oben Prof. Dr. Hans Joachim<br />
Meyer, links unten Vizepräsident<br />
Dr. Ingo Friedrich MdEP
Karl Kardinal Lehmann, Mainz<br />
Christliche Wurzeln einer europäischen<br />
Gesellschaft<br />
Europa wächst in vielen Bereichen schneller zusammen, als uns oft<br />
bewusst ist. Aber auch die Spannungen und die verschiedenen latenten<br />
Interessen sind spürbar. So wird die Frage drängender, was denn dieses<br />
neue Europa zusammen hält. Fast dreizehn Jahre nach den großen Umbrüchen<br />
in Mittel- und Osteuropa und den Hoffnungen auf eine rasche<br />
Überwindung der jahrzehntelangen Spaltung machen sich oft Enttäuschung<br />
und Ernüchterung breit. In einer solchen Situation ist es wichtig,<br />
noch gründlicher als bisher nach den tragenden Faktoren der Einheit,<br />
aber auch der Trennung und der Gegensätze zu fragen. Dabei ist es gut,<br />
nicht zu kurzsichtig und kurzfristig anzusetzen.<br />
Europa zwischen Vision und Pragmatismus<br />
Ein geeintes Europa ist schon lange eine Vision. Es waren nicht nur Politiker,<br />
sondern vor allem auch Schriftsteller und andere Kulturschaffende,<br />
die gegen den Nationalismus in Europa zu Feld zogen und poetisch-<br />
utopisch ein Gemeinschaftsgefühl beschworen, das endlich aus der verwirrenden<br />
Vielfalt und der tödlichen Zerstrittenheit heraus führen sollte.<br />
Oft genug sind sie von denen belächelt worden, die sich als „Pragmatiker“<br />
auf das „Machbare“ beriefen. Die europäische Kooperation wurde<br />
dabei vielfach als Voraussetzung der Friedenssicherung und der Wahrung<br />
einer gemeinsamen Kultur verstanden. Die Visionen und Polemiken sind<br />
von einer verblüffenden Aktualität. Wenn es gelegentlich auch zu einer<br />
Begegnung zwischen poetischer Europa-Vision und politischer Praxis<br />
kam, so fehlt gerade in unserer Zeit zum Thema „Europa“ eine fruchtbare<br />
43
Begegnung zwischen Kulturschaffenden und Politikern. Den einen geht<br />
so leicht die zukunftsweisende Inspiration ab, den anderen misslingt die<br />
Vermittlung mit der nüchtern betrachteten Realität.<br />
Diese Spaltung findet sich wohl in sehr vielen Menschen. Auf der einen<br />
Seite lebt in jedem von uns die Sehnsucht nach der Überwindung enger<br />
Grenzen, nationalistischer Übersteigerung, ruinösen wirtschaftlichen<br />
Verdrängungswettbewerbs und überholter Kleinstaaterei. Viele trauern<br />
noch um den unsinnigen Tod so vieler auf den Schlachtfeldern Europas.<br />
Schikanen bei Grenzübertritten verursachen Kopfschütteln. Auch wenn<br />
uns oft weniger als eine Flugstunde von anderen Ländern trennt, so ist<br />
beispielsweise die Anerkennung vieler Schul- und Studienabschlüsse<br />
immer noch nicht ausreichend gelöst. Überall, wo sich solche Hindernisse<br />
auftürmen, gibt es bei uns allen kleinere und größere Europa-Visionen.<br />
Aber die Realität holt uns rasch wieder ein. Die Vielfalt der Sprachen<br />
zeigt uns rasch die eigenen Grenzen auf. Hinsichtlich der wirtschaftlichen<br />
Situation besteht immer noch ein großes Gefälle zwischen den einzelnen<br />
Staaten. Geht es um wirtschaftliche Interessen, werden Verhandlungen<br />
knallhart. Wir alle haben unser Wunschbild Europa im Kopf, aber<br />
es ist nicht das Ergebnis des Ausgleichs vieler Bestrebungen und Interessen,<br />
die überall existieren und berücksichtigt werden wollen, sondern oft<br />
nicht viel mehr als eine vage Utopie.<br />
Hinzu kommen Ängste. Jahrzehntelang war Europa in Ost und West gespalten.<br />
Die Mauer durch Mitteleuropa schien der einzige wirkliche Gegensatz<br />
zu sein. Nachdem sie gefallen ist, zeigt es sich, wie viele Sperren<br />
noch in unseren Köpfen sind. Dies gilt für ganz Europa. Alte nationalistische<br />
Einstellungen, die wir längst überwunden glaubten, erwachen über<br />
Nacht neu. Allianz-Muster aus dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit<br />
gewinnen in den Beziehungen der Staaten untereinander wieder<br />
die Oberhand. Blutige Bürgerkriege, wie im ehemaligen Jugoslawien,<br />
zerschlagen jäh unsere Europaträume. Viele glauben auch, wir müssten<br />
zu viel für dieses Europa opfern: eine stabile Währung, einen relativ hohen<br />
Lebensstandard, viele soziale Errungenschaften, große Freiheiten,<br />
kulturelle Vielfalt und regionalen Reichtum. Sie wittern einen mächtigen<br />
Verwaltungsapparat, der mit seiner bürokratischen Macht vieles einebnet<br />
44
und in eine gleichmacherische Uniform presst. Manchen erscheint der<br />
Integralismus der Europäischen Union mit seinen vielen Regelungsmechanismen<br />
wie das große Tier der Apokalypse. Diese Angst wird zuweilen<br />
auch bewusst geschürt.<br />
Aber es darf nicht bei dieser unfruchtbaren Gegensätzlichkeit bleiben.<br />
Wir dürfen uns nicht entmutigen und zerreiben lassen zwischen einer<br />
Europa-Vision, die an der Wirklichkeit schnurstracks vorbei läuft, und<br />
einem platten Pragmatismus, der keine moralische Kraft aufbringt gegen<br />
den Druck der Stärkeren, die Anpassung aller an das, was ist, und die<br />
Gewalt derer, die sich rücksichtslos durchsetzen.<br />
Mit diesen allgemeinen Erwartungen, die manchmal eher Wunschbilder<br />
sind, und dieser resignierten Einschätzung der Wirklichkeit lässt sich jedoch<br />
eine so große Aufgabe wie die Schaffung eines neuen Europa nicht<br />
bewältigen. Wir müssen uns neu auf die realen Möglichkeiten und unsere<br />
Verantwortung besinnen, um die Zukunft gewinnen zu können.<br />
Neue Verhältnisbestimmung von Ost und West<br />
Dabei ist ein Blick in die Vergangenheit, auf tiefe und oft weithin verborgene<br />
Folgen der Diktaturen in Mittel- und Osteuropa, dringend notwendig.<br />
Man kann nicht all das vergessen, was in Jahrzehnten geschehen ist.<br />
Grundlegende Dimensionen des Menschseins wurden in den östlichen<br />
Diktaturen jahrzehntelang ausgeblendet oder gering geschätzt: die Sehnsucht<br />
nach Freiheit, das Verlangen nach Wahrhaftigkeit, schöpferischer<br />
Entfaltung und Freizügigkeit. So ist auch der Glaube systematisch ausgetrieben<br />
worden. Das Wunder der Befreiung besteht letztlich darin, dass<br />
der Mensch – als Einzelner und in Gemeinschaft – sich mit seinen Hoffnungen<br />
und in seinem Verlangen gegen ein System durchgesetzt hat, das<br />
überaus perfekt und unüberwindlich schien. Aber auch bei denen, die dem<br />
Druck standgehalten haben, ist nach so langer Zeit vieles infiziert und<br />
angekränkelt. Wo man jahrzehntelang gegängelt wurde, ist es schwer,<br />
plötzlich Kreativität und Phantasie aufzubringen. Wer etwa nie wählen<br />
konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten, dem erscheint nun die<br />
45
Notwendigkeit einer Entscheidung zuerst wie eine Qual. Dies gilt nicht<br />
nur für politische Wahlen. Wer nicht wusste, ob Wanzen in seiner Wohnung<br />
eingebaut sind und was der Nachbar bzw. der Arbeitskollege über<br />
ihn weiter gibt, der bleibt noch geraume Zeit misstrauisch. Diese Situation<br />
muss noch für lange Zeit sehr ernst genommen werden. Es ist nicht zufällig,<br />
dass damit auch die christlichen Wurzeln zerstört worden sind.<br />
Das neue Europa ist nicht die Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen<br />
Stufe seiner Existenz, es wird aber auch nicht einfach in den Treibsand<br />
einer geschichtslosen Zukunft hineingesetzt. Der ehrliche Blick in<br />
die Vergangenheit kann auch befreiend wirken für die Zukunft. Europa<br />
war eigentlich von Anfang an immer eine Einheit in Vielfalt. Seine Kultur<br />
war aus griechischen, römischen, jüdisch-christlichen, islamischen und<br />
humanistischen Wurzeln gewachsen. Immer ging es um die zentralen<br />
Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Verantwortung, die mehr<br />
und mehr von den Institutionen der Demokratie geschützt wurden. Die<br />
schwierige Aufgabe einer wirklichen Einigung des vielgestaltigen Europa<br />
ist durch die Teilung in Ost und West lange verdeckt geblieben. Der<br />
Ernstfall einer europäischen Einigung aus Ost und West war lange Zeit<br />
eher eine Utopie, auch wenn viel davon gesprochen worden ist. Wir haben<br />
eher mit der Dauerhaftigkeit der Teilung gerechnet. Nun besteht die<br />
realistische Möglichkeit, dass Europa wieder neu zu sich kommt. Die<br />
Revolutionen in Mittel- und Osteuropa haben dazu beigetragen, dass in<br />
Europa die Geschichte nicht mehr stillsteht, sondern dass sie neu in Bewegung<br />
geraten ist.<br />
Was sich daraus entwickelt, ist jedoch keineswegs eine einfache, überschaubare<br />
Größe. Der eiserne Vorhang hat uns bis zur Wende des Jahres<br />
1989 die grundlegende Orientierung sogar relativ leicht gemacht. Geistige<br />
Bewegungen und politische Systeme prallten eindeutig aufeinander. An<br />
der Mauer konnte man gut sortieren, was der Freiheit dienen sollte und was<br />
der Versklavung zugearbeitet hat. Aber in Wirklichkeit war dieses Europa<br />
immer äußerst komplex und keineswegs homogen. Vielleicht haben uns im<br />
ersten Augenblick unter dem Einfluss eines mitunter recht hoch gestimmten<br />
Enthusiasmus manche Schlagworte die Vielfalt der inneren Situation etwas<br />
vernebelt. Die Bilder vom „gemeinsamen europäischen Haus“ oder von<br />
46
der „europäischen Familie“ sind nicht falsch, aber sie haben in ihrer Plausibilität<br />
über die Schwierigkeiten hinweg getäuscht.<br />
Dies gilt besonders auch im Blick auf den deutschsprachigen Raum. Politik<br />
und Kultur waren immer abhängig von europäischen Einflüssen.<br />
Diese strömten in die Mitte Europas ein, wurden dort aufgenommen,<br />
umgeschmiedet, auf schöpferische Weise zu Eigenem verarbeitet und<br />
schließlich wieder nach anderen Seiten hin ausgestrahlt. Erst in diesem<br />
beständigen Austausch erhalten die Länder des deutschsprachigen Raumes<br />
in Mitteleuropa Eigenart und Kontinuität.<br />
Europas Geschichte ist spannungsvoll und widersprüchlich. Sie hat auch<br />
Kehrseiten. Es ist eine Geschichte der unaufhörlichen Kriege, des Imperialismus,<br />
der Unterdrückung der übrigen Welt, des Ausblutens anderer<br />
im Dienste des eigenen Wohlstandes. Sind nicht auch viele Freiheitsträume<br />
und -ideale Vorwand für Anarchie und Willkür gewesen? Die<br />
Demokratie kam nur auf Umwegen zu uns. Sie ist nicht der europäische<br />
Regelfall. Wir haben heute eine besonders gute Chance. Die Zeit vom<br />
Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute ist die längste Friedenszeit, die<br />
Europa jemals erfahren hat. Die Zukunft Europas ist so offen wie schon<br />
lange nicht mehr. Die vielen Nationen dürfen jedoch nicht in den alten<br />
Fehler zurück fallen, vorwiegend ihre nationalen Eigeninteressen zu verfolgen.<br />
Die Nation ist trotz des hohen Ranges, der ihr zukommt, nicht der<br />
höchste Wert einer Gemeinschaft. Eine solche Situation der Offenheit,<br />
wie sie uns seit 1989 geschenkt ist, hat auch ihre Gefahren, die eine große<br />
Wachsamkeit erfordern: Es dürfen nicht die alten Bündniskonstellationen<br />
aus dem Abgrund der Geschichte auftauchen. Die Katastrophen des<br />
20. Jahrhunderts dürfen sich nicht vergeblich ereignet haben.<br />
Vielfältige Wurzeln<br />
Es braucht eine neue Identität Europas, die freilich nicht nur im politischen<br />
Bereich oder in der Übereinstimmung wirtschaftlicher Interessen<br />
gründen kann. So wichtig das Zusammenwachsen in der politischen und<br />
ökonomischen Dimension auch sein mag, so darf die kulturelle, d.h. geis-<br />
47
tig-spirituelle und ethische Identität des neuen Europa nicht so vernachlässigt<br />
werden, wie dies bisher weithin der Fall war. Die Frage nach diesen<br />
geistigen Wurzelkräften des künftigen Europa lässt sich auch nicht durch<br />
den bloßen Hinweis auf die je verschiedenen Kulturen in den einzelnen<br />
Regionen und Ländern, Sprachen und Nationen oder gar durch den Hinweis<br />
auf die weltanschauliche Neutralität und die Religionsfreiheit beantworten.<br />
Denn dies würde, spirituell und ethisch gesehen, einen Rückzug<br />
auf die Pluralität gleichgültig nebeneinander stehender Weltanschauungen<br />
oder einer Fluchtbewegung ganz ins Private gleichkommen. Tendenzen<br />
dafür gibt es genug. Hier hat der Westen gewisse Vorbehalte der Länder<br />
und Kirchen in Mittel- und Osteuropa noch nicht genügend begriffen.<br />
Die europäische Kultur ist – wie schon gesagt – aus vielen Wurzeln zusammengewachsen.<br />
Auch wenn die Völker Europas vielleicht häufiger<br />
gegeneinander als miteinander gehandelt haben, so entstammen sie doch<br />
einer gemeinsamen kulturellen Überlieferung. Es gibt auch keine Epoche,<br />
die nicht an diesen geistigen Grundlagen weiter gebaut hätte. Europa<br />
war immer ein solches Wagnis im Wandel und ist darum auch heute ein<br />
„unvollendetes Projekt“ (J. Habermas). Es wäre eine Fiktion, sich so zu<br />
verhalten, als ob dies je anders gewesen wäre, und es wäre ein Versäumnis,<br />
die uns heute gegebene Chance nicht zu ergreifen.<br />
Die Spaltung Europas hat das Schwergewicht auf Westeuropa und die<br />
Völker germanischer und romanischer Herkunft verschoben. Wir müssen<br />
wieder neu lernen, dass die slawische Welt gleichursprünglich und<br />
gleichberechtigt zu diesen Säulen Europas gehört.<br />
Der christliche Glaube – Wurzelboden Europas<br />
Es ist müßig, sich um die Vorherrschaft des einen oder anderen kulturellen<br />
Elements im geistigen Fundament Europas zu streiten. Niemand kann<br />
nämlich leugnen, dass der christliche Glaube ganz entscheidend zum<br />
bleibenden Wurzelgrund Europas gehört. Daran haben auch die Kirchenspaltungen<br />
des 11. und 16. Jahrhunderts in Ost und West nichts ändern<br />
können, so sehr die einheitsstiftende Kraft des christlichen Glaubens<br />
48
dadurch bis heute empfindlich geschwächt wurde. Europa wurde der<br />
erste Kontinent, der sich in seinem ganzen vielgestaltigen Erbe vom<br />
christlichen Glauben erfassen ließ und damit die Voraussetzung schuf für<br />
eine vom Glauben der Kirche geprägte Einheit und Kultur.<br />
In diesem Sinne sprechen wir mit Recht von „christlichen Wurzeln“ Europas.<br />
Niemand will damit behaupten, „Europa“ und „Christentum“ würden<br />
schlechthin zusammenfallen. Eine solche Identifizierung wäre auch<br />
nicht im Interesse des Christentums selbst, denn der christliche Glaube ist<br />
eine Einladung zur Gemeinschaft mit Gott, die an alle Menschen gerichtet<br />
ist. Das Christentum darf in seiner universalen Sendung nicht „eurozentrisch“<br />
verkürzt werden. Es hat durch die Kraft des Geistes die Fähigkeit<br />
zur Inkulturation bei allen Völkern und in allen Sprachen. Aber niemand<br />
wird deshalb leugnen, dass der christliche Glaube der Kultur Europas<br />
so sehr Gestalt verliehen hat, dass sie ohne ihn ihre Identität nicht bestimmen<br />
könnte. Auch der einzelne Europäer, selbst wenn er sich vom<br />
Glauben völlig lossagen sollte, muss sich immer wieder der Frage nach<br />
dem Sinn des Christentums und der von ihm inspirierten Kultur stellen.<br />
Die Neuheit und die tief wirksame, ja unverbrauchbare Kraft des christlichen<br />
Glaubens zeigen sich in der europäischen Kultur auch dann noch,<br />
wenn andere, zum Teil auch entgegengesetzte oder feindselige Tendenzen<br />
die Geschichte mitbestimmen. Der christliche Glaube hat auch sehr<br />
viele Anstöße für Einstellungen und Einrichtungen gegeben, die – wenigs<br />
tens später – oft außerhalb der Kirche oder manchmal auch gegen sie<br />
standen. Man denke nur an den Humanismus, die Rolle der Technik, die<br />
Bedeutung der Wissenschaft und die Entdeckung sowie den Rang der<br />
Menschenrechte. Auch die konkrete Humanität Europas ist noch in Bewegungen,<br />
die dem christlichen Glauben ferner gerückt oder gar fremd<br />
geworden sind, vom christlichen Erbe inspiriert, z. B. in Werken der<br />
Wohltätigkeit. Heute ist eine solche Herkunft oft vergessen, wird nicht<br />
selten verleugnet oder auch entstellt. Aber es bleibt eine ernsthafte Frage,<br />
wie weit grundlegende Einsichten des christlichen Menschenbildes, wie<br />
z. B. Personwürde oder Barmherzigkeit bzw. Vergebung, abgespalten<br />
werden können vom lebendigen Wurzelgrund des Glaubens, ohne dass<br />
sie – wenigstens auf Dauer – ihren authentischen Sinn verlieren. Das<br />
49
Christentum muss heute in gemeinsamer ökumenischer Verantwortung<br />
manches Geistesgut, das aus dem Bereich der Kirche ausgewandert und<br />
fast unkenntlich geworden ist, wieder identifizieren, sich neu aneignen<br />
und mit seinem eigenen Leben füllen. So ist etwa Menschenwürde für<br />
jede einzelne Person und in jedem Fall nach meiner Überzeugung auf<br />
Dauer nicht aufrechtzuerhalten ohne die Glaubensüberzeugung, dass der<br />
Mensch Ebenbild Gottes ist und darin seine Auszeichnung und Würde<br />
findet. Dies zeigt sich in unserer heutigen Diskussion um die Person- und<br />
Menschenwürde auch des ungeborenen Kindes und im Bereich der<br />
Bioethik und Gentechnologie. Christliche Werteüberzeugungen können<br />
regelrecht auswandern und sich ihrem Ursprung entfremden.<br />
Wenn wir von Europa sprechen, blicken wir aus christlicher Verantwortung<br />
also nicht primär zurück, träumen nicht nostalgisch von einem romantisch<br />
vergoldeten „Abendland“ (das es in dieser Gestalt dann doch niemals<br />
gab!), sondern sorgen uns um das gegenwärtige und künftige Europa mit<br />
seinen Spannungen und Widersprüchen. Dabei sind wir uns bewusst, dass<br />
es sich heute in diesem Europa um Zivilisationen handelt, die dazu neigen,<br />
in der Gestaltung des menschlichen Lebens von der Beziehung zu einem<br />
lebendigen Gott völlig abzusehen und allein den eigenen Kräften der<br />
menschlichen Vernunft, der Wissenschaft und der Technik zu vertrauen.<br />
Die Christen müssen entschieden die offene Auseinandersetzung und den<br />
geistigen Wettbewerb mit jenen aufnehmen, die das neue Europa unter<br />
Ausschluss christlicher Wirkkräfte und erst recht der Kirchen gestalten<br />
möchten. Der Glaube an den dreifaltigen Gott und an die unverletzbare<br />
Menschenwürde hat gerade nach den Ereignissen der „Wende“ allen<br />
Grund, wieder mutiger, tiefer und überzeugender Rechenschaft abzulegen<br />
von der Hoffnung, die in uns lebt und die uns erfüllt. Die Christen<br />
haben zu viel Kleinglauben, eine zu große geistig-spirituelle Trägheit und<br />
Feigheit. Sie brauchen mehr Mut zum Bekenntnis und mehr Freude am<br />
Evangelium. Dann brauchen sie auch keine Angst zu haben vor den gegenwärtigen<br />
Herausforderungen.<br />
Europa darf sich freilich nicht bloß auf sein christliches Erbe von früher<br />
berufen, sondern muss durch das heutige Zeugnis der Christen in Stand<br />
50
gesetzt werden, in der Begegnung mit der Person und der Botschaft Jesu<br />
Christi neu über seine Zukunft zu entscheiden. Nur unter diesen Voraussetzungen<br />
gilt das Wort, dass die Kirche nicht am Ende ist. Dazu brauchen<br />
wir Kirchen im Westen die Hilfe und das Beispiel der Schwestern<br />
und Brüder in Mittel- und Osteuropa, die ihre Stärke und Freude des<br />
Glaubens, lange im Leiden erprobt, nicht um das Linsengericht moderner<br />
Anpassung preisgeben dürfen.<br />
Das christliche Proprium in einem säkularisierten Europa<br />
Europa hat christliche Wurzeln, aber es ist heute entwurzelt. Es nützt<br />
nichts, ein Klagelied über die Säkularisierung anzustimmen, vielmehr<br />
muss sich der Glaube in dem vielstimmigen Chor der Stimmen, die in<br />
einer pluralistischen Gesellschaft laut werden, zu Wort melden und behaupten.<br />
Es hat keinen Sinn, insgeheim doch auf so etwas wie ein christliches<br />
Abendland zu warten, wo die Kirche eine zentrale geistige Führung<br />
und Steuerungsfunktion innehätte. Vielmehr muss die Kirche unter den<br />
Voraussetzungen von Religionsfreiheit und Pluralismus ihre Stimme ungeschwächt<br />
zur Sprache bringen.<br />
Diese Grundsituation ist zwar mit Worten leicht zu akzeptieren, aber es<br />
ist viel schwieriger, sie auch von innen anzunehmen. Es wird besonders<br />
darauf ankommen, dass die Kirchen in Mittel- und Osteuropa sich nicht<br />
an irgendwelchen Modellen der Vergangenheit orientieren. Manchmal ist<br />
es erschreckend zu sehen, wie sehr man sich wieder an solche anti quierten<br />
Modelle anlehnt – oft aus Verlegenheit. Wir im Westen sind gewiss nicht<br />
die unfehlbaren Lehrmeister, dürfen jedoch den Rat geben, den Anspruch<br />
des Glaubens in den heutigen Gesellschaften mehr durch Einladung, Argumentation<br />
und Überzeugungsarbeit zu vermitteln als mit Hilfe vorwiegend<br />
monologischer Erklärungen oder autoritativer Weisungen, die in<br />
Einzelfragen durchaus ihren Sinn haben können.<br />
Was die Kirche zuerst tun muss, ist das, was ihre ureigene Aufgabe ist<br />
und was sie täglich vollzieht: die Verkündigung des Evangeliums. Alle<br />
Erneuerungsbemühungen der letzten Jahrzehnte, auch des Zweiten Vati-<br />
51
kanischen Konzils, zielten darauf, dass die Kirche selbst immer mehr fähig<br />
werde, den Menschen unserer Zeit das Evangelium zu verkünden.<br />
Man hat dies mit guten Gründen Neu-Evangelisierung genannt. Der<br />
Begriff ist oft genug verdächtigt worden, als ob er einen katholischen<br />
Allein- und Sonderanspruch für eine „Rechristianisierung“ Europas zum<br />
Ausdruck bringe. Schon die Sonder-Versammlung der Bischofssynode<br />
für Europa hat in ihrem Schlussdokument am 13. Dezember 1991 unmiss<br />
verständlich mit Zustimmung des Papstes klar gestellt: „Die Neu-<br />
Evangelisierung ist kein Programm zu einer sogenannten ‚Restauration‘<br />
einer vergangenen Zeit Europas, sondern sie verhilft dazu, die eigenen<br />
christlichen Wurzeln zu entdecken und eine tiefere Zivilisation zu begründen,<br />
die zugleich christlicher und so auch menschlich reicher ist.<br />
Diese ‚Neu-Evangelisierung‘ lebt aus dem unerschöpflichen Schatz der<br />
ein für allemal in Jesus Christus erfolgten Offenbarung. Es gibt kein<br />
‚anderes Evangelium‘. Mit Bedacht wird sie Neu-Evangelisierung genannt,<br />
weil der Hl. Geist stets die Neuheit des Wortes Gottes hervorbringt<br />
und beständig die Menschen geistig und geistlich aufweckt. Diese Evangelisierung<br />
ist auch deshalb neu, weil sie nicht unabänderlich an eine<br />
bestimmte Zivilisation gebunden ist, da das Evangelium Jesu Christi in<br />
allen Kulturen aufleuchten kann.“ An dieser Aussage, um die viel gerungen<br />
wurde, kann man nicht vorbei gehen.<br />
Die Kirche leistet auch für das künftige Europa das Beste, wenn sie ihrem<br />
eigenen Auftrag treu bleibt. Dann baut sie nämlich durch ihre Verkündigung<br />
und den Religionsunterricht, ihre Theologie und ihre vielfältige<br />
Präsenz in der Gesellschaft die Werte auf, die einer Erneuerung bedürfen:<br />
die Menschenwürde, das Menschenbild, das Ethos des Alltags, die Verwirklichung<br />
einer Einheit in den „Grundwerten“ mitten in aller weltanschaulichen<br />
Vielfalt. Es besteht kein Zweifel, dass zu diesen Aufgaben<br />
auch die Vertiefung und Verbreitung der christlichen Sozialethik gehört,<br />
wie sie in der katholischen Soziallehre eine in der Kirche verbindliche<br />
Gestalt gefunden hat. Was hier an gesellschaftlichen Gestaltungsprinzipien<br />
formuliert worden ist, bedarf gewiss der Konkretisierung. Wenn in<br />
jüngster Zeit sogar in den Maastrichter Verträgen das Prinzip der Subsidiarität<br />
angeführt wird, gewiss in Anlehnung an die Tradition der Katholischen<br />
Soziallehre, dann ist dies nur ein Beleg dafür, wie solche Gestal-<br />
52
tungsprinzipien gleichsam über Nacht eine überraschende Bedeutung<br />
erhalten. Hier wäre vieles zu sagen über die vielen Felder, auf denen vor<br />
allem Laien sich für den Aufbau eines neuen Europa aus dem Geist des<br />
Christentums einsetzen: Förderung der Würde des Menschen, Ehrfurcht<br />
vor dem unantastbaren Recht auf Leben, Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit,<br />
Rolle von Ehe und Familie, Sorge um das Gemeinwohl,<br />
Bewahrung der Schöpfung, Verantwortung für die Medien. Es wäre von<br />
der Frauenfrage bis zur Gesundheitspolitik ein weiter Katalog von Anwendungsgebieten,<br />
der hier entfaltet werden müsste.<br />
Die katholische Kirche ist eine Weltkirche, die in ihren eigenen Strukturen<br />
immer wieder neu um die Balance von Einheit und Vielfalt ringen<br />
muss. Deshalb wird die Kirche einerseits gewiss für wirksame Strukturen<br />
einer europäischen Einigung eintreten, aber andererseits auch den Integrationsprozess<br />
kritisch begleiten. Die Europäische Union darf nicht eine<br />
große Planierraupe werden, die auf dem Weg zur Integration besonders<br />
die regionalen Kultureigenheiten niederwalzt. Die Modernisierung ist<br />
nicht so unschuldig, wie sie sich gibt. Sie gefährdet und zerstört oft auch<br />
unreflektiert z. B. religiös geprägte Milieus.<br />
Neben den europäischen Einheitskonzepten sind die nationalen und regionalen<br />
Besonderheiten der einzelnen Länder nicht minder wichtig. Es<br />
gibt eine Einheitsbesessenheit, die ungeniert an der Vielheit der Sprach-,<br />
Denk- und Lebensformen Europas vorbeigeht. Die Kirchen werden hier<br />
gerade durch ihre feste Verwurzelung in den einzelnen Ländern eine Europa-Mentalität<br />
fördern, die das verbindliche Allgemeine bejaht, ohne die<br />
Bedeutung des Lokalen und Regionalen zu verwischen.<br />
Die Kirche denkt weltweit. Sie kann Europa nicht ohne die anderen Kontinente<br />
begreifen. Es wäre nämlich das verhängnisvolle Zeichen eines<br />
kollektiven Egoismus, wenn das neue Europa sich selbstzufrieden von<br />
den Nöten der übrigen Welt zurückziehen würde. Dafür gibt es leider<br />
einige Anzeichen. Aber dies dürfen wir nicht hinnehmen. Im Gegenteil,<br />
Europa muss möglichst bald seine weltweite Verantwortung gegenüber<br />
den Armen, unterentwickelten Völkern, der Hungersnot, der Schuldenlast,<br />
vielfältiger Ungerechtigkeit und der Bedrohung der Schöpfung unter<br />
53
Beweis stellen. Die Migrationsbewegungen und das Nord-Süd-Gefälle<br />
werden von den künftigen Europäern verlangen, dass sie immer wieder<br />
über ihre eigenen Interessen hinaus gelangen und sich den noch stärker<br />
werdenden Nöten der Weltgesellschaft zuwenden. Ohne diese Perspektiven<br />
und diesen Horizont wären wir nicht wahrhaft katholisch im ursprünglichen<br />
Sinne des Wortes.<br />
Das größte Hindernis für die Aufgabe der Kirchen, ihre eigene Verantwortung<br />
für Europa mit voller Kraft und glaubwürdig zu vertreten, ist<br />
ihre Spaltung, ihre Zerrissenheit. Gewiss gibt es in den letzten Jahrzehnten<br />
auf fast allen Gebieten eine ermutigende ökumenische Zusammenarbeit.<br />
Auch findet man in den Europa-Initiativen der evangelischen,<br />
katholischen und orthodoxen Kirchen Europas viele gemeinsame Tendenzen.<br />
Ich nenne nur die Neu-Evangelisierung als erste Aufgabe. Wenn<br />
wir einander näher kommen wollen, kann dies nur gelingen, wenn wir<br />
gemeinsam und einzeln mehr auf die Mitte zugehen, die Jesus Christus<br />
ist.<br />
Neuer Schwung für ein neues Europa<br />
Die Kirchen können also dazu beitragen, den Werteüberzeugungen zu<br />
mehr Vitalität zu verhelfen. Werteüberzeugungen brauchen konkrete Vorbilder.<br />
Der christliche Glaube ist dafür nach wie vor die größte Stütze im<br />
zusammenwachsenden Europa. Die Kirchen sind traditionelle und zukunftsweisende<br />
sinnstiftende Institutionen.<br />
Besondere Bedeutung erlangen die Werteüberzeugungen auch für die<br />
Länder, die in naher Zukunft der Europäischen Union beitreten werden.<br />
Es genügt nicht, die Einhaltung eines gemeinschaftlichen Niveaus<br />
(„acquis communitaire“) von ihnen zu verlangen. Es muss sicher gestellt<br />
werden, dass diese Länder sich mit ihrem vielfältigen kulturellen und religiösen<br />
Leben in der Europäischen Union aufgehoben fühlen können. Gelingt<br />
es nicht, eine Vitalisierung der Werteüberzeugungen zu erreichen, so<br />
wird die Erweiterung der Union eine müde Geschichte sein und die oft<br />
beklagte Mattigkeit Europas vielleicht eher noch verschlimmern. Vor die-<br />
54
sem Hintergrund ist zu überlegen, ob nicht der Begriff bloßer „Erweiterung“<br />
durch den Begriff der Europäisierung ersetzt werden sollte. Der<br />
Begriff „Erweiterung“ lässt den Eindruck entstehen, es handele sich bloß<br />
um eine quantitative Vervollständigung Europas im Sinne einer neuen<br />
Ganzheit. Das ist nicht der Fall. Es geht vielmehr um eine qualitativ-kulturelle<br />
Vervollständigung Europas. Dieses Verständnis würde die Grundlage<br />
schaffen für neue Visionen zur Verwirklichung der europäischen Einigung<br />
und könnte zu einer wirklichen, auch spirituellen Dynamisierung des Prozesses<br />
beitragen. Den Kirchen wird dabei eine wesentliche Rolle zukommen,<br />
auch wenn man ihnen nicht allein diese Aufgabe aufbürden darf.<br />
Wir sehen manchmal im Westen und im Osten Europas überwiegend die<br />
Probleme der Erweiterung Europas vor allem aus der ökonomischen und<br />
vielleicht auch politischen Perspektive. In dieser Hinsicht gibt es gewiss<br />
trotz aller Fortschritte in den gegenwärtigen Vorverhandlungen noch wenig<br />
gelöste Probleme, die man im Interesse der einzelnen Länder gewiss<br />
nicht übergehen darf. In Polen ist z.B. die Klärung der Zukunft der Landwirtschaft<br />
eine wirkliche elementare Lebensfrage, für viele Bauern sogar<br />
eine Überlebensfrage. Aber vielleicht muss man betonen, dass dies eine<br />
legitime Sehweise ist, die freilich insgesamt der Erweiterung bedarf. Wir<br />
sind durch die jahrzehntelange Trennung Europas in Folge des Eisernen<br />
Vorhangs zu sehr gewohnt, „Europa“ weitgehend mit Westeuropa zu<br />
identifizieren. Es war immer schon eine ungelöste Aufgabe neben den<br />
westlichen und südlichen Kulturen, neben dem griechischen und lateinischen,<br />
germanischen und sogar arabischen Kulturbeitrag die viel höhere<br />
Bedeutung der osteuropäischen Geschichte, ja des slawischen Erbes in<br />
Europa gebührend in Rechnung zu stellen. Ich habe den Eindruck, dass<br />
wir auch ein Dutzend Jahre nach dem Verschwinden der kommunistischen<br />
Diktaturen in unseren Köpfen diese tiefe Zusammengehörigkeit<br />
noch nicht genügend rezipiert haben. Deswegen sollten wir mit einem<br />
Sprachgebrauch wie „Erweiterung“ in der Tat viel vorsichtiger sein. Das<br />
westliche Europa in den Grenzen der Europäischen Union darf sich nicht<br />
als eine in der Substanz vollständige Größe begreifen, zu der eben andere<br />
hinzukommen. Es geht also um mehr, wenn wir vorschlagen, von „Europäisierung“<br />
zu sprechen. Im Übrigen haben wir ja auch in der westlichen<br />
Kirche ähnliche Probleme. Darum hat Papst Johannes Paul II., der hier<br />
55
auch als ein Pole mit der geistigen, historischen und gesellschaftlichen<br />
Erfahrung seines Heimatlandes spricht, bei seinen Äußerungen zu Europa<br />
immer wieder von den beiden Lungenflügeln in Ost und West<br />
gesprochen und uns durch die Ausrufung der Slawenapostel Kyrillos und<br />
Methodios zu Patronen Europas eine bleibende Erinnerung dafür geschaffen.<br />
Dies hat eine ganz besondere Bedeutung, auch im Blick auf den<br />
Ort und die Bedeutung Europas in der Welt. Wir spüren dies nicht nur seit<br />
dem 11. September 2001.<br />
Auch um seine Rolle in der Welt erfüllen zu können, bedarf Europa der<br />
inneren Festigung. Die Werte, die Europa zu bieten hat, sind Ergebnis<br />
einer Kulturgeschichte, die über die Jahrhunderte hart erkämpft worden<br />
sind. Sie sind auch heute ständigen Anfechtungen ausgesetzt und müssen<br />
immer wieder neu entdeckt, erneuert und verteidigt werden. Wenn sie<br />
hinaus getragen werden sollen in die Weltgemeinschaft, in der es Bestrebungen<br />
zur Realisierung dieser Werte, aber auch mannigfaltige Rückschläge<br />
gibt, so ist die erste Voraussetzung ein glaubwürdiger Einsatz für<br />
sie und die überzeugende Darstellung dieser Werte nach innen. Die Prinzipien<br />
der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität,<br />
der Freiheit und des Friedens müssen für eine eigene staatliche und gesellschaftliche<br />
Ordnung Europas unter neuen Bedingungen entwickelt<br />
und angewendet werden. Die Entwicklung einer neuen Sensibilität und<br />
Erfahrung europäischer Zusammengehörigkeit ist unerlässlich. Solidarität<br />
und Zusammengehörigkeitsgefühl sind aber nicht durch Aufrufe oder<br />
eine vordergründige Europabegeisterung zu erreichen.<br />
Für alle gemeinsamen europäischen Aufgaben bedürfen wir einer gemeinsamen<br />
Werteüberzeugung. Wie kann eine solche gefunden werden?<br />
Genauso wie jeder einzelne Staat kann Europa diese Werteüberzeugung<br />
nicht allein aus sich heraus schaffen. Um so mehr aber stellt sich die<br />
Frage: Wo sind die Kräfte verwurzelt, die dieser abstrakten Gesellschaft<br />
jene Substanz vor allem in ethischer Hinsicht geben, welche diese Gesellschaft<br />
konkret-geschichtlich trägt? Von woher haben Staat und Gesellschaft<br />
jene Fundamentalüberzeugungen vom Sinn menschlichen Zusammenlebens,<br />
die sie selber nicht gewährleisten? Der moderne Staat kann<br />
sie nicht erzeugen, da er seine weltanschauliche Neutralität aufgeben<br />
56
müsste. Hier ist an das bekannte Wort des Staatsrechtslehrers Ernst-Wolfgang<br />
Böckenförde zu erinnern: Der säkularisierte Staat und die moderne<br />
Gesellschaft leben von Voraussetzungen, die sie nicht selber garantieren<br />
können, auf die sie aber elementar angewiesen sind. Es kommt damit auf<br />
jene gemeinsamen Rechtsgüter, Grundsätze und Überzeugungen an, die<br />
den Menschenrechten und Grundrechten voraus liegen und diese erst begründen.<br />
Das Christentum steht an der Wiege vieler solcher Grundwerte,<br />
die – wie immer ihr letzter Kern begründet wird – eine universal vermittelbare<br />
und mit der menschlichen Vernunft vollziehbare Einladung bzw.<br />
Verpflichtung für alle darstellen.<br />
Jacques Delors, überzeugter Katholik und Sozialist, bezeichnete es 1992<br />
in seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Kommission vor<br />
allem als eine Aufgabe der Kirchen, dazu beizutragen, das von ihm aufgedeckte<br />
und bedauerte „moralische Defizit“ in Europa zu überwinden.<br />
Er hat auf das Fehlen einer kräftigen sozialen Dimension, auf die Umwelt-<br />
und Wissenschaftspolitik hingewiesen und auf die großen bioethischen<br />
Fragen. Er sagte: „Wenn es uns nicht gelingt, unserem Kontinent<br />
wieder eine ‚Seele‘ zu geben, verlieren wir den Kampf um Europa – denn<br />
mehr denn je werden wir mit ethischen und politischen Fragen konfrontiert.<br />
Hierbei spielen Kirche und Religion eine wesentliche Rolle.“ Der<br />
heutige Präsident Romano Prodi denkt ähnlich.<br />
Nicht vergessen werden sollte auch, dass die Gründerväter Europas gerade<br />
keine Bürokraten und Technokraten waren. Sie waren erfahrene Politiker,<br />
die das Ohr am Puls der Zeit und der Menschen hatten. Sie waren<br />
vor allem auch überzeugte Christen und daher den religiösen Wurzeln<br />
Europas verhaftet. Sie stellten bei ihren Überlegungen die Bürger in den<br />
Vordergrund. Jean Monnet sagte dazu: „Nicht Staaten vereinigen wir,<br />
sondern Menschen“. Und er gab einen Hinweis, der für das Europa am<br />
Scheideweg sehr aktuell ist, als er sagte: „Wenn ich noch einmal anfangen<br />
könnte, würde ich mit der Kultur anfangen.“ Alfred Grosser, der als<br />
europäischer Denker, als Nichtkirchenmitglied und doch Sympathisant<br />
für die Rolle der Kirchen einen Namen hat, drückte es so aus: „Nicht das<br />
Wort Europa ist notwendigerweise bedeutsam für das Aufbauen eines<br />
Europa, das wir uns wünschen, sondern eine ethische Grundeinstellung,<br />
57
die von Gläubigen und Ungläubigen zusammengebracht wird. Hierbei<br />
fällt den Kirchen eine enorme Rolle zu, nämlich zu stimulieren, damit aus<br />
dem Christentum das Beste für das Gemeinwohl der gesamten Gemeinschaft<br />
gemacht wird.“<br />
Damit die Kirchen diese Rolle auch wahrnehmen können, brauchen sie<br />
einen Freiraum, den der Staat nicht einengen darf. Nur ein solcher Freiraum<br />
ermöglicht den Kirchen, ihren Beitrag zum sozialen Miteinander zu<br />
leisten und die Beteiligung des Einzelnen und kleiner Gruppen zu aktivieren.<br />
Darum ist es so wichtig, die Kirchen nicht einfach als Teil der<br />
Zivilgesellschaft oder als Nichtregierungsorganisationen zu betrachten,<br />
wie es derzeit auf europäischer Ebene oft geschieht. Die Kirchen sind<br />
keine Organisationen im Sinne von so genannten NROs oder NGOs * , die<br />
die Interessen ihrer Mitglieder bündeln, um sie wirkungsvoller in die<br />
Politik einzubringen. Die Kirchen handeln in Erfüllung ihres eigenen Auftrags,<br />
der ihnen vom Evangelium – im Gebot der Nächstenliebe und im<br />
Eintreten für die Gerechtigkeit – aufgegeben ist. In diesem Sinne ist der<br />
Status der Kirchen in Europa wesentlich, so wie er auch seine Anerkennung<br />
gefunden hat in der sogenannten „Kirchenerklärung“ zum Amsterdamer<br />
Vertrag. In dieser Erklärung bekennt sich die Europäische Union<br />
zum geistig-religiösen Erbe und anerkennt den Status der Kirchen in den<br />
einzelnen Mitgliedstaaten. Diese Bewertung gilt es beizubehalten und zu<br />
festigen. Aber sie darf nicht so sehr rückwärtsgewandt verstanden werden,<br />
wie es oft geschieht. Dies bedeutet praktisch eine Relativierung der Bedeutung<br />
für die Gegenwart. Es geht vielmehr um eine offensive Investition<br />
in die Zukunft. In den jetzt anstehenden Reformprozess sollten die<br />
Kirchen darum besser einbezogen werden. Sie können und wollen in diesem<br />
Reformprozess als diejenigen, die die geistigen und religiösen Grundlagen<br />
Europas vertreten und bewahren, einen wesentlichen Beitrag leisten.<br />
Das hat die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft<br />
(ComECE) in einer Erklärung zum Europäischen Rat von<br />
Laeken und in weiteren Stellungnahmen immer wieder betont. Angemahnt<br />
wird dabei die Möglichkeit der Kirchen, an der Arbeit des Konvents<br />
beteiligt zu werden. Dies kann aber auf verschiedene Weise geschehen.<br />
* Nichtregierungsorganisationen (Anm. d. Redaktion).<br />
58
Dabei muss man ein klares Augenmaß haben. Wer zu viel verlangt, kann<br />
leicht gänzlich scheitern. Gewiss gibt es noch zu klärende Probleme hinsichtlich<br />
der Stellung von Religion und Kirche in einem künftigen Verfassungsvertrag,<br />
wie z. B. die Frage eines Gottesbezugs in der Präambel.<br />
Es ist nicht sinnvoll, ein positives europäisches Religionsrecht zu schaffen,<br />
das Aufnahme finden müsste in die Verfassung. Für viele Bereiche<br />
besteht hier keine Zuständigkeit der Europäischen Union. Wenn gemeinsame<br />
Bestimmungen etwa in einen allgemeinen Kirchenartikel aufgenommen<br />
würden, könnte dies leicht kontraproduktiv werden. Es könnte<br />
nämlich nur ein kleinster gemeinsamer Nenner das Ergebnis sein, der die<br />
Handlungsmöglichkeiten der Kirche z. B. in Deutschland erheblich einschränken<br />
und beschneiden würde. Wichtiger ist es hier, im Rahmen einer<br />
europäischen Verfassungsvereinbarung die nationalen und regionalen<br />
Regelungen zu sichern.<br />
Zur Zeit erleben wir die Welt in einem großen Umbruch. Auch die Europäische<br />
Union steht an einem Scheideweg. Die Gefahren, die von außen drohen,<br />
ebenso wie drängende Fragen, wie sie sich zur Zeit auf europäischer<br />
Ebene am Beispiel der Bioethik oder der Zuwanderung oder der sozialen<br />
Rechte von Arbeitnehmern stellen, verlangen nach einer Antwort. Wir müssen<br />
fragen, wie die ökonomisch erfolgreiche europäische westliche Gesellschaft<br />
ihre kulturelle Apathie überwinden kann. Angesichts der Notwendigkeit<br />
der Integration eines Europa, das nicht homogen, sondern von kultureller<br />
Verschiedenheit geprägt ist, können gerade die Kirchen zur stärkeren<br />
„Europäisierung“ der Europäischen Union beitragen – und zwar dadurch,<br />
dass sie ihre traditionelle, im Glauben gründende Option für die Modernisierungsverlierer<br />
wahrnehmen, indem sie zivilgesellschaftliche Ressourcen<br />
fördern, indem sie grundlegende sozialethische Diskurse über eine gerechte<br />
Wirtschaft, politische Partizipation und kulturelle Integrität einfordern.<br />
Wie ich auf dem <strong>Kongress</strong> der Europäischen Gesellschaft für katholische<br />
Theologie im August 2001 in Graz bereits gefordert habe, darf es keine<br />
europäische Dominanz auf Kosten regionaler Identität geben. Die da und<br />
dort bestehende Einheitsbesessenheit darf nicht ungeniert an der Vielheit<br />
der Sprachen sowie der Denk- und Lebensformen Europas vorbeigehen.<br />
Auf diesen Punkt werde ich nochmals eigens zurück kommen.<br />
59
Wir dürfen aber nicht nur auf Europa selbst schauen. Dies war auch in der<br />
Geschichte kaum je der Fall. * Europa muss möglichst bald seine weltweite<br />
Verantwortung gegenüber den Armen, den Entwicklungsländern,<br />
dem Hunger, der Schuldenlast, vielfältiger Ungerechtigkeit und Bedrohung<br />
der Schöpfung unter Beweis stellen.<br />
In diesem Zusammenhang müssen die Kirchen Fehlentwicklungen viel<br />
stärker entgegensteuern und eine Europa-Mentalität in globaler Verantwortung<br />
fördern. Dies geschieht auf der einen Seite durch einen intensiven<br />
Einsatz zugunsten der Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Auf der<br />
anderen Seite gibt es auch eine regionale Zusammenarbeit vor allem im<br />
Bereich von Ausgleich und Versöhnung zwischen solchen Staaten, die sich<br />
im letzten Jahrhundert in mörderischen Kriegen feindlich gegenüber standen.<br />
Neuanfänge waren schon sehr früh zu beobachten, etwa als während<br />
des Zweiten Weltkrieges der französische Bischof Théas von Lourdes im<br />
März 1945 einen Gebetsaufruf für den Frieden und zur Versöhnung mit<br />
den Deutschen initiierte, woraus übrigens die Pax-Christi-Bewegung als<br />
Internationale Katholische Friedensbewegung hervorging, die heute in<br />
über 50 Ländern der Welt eindrucksvoll tätig ist. Diesen Bemühungen<br />
muss die Aussöhnung mit unseren östlichen und südosteuropäischen<br />
Nachbarländern hinzugesellt werden. Ich brauche hier nicht den langen<br />
Weg der deutsch-polnischen Versöhnung nachzuzeichnen, der den berühmten<br />
Briefwechsel zwischen dem deutschen und dem polnischen Episkopat<br />
am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) zu einem Höhepunkt<br />
führte. Ähnliches ist auch zwischen der Tschechoslowakischen<br />
bzw. Tschechischen und der Deutschen Bischofskonferenz besonders in<br />
der Wendezeit 1989/90 geschehen, wobei ich an die fruchtbare Kooperation<br />
mit dem Erzbischof von Prag, Miloslav Kardinal Vlk, und ebenso mit<br />
seinem mutigen Vorgänger, Frantisˇek Kardinal Tomasˇek, denke.<br />
Darüber hinaus muss noch der interreligiöse Dialog, das Gespräch zwischen<br />
den Religionen, genannt werden. Er ist wichtig, um gemeinsam<br />
den Sinn von Religion auch in der modernen Welt aufzuzeigen und zu<br />
stützen, um die „Grundwerte“, die den Religionen gemeinsam sind – man<br />
* Vgl. dazu G. Schulz, Europa und der Globus, Stuttgart 2001.<br />
60
denke z. B. an das Projekt „Weltethos“ von Hans Küng – zu festigen und<br />
um gemeinsam sowohl in den einzelnen Ländern als auch weltweit Religionsfreiheit<br />
und gegenseitige Achtung, Frieden und Solidarität zu fördern.<br />
Dabei ist in Europa der Dialog besonders wichtig mit dem Judentum,<br />
das zu den Fundamenten des Christentums gehört, und mit dem<br />
Islam, der mit dem Judentum und dem Christentum zu den abrahamitischen<br />
Religionen gehört und außerdem die religiöse Überzeugung sehr<br />
vieler Mitbürger in den meisten Ländern vor allem Westeuropas darstellt.<br />
Dieser Prozess einer tieferen Fundierung gemeinsamer Werte geschieht<br />
im Dialog und durch Argumentation. Es muss dabei auch einen echten<br />
geistigen Wettbewerb geben, der nicht durch Machtansprüche und politisch-ökonomische<br />
Interessen verzerrt werden darf. Für dieses Gespräch,<br />
das an der Suche nach der Wahrheit orientiert sein muss, ist die Unterscheidung<br />
der Geister immer wieder wichtig. Es kann nicht um eine billige<br />
Anpassung an bestimmte Trends oder um eine gemeinsame Grundlage<br />
auf dem kleinsten Nenner gehen. Es ist gut, wenn wir uns hier an<br />
eine Orientierung des heiligen Paulus halten, der schon im ältesten Dokument<br />
des christlichen Glaubens uns die Weisung mitgibt: „Prüft alles und<br />
behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21). Ähnlich sagt es im Blick auf die Beziehung<br />
zu den nichtchristlichen Religionen die Erklärung des Zweiten<br />
Vatikanischen Konzils „Nostra aetate“: „Die katholische Kirche lehnt<br />
nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit<br />
aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen,<br />
jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen,<br />
was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener<br />
Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber<br />
verkündet sie und muss sie verkündigen Christus, der ist ‚der Weg, die<br />
Wahrheit und das Leben‘ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des<br />
religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat. Deshalb<br />
mahnt die Kirche ihre Söhne, dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch<br />
und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie<br />
durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen<br />
und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich<br />
bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern“ (Nostra aetate, 2).<br />
61
György Konrád, Budapest/Berlin<br />
Einige tausend Schuljahre noch<br />
Gedanken zum Humanismus in Europa<br />
Jene Neigung, die Weltgeschichte mit der eigenen Geschichte, der Vergangenheit<br />
der eigenen Gemeinschaft gleichzusetzen, entspricht unserer<br />
natürlichen Fehlbarkeit. Würde ein katholischer Kardinal die zweitausendjährigen<br />
Strömungen des Christentums in der Geschichte Europas<br />
für bestimmend halten, wäre ich nicht sonderlich verwundert. Es würde<br />
mich auch nicht überraschen, wenn ein Jude auf jenes Paradoxon aufmerksam<br />
machte, das durch die christliche Bibel zwischen der als Altes<br />
Testament bezeichneten Heiligen Schrift der Juden und der Verbreitung<br />
der prophetischen Lehren des Juden Jesus beziehungsweise dem Holocaust,<br />
der faktischen Vernichtung von zwei Dritteln der europäischen<br />
Juden, besteht.<br />
Würde jedoch ein Altertumswissenschaftler unsere heutige Kultur von der<br />
griechisch-römischen Kultur der Antike herleiten, oder würde ein Historiker,<br />
der sich mit der Neuzeit beschäftigt, das gegenwärtige Europa aus der<br />
zirka fünfhundertjährigen Geschichte der Freiheit und Blüte wissenschaftlicher<br />
Forschung erklären, oder würde ein Politikwissenschaftler die Geschichte<br />
der Souveränität der Macht oder ein Ideenhistoriker unsere Vergangenheit<br />
als Kampfarena der Mentalitäten und Ideologien interpretieren,<br />
so würde ich mich auch über all diese Einseitigkeiten nicht wundern,<br />
weil ich jedermann das Recht zugestehe, den eigenen Lebenslauf für die<br />
unter allem anderen herausragende wahre Geschichte zu halten.<br />
Verzeihliche Einseitigkeiten! Doch nicht einmal ihre Gesamtheit spiegelt<br />
erschöpfend die absolute Wahrheit wider, weshalb ich auch gegen mich<br />
selbst nachsichtig bin, wenn ich mein eigenes Handwerk, das Schreiben,<br />
62
in den Vordergrund rücke und den Abdruck der Vergangenheit Europas in<br />
der Geschichte der Texte suche und, um meine These noch provokanter<br />
erscheinen zu lassen, in der Geschichte der europäischen Literatur und<br />
durch jene in der Weltliteratur, die die heiligen Texte sämtlicher Religionen<br />
enthält und darüber hinaus die nicht-religiöse Literatur, ohne dabei<br />
die Grenzlinien zwischen sakral und profan, die einer willkürlichen,<br />
nachträglichen und jenseits des Autors stattfindenden Entscheidung entsprechen,<br />
zu berücksichtigen.<br />
Der weitere Begriff also ist die Literatur, innerhalb derer die religiöse<br />
Literatur eine kleinere Abteilung des Katalogs repräsentiert.<br />
Menschlichkeit als umfassender Begriff<br />
Die Organisatoren unserer Begegnung haben mir den Vorschlag gemacht,<br />
meinem Vortrag folgenden Titel zu geben „Ethischer Humanismus als<br />
Bestandteil des geistigen Fundaments für ein neues Europa“. Gegen den<br />
Gedanken, dass der ethisch-weltliche Humanismus neben dem religiösen<br />
eine parallele Bedeutung erhält, habe ich nichts einzuwenden, dennoch<br />
würde ich statt des ethischen Humanismus den Begriff der Menschlichkeit<br />
wählen, denn er beinhaltet jeglichen Humanismus und noch etwas<br />
mehr, was kein -ismus ist, kein Text, sondern alltägliche Praxis, langsam<br />
heranreifende Erfahrung menschlichen Zusammenlebens, deren Summe<br />
sich auch in jenem Satz zusammenfassen ließe, mit dem der Schulgründer<br />
Meister Hillel einem arroganten Jüngling nach der Zerstörung des<br />
Jerusalemer Tempels geantwortet hatte, als dieser ihn darum bat, das Wesen<br />
der Thora zusammenzufassen, aber kurz und bündig, binnen einer<br />
Zeitspanne, in der er auf einem Bein zu stehen vermag. „Dann kannst du<br />
auch deinen anderen Fuß schnell auf den Boden setzen“, sagte Hillel,<br />
„denn das Wesen der Thora erschöpft sich darin, tue anderen nicht, was<br />
du nicht willst, dass es dir geschieht! Alles andere ist nur Kommentar.“<br />
Menschlichkeit, ich würde sagen, Anständigkeit – denn menschlich kann<br />
auch ein Mensch sein, der von der Botschaft des Humanismus noch nicht<br />
einmal gehört hat und zur großen Mehrheit derjenigen Europäer gehört, die<br />
63
keine Kirchgänger sind. Seinen Nächsten nicht töten, nicht foltern, nicht<br />
auf andere Weise quälen, nicht verleumden, nicht in den Schmutz zerren,<br />
Menschlichkeit bedeutet etwas, was sich auch mit Worten der inneren<br />
Einstellung artikulieren lässt. Allerdings lese ich gerade, auch die Affen<br />
wüssten, was sich gegenüber schwach gewordenen Alten gehöre, und sie<br />
setzten ihr Wissen auch in die Tat um, ja, es entspricht sogar unserer<br />
Alltagserfahrung, dass ein Hund einem anderen Hund nichts antut, wenn<br />
der die Überlegenheit des Stärkeren anerkannt hat. Mit einem Wort, Grausamkeit<br />
gegenüber dem Schwächeren, dem Artgenossen, verträgt sich weder<br />
mit dem Affensein noch mit dem Hundsein. Deshalb könnten wir leicht<br />
übertrieben sagen: auch mit der Menschlichkeit nicht, wenn eine beträchtliche<br />
Anzahl von Menschen in diesem Sinne gar nicht als menschlich oder<br />
anständig zu betrachten ist. Unser Verstand und Verhalten hängen von dem<br />
ab, was um uns her gesagt wird, von der uns anerzogenen Denkweise, von<br />
jenem Menschenideal, dem wir gleichen wollen, davon, was gefällt, und<br />
wie sich derjenige Mensch verhält, der der Mehrheit nicht gefällt.<br />
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts galt der Kult des Nationalstaats<br />
noch als die alles beherrschende Idee, wodurch die militärischen Symbole<br />
an oberster Stelle standen. Welche Ideale tragen die Europäer von heute in<br />
ihren Herzen, welches Menschenbild findet am ehesten ihr Gefallen?<br />
Zum ausklingenden zwanzigsten Jahrhundert ist das höchst wichtige<br />
anthropologische Ideal, der Nimbus des Kriegers, verblasst. Der Überwindung,<br />
der Transzendenz der bürgerlichen Würde entsprach in meiner<br />
Kindheit der Nationalstaat, nach dem Zweiten Weltkrieg im Ostblock der<br />
sozialistische Staat beziehungsweise dessen Bündnis. Wodurch hat sich<br />
Europa erneuert?<br />
• Durch 1989. Durch die Wende von Nicht-Demokratien hin zu Demokratien.<br />
• Erneuert hat sich Europa dadurch, dass es nicht mehr geteilt ist und<br />
zwei sich feindlich gegenüberstehenden Militärblöcken angehört, die<br />
sich gemäß der Logik und tödlichen Dramaturgie der Eskalation wechselseitig<br />
auch vernichten könnten.<br />
• Erneuert hat sich Europa dadurch, dass die Möglichkeit eines neuen<br />
Weltkrieges, wie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das<br />
64
Aufeinanderprallen der Militärkoalitionen, die sich aus der nationalstaatlichen<br />
Expansion in Europa ergeben hatten, nicht droht.<br />
• Erneuert hat sich Europa dadurch, dass es kein einziger Staat geschafft<br />
hat, die anderen Staaten zu unterjochen.<br />
• Erneuert hat sich Europa weiterhin dadurch, dass das Grundprinzip<br />
seiner politischen Einrichtung in einer freiwilligen Assoziierung besteht,<br />
in der Ebenbürtigkeit der großen und kleinen Staaten, in der gemeinsamen<br />
Beschlussfassung der Staats- und Regierungschefs.<br />
Vor der Öffentlichkeit kommt eine nicht sonderlich kämpferische, demokratische<br />
Oligarchie zum Vorschein.<br />
Als neues Element ist eine einschneidende Modernisierung der Sanktionen<br />
zu betrachten, sofern mit der Einstellung der Institution der Todesstrafe<br />
die Herbeiführung des Todes in Europa, genauer gesagt innerhalb<br />
der Europäischen Union, weder als Instrument der Justiz noch zwecks<br />
Durchsetzung eines politischen Willens annehmbar erscheint.<br />
Was ist neu an Europa? Der Wille zur Vereinigung und der Wille, dies<br />
nicht im Zeichen des Nationalismus oder Kommunismus zu tun. Neu an<br />
Europa ist die Tatsache, dass den Europäern von niemandem und nichts<br />
diktiert wird, einzig von der eigenen Vernunft und dem eigenen Interesse.<br />
Augenscheinlich ein vorteilhafter Klub, in den viele eintreten wollen,<br />
aber niemand austreten will. Vermutlich gefällt es den Mitgliedern, Europäer<br />
zu sein. Den Wissenden, den Weitgereisten gefällt es besser als den<br />
Unwissenden, die sich von ihrem Zuhause nicht fortbewegen. Die Bürger<br />
des neuen Europas sind eher Individualisten und Universalisten als Kollektivetatisten;<br />
den trennenden Staatsgrenzen also bezeigen sie weniger<br />
Respekt als den verbindenden und gemeinsamen Momenten.<br />
Das Fundament: Würde, Freiheit und Gleichheit<br />
Das Fundament des philosophisch-rechtlichen Gebäudes sind Würde, Freiheit<br />
und Gleichheit des einzelnen, die allgemeine Anerkennung der grund-<br />
65
legenden Menschenrechte. Das Fundament des neuen Europas ist das frühere<br />
Europa, zusammen mit allem, was dazugehört, mit allen Schönheiten<br />
und Abscheulichkeiten der gesamten europäischen Geschichte und allen<br />
Beziehungen der Europäer mit den Bewohnern an derer Erdteile.<br />
Fundament ist all das, was christlich, und außerdem all das, was nichtchristlich<br />
zu nennen ist. Die Wirklichkeit ist immer mehr und umfassender<br />
als jedwede kulturell-religiöse Richtung und Institutionalisierung.<br />
Auch die gesamte prähistorische und klassisch antike Tradition gehören<br />
zum Fundament des neuesten Europas; angefangen von Homer sind die<br />
Klassiker der Weltliteratur der Urquell des neuen Europas. Die Neuzeit,<br />
das sind für uns nicht nur Pascal, sondern auch Montaigne und Descartes,<br />
Erasmus und Spinoza.<br />
Bestandteil des Fundaments sind das weltliche Wissen, persönlichste<br />
Reflexion und Dichtung, doch Europa ist nicht nur Erbe, nicht nur vorausgegangene<br />
Vergangenheit, sondern auch Vision, Strategie, Entwurf,<br />
Forschungsrichtung, Ars poetica, denn Zukunftswahl geht mit entsprechender<br />
Vergangenheitswahl einher.<br />
Gegen alles, was der Freiheit und Achtung der Persönlichkeit keine Einschränkungen<br />
auferlegt, verhält sich der europäische Humanismus nicht<br />
ablehnend. In der wahren Persönlichkeit leben Hoffnung und Verzweiflung<br />
zusammen, der Glaube an das Höhere, an unsere Natur des Staubkorns,<br />
die nicht alles sein kann, denn es muss etwas mehr als dieses geben.<br />
Das Wissen um den Tod ist jedoch nur auf einer sehr hohen Stufe<br />
seelischen Adels als hoffnungsvoll zu betrachten.<br />
Neugier, Wissensdurst, Gelehrigkeit, Verstehenwollen, Persönlichkeit,<br />
die sich selbst aus dem Stoff der Individualität erschafft, bilden die<br />
Grundlagen des neuzeitlichen Europas. Im Bücherregal gibt es keine<br />
Trennung zwischen Sakralem und Profanem, zwischen Religiösem und<br />
Weltlichem, einer neben dem anderen erwarten sie uns, die Denker.<br />
Wir stützen uns auf jene heiter stimmende Überraschung, dass wir Menschen,<br />
egal, welche Hautfarbe wir haben, gleich welcher Herkunft wir<br />
66
sind, uns im Grunde genommen ähneln; wir wissen, dass wir sterben werden,<br />
und darin unterscheiden wir uns angeblich von den Tieren. Doch wer<br />
weiß das schon wirklich? Jedenfalls haben wir beispielsweise den priesterlichen<br />
Ritus oder die Kunst, Tätigkeiten und Berufe, mit deren Hilfe<br />
wir versuchen, den Tod zu überwinden. Oder wenn wir uns des Erfolgs<br />
vielleicht doch nicht sicher sind, bemühen wir uns zumindest, uns auf das<br />
Ende der Geschichte vorzubereiten.<br />
Was Humanismus ohne jedes Attribut bedeutet? Achtung vor dem sterblichen<br />
Menschen. Die er allein deshalb verdient, weil er sterben wird. Ein<br />
nicht geringer Teil derer, die sich für Jesus entschieden haben, verehren<br />
ihn wegen seines Verhaltens vor seinem Tode. Die Auferstehung ist eine<br />
andere Geschichte. Die menschliche Kultur und in ihr das Europäische<br />
lassen sich nicht von irgendeinem höherwertigen Prinzip herleiten.<br />
Es gibt nur Literatur und Nicht-Literatur, gute Texte und schlechte Texte,<br />
wer Gutes geschrieben hat, der wird seinen Tod eine Weile überleben.<br />
Unter ihren Kollegen hat sich der Erfolg der Bibelautoren als langlebig<br />
erwiesen.<br />
Eine beständige und sich erneuernde Eigenschaft europäischen Denkens<br />
besteht in der Wahrnehmung von Widersprüchen, Paradoxien, Diskrepanzen<br />
und Komplexitäten, in der Unterscheidung von Symptomen und<br />
dahinter steckenden Wirkungskomponenten, in der verständnisvollen<br />
Anschauung der Dialektik des Kampfes, der dialogischen Natur unserer<br />
Affekte und psychischen Wellenbewegungen. Da nun die Bereitschaft<br />
dazu in den verschiedenen Epochen voneinander abwich, sollten wir den<br />
Begriffen des Neuen und des Alten mit größerer Vorsicht begegnen.<br />
Böse kann auch das Alte sein, und böse kann auch das Neue sein. Ob etwas<br />
alt oder neu ist, das ist hinsichtlich seines Wertes gleichgültig. Bei der Lektüre<br />
meiner alten und neuen Kollegen bemerke ich, dass sie die Grausamkeiten<br />
zwar registrieren, jedoch nicht mögen. Unabhängig davon, welchem<br />
Götzen sie dienten, der Nation, der Rasse oder der Klasse, die Ideologien<br />
meiner Kindheit und Jugend haben einen abstrakten und ausschließenden<br />
Begriff so oder so allem übergeordnet, worin zählt, wer und was nicht da-<br />
67
zugehört, und daraus folgend, wer und was als Feind zu betrachten ist.<br />
Deshalb haben diese Ideologien als mögliche und gelegentlich zutreffende<br />
Option auch mit der Vernichtung der anderen Seite gerechnet. Eine solche<br />
Option, gewählt aufgrund von Überlegungen, in denen viele Faktoren Berücksichtigung<br />
gefunden hatten, waren 1944 die Vergasung und Verbrennung<br />
all meiner jüdischen Schulkameraden, was der Endstation jener<br />
Reihe von unterscheidenden Gesetzen entsprach, an deren Vorlagen auch<br />
katholische und protestantische geistliche Würdenträger eine aktive Rolle<br />
gespielt haben. Nachdem die Ermordung bereits eine vollendete Tatsache<br />
war, bat der ungarische Kardinal Serédi den Regierungschef, die getauften<br />
Juden nicht zu deportieren, und mit den nicht getauften, wenn sie nun<br />
schon verschleppt worden seien, solle man menschlich verfahren.<br />
Das Konzentrationslager als Schauplatz menschlicher Behandlung ist<br />
eine Vorstellung, wie sie nur dann möglich ist, wenn das Gemetzel an der<br />
Tagesordnung ist und sich die Bevölkerung auf allen Seiten mehr oder<br />
weniger damit abgefunden hat.<br />
Ethos und rechtfertigender Moralismus von Kampf und Krieg sind in Europa<br />
auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verschwunden; wir können<br />
deshalb sagen, solange wechselseitig aufeinander gerichtete nukleare<br />
Raketen zum Ausdruck brachten, dass unsere Staaten und Blöcke fähig<br />
seien, gegen andere Europäer letzte Mittel einzusetzen, solange die Vernichtung<br />
einer als feindlich eingestuften Unzahl von Menschen eine<br />
mögliche Option gewesen ist, so lange konnte von einem neuen Europa<br />
keine Rede sein, es sei denn von einem Europa nach dem Geschmack<br />
Hitlers und Stalins.<br />
Bis 1989 war in den geltenden Militärdoktrinen unserer Staaten der Extremismus<br />
enthalten. Von einem neuen Europa sprechen könnten wir, seit<br />
die Europäer nicht für einen Krieg gegeneinander aufrüsten. Diese Behauptung<br />
muss uns über den Luftkrieg von neunzehn furchtlosen Demokratien<br />
gegen Jugoslawien stolpern lassen. Auf dem Territorium des<br />
einstigen Jugoslawiens hat sich zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts<br />
ein verspäteter Prozess von Nationwerdung auch als Religionskrieg geäußert,<br />
in dem die kämpfenden Parteien wechselseitig die feindlichen<br />
68
Kirchtürme mittels Kanonenfeuers wegpusteten, Orthodoxe, Katholiken<br />
und Moslems gleichermaßen, die von der lokalen Geistlichkeit sowohl<br />
beschwichtigt wie auch angestiftet worden sind.<br />
Nach dem Verschwinden der kommunistischen Rhetorik boten die Religionen<br />
für kollektiv nationale Selbstbestimmung Begriffe, Zusammenhalt<br />
und Ausschluss an. Der Nachbar wurde des Nachbarn, der Ehemann<br />
der Ehefrau, der Einsprachige des Einsprachigen Feind, dabei hätten sie<br />
in eine andere Kirche gehen können, wenn sie überhaupt zur Kirche<br />
gegangen wären.<br />
Den europäischen Humanismus würde ich mit der Fähigkeit und der Normalität<br />
klarblickender Empathie gleichsetzen, mit einer Entwicklung in<br />
Richtung Sanftmut, die am ehesten in der Behandlung von Kindern und<br />
Alten wahrzunehmen ist. Die ethische Grundlage eines neuen Europas<br />
besteht in der Abwehr jener Überzeugung, dass im Zeichen einer nationalen<br />
Idee getötet und gestorben werden müsse, einem Gedanken zufolge,<br />
dem im neunzehnten Jahrhundert in der Zeit aufflammender nationaler<br />
Romantik selbst edelste Geister anhingen.<br />
Das Pathos nationaler Kämpfe gehört der Vergangenheit an, bricht allerdings<br />
dort hervor, wo die Nationwerdung gerade vor sich geht, wo man<br />
sich über die alte Integration hinweggesetzt hat und die Europäische<br />
Union noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Wo diese Entwicklung<br />
schon abgeschlossen ist, dort gibt es von einem Land ins andere keine<br />
Passkontrollen, wo jedoch viel von nationaler Identität die Rede ist, dort<br />
trappeln viele mit Maschinenpistolen bewaffnete Posten beim Eintreffen<br />
an der Grenze über die Zuggänge.<br />
Wo der Staat an oberster Stelle steht, dort hat das seine Ordnung, wo der<br />
in seinen Rechten und in seiner Würde unantastbare freie Bürger das Fundament<br />
ist, dort hat das nicht seine Ordnung. Der freie Mensch ist gelehrig,<br />
er besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu beurteilen, zu korrigieren und<br />
vielleicht auch auszulachen, er verhehlt nicht in falschem Jargon die Unterschiede,<br />
aber er ist bereit, zu verhandeln, Kompromisse und Verträge<br />
zu schließen.<br />
69
Das „neue Europa“ und seine Bürger<br />
Ein neues Europa befindet sich dort, wo es keine Zensur, dafür aber individuelle<br />
und kollektive Selbstdisziplin gibt, die auf der Achtung vor uns<br />
selbst und vor dem anderen basiert, wo es instinktive Höflichkeit und<br />
Hilfsbereitschaft gibt. Europäischer Humanismus, das heißt auch politischer<br />
Pluralismus, Respekt vor den Spielregeln und Aufrichtigkeit als<br />
vertrauensbildende Maßnahme.<br />
Wessen bedarf es, um uns neue Europäer nennen zu dürfen?<br />
• Vielleicht der Fähigkeit, nicht nur auf die edlen Taten unserer Ahnen<br />
stolz zu sein, sondern uns auch der Schändlichkeiten unserer Vorfahren<br />
zu schämen und der Verwüstungen, die von Europäern auf anderen<br />
Erdteilen angerichtet worden sind.<br />
• Der Hypothese von einer moralischen Ebenbürtigkeit des einzelnen<br />
und das Fehlen einer sanktionierten Machthierarchie, weiterhin der<br />
persönlichen und kollektiven Selbstironie, komplexeres Denken, das<br />
imstande ist, auch mit sich selbst zu rechten, die Kunst des Dialogs und<br />
die Philosophie der Ambivalenzen, dies alles sind europäische Produkte.<br />
• Einer Macht, die einer Person von vornherein anhaften würde, einen<br />
heilbringenden Führer, einen glorifizierten Diktator gibt es nicht. Bezeichnend<br />
für Europa ist eine reflexive Kultur, die die Fähigkeit besitzt,<br />
sich selbst zu entwickeln.<br />
• Weiterhin der Praxis rationalen Verhandelns und Vereinbarungen,<br />
wie beispielsweise nach dem Dreißigjährigen Krieg der Westfälische<br />
Frieden.<br />
Wir könnten auch sagen: die Verbreitung der bürgerlichen Zivilisation,<br />
der Geist des Legalismus, der Rechtssubjekten von vornherein Würde<br />
zuschreibt, die mit den Prinzipien und der Praxis axiomatischer Unterordnung,<br />
bedingungslosen Gehorsams, auf Befehl begangener oder<br />
verüb barer Verbrechen unvereinbar ist.<br />
Erkennen wir an, dass das Subjekt viele Millionen Köpfe hat, dann können<br />
wir den geistigen Grundlagen keine einseitige Bestimmung zuschreiben.<br />
Die oberste Stelle nimmt die Würde der Person ein, und es steht uns<br />
70
frei, diese auch als göttliches Geschenk zu begreifen. Die Würde des einzelnen<br />
ist die Grundlage der europäischen Kultur. Voraussetzung für ein<br />
friedliches Zusammenleben in Europa ist das Respektieren der vorhandenen<br />
Tabus. Eine bewaffnete, gewaltsame Verbreitung jeglicher Lehren,<br />
Religionen und Ideen ist verboten. Die Idee einer durch militärische Eroberung<br />
durchsetzbaren Vereinigung Europas ist endgültig durchgefallen.<br />
Dass legal auch ein Mörder nicht ermordet werden darf, das entspricht in<br />
der europäischen Kulturentwicklung einer moralischen Stufe, die auf der<br />
ganzen Erde weitgehende Folgen haben wird. Das Töten von Menschen<br />
ebenso abzulehnen wie Menschenfresserei, das ist eine nicht ganz unvorstellbare<br />
Station auf dem Weg der Menschheitsentwicklung. Von einem<br />
Kannibalen war zu vernehmen, dass die Weißen nicht so wild wären,<br />
müssten sie all die, die sie getötet hätten, auch verzehren.<br />
Keine Person und keine Institution sind frei von menschlichem Hochmut.<br />
Hält sich irgendeine Einrichtung für den obersten und hegemonistischen<br />
Hüter der Wahrheit, so stellt dies ein ernsthaftes Lernhindernis dar. Als<br />
Folge von 1989 gibt es unter den bibelkundigen Völkern von San Francisco<br />
bis Wladiwostok keinen Hass, der sich zu etwas gefühlsduselig<br />
Pathetischem, zu einer Ideologie schmieden ließe.<br />
Die wirkliche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Reiche<br />
zerschlagen, die Hochmütigen beschämt und bewiesen, dass auch die<br />
Tyranneien vom Gesetz der Vergänglichkeit nicht ausgenommen sind,<br />
obschon sich die mit ihnen verbrachten Jahre ziemlich langweilig in die<br />
Länge gezogen hatten. Napoleons und Hitlers Lektion hat gezeigt, dass<br />
der Westen den europäischen Osten militärisch nicht erobern kann; ihn<br />
für sich gewinnen, ihn verführen, das könnte ihm vielleicht gelingen. Jedenfalls<br />
ist es eine bewundernswerte Leistung, dass es Europa und innerhalb<br />
seiner Grenzen die Osteuropäer geschafft haben, die vom Kommunismus<br />
zur Demokratie führende Wende im allgemeinen ohne Blutvergießen<br />
herbeizuführen.<br />
Während der langen Vorbereitungsphase auf die Machtübergabe im Zuge<br />
von Verhandlungen und Gesprächen am Runden Tisch haben die dissi-<br />
71
dentischen demokratischen Bewegungen – in nicht geringem Maße dem<br />
Beispiel der Ethik und Haltung Jesu folgend – Gewalt als Instrument<br />
zwecks Erreichung des Wandels verworfen. Nicht die Panzer sollten die<br />
Inhaber der Macht übergeben, sondern das Verteidigungsministerium,<br />
dachten die verschiedensten Kräfte, die sich dem Versuch verschrieben<br />
hatten, die Wende herbeizuführen.<br />
Dass der Umbruch ohne Blutvergießen vor sich gegangen ist, darin hat<br />
auch das Vermächtnis des biblischen Jesus, ergänzt um die Deutungen<br />
Tolstois, Gandhis und Martin Luther Kings, eine bestimmende Rolle gespielt.<br />
Vom Korpus der Gesellschaft ist das Eisenhemd abgeplatzt.<br />
Kenntnisse von dessen Umklammerung, von der im Namen gesellschaftlicher<br />
Gerechtigkeit ausgeübten Gewalt, besitzen wir zur Genüge, also<br />
werfen wir nun im Interesse der Objektivität einen Blick auf die sozialethische<br />
Leistung der untergegangenen kommunistischen Regime.<br />
Nach der kommunistischen Wende verschwanden die barfüßigen Kinder,<br />
die illegitimen Kinder, die diskriminierende Unterscheidung der Frauen,<br />
und es setzte eine große Mobilität vom Dorf in die Stadt ein, wodurch<br />
sich für die früher Chancenlosen unerwartete Lebenswege eröffneten, die<br />
von unten nach oben führten. Zum Bewusstsein des neuen Europas gehört<br />
auch die Fähigkeit, sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten<br />
unserer untergegangenen Epochen und Zivilisationen zu sehen. Dass der<br />
Westen mit seinen Menschenrechtsforderungen und seinem Demokratiemodell<br />
über den Osten gesiegt und dass diese Strategie funktioniert hat,<br />
sollten wir zur Kenntnis nehmen.<br />
Von den Partnern in allen Himmelsrichtungen und allen Zivilisationen als<br />
Kriterium ihrer Zuverlässigkeit Anspruch auf gesetzliche Garantien der<br />
persönlichen Freiheit zu erheben, ist rechtens und entspricht der Wirklichkeit<br />
Europas. Die Forderung nach Selbstbeschränkung, Selbstbeherrschung,<br />
Einhaltung von Verträgen, Offenheit und Gewaltverzicht richten<br />
die Europäer gegen sich selbst, und daran tun sie gut, aber sie wären gut<br />
beraten, würden sie diese Erwartungen auch allen anderen gegenüber anwenden.<br />
Ebenso wie sich die Demokratien den faschistischen und den<br />
72
kommunistischen Diktaturen widersetzt haben, so liegt es auch in ihrem<br />
Interesse, gegen die islamistischen Diktaturen vorzugehen, sofern sich<br />
die radikalen Bewegungen des Islam zur Anwendung von Gewalt und<br />
Terrormethoden entschließen. Es wird eine geraume Weile vergehen, bevor<br />
sich die europäischen Regierungen zu der Unhöflichkeit bereit finden<br />
und kontrollieren, ob die Unterstützten die Unterstützungen nicht gar<br />
zum Töten von Menschen verwenden.<br />
Die Völker Europas schafften es nicht, sich die Idee der Aufklärung und<br />
der bürgerlichen Freiheit durch deren Überspringen zu ersparen. Ohne<br />
die blutigen und unblutigen Revolutionen zur Durchsetzung der bürgerlichen<br />
Gleichheit gibt es keinen freien Rechtsstaat.<br />
Diese Lektion haben alle in Europa lernen müssen. Die Glücklicheren<br />
sind von selbst darauf gekommen, die Begriffsstutzigeren sind in dieser<br />
Weisheit durch Niederlagen unterwiesen worden; in der Dialektik von<br />
Freiheit und Verantwortung müssen wir uns alle noch üben. Dass die europäische<br />
Demokratie auf eine Initiative des Christentums zurückgehen<br />
würde, kann nicht behauptet werden, doch erlernt und assimiliert hat es<br />
sie, es kommt mit ihr zurecht.<br />
Die Fähigkeit des Christentums, den nicht dogmatischen, ja antifundamentalistischen<br />
Charakter der europäischen Kultur zur Kenntnis zu nehmen,<br />
ist ein Anzeichen für große geistige Energie. Die geistige Grundlage<br />
des neuen Europas ist der europäische Humanismus; der christliche religiöse<br />
Humanismus ist ein Bestandteil davon.<br />
Was für eine Minderheit vorstellbar wäre, dürfte mit den Europäern insgesamt<br />
schwierig sein; die Mehrheit bleibt nüchtern und lässt sich nicht<br />
erneut verblenden. Auf Leben und Tod entschlossen sind wir nicht, aber<br />
auch Lämmer sind wir nicht, und auf Dauer werden wir in der Rolle von<br />
Komplizen der Gewalt nicht verharren. Als Form politischen Widerstands<br />
oder einer möglichen Durchsetzung politischer Interessen entzieht das<br />
europäische Denken dem bewaffneten Kampf beziehungsweise dem Töten<br />
von Menschen die Legitimation. Eine Organisation, die statt auf einen<br />
Verhandlungskompromiss nach wie vor auf bewaffnete Gewalt setzt, ge-<br />
73
hört in den Bereich des organisierten Verbrechens. Toleranz gegenüber<br />
gleich welcher Bewegung oder Organisation, die, um ihre Ideen zu verbreiten,<br />
Gewalt anwenden, ist als europafeindliche Haltung einzustufen.<br />
Philosophische Toleranz gegenüber einem aus Ideen abgeleiteten Töten<br />
von Menschen ist antieuropäisch.<br />
Das neue Europa baut auf die Idee des freien Bürgers. Es gibt moralische<br />
Normen, für die wir uns als Absolutes und Unantastbares entscheiden.<br />
Eine solche Norm kann die allgemeine Verabscheuung der Vernichtung<br />
von Kindern, ihres gewalttätigen Missbrauchs sein. Die persönliche<br />
Menschenwürde ist ein universelles Menschenrecht und hängt von keinerlei<br />
nationaler, religiöser, rassischer oder ethnischer Zugehörigkeit ab.<br />
Die Selbstverständlichkeit, die humorvolle Reflexartigkeit solcher und<br />
ähnlicher Gemeinplätze würde signalisieren, dass sich Europa tatsächlich<br />
auf dem Weg der Erneuerung befindet.<br />
Um die angedeuteten weisen Kombinationen von Stärke und Sanftmut<br />
auszuarbeiten, wird eine gehörige Wegstrecke zu bewältigen sein. Dass<br />
wir noch einige tausend Schuljahre vor uns haben werden, bleibt zu<br />
hoffen.<br />
74<br />
Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans-Henning Paetzke<br />
Am Podium von links:<br />
Bischof Adrian H. van Luyn,<br />
Inge Bell, Peter Kujath,<br />
Dr. Maria Martens MdEP,<br />
Prof. Dr. Helmut Juros
Podiumsgespräch<br />
Welche Werte bestimmen unser Handeln?<br />
Wertepluralismus in modernen Lebenswelten<br />
Teilnehmer: Inge Bell, München<br />
Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau<br />
Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel<br />
Moderator: Peter Kujath, München<br />
Peter Kujath, München:<br />
Als ich die Leitfrage gelesen habe, dachte ich mir: eine ganz einfache<br />
Frage. Denn letztlich sollten wir uns bei unserem Handeln immer bewusst<br />
sein, woran, an welchen Werten wir uns orientieren. Es ist aber gar<br />
nicht so einfach, die Werte beim Namen zu nennen. Dies ist beispielsweise<br />
auch in den Ausführungen von Kardinal Lehmann deutlich geworden.<br />
Ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen geht. Vieles läuft einfach unbewusst<br />
bei uns ab, setzt sich zusammen aus einer Mischung von elterlicher<br />
Erziehung, gesellschaftlicher Sozialisation und auch den persönlichen<br />
Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat.<br />
Eine Sache wird bei allem Handeln sicher im Vordergrund stehen: Wir<br />
sollten ein hohes Maß an Verantwortung den Mitmenschen gegenüber<br />
haben, Verantwortung aber auch der Umwelt gegenüber und natürlich<br />
auch Verantwortung dahingehend, welche Konsequenzen unser Handeln<br />
hat. Ich glaube, dass es das auch ist, was uns hier auf dem Podium verbindet<br />
– egal, ob als Journalistin, als Politikerin, als Wissenschaftler oder als<br />
Bischof im Dienste der Kirche.<br />
Ich möchte Ihnen jetzt kurz die Damen und die Herren vorstellen. Beginnen<br />
will ich mit Frau Inge Bell. Sie ist Radio- und Fernsehjournalistin,<br />
hat viel über Mittel- und Osteuropa berichtet und die Öffentlichkeit dabei<br />
besonders für ein Thema sensibilisiert, nämlich die organisierte Krimina-<br />
75
lität in Mittel- und Osteuropa. Sie ist dort sehr engagiert, betreut über ihre<br />
Reportagen hinaus auch Projekte mit Betroffenen, in die sie sehr viel<br />
Zeit, Energie und auch Geld hinein steckt. Vielleicht bewusst provokant<br />
gefragt: Was hat Sie veranlasst, sich so mit diesen Projekten auseinander<br />
zu setzen?<br />
Inge Bell, München:<br />
Es ist schwer, ein Handeln zu beurteilen, denn das ist natürlich eine sehr<br />
subjektive Angelegenheit. Dennoch möchte ich sagen: was mich immer<br />
durch mein Leben begleitet hat, ist die Devise, nach der ich bewusst handele<br />
„erst Mensch – dann Journalistin“. Was ich an journalistischen Themen<br />
aufgreife, das interessiert mich als Mensch. Ich werde auf einen<br />
Miss stand aufmerksam und möchte das dann dem Publikum vorstellen.<br />
Umgekehrt kann mich das als Mensch wiederum nicht einfach kalt<br />
lassen. Deshalb möchte ich nicht nur berichten, sondern auch handeln.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Vielleicht können Sie einen konkreten Missstand benennen, damit wir<br />
wissen, wie Sie damit umgehen.<br />
Inge Bell, München:<br />
Ich habe mich in meiner Berichterstattungstätigkeit auf den Balkan spezialisiert,<br />
da vor allem auf die organisierte Kriminalität und auch den<br />
Menschenhandel. Denn es ist wohl inzwischen allgemein bekannt, dass<br />
Südosteuropa ein Exportgut ganz exquisiter Qualität hat – seine Menschen.<br />
Zum einen handelt es sich um junge, gut ausgebildete Menschen,<br />
die im Westen Arbeit suchen, weil sie in ihrer Heimat keine finden oder<br />
glauben, dort keine Zukunft zu haben. Diese Menschen kommen als IT-<br />
Spezialisten, als Wissenschafter, als Fachleute für Wirtschaft, verdienen<br />
hier gut und können ein gutes und menschenwürdiges Dasein führen.<br />
Dann gibt es aber auch Millionen von Menschen, vor allem Frauen und<br />
Kinder, die diese Chance auf ein menschenwürdiges Leben nicht haben.<br />
Es sind vor allem Kinder, die gehandelt werden, die verkauft werden – im<br />
besten Falle zum Zweck der Adoption, im schlimmsten Falle zum Zweck<br />
76
des Organhandels: Babys als menschliche Organbanken. Dann gibt es<br />
Frauen, die gehandelt werden, junge, auch minderjährige Mädchen und<br />
Frauen, um dann in Westeuropa oder auch auf dem Balkan in Bordellen<br />
oder auf dem Straßenstrich zu landen und dort ausgebeutet zu werden.<br />
Exportgut Mensch: das ist etwas, was einem überall in Osteuropa über<br />
den Weg läuft, egal, ob man jetzt einen Tag dort ist oder mehrere Monate<br />
wie ich, man kommt an diesem Thema dort nicht vorbei. Dann stellt sich<br />
natürlich die Frage, was man als Mensch, der zwischen Westeuropa und<br />
dem Balkan pendelt, dagegen tun kann.<br />
Ich möchte ein konkretes Hilfsprojekt, das übrigens auch von <strong>Renovabis</strong><br />
unterstützt wird, vorstellen. In Bulgarien gibt es ein Heim für minderjährige<br />
Zwangsprostituierte, für Mädchen zwischen acht und achtzehn Jahren,<br />
die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Europa<br />
waren, in Deutschland, in Frankreich, in Belgien. Dort wurden sie auf<br />
den Strich gezwungen, mussten in der Illegalität leben, wurden nach Razzien<br />
zurück geschickt – um dann in Bulgarien nicht wie Opfer, sondern<br />
wie Verbrecher behandelt zu werden! Sie wurden weggesperrt in ein<br />
Heim, das mehr ein Gefängnis war, aus dem es bis zu ihrem achtzehnten<br />
Lebensjahr kein Entrinnen gibt. Hier anzusetzen und hier die Gesellschaft<br />
in Bulgarien und in Westeuropa aufzuklären, dass es sich bei diesen Kindern<br />
um Opfer handelt – das sehe ich als eine wichtige Aufgabe, als<br />
Mensch und als Journalistin. Wir leben hier in einer scheinbar heilen<br />
Welt, dass uns das alles so fremd und so fern zu sein scheint. Diese<br />
scheinbar so heile Welt könnte aber auch unsere Sensoren für Menschlichkeit<br />
verkleistern, genauso wie bei den Menschen, die Opfer in Südosteuropa<br />
werden. Ich sehe es gerade deshalb als meine Aufgabe als<br />
Journalistin an, vor allem als Mensch dem entgegen zu wirken.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Das heißt also, wir haben in diesem Fall ein ganz praktisches Beispiel<br />
dafür, wie die Werte unmittelbar zum Handeln geführt haben. Ich darf<br />
jetzt bei der Vorstellungsrunde zu Frau Dr. Martens an meiner Linken<br />
weitergehen. Sie ist seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments für<br />
die niederländischen Christdemokraten, ist dort Mitglied des Ausschusses<br />
für Kultur, Jugendbildung, Medien und Sport, außerdem Mitglied im<br />
77
Ausschuss für die Rechte der Frau – das schließt an das an, was Frau Bell<br />
gerade gesagt hat, – und Mitglied im Ausschuss für Entwicklung und<br />
Zusammenarbeit. Sie hat ein Theologiestudium absolviert, war dann zunächst<br />
Dozentin für Weltanschauungen und hat als Studiensekretärin des<br />
Verbandes der Katholischen Sozialorganisationen viel erreicht, ehe sie<br />
1999 in die Politik wechselte. Frau Dr. Martens, wenn man jetzt in die<br />
Europäische Union und ins Europäische Parlament hinein schaut: Welche<br />
Werte bestimmen denn unser Handeln? Vor Beginn dieses Gespräches<br />
sagten Sie mir schon, Sie könnten einige benennen.<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Für die Politik denke ich besonders an Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität<br />
und Freiheit. Außerdem sollten die Politiker offen sein, Vertrauen<br />
ausstrahlen und auch über Dialogfähigkeit verfügen.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Das sind einige Punkte, die uns da begleiten werden. Vielleicht können<br />
Sie, bevor wir weiter in dieser Richtung diskutieren, einmal kurz darstellen,<br />
wie diese Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union und im<br />
Europäischen Parlament ablaufen.<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Diese Wege sind ziemlich kompliziert. Sie alle wissen wohl, dass die Europäische<br />
Kommission normalerweise mit Vorschlägen kommt, das Parlament<br />
darauf reagiert, ein Statement abgibt und zusätzliche Anträge einbringen<br />
kann. Das Parlament besteht aus 626 Personen, die Arbeit wird<br />
über die Ausschüsse verteilt. Jedes Thema kommt in einen Ausschuss,<br />
und jeder Ausschuss hat einen Sprecher, der eine Stellungnahme für das<br />
Parlament vorbereitet. Man muss mit all den Leuten reden – bei 626 Abgeordneten<br />
eine ziemlich schwierige Sache, wenn man zu einer Entscheidung<br />
kommen will. Deshalb sind die Fraktionen und Parteien sehr wichtig,<br />
die die Anträge bündeln und die Entscheidungen vorbereiten, ganz<br />
wie in den nationalen Parlamenten. Das Parlament fällt dann einen Beschluss,<br />
der dem Ministerrat zur endgültigen Entscheidung vorgelegt<br />
wird. Auf alle wichtigen Punkte dieses Verfahrens gibt es natürlich Ein-<br />
78
flussmöglichkeiten – in der Kommission, bei den Funktionären, Beamten,<br />
Politikern auf Nationalebene. So läuft dieses Spiel ab, und praktisch<br />
gesehen dominiert immer die Ökonomie.<br />
Aber Europa kann ohne gemeinsame Werte nicht bestehen. Wenn wir<br />
über die Zukunft Europas entscheiden, besonders über die Erweiterung,<br />
dann müssen wir wissen, welches Europa wir eigentlich wollen, wie weit<br />
wir zusammenarbeiten wollen und wer welche Befugnisse haben soll. Es<br />
geht auch darum, welche Antworten Europa auf den 11. September 2001<br />
geben kann. Dabei kann es eben nicht nur um Ökonomie gehen. Wenn<br />
wir Entscheidungen treffen, die für alle Menschen gelten sollen, dann<br />
müssen diese auch innerlich begründet und legitimiert sein. Genau das<br />
ist der Platz für die fundamentalen Werte, und diese Diskussion findet<br />
jetzt statt. In diesem Sinne ist unser <strong>Kongress</strong> äußerst aktuell. Weitere<br />
wichtige Ereignisse mit dieser Zielsetzung möchte ich wenigstens kurz<br />
erwähnen. Am vergangenen Wochenende fand der sechste Dialog zwischen<br />
unserer Fraktion und den orthodoxen Kirchen der Beitrittsländer<br />
statt. Im Parlament der Niederlande wird gerade über eine Wertekommission<br />
diskutiert. Ganz wichtig ist natürlich der EU-Konvent, damit<br />
verbunden die Frage nach der Stellung der Grundrechte-Charta. Die Diskussion<br />
über den Bezug auf Gott in der Präambel zeigt ja ganz deutlich,<br />
worum es geht. Wenn wir nicht genau aufpassen, wird die Wertediskussion<br />
völlig an den Rand gedrängt, was meines Erachtens verhängnisvoll<br />
wäre.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Kann man denn im Hinblick auf die Präambel, wo der Gottesbezug eliminiert<br />
worden ist, überspitzt sagen, dass die Kirchen in der aktuellen Diskussion<br />
um die Werte in der Europäischen Union nicht berücksichtigt<br />
werden?<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Leider muss man sagen, dass die Kirchen zu wenig berücksichtigt werden.<br />
Es gibt sehr viele Verbände, die da mitreden. Aber die Kirchen können<br />
sich kaum einbringen. Gerade im Moment liegt eine Resolution vor,<br />
die darauf zielt, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen, auch als Dia-<br />
79
logpartner. Was den Gottesbezug in der europäischen Verfassung betrifft,<br />
wird es sicher noch eine spannende Diskussion geben. Hoffentlich wird<br />
es möglich, einen Bezug zum Religiösen – nicht nur Christlichen – einzubringen,<br />
mit Respekt vor anderen Weltanschauungen.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Damit nähern wir uns gleichzeitig der Frage nach den Auswirkungen der<br />
Werte an. Welche Handlungen und konkreten Schritte ziehen sie nach<br />
sich? Kardinal Lehmann hat in seinem Beitrag davon gesprochen, dass<br />
man die Kirche nicht als NGO, als Nichtregierungsorganisation, betrachten<br />
kann. Aber was ist sie dann?<br />
Zunächst möchte ich aber die Vorstellungsrunde fortsetzen. Bischof van<br />
Luyn ist indirekt bereits angesprochen worden, denn er ist Vizepräsident<br />
der Kommission der Bischofskonferenzen der EU-Mitgliedstaaten, und<br />
da wird er sicher etwas zu den Worten von Frau Dr. Martens sagen können.<br />
Sie sind Bischof von Rotterdam und kommen damit direkt aus der<br />
seelsorgerlichen Praxis. Darf ich Sie um Ihr Statement bitten?<br />
Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />
Meine Diözese hat ungefähr 3,5 Millionen Einwohner, davon gehört<br />
mehr als die Hälfte keiner Kirche mehr an. Die Katholiken umfassen<br />
etwa 20 –25 %, die Protestanten kommen zusammen noch nicht an die<br />
20 %. Sie sehen also: Wir sind zwar reich in Holland, und der Welthafen<br />
Rotterdam bringt diesen Reichtum nach ganz Westeuropa hinein – aber<br />
wie steht es um die geistige Situation? In meiner Diözese haben wir ein<br />
Programm von drei Begriffen entwickelt, die alle mit dem Buchstaben<br />
„S“ anfangen, sodass man sich das leicht behalten kann. Die ersten zwei<br />
Begriffe beziehen sich auf die zwei wesentlichen Beziehungen des evangelischen<br />
Doppelgebots: auf die Beziehung zum Anderen, dem Nächsten,<br />
und auf die Beziehung zum ganz Anderen, zu Gott. Die Begriffe lauten<br />
folgerichtig „Solidarität“ und „Spiritualität“ – Solidarität als Dienst am<br />
Mitmenschen, Spiritualität als Ausdruck persönlicher Erfahrung von Gott<br />
in unserem Leben. Das sind die zwei wichtigsten Beziehungen der<br />
menschlichen Existenz. Dann gibt es noch einen dritten Begriff, der im<br />
Holländischen auch mit „S“ beginnt, „Soberheid“. Das lässt sich nicht<br />
80
direkt ins Deutsche übersetzen. Auf Lateinisch heißt es „temperantia“<br />
oder „sobrietas“. Die „temperantia“ zählt zu den Kardinaltugenden, die<br />
im Deutschen wohl mit „Maßhalten“ umschrieben wird. Genau das ist es<br />
aber, was uns im westlichen Europa fehlt. Der moderne Mensch im Westen<br />
Europas hat weder Maß noch Zeit noch Raum für das Wesentliche, für<br />
den Dienst am Mitmenschen und an Gott. Das Doppelgebot der Liebe<br />
droht völlig verdrängt zu werden. Die „temperantia“ ist eine Bedingung<br />
für authentische Spiritualität und Solidarität.<br />
Wir müssen deshalb – und in meiner Diözese versuche ich das – in der<br />
heutigen Europäischen Union damit beginnen, ausgehend von den drei<br />
„S“ eine Gegenbewegung aufzubauen. Solidarität geht gegen den Individualismus<br />
des „Jeder für sich“, Spiritualität gegen den Säkularismus der<br />
„Welt ohne Gott“ oder, wie Kardinal Lehmann sagte „Etsi deus non<br />
daretur“, und Soberheid gegen den Materialismus oder Konsum. Eine<br />
solche Gegenentwicklung ist unserer westeuropäischen Gesellschaft notwendig.<br />
Dies gilt umso mehr, wenn sich die Union nach Osten erweitert.<br />
Viele Erwartungen werden dort an den Beitritt zur Union geknüpft. Wenn<br />
es keine angemessene Antwort gibt, werden große Enttäuschungen und<br />
Frustrationen die Folge sein.<br />
Die Solidarität muss auch den Ländern in der Dritten Welt gelten. Ich<br />
möchte nur in Erinnerung rufen, dass weltweit 130 Millionen Jungen und<br />
Mädchen im Alter von 6 – 11 Jahren nicht zur Schule gehen. Weitere 150<br />
Millionen verlassen die Schule schon nach vier Jahren. Ohne Bildung<br />
werden sich die Menschen nie aus ihrer Armut befreien können. Die<br />
Weltbank hat geschätzt, dass jährlich etwa fünf Milliarden Euro ausreichten,<br />
um diesen Kindern eine Schulbildung zu geben. Dieses Geld ist eine<br />
langfristige Investition für uns alle, das durch Konsumverzicht bei uns<br />
zusammengebracht werden muss.<br />
Wenige Tage nach Abschluss des Weltgipfels für Nachhaltigkeit in Johannesburg<br />
liegt es schließlich auch nahe, die Solidarität mit den kommenden<br />
Generationen zu erwähnen, die aus einem maßvolleren Umgang<br />
mit unseren natürlichen Ressourcen erwächst. So ist es angesichts der<br />
jüngs ten Umweltkatastrophen bei uns schwer nachzuvollziehen, warum<br />
1,5 Milliarden Menschen heute keinen Zugang zu sauberem und frischem<br />
Trinkwasser haben. Ich bin überzeugt davon, dass eine nachhaltige Ent-<br />
81
wicklung letztlich nur durch einen nachhaltigeren Lebensstil in den reichen<br />
Erdteilen erreicht werden kann. Unser Konsumverzicht ist eine notwendige<br />
Investition für die kommende Generation.<br />
Ein maßvollerer, einfacherer Lebensstil, der sich von der Tugend der<br />
„temperantia“ inspirieren lässt, ist Voraussetzung für eine humane und<br />
humanisierende Zukunft. Der geläuterte Umgang mit dem Konsum von<br />
irdischen Gütern ist eine Investition in Gott. „Temperantia“ heißt letztendlich<br />
„Gott Zeit und Raum“ geben. Sie ist die Voraussetzung für das<br />
vertrauende Herz, das sich für das Wort Gottes öffnet. Das ist ihr letzter<br />
und unüberbietbarer Sinn. Diese „temperantia“ ist heute dringend notwendig<br />
in unserer westlichen Welt als Investition in den Mitmenschen,<br />
um anderen das Leben möglich zu machen.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Ein klares Plädoyer und letztlich eine Handlungsanweisung für jeden von<br />
uns, zugespitzt auf „temperantia“, „Mäßigkeit“ oder „Maßhalten“. Jetzt<br />
haben wir drei sehr konkrete Beispiele gehabt, wie man mit dem Thema<br />
„Werte“ umgehen kann. Am Ende unserer Runde hat nun Professor Juros<br />
das Wort. Wie sein Vorname Helmut verrät, ist er in Oberschlesien geboren.<br />
Er hat Theologie studiert und ist jetzt Direktor des Institutes für Politische<br />
Wissenschaften an der Universität Warschau. Im Vorfeld haben wir<br />
uns noch etwas länger ausgetauscht über etwas, was Kardinal Lehmann<br />
ausgeführt hat: Was sind eigentlich Werte, und wie werden sie gesehen?<br />
Es gibt ja ganz verschiedene Möglichkeiten, an Werte heranzugehen.<br />
Zwei davon sind der juristische und der philosophische Zugang. Können<br />
Sie das ein wenig erläutern?<br />
Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau:<br />
Die Thematik der Werte und ihrer Definierbarkeit, die Definition des<br />
Guten gehörte zu meiner Doktorthese. Ich wollte eben aus diesem<br />
Grunde hier auch etwas Theoretisches ausführen. Unser Generalthema<br />
„Welche Werte bestimmen unser Handeln? Wertepluralismus in modernen<br />
Lebenswelten“ besteht aus zwei Sätzen. Der erste Satz ist mit einem<br />
Fragezeichen ausgestattet, der zweite Satz hat weder einen Punkt noch<br />
ein Ausrufezeichen, sodass sich viele Interpretationsmöglichkeiten erge-<br />
82
en. Man kann vermuten, dass es sich um eine empirische Bestandsaufnahme<br />
der Werte in der Gesellschaft handelt. Heute wurden schon einige<br />
theoretische Fragen gestellt, besonders im Zusammenhang mit der<br />
Wertedebatte im Rahmen der europäischen Integration. Natürlich gibt es<br />
verschiedene philosophische Positionen. Grundsätzlich wird die ganze<br />
Debatte aber von Neopositivisten beherrscht, für die es eigentlich keine<br />
Werte gibt. Angeblich können wir daher nur kulturwissenschaftlich und<br />
soziologisch über Werte sprechen. Deshalb wäre es eigentlich auch<br />
besser, über Europa als Interessengemeinschaft zu sprechen. Europa als<br />
Wertegemeinschaft sei also eine Illusion, meinen die Empiristen in der<br />
Wertedabatte.<br />
Wenn wir aber in der Philosophie, in der Theologie oder im kirchlichen<br />
Raum über Werte sprechen, dann vertreten wir meistens einen ontologischen<br />
Objektivismus und erkenntnistheoretischen Realismus, der davon<br />
ausgeht, dass Werte existieren, ein Faktum bilden und rational intuitiv<br />
erkennbar sind. In diesem Sinne können wir dann auch eine Werte-Ethik<br />
philosophischer oder theologischer Art wissenschaftlich betreiben. Was<br />
sind dann Werte? Wir haben bereits Beispiele für Werte und Antiwerte<br />
gehört. Herr Konrád nannte die Konzentrationslager als Schauplätze von<br />
Werten und Antiwerten. Im Zusammenhang mit der Hochwasserkatastrophe<br />
der letzten Wochen sind ganz plötzlich Nachbarschaft, Solidarität,<br />
Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit als Grundwerte erkannt und akzeptiert<br />
worden, und zwar ohne ideologische Legitimation. Solche Schauplätze<br />
oder Erfahrungsfelder sollten wir uns genau anschauen. Dann<br />
können wir feststellen, dass sich Werte auf einen gemeinsamen Nenner<br />
zurück führen lassen. Das sind dann die Grundwerte, z.B. in der Charta<br />
der Grundrechte der Europäischen Union, und wahrscheinlich kommen<br />
sie in der künftigen Europäischen Verfassung zum Ausdruck. Die ganze<br />
Tätigkeit von <strong>Renovabis</strong> ist auch eine Art von Exerzierplatz, auf dem<br />
Werte erscheinen. Natürlich findet, wie etwa die dritte Europäische Wertestudie<br />
und die Shell-Jugendstudie über Werte bei der deutschen Jugend<br />
zeigen, ein Wertewandel statt, aber immer wieder kommt man zu den allgemein<br />
anerkannten Grundwerten. Daher vertrete ich in dieser Frage<br />
auch nicht den Pessimismus bzw. Nihilismus, der in den Debatten so oft<br />
festzustellen ist.<br />
83
Peter Kujath, München:<br />
Vielen Dank für diesen weiten Bogen von den Neopositivisten, die die<br />
Existenz von Werten grundsätzlich bezweifeln, bis zu den Objektivisten,<br />
die via facti das Vorhandensein von Grundwerten postulieren. Dabei fiel<br />
auch der Begriff „Interessengemeinschaft“. Ich würde das Wort gerne an<br />
Frau Dr. Martens geben, denn die Europäische Union versteht sich wohl,<br />
wenn man ihren Ausführungen folgen darf, nicht nur als eine Interessengemeinschaft.<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Vielleicht arbeitet die Europäische Union von bestimmten Interessen aus.<br />
Die große Gefahr liegt aber gerade darin, dass Gruppeninteressen oder<br />
nationale Interessen den Interessen der Gemeinschaft vorangestellt werden.<br />
Ich denke etwa zum Vergleich an den Demokratiebegriff in „Centesimus<br />
annus“. Am Ende geht es im Vertrag von Nizza und in den anderen<br />
Dokumenten natürlich – wie in der Demokratie – auch um Werte, um gemeinsame<br />
Visionen wie Gemeinwohl und Menschenwürde, um Friede,<br />
Solidarität, Stabilität und Lebensqualität. Wenn wir aber über große Fragen<br />
wie die Migrationproblematik, die internationale Solidarität und den<br />
multikulturellen Dialog diskutieren und dabei nur die Perspektive des<br />
(Eigen)Interesses anlegen, dann weiß ich nicht, wieweit wir kommen.<br />
Deshalb habe ich aufgehorcht, als ich Interessengemeinschaft hörte.<br />
Peter Kujath, München:<br />
„Interessengemeinschaft“ ist also möglicherweise ein Reizwort; es passt<br />
zu der Tatsache, dass die Europäische Union ursprünglich eine reine<br />
Wirtschaftsgemeinschaft gewesen ist. Ich denke aber, dass sie inzwischen<br />
eine ganz andere Entwicklung genommen hat. Sie haben, Herr Bischof<br />
van Luyn, gerade auch deshalb die „temperantia“, das „Maßhalten“ erwähnt.<br />
Hatten Sie eigentlich schon Gelegenheit, Ihre Vorstellungen der<br />
Europäischen Kommission konkret zu unterbreiten?<br />
Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />
Natürlich, wir haben das Thema in den vergangenen Jahren schon mehrfach<br />
behandelt. Mit der Kommission in Brüssel, mit den Mitgliedern des<br />
84
Parlaments, mit den Direktoren wurden etliche Dialoge geführt, an denen<br />
sich alle Bischöfe von den Bischofskonferenzen der Mitgliedsstaaten beteiligt<br />
haben. Diesen konstruktiven und kritischen Dialog haben wir außerdem<br />
auch auf der nationalen Ebene zwischen der Bischofskonferenz<br />
vor Ort und der jeweiligen Regierung geführt. Wir versuchen, die Entwicklungen<br />
in der Europäischen Union kritisch zu verfolgen, und geben<br />
dann unseren Beitrag dazu ab. Aber ich bin auch der Überzeugung<br />
– und deshalb habe ich auch über die „temperantia“ gesprochen –, dass<br />
wir es nicht nur den Regierungen oder der Kommission der Union überlassen<br />
können. Wir Christen müssen auch selbstkritisch sein. Ich bin fest<br />
davon überzeugt, dass es auf der Welt besser aussehen würde, wenn wir<br />
Chris ten solidarischer mit den Gütern der Welt umgehen würden.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Wir haben über Grundrechte gesprochen, über Aufforderungen, wie man<br />
sich jetzt besser verhalten kann, um auch mit anderen etwas zu teilen.<br />
Frau Bell, wenn Sie vor Ort sind mit den Menschen, denen man helfen<br />
sollte – bekommen diese etwas von diesen Diskussionen in den Mitgliedsstaaten<br />
mit? Können sich beispielsweise in Bulgarien die Menschen<br />
mit unseren Grundwerten identifizieren?<br />
Inge Bell, München:<br />
Ich möchte einmal ganz provokant sagen: Wenn über Werte gesprochen<br />
wird, dann ist das erst einmal in Südosteuropa ein ziemlich hohler Begriff.<br />
Man nimmt das Wort gerne in den Mund und gibt sich damit einen<br />
wunderbar intellektuellen Anstrich. Aber man definiert nicht, was diese<br />
Werte sind, was sie überhaupt bedeuten. Als Beispiel möchte ich „Solidarität“<br />
aufgreifen. Ich stelle in meiner täglichen Lebenspraxis in Südosteuropa<br />
fest, dass es momentan gar nicht erstrebenswert ist, solidarisch zu<br />
sein. Es ist momentan eher erstrebenswert, nicht solidarisch zu sein – eine<br />
Entsolidarisierung als Bedürfnis nach einer über 50 Jahre lang verordneten<br />
Pseudosolidarisierung unter dem Kommunismus! Diese Gegentendenz<br />
macht sich jetzt breit. Ähnliches gilt für andere Begriffe.<br />
85
Peter Kujath, München:<br />
Ich würde gerne an dieser Stelle auch die anwesenden Kolleginnen und<br />
Kollegen aus Mittel- und Osteuropa bitten, ihren Standpunkt einzubringen.<br />
Gilt das, was Frau Bell eben über Bulgarien gesagt hat, auch anderswo?<br />
Prof. Dr. Viorel Ionit,a, Genf:<br />
Mein Name ist Viorel Ionit,a, ich bin rumänischer Staatsbürger und arbeite<br />
in Genf bei der Konferenz Europäischer Kirchen, die ich hier vertrete.<br />
Eigentlich hätte ich eher eine Frage an Frau Dr. Martens, möchte<br />
aber doch zunächst sagen, dass ich nicht mit der Aussage von Frau Bell<br />
überein stimme. Man muss doch auch aufpassen, mit welchen Schichten,<br />
Gruppen, Ländern man es zu tun hat. Schon in der kommunistischen Zeit<br />
gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern, und auch heute<br />
sollte man die Länder nicht pauschal betrachten. Ich kann mir deshalb<br />
auch nicht vorstellen, dass ihr Hinweis auf Bulgarien insgesamt zutrifft.<br />
Da ich orthodoxer Theologe bin, bezweifle ich ihn besonders hinsichtlich<br />
der Kirche.<br />
Gerade wegen meines orthodoxen Hintergrundes betone ich die Frage<br />
der Grundwerte und der Werte überhaupt. Wir wollen sie aus unserer Erfahrung,<br />
aus der Leidenserfahrung, aber auch der theologischen Erfahrung<br />
und vor allem vom Glauben her begründen. Wir haben unter den<br />
Kommunisten die Erfahrung gemacht, dass Werte wie etwa Gerechtigkeit<br />
und Solidarität missbraucht worden sind. Daher müssen wir sie heute aus<br />
dem Evangelium ableiten, und genau das haben wir in Gesprächen mit<br />
Jacques Santer und Romano Prodi auch immer wieder betont. Ist dann<br />
eben nicht doch eine höchste Autorität, nämlich Gott, als Basis der Werte<br />
notwendig, etwa wie es Dostojewski sagt „Wenn es Gott nicht gäbe, wäre<br />
alles möglich, doch weil es Gott gibt, ist nicht alles möglich“?<br />
Peter Kujath, München:<br />
Ich würde gerne diese Frage aufnehmen und auch an Frau Dr. Martens<br />
weitergeben. Die Verschiedenheit, die hier angesprochen worden ist, haben<br />
wir in allen Ländern, nicht nur in Mittel- und Osteuropa.<br />
86
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Die Frage ist natürlich sehr wichtig, aber leider auch schwer zu beantworten.<br />
Im Parlament sitzen 626 Mitglieder aus 15 verschiedenen Ländern<br />
mit unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Traditionen. Die<br />
Werte, die man für wichtig hält, werden ganz unterschiedlich begründet.<br />
Für mich wurzeln sie im christlichen Glauben. Die Politik in einer Demokratie<br />
kann man aber nicht über die Ursachen und Hintergründe von Werten<br />
entscheiden. Ich für mich habe da kein Problem damit, denn wir leben<br />
in einer pluralistischen Gesellschaft. Die Grundrechtecharta bietet doch<br />
immerhin viele wichtige Ansätze, auch wenn sie natürlich nicht ausgesprochen<br />
christlich argumentiert.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Sie machen also in gewisser Weise einen Unterschied zwischen der<br />
persönlichen Sicht und den politischen Sachzwängen. Können Sie, Herr<br />
Professor Juros, das noch etwas vertiefen?<br />
Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau:<br />
Wenn man kirchliches Gedankengut zugrunde legt, dann ist das Naturrecht<br />
nicht nur metaphysisch-philosophisch, sondern auch theologisch<br />
aus der Allmacht Gottes heraus begründbar. Genauso können wir die Basis<br />
der Werte im christlichen Glauben verankern, jedoch können Politiker<br />
in einer pluralistischen Gesellschaft, wie Frau Dr. Martens das gesagt hat,<br />
nicht so einfach argumentieren. Sie berufen sich vielmehr auf eine Übereinstimmung<br />
bei der Anerkennung mancher Werte, die in unserer Kultur<br />
als Grundwerte bezeichnet werden. Meines Erachtens war das in der<br />
Charta von Nizza ein mutiger Schritt, wenn bereits dort von den geistigmoralischen<br />
oder spirituellen Wurzeln der Werte die Rede ist. Darüber<br />
ist, wie wir alle wissen, ein großer Streit entstanden, denn manche wollten<br />
hier genau die Religiosität ausdrücklich erwähnt haben. Die Europäische<br />
Union hat sich dann damit heraus geredet, dass jedes Mitgliedsland<br />
das in der eigenen Sprache ausdrücken sollte. So kam es dazu, dass in der<br />
deutschen Übersetzung expressis verbis die religiösen Wurzeln genannt<br />
werden, in anderen Fassungen spricht man von spirituellen oder von moralischen<br />
Grundlagen. Als Christen und Theologen können wir natürlich<br />
87
der Gesellschaft beibringen, dass eine rationale oder kulturwissenschaftliche<br />
Begründung zu kurz greift. Wir haben sogar noch weitere ultimative<br />
Begründungen, denn wir können mit dem Gott der Offenbarung argumentieren<br />
– genau das ist jedoch für einen Politiker nicht legitim.<br />
Ich möchte noch etwas bemerken. Wenn wir hier über Interessen- und<br />
Wertegemeinschaft sprechen, dann soll man das nicht als „entwederoder“<br />
verstehen, sondern so, dass die Wertegemeinschaft eine Unterstützung<br />
seitens der gesetzlichen Institution braucht, die sich eben in einer<br />
Sprache von Interessen ausdrückt. Interessen können also bei der Durchsetzung<br />
von Werten sehr hilfreich sein.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Herr Bischof van Luyn, Sie haben mit Nachdruck drei Tugenden in den<br />
Mittelpunkt gestellt, die Gottes- und Nächstenliebe mit den Stichworten<br />
„Spiritualität“ und „Solidarität“ und dazu die „temperantia“, das „Maßhalten“.<br />
Lassen sich daraus Werte für den heutigen Menschen und seine<br />
Existenz in der modernen Gesellschaft ableiten?<br />
Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />
Das ist eigentlich die entscheidende Frage, denn jeder Mensch hat eine<br />
bestimmte Vorstellung von Existenz und von Werten. Darüber bekommt<br />
man, wenigstens bei uns in den Niederlanden, keine Klarheit; vielmehr<br />
hängt das von wechselnden Mehrheiten im Parlament ab. Die Autonomie<br />
des einzelnen Menschen wird in unserer Gesellschaft sehr stark betont –<br />
zu stark, man hat kein Gespür mehr für die Heteronomie. Dass eigentlich<br />
das Fundament für die Werte außerhalb des Menschen liegt, in Gott, der<br />
uns so geschaffen hat, wie wir geschaffen sind, das ist aus dem Bewusstsein<br />
verschwunden. Aber wie können wir als Christen die anderen überzeugen?<br />
Das ist sehr schwierig. Wir können in diesem Dialog nur mitreden,<br />
wir dürfen uns unserer Meinung auch nicht schämen. Wir müssen<br />
mit unserem eigenen Beispiel von den Werten, etwa von der Würde des<br />
Menschen, Zeugnis ablegen. Auch Kardinal Lehmann hat dies verschiedentlich<br />
getan. Die Epoche, in der das Christentum allein das Wertesystem<br />
in Europa bestimmt hat, ist wohl unwiderruflich vorbei, aber die<br />
Christen und die Kirchen bleiben aufgerufen, drei fundamentale Werte<br />
88
immer wieder zu betonen: die Idee von einem transzendenten Gott, die<br />
menschliche Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit und die unveräußerliche<br />
Würde der menschlichen Person. Das ist nach meiner Überzeugung<br />
der Weg, um aus christlicher Sicht einen wesentlichen Beitrag im Dialog<br />
über die Werte zu leisten.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Ganz konkret nachgefragt: Spielen diese drei fundamentalen Werte in der<br />
Diskussion im Europäischen Parlament eine Rolle?<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Vielleicht auf persönlicher Ebene, aber in politischen Debatten weniger.<br />
Hoffnungsvoll stimmt aber ein sich abzeichnender Paradigmenwechsel.<br />
In den neunziger Jahren war es ein Paradigma, bestimmte Probleme<br />
anzufassen, beispielsweise die Gegensätze „Arbeit – Kapital“, „links –<br />
rechts“. Inzwischen hat sich die Zugangsweise verändert. Jetzt geht es<br />
um Fragen wie Individualisierung, Autonomie, Gemeinschaft.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Nachdem Deutschland die Niederlande im Bereich des Arbeitsmarktes<br />
als vorbildlich angesehen haben, kommt dieser Paradigmenwechsel vielleicht<br />
jetzt auch zu uns, wenn wir bereit sind, uns auf diese Auseinandersetzung<br />
einzulassen. Ganz wichtig ist sicher das von Bischof van Luyn<br />
betonte gelebte Beispiel. Welche Erfahrungen machen Sie, Frau Bell, in<br />
dieser Hinsicht in den immer mehr individualisierten Gesellschaften Mittel-<br />
und Osteuropas?<br />
Inge Bell, München:<br />
Meist werde ich dort als Exotin angesehen, nach dem Motto „Wie kann<br />
man so etwas machen, Zeit, Nerven, Geld investieren für so etwas, für<br />
Projekte, die doch sowieso zum Scheitern verurteilt sind, weil solchen<br />
Menschen, gefallenen Mädchen, Prostituierten und Behinderten, doch<br />
sowieso nicht mehr zu helfen ist“. Der Umdenkprozess ist dort überhaupt<br />
noch nicht richtig in Gang gekommen. Insofern kann ich aus meiner per-<br />
89
sönlichen Erfahrung heraus einfach sagen, dass das wirklich noch mit<br />
großem Staunen betrachtet wird. Ein solches Engagement hat sich gerade<br />
in Südosteuropa, in Makedonien, Bulgarien, Rumänien, Albanien einfach<br />
noch nicht richtig entwickelt. Etwas anderes ist das sicher in den Staaten<br />
Mittel- und Osteuropas, in Polen, Ungarn, Tschechien, wo generell auch<br />
von westlichen Institutionen und Organisationen sehr viel mehr aufgebaut<br />
worden ist.<br />
Ich möchte noch kurz etwas zu Herrn Ionit,a anmerken. Sie sprachen vorher<br />
– und natürlich haben Sie recht: ich darf nicht pauschalisieren – davon,<br />
dass man genau auf die einzelnen Schichten achten muss, mit denen<br />
man es zu tun hat. Tatsache ist aber doch, und das gilt meines Erachtens<br />
auch für Rumänien, dass die von mir erlebte Wertevakanz quer durch alle<br />
Schichten geht. Von vielen Schichten kann man im Moment sowieso<br />
nicht reden, weil die soziale Schere zwischen der großen Masse Verarmter<br />
und der sehr dünnen wohlhabenden Schicht extrem weit aufgegangen<br />
ist. Selbst bei Intellektuellen beobachte ich eine Paralyse, eine Orientierungslosigkeit.<br />
Wie definiert man da Werte, wie füllt man „Wert“ mit Inhalt?<br />
Bei niedrigen sozialen Schichten herrscht ein absolutes Ellenbogenhandeln<br />
und entsprechendes Denken vor, nach der Devise „Werte – schön<br />
und gut, aber wir müssen hier überleben“. Nur ein Beleg dafür: Im Februar<br />
gab es in Rumänien eine Fernsehsendung, die der Frage nachging,<br />
ob Rumänien weiterhin hinterhältig sein oder moralisch werden solle. Es<br />
ging um die Bereiche Bettlerkinder in Osteuropa, Betrügerbanden, korrupte<br />
Polizisten, korrupter Zoll, Das Ganze wurde auf einem breiten Podium<br />
diskutiert, leider hat darin die Kirche gefehlt.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Bevor wir uns zu sehr mit einem Land beschäftigen, würde ich gerne<br />
noch einmal die Werte im größeren Rahmen diskutieren. Rumänien wird,<br />
wenn ich daran erinnern darf, auch im Mittelpunkt eines Arbeitskreises<br />
stehen. Hier vorne die Dame hat sich gemeldet.<br />
Gisela Paul, Dorsten:<br />
Ich heiße Gisela Paul und arbeite seit zwei Jahren zusammen mit meinem<br />
Mann im Rahmen des Lehrer-Entsendeprogramms „Ost und West“ in<br />
90
Rumänien. Ich kann nur bestätigen, was Frau Bell gesagt hat. Wir vermissen<br />
das Gefühl der Solidarität und haben uns gefragt, woher das kommt.<br />
Selbstentfremdung als Phänomen ist mir noch nie so deutlich geworden<br />
wie in Rumänien. Es klafft eine große Lücke zwischen dem, was sein<br />
soll, und dem, was ist. Leider sind daran die großen Kirchen mit schuld.<br />
Wir erleben die orthodoxe und die katholische Kirche in Rumänien als<br />
Kirchen mit devotem und fast schon erstarrtem Glaubensverständnis. Ich<br />
habe das erschreckend in einem ökumenischen Bibelkreis, den ich ehrenamtlich<br />
leite, erlebt und erfahren, wie wenig man voneinander weiß – und<br />
wie gering dort christliche Grundwerte wie beispielsweise die Gleichberechtigung<br />
und Würde der Frau geachtet werden.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Vielen Dank für den wichtigen Beitrag, der auch auf den Arbeitskreis<br />
zum Thema „Frauen“ überleitet. Ich möchte den Hinweis auf das ehrenamtliche<br />
Engagement aufgreifen und fragen, ob die Kirche bereit ist, dies<br />
mehr zu fördern.<br />
Inge Bell, München:<br />
Welche Kirche denn, die orthodoxe Kirche?<br />
Peter Kujath, München:<br />
Im Moment möchte ich Herrn Bischof van Luyn auf dem Podium dazu<br />
ansprechen, denn er kann dazu sicher Einiges bemerken.<br />
Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />
Das kirchliche Leben in unserem Lande baut tatsächlich auf dem Ehrenamt<br />
auf, das ergeben Umfragen immer wieder. In der Mehrzahl sind es<br />
Frauen. Der Anteil der Ehrenamtlichen ist aber überaltert. 60 % engagieren<br />
sich in der Liturgie, etwa 15 %–18 % in der Diakonie.<br />
Dr. Stefan Garsztecki, Bremen:<br />
Ich arbeite im Bereich der Kulturgeschichte Mittel- und Osteuropas und<br />
befasse mich hauptsächlich mit Polen. Dabei möchte ich an das anknüp-<br />
91
fen, was Frau Bell gesagt hat, und vielleicht ein paar Erklärungsversuche<br />
bieten, warum es zu dieser Wahrnehmung kommt. Ich denke, die Eindrücke<br />
sind regelmäßig da und nicht aus der Luft gegriffen, warum es zu<br />
diesem Mangel an Werten kommt.<br />
Das hängt erstens natürlich mit dem Totalitarismus im 20. Jahrhundert<br />
zusammen. Es besteht die verbreitete Angst in diesen Ländern, von neuen<br />
Ideologien unterdrückt zu werden, zu denen die Religion aber nicht gerechnet<br />
wird. Zweitens sind die Länder in Mittel- und Osteuropa von<br />
einem „brain drain“ betroffen, von einem Abfluss hervorragend ausgebildeter<br />
Leute, die den Gesellschaften fehlen; das gilt, je weiter man nach<br />
Osteuropa kommt, umso stärker, Bulgarien und Rumänien mehr als Polen<br />
und die Tschechische Republik. Drittens denke ich – und das ist ein<br />
Vorwurf an die westliche Adresse – auch an eine falsche Auffassung von<br />
Liberalismus, besonders beispielsweise in Polen. Dort hat es einen Streit<br />
darüber gegeben, ob man im polnischen Parlament ein Kreuz aufhängen<br />
darf, und Liberale oder vermeintlich Liberale betonten, es müsse natürlich<br />
eine Trennung von Staat und Kirche geben, denn „Nur die Polen sind<br />
so katholisch, im Westen gibt’s das gar nicht“. Natürlich gab es auch in<br />
Deutschland und in den USA Streit, es gibt Modelle strikter Trennung<br />
zwischen Werten und staatlichem System. Gerade in Polen hat das aber<br />
viel Staub aufgewirbelt. Viertens denke ich an die wirtschaftlichen Umwälzungen,<br />
und zumindest für Polen kann man sagen, dass es dabei auch<br />
um eine Debatte der Werte ging. Man hat sich am Anfang der neunziger<br />
Jahre auf die Transformation von einer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft<br />
konzentriert, auf die Einrichtung eines politisch-demokratischen<br />
Systems; mittlerweile wird jedoch im Zusammenhang mit der Verabschiedung<br />
der Verfassung intensiv über Werte diskutiert. An welche Tradition<br />
möchte man anknüpfen, wie sieht man die eigene Vergangenheit,<br />
auch die vor 1945?<br />
Eine letzte Bemerkung, vielleicht ein bisschen gerichtet an Frau Dr. Martens:<br />
Ich denke, dass es ein Fehler ist, sich auf die angedeutete Trennung<br />
in „persönliche“ und „öffentliche“ Werte einzulassen. Natürlich gibt es<br />
für jeden von uns Werte, die jeder individuell leben muss – und dann versucht<br />
man mühsam, dies in einer Charta irgendwie zu umgehen. Wir werden<br />
aber letztlich um die Wertefrage gar nicht herumkommen. Es ist eine<br />
92
Diskussion, die auch im Westen in der Philosophie, in der Politik, in der<br />
wissenschaftlichen Soziologie ständig geführt wird. In der polnischen<br />
Verfassung hat man in der Präambel eine Lösung gefunden, indem man<br />
sich entweder auf Gott und die christlichen Werte berufen oder auch auf<br />
die humanistischen Werte beziehen kann.<br />
Pater Christoph Wrembek SJ, Hannover:<br />
Ich bin Jesuit aus Hannover, als Priesterseelsorger in der Diözese Hildesheim<br />
tätig und arbeite nebenher seit über elf Jahren in Estland.<br />
Als ich vor 35 Jahren Theologie studierte, wurden die Werte in der Ethik,<br />
grob schematisiert, wie folgt dargelegt: „Es ist Gott, der durch die Offenbarung<br />
seiner Gebote dem Menschen sagt, was gut sei, was ein Wert ist.“<br />
Dieses Offenbarungsschema mit einem transzendenten absoluten Gebieter<br />
könnte man auch als Ausdruck einer sich „monarchisch“ verstehenden<br />
Kirche bezeichnen: Von oben her offenbart sich Gott bzw. das kirchliche<br />
Oberhaupt und schreibt dem unmündigen Menschen vor, was er zu lassen<br />
und zu tun habe. Das waren die einzig richtigen Werte. Dieses Schema<br />
setzt einen entsprechenden Gottes- und Kirchenglauben voraus, stark in<br />
monarchische Strukturen eingefasst – aber solches Denken kommt in<br />
heutigen demokratischen und pluriformen Gesellschaften mit dem „Bürger<br />
Mensch“ nicht mehr an. Es funktioniert nicht mehr, weil die Voraussetzungen<br />
(fast) entschwunden sind.<br />
Einige Theologen sind nun dabei, den umgekehrten Weg zu gehen, vom<br />
Menschen aus, sie fragen: Was ist für den Menschen gut? Und weil es für<br />
den Menschen gut ist, darum hat Gott es auch befohlen! Natürlich eröffnet<br />
dies die Frage: Wer ist der Mensch? Was ist für ihn gut? In einer Welt<br />
des Zusammenschlusses vieler Völker und Kulturen und Religionen mit<br />
sehr unterschiedlichen Gottes- und Menschenbildern können wir nur diesen<br />
zweiten Weg gehen. Allerdings stehen wir erst an seiner Schwelle, es<br />
wird ein langer und schwieriger Weg werden für uns Christen, für alle.<br />
Dabei scheint mir eines wichtig: Wir können die Diskussion um Werte,<br />
um den Menschen nur führen, wenn wir zwischen „Interessen“ und<br />
„Werten“ unterscheiden. Ob New York oder Moskau – da geht es, so befürchte<br />
ich, bald nur noch um „Interessen“, aber nicht mehr um „Werte“.<br />
93
Der Mensch aber muss von Werten her definiert werden, nicht von Interessen;<br />
letzteres wäre gegen seine Würde und machte ihn zum bloßen<br />
Nutz objekt. Wenn ein Mensch die Dimension der Werte nicht mehr kennt,<br />
kann er aber auch unter seinen eigenen Interessen nicht mehr abwägen<br />
und unterscheiden. Interessen liegen in den Händen der jeweils Mächtigeren,<br />
sie sind meistens Ich-orientiert und manipulierbar. Werte aber liegen<br />
in niemandes Händen, sie sind uns entzogen und absolut. Nur wer aus<br />
solchen Werten lebt, kann zwischen Interessen unterscheiden. Hier ist<br />
noch einiges nachzudenken.<br />
Ihre Erfahrungen, Frau Bell, kann ich übrigens auch ein bisschen für Estland<br />
bestätigen.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Der Unterschied zwischen Werten und Interessen wird uns wahrscheinlich<br />
während diesen gesamten <strong>Kongress</strong>es begleiten.<br />
Dr. Iwan Dacko, Weyarn:<br />
Ich hätte eine Frage an Frau Dr. Martens. Ich war beeindruckt, wie Sie die<br />
christlichen Prinzipien vertreten. Als Beauftragter der ukrainischen griechisch-katholischen<br />
Kirche für Auswärtige Beziehungen habe ich auch<br />
Erfahrungen mit einigen Behörden in Brüssel und bin nicht ganz davon<br />
überzeugt, ob die Vertreter der 15 Nationen, die zur Zeit zur Europäischen<br />
Union gehören, wirklich im eigentlichen Sinne des Wortes christlich<br />
sind. Im Gegenteil, einige schämen sich manchmal wegen ihres christlichen<br />
Hintergrundes. Irgendwie ist es nicht populär, sich in Brüssel als<br />
Christ zu bezeichnen, obwohl es dort auch eine ökumenische Kapelle und<br />
andere christliche Einrichtungen gibt. Aber hat man wohl Angst, in der<br />
Zentrale der Europäischen Union als Christ erkannt zu werden.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Eine ganz klare Frage, zu der ich durchaus zustimmendes Gemurmel gehört<br />
habe. Jetzt würde ich gerne Frau Dr. Martens die Möglichkeit zur<br />
Antwort geben. Gibt es in Brüssel nur noch Bürokraten und keine Christen<br />
mehr?<br />
94
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Nein, es gibt nicht nur Bürokraten, aber Dr. Dacko hat nicht Unrecht. Natürlich<br />
engagieren sich Christen, und zwar in allen Parteien. Aber das<br />
große Problem ist, dass die Frage der Religion und damit die Begründung<br />
der Werte fast außerhalb der politischen Debatte steht. Also sieht man die<br />
aktiven Christen eigentlich kaum in der Politik anwesend. Es gibt allerdings<br />
auch Leute, speziell unter den Liberalen, die gegen Religion, speziell<br />
im politischen Bereich, allergisch sind.<br />
Josef Rottenaicher, Halsbach:<br />
Frau Dr. Martens, die Erweiterung der Europäischen Union führte dazu,<br />
dass sich die geographische Achse immer mehr in Richtung Mittelpunkt<br />
Europas bewegt. Die Mitte Europas liegt östlich von Budapest im Karpatenbecken.<br />
Nun ist es natürlich so, dass geschichtlich bedingt alle europäischen<br />
Institutionen, die Kommission, das Parlament, der Gerichtshof<br />
mehr oder weniger nahe am Atlantik liegen. Politik lebt aber doch auch<br />
von Symbolen und Signalen, von Zeichen. Hat sich eigentlich im Kreis<br />
der politisch Verantwortlichen in Brüssel und Straßburg jemand einmal<br />
Gedanken gemacht, ein solches Zeichen zu setzen? Wenigstens eine dieser<br />
Institutionen sollte in die Nähe der geographischen Mitte Europas<br />
verlegt werden. Wie wäre es z. B. mit einer europäischen Hauptstadt<br />
Prag, Krakau oder Budapest?<br />
Peter Kujath, München:<br />
Ein konkreter Vorschlag für eine weitere europäische Hauptstadt, in die<br />
Frau Dr. Martens dann neben Straßburg, von wo sie gerade kommt, und<br />
Brüssel ebenfalls noch pendeln müsste. Gibt es denn Überlegungen, Institutionen<br />
in den Osten zu verlagern?<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Das wird sicher kommen, denn es kann nicht auf Dauer so bleiben, dass<br />
alle europäischen Institutionen im Westen Europas liegen. Eine weitere<br />
vollständige Hauptstadt ist aber nicht sinnvoll, das würde die Arbeit von<br />
Parlament und Kommission nur noch schwieriger machen, als sie es jetzt<br />
95
schon ist. Wenn so viele neue Länder hinzukommen, dann müssen aber<br />
die Schwerpunkte neu verteilt werden. Wie das geschehen wird, ist aber<br />
noch nicht entschieden.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Vielleicht wird es dann zwar keine europäische Hauptstadt Prag, aber zumindest<br />
ein weiteres europäisches Zentrum in Prag, Budapest oder anderswo<br />
geben. Ich möchte, da die Zeit schon weit voran geschritten ist,<br />
eine abschließende Runde hier auf dem Podium machen. Wir sind ein<br />
sehr weites Feld abgeschritten, haben uns immer wieder genau überlegt,<br />
was eigentlich Grundwerte, Werte in verschiedenen Situationen, Interessen<br />
sind – Themen, die mit Sicherheit auch weiter verfolgt werden müssen.<br />
Ich würde gerne wieder bei Frau Bell beginnen und ihr die Möglichkeit<br />
geben, auch auf den Unterschied zwischen der katholischen Kirche<br />
und der Orthodoxie im Hinblick auf ihre Soziallehre kurz einzugehen.<br />
Inge Bell, München:<br />
Wenn ich mich so im Publikum umschaue, dann fällt mir auf, dass die<br />
Orthodoxie hier nur minimal vertreten ist, obwohl wir doch immer über<br />
Länder reden, die zum großen Teil orthodox sind, etwa in Südosteuropa.<br />
Der eben ausgesprochene Hinweis auf das fehlende Ehrenamt in der Kirche<br />
hat damit zu tun – welche Kirche ist denn gemeint? Traditionell geht<br />
es sicherlich um ein westchristliches Engagement, das in den Ländern<br />
Ost- und Südosteuropas immer sehr verbreitet gewesen ist. Die Orthodoxie<br />
hat da meines Erachtens auch in den letzten Jahren versagt. Erst im<br />
August 2000 hat die russische orthodoxe Kirche eine Soziallehre ausformuliert.<br />
Andere orthodoxe Kirchen haben es meines Wissens bis jetzt<br />
noch nicht geschafft, in dieser Richtung aktiv zu werden. Mein persönlicher<br />
Kritikpunkt und zugleich Wunsch richtet sich an die orthodoxen<br />
Christen, sich mehr in die Wertediskussion einzuschalten und gleichzeitig<br />
zu praktizieren, was die westchristlichen Brüder und Schwestern<br />
schon vormachen.<br />
96
Peter Kujath, München:<br />
Dieser Schwerpunkt wird, davon bin ich überzeugt, sicher im Arbeitskreis<br />
„Orthodoxie und Katholizismus“ noch zu heißen Diskussionen<br />
führen. Frau Dr. Martens, kann man das Problem der fehlenden Christen<br />
in Brüssel und Straßburg vielleicht dadurch beheben, dass die Parteien in<br />
den Nationalstaaten auch wieder christlicher werden müssen, um dann im<br />
Parlament entsprechend zu handeln?<br />
Dr. Maria Martens MdEP, Straßburg/Brüssel:<br />
Ich habe ein Problem mit dem Wort „müssen“, aber vielleicht hat das mit<br />
der niederländischen Konnotation von „müssen“ zu tun. Wenn ich gesagt<br />
habe, dass es im öffentlichen Leben kaum wahrnehmbare Christen gibt,<br />
heißt das ja nicht, dass sie auch im privaten Bereich fehlen. In der Politik<br />
fallen sie weniger auf. Die Religion ist privatisiert worden – also reden<br />
wir darüber auch kaum im politischen und öffentlichen Bereich. Und<br />
dann wird suggeriert, die Politik und die Entscheidungen seien neutral,<br />
aber das sind sie natürlich nicht. Darüber müssen wir, denke ich, im Europaparlament<br />
noch einmal ganz klar reden. Entscheidungen beruhen auf<br />
bestimmten Kriterien, und diese Kriterien haben immer etwas mit einer<br />
Wertehierarchie zu tun. Es gibt darin keine Neutralität. Die Christen bilden<br />
in allen unseren Ländern die Mehrheit und sollten auch als Politiker<br />
den Mut haben, dazu zu stehen. Damit bin ich bei den Kardinaltugenden,<br />
die Herr Bischof van Luyn angesprochen hat. Das sind iustitia, temperantia,<br />
prudentia und fortitudo, also Gerechtigkeit, Maßhalten, Klugheit und<br />
Tapferkeit. Frau Bell bietet ein gutes Beispiel dafür, dass man nicht still<br />
bleibt und statt dessen Verantwortung übernimmt und handelt. Darauf<br />
kommt es an.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Das war schon fast ein wunderbares Schlusswort. Ich möchte trotzdem<br />
den Männern noch kurz die Möglichkeit zu einer Stellungnahme geben.<br />
Sie haben gesagt, Herr Bischof, dass es in den Niederlanden sehr schwer<br />
ist, sich auf gemeinsame Werte zu einigen. Greifen wir dann nicht zu<br />
hoch, wenn wir uns auf europäischer Ebene Gedanken darüber machen,<br />
97
was die Grundwerte sind, und müssen wir nicht vielleicht wieder etwas<br />
niedriger ansetzen? Sie haben das, wenn ich mich recht erinnere, auch so<br />
angedeutet.<br />
Bischof Adrian H. van Luyn, Rotterdam:<br />
Neben den Kardinaltugenden gibt es auch noch die göttlichen Tugenden,<br />
und eine davon ist die Hoffnung. Hoffnung besteht, dass in den Niederlanden<br />
und anderswo in Westeuropa nicht alles leer und „aussichtlos“ ist.<br />
Gerade beim Weltjugendtreffen in Toronto haben wir viele junge Leute<br />
gesehen, die ermutigende Beispiele gegeben haben. Bei diesen jungen<br />
Leuten spüren wir ein Bedürfnis nach neuer Hingebung, sie sind müde<br />
von all dieser Konsumgesellschaft und ihren materiellen Zwängen. Sie<br />
wollen Ideale. Es wird Zeit, dass die Ideale in die soziale, kulturelle und<br />
politische Debatte über die Zukunft von Europa zurück kehren. Wir müssen<br />
als Christen und als Kirchen dazu beitragen. Wir haben diese Perspektive<br />
vom Evangelium auf die Würde der menschlichen Person, auf<br />
Gott den Schöpfer und Erlöser und auch auf unsere Mitmenschen, unsere<br />
Nächsten, Brüder und Schwestern mit der evangelischen Option für die<br />
Ärmsten. Wir haben das im Hause und dürfen die Türen und Fenster nicht<br />
verschließen. Wir müssen das verständlich heraustragen und glaubwürdig<br />
vorleben – dann kommen die Ideale wieder zurück. Dann hat die Jugend<br />
auch wieder eine Perspektive für ein Europa als eine Wertegemeinschaft,<br />
eine Perspektive, die die heutige und die kommende Generation<br />
inspirieren und motivieren kann.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Herzlichen Dank! Herr Professor Juros, wie ist Ihre Erfahrung in Warschau?<br />
Bleiben wir bei den jungen Leuten und bei den Idealen. Besteht<br />
dort ebenfalls ein Bedürfnis nach Idealen?<br />
Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau:<br />
Wenn ich auf die jungen Leute in Polen schaue, habe ich eine sehr optimistische<br />
Sicht. Direkt nach der Wende, am Anfang des Transformationsprozesses,<br />
wollte man die christlichen Werte nominell in der Verfassung<br />
verankern. Damals hatte die ältere Generation viel mehr Schwierigkeiten,<br />
98
mit der neuen Freiheit umzugehen. Die Jugend konnte sich schneller umgewöhnen,<br />
und die Lebenspraxis zeigt, dass sie sich wieder der Religion<br />
zuwendet. Über 95 % aller Jugendlichen besuchen freiwillig den Religionsunterricht.<br />
In meinem Studienbereich haben wir 15 Kandidaten auf<br />
einen Studienplatz. Die Wirklichkeit ist noch vielgestaltiger, als es die<br />
Fernsehbilder bei den Papstbesuchen oder den Jugendtreffen belegen. Ich<br />
habe die jungen Leute nie gefragt, ob sie religiös sind, habe aber dann<br />
festgestellt, dass alle an der täglichen Morgenmesse teilgenommen haben.<br />
Es gibt auch ein großes Potenzial in Richtung einer Caritas oder<br />
Nächstenliebe. Man darf sicher den hier angesprochenen Wertemangel<br />
nicht unterschätzen. Wenn ich jedoch höre, dass eine Diözese den ganzen<br />
Überschuss der nächsten Getreideernte aufkaufen will, um ihn in die<br />
Dritte Welt zu exportieren, dann ist das schon eine große Leistung. Die<br />
Opferbereitschaft in Polen ist sehr groß.<br />
Die Wertedebatte wird weiter geführt, das Rechtssystem entwickelt sich,<br />
der Pluralisierungsprozess in der Gesellschaft wird weiter laufen, und es<br />
wird auch eine Antimetaphysik weiter geben. Ich war etwas erstaunt, als<br />
Kardinal Lehmann realpolitisch meinte, wir hätten keine Chance, auf die<br />
Einführung des Gottesbezuges in die künftige Verfassung der Europäischen<br />
Union Einfluss zu nehmen. Vielleicht ist das gar nicht notwendig.<br />
Wir brauchen nur gute Vorbilder. Auf jeden Fall müssen wir auch die politischen<br />
Strukturen nützen, um unsere Wertevorstellungen in der Gesetzgebung<br />
durchzusetzen.<br />
Peter Kujath, München:<br />
Es gilt also, für die Durchsetzung von Werten die persönliche ebenso wie<br />
auch die politische Seite zu nutzen. Ich danke Ihnen allen für Ihre Mitwirkung,<br />
vor allen Dingen den Diskutanten auf dem Podium, und wünsche<br />
dem <strong>Kongress</strong> weiterhin einen guten Verlauf.<br />
99
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn<br />
Christliche Werte und öffentliche<br />
Verantwortung der Kirchen<br />
Unser Thema „Christliche Werte und öffentliche Verantwortung der Kirchen“<br />
beschreibt einen wichtigen Aspekt der Wirkung des Glaubens und<br />
der Rolle der Kirche in der Gesellschaft, genauer gesagt: Für das öffentliche<br />
Wohl. Gewiss ist jedes einzelne Leben im Glauben ein Segen für andere<br />
und damit ein öffentlicher Segen. Uns geht es aber jetzt um das, was<br />
die Kirche und die Christen unmittelbar für das allgemeine Wohl der Gesellschaft<br />
tun und tun müssen. Diesen Dienst zu ermöglichen und zu<br />
fördern, gehört zu den wichtigsten Aufgaben von <strong>Renovabis</strong>. „Christliche<br />
Werte und öffentliche Verantwortung der Kirche“ ist nicht zuletzt ein<br />
konkretes und eminent praktisches Thema. Ich will daher einleitend in<br />
drei Schritten zunächst den europäischen Kontext dieses Themas umgrenzen.<br />
Die europäische Christenheit in West und Ost<br />
Blicken wir als erstes auf jene europäischen Gesellschaften, die schon<br />
vor 1989 in einer freiheitlichen Ordnung lebten. Trotz großer Unterschiede,<br />
die sich aus Geschichte und konfessioneller Eigenart der verschiedenen<br />
Länder ergeben, wird man sagen können: Die fest mit der<br />
Kirche verbundenen Christen erfahren sich auch dort zunehmend als<br />
Minderheit. Die Gesellschaft weist zwar noch eine mehr oder weniger<br />
starke christliche Prägung auf, aber das Christentum ist unverkennbar nur<br />
eine ihrer geistigen Traditionslinien. Für die Stellung und das Selbstverständnis<br />
der Christen ist bedeutsam, dass es in der Geschichte dieser Gesellschaften<br />
zwar Kontinuitätsunterbrechungen gegeben hat, aber keine<br />
100
adikalen Traditionsbrüche. Der Weg der Kirchen in eine freiheitliche<br />
Staats- und Gesellschaftsordnung war oft schmerzhaft, aber heute sieht<br />
sich die Kirche überwiegend im Kontext der Freiheitsgeschichte und verfügt<br />
über Erfahrungen im gesellschaftlichen Dialog und im partnerschaftlichen<br />
Verhältnis von Kirche und Staat. Daher fühlen sich die Christen<br />
wie selbstverständlich als Teil der Gesellschaft. Das gibt ihnen Sicherheit,<br />
kann aber auch dazu führen, die Bedeutung einer klaren Kontur des<br />
Christlichen zu unterschätzen und gleichsam eher aus der Gesellschaft<br />
auf die Kirche zu blicken als aus der Kirche auf die Gesellschaft.<br />
Dagegen haben sich die Christen in jenen europäischen Gesellschaften, die<br />
bis 1989 unter kommunistischer Herrschaft standen, über mehrere Generationen<br />
als benachteiligt oder sogar verfolgt, jedenfalls als nicht zur offiziellen<br />
Gesellschaft gehörend erfahren. Sie waren überdies vielfach eine Minderheit<br />
oder wurden dazu gemacht. Über den Zeitraum von mehreren Generationen<br />
wurde von den in Staat und Gesellschaft Mächtigen eine zur<br />
Gewaltanwendung tendierende Politik des radikalen Traditionsbruchs betrieben,<br />
die – trotz mancher Unterschiede in den betreffenden Ländern –<br />
gegen Kirche und Glauben gerichtet war. Den Christen war eine aktive und<br />
selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt, und sie sollten von<br />
der geschichtlichen Entwicklung ausgeschlossen werden.<br />
Dafür erlebten die Christen die Kirche als einen Raum der Zuflucht und<br />
der Zusammengehörigkeit, ja, als einen Ort der Sehnsucht nach Freiheit<br />
und damit als Alternative zur kommunistisch beherrschten Öffentlichkeit.<br />
Erst ab 1989/90 konnten die Kirchen und die Christen Erfahrungen<br />
im gesellschaftlichen Dialog und Engagement und im wohlwollenden<br />
Gegenüber von Staat und Kirche machen, wenngleich von Land zu Land<br />
in unterschiedlichem Grade. Die neue Situation empfinden manche<br />
Chris ten und kirchliche Amtsträger gleichwohl nicht nur als befreiend,<br />
sondern auch als belastend und enttäuschend. Die lange ersehnte Freiheit<br />
wird jetzt, da sie errungen worden ist, auch als unverständlich, wenn<br />
nicht sogar als bedrohlich erfahren. Daher wird Abwehr gesellschaftlicher<br />
Neuentwicklungen nicht selten christlich motiviert, und es entsteht<br />
gelegentlich die Tendenz, an Stelle des Kommunismus den Liberalismus<br />
als neuen Widerpart zu betrachten.<br />
101
Nach meinem Eindruck wird dabei nicht immer hinreichend unterschieden<br />
zwischen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung des Westens und<br />
einem stark individualistisch orientierten Liberalismus als einflussreicher<br />
Richtung im Westen. Zum Wesen der geistigen und gesellschaftlichen<br />
Freiheit gehören die Pluralität der Überzeugungen und die Offenheit<br />
gegenüber neuen Möglichkeiten und Entwicklungen. Im Gegensatz<br />
zum marxistisch-leninistischen Sozialismuskonzept kennt die freiheitliche<br />
Gesellschaftsordnung für ihre Zukunft also keine fest stehende Perspektive,<br />
sondern jeder gemeinsame Schritt erfolgt im Ergebnis von öffentlichen<br />
Debatten und sich daraus ergebenden Mehrheitsentscheidungen.<br />
Dazu gehört nicht nur die Art und Weise, wie etwas geregelt wird,<br />
sondern zunehmend auch die Frage, ob etwas überhaupt verbindlich zu<br />
regeln ist. An dieser Frage des Maßes von gesellschaftlicher Gemeinsamkeit<br />
setzt der individualistisch orientierte Liberalismus an, da er<br />
prinzipiell jede Art von überindividueller Bindung und Regelung als<br />
freiheitsfeindlich verdächtigt und nur ein unbedingt notwendiges Minimum<br />
an gesellschaftlicher Gemeinsamkeit akzeptieren will. Die Unterscheidung<br />
von freiheitlicher Gesellschaft und liberalistischer Gesellschaftsrichtung<br />
ist, wie uns die Geschichte zeigt, von nicht zu überschätzender<br />
Bedeutung für das Verhältnis der Kirche zur geistigen und<br />
gesellschaftlichen Freiheit. Denn nach christlicher Überzeugung kann<br />
die Mitmenschlichkeit einer Gesellschaft und ihre Zukunft nicht allein<br />
durch individuelles Handeln garantiert werden, sondern es bedarf des<br />
öffentlichen Handelns des Gesetzgebers und der Politik, das sich wiederum<br />
auf gemeinsame Wertevorstellungen in der Gesellschaft stützen<br />
muss. Was die Unterscheidung zwischen Liberalität und Liberalismus<br />
heute freilich erschwert, ist die Offensive eines schrankenlosen Individualismus,<br />
der auf das Scheitern kollektivistischer Gesellschaftsmodelle<br />
verweisen kann und sich durch die abnehmende Rolle der Nationalstaaten<br />
ermuntert fühlt.<br />
Für beide Teile Europas stellt sich heute die Aufgabe, zu einer europäischen<br />
Gesellschaft zusammenzuwachsen. Diese künftige europäische<br />
Gesellschaft kann gewiss keine homogene Größe, sondern nur eine Einheit<br />
in der Vielfalt sein. Sonst würde sie ihrer Geschichte nicht entsprechen<br />
und wäre nur eine Fiktion. Ohne eine europäische Gesellschaft und<br />
102
eine gemeinsame Öffentlichkeit wird es jedoch in Wahrheit niemals eine<br />
auf Dauer lebensfähige Europäische Union geben, wie immer einmal<br />
deren rechtliche Ordnung und deren politisches Gesicht aussehen werden.<br />
Ohne Zweifel haben die beiden Teile Europas auf dem Weg zu einer<br />
europäischen Gesellschaft bisher sehr unterschiedlich lange Strecken zurück<br />
gelegt. Im Westen vollzieht sich der Prozess der europäischen Integration<br />
schon seit mehreren Jahrzehnten. Gleichwohl bleibt noch Wesentliches<br />
zu tun. Das Maß der wechselseitigen Vertrautheit zwischen<br />
den west-, süd- und nordeuropäischen Gesellschaften, die schon lange<br />
am Integrationsprozess beteiligt sind, wird oft überschätzt. Es gibt erst<br />
Ansätze zu europäischen Debatten. Wie das relativ geringe Interesse an<br />
den Wahlen zum Europäischen Parlament und an dessen Verhandlungen<br />
zeigt, gibt es erst Anfänge eines europäischen Bewusstseins.<br />
Ungleich wichtiger als eine gewisse Tendenz zur westeuropäischen<br />
Selbstgefälligkeit scheint mir jedoch, dass im letzten Jahrzehnt des vorigen<br />
Jahrhunderts neue europäische Herausforderungen entstanden sind<br />
oder erheblich an Gewicht zugenommen haben. Folgende Aspekte scheinen<br />
mir dafür wichtig zu sein:<br />
• An erster Stelle ist die Globalisierung, also die zunehmende Verflechtung<br />
der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen, zu nennen.<br />
Sie bewirkt, dass Entscheidungen und Entwicklungen in einem Land<br />
sofort Auswirkungen auf viele andere Länder haben, ohne dass es möglich<br />
ist, diese Prozesse und ihre sozialen und politischen Folgen innerhalb<br />
der einzelnen Länder durch administrative oder gesetzgeberische<br />
Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Die Globalisierung hat zwar<br />
durchaus unterschiedliche Konsequenzen im Westen und im Osten Europas.<br />
Sie sind im Osten weitaus heftiger und belasten zusätzlich die<br />
ohnehin schon schwierige Transformation zur Marktwirtschaft und zu<br />
einer rechtsstaatlichen Demokratie. Dennoch ist dies auch für den Westen<br />
eine neue Rahmenbedingung, deren Beginn im Großen und Ganzen<br />
mit der revolutionären Wende im Osten Europas zusammenfiel. Daher<br />
markiert das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts auch für<br />
den Westen Europas das Ende einer Epoche, nämlich der einer mehr<br />
oder weniger stetigen Aufwärtsentwicklung, an der die meisten Menschen<br />
Anteil hatten.<br />
103
• Die zweite große Herausforderung ist die zunehmende Individualisierung<br />
der Lebensauffassungen, Lebensstile und Lebensformen. Denn<br />
dies reduziert ganz zwangsläufig den gesellschaftlichen Wertekonsens<br />
und schwächt die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstregulierung<br />
in einem Moment, wo die Handlungsfähigkeit des Staates abnimmt.<br />
• Und drittens hat das Ende des Kalten Krieges auch das Ende eines<br />
waffenstarrenden Friedens gebracht, der zwar ständig bedroht war,<br />
aber doch in Europa fast ein halbes Jahrhundert geherrscht hat. Denn<br />
in dieser Zeit drohte der Grundkonflikt zwischen den USA und der<br />
Sowjetunion jeden Krieg zu einem Weltkrieg zu machen. Jetzt sind<br />
lokale Kriege wieder möglich, wie die traurige Realität uns zeigt. Dadurch<br />
ist ein Maß von außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit<br />
gefordert, zu der die europäischen Staaten und die europäischen<br />
Gesellschaften bisher weder strukturell noch mental in der<br />
Lage sind. Oder um es klarer zu sagen: Die Rolle der Europäischen<br />
Union bei der Wahrung oder Wiederherstellung einer europäischen<br />
Friedensordnung ist ziemlich erbärmlich. Zu viele europäische Staaten<br />
klammern sich an ihre immer bedeutungsloser werdende Souveränität,<br />
und zu viele europäische Bürgerinnen und Bürger verweigern<br />
sich aus Eigensucht oder aus gutherziger Naivität der Realität. Diese<br />
Realität heißt im Klartext, dass die Europäische Union nur dann den<br />
europäischen Frieden bewahren kann, wenn ihre Bürgerinnen und<br />
Bürger glaubhaft bereit sind, dafür Opfer zu bringen und notfalls auch<br />
zu kämpfen und zu sterben. Vor dieser Wahrheit kann man sich weder<br />
durch wortreiche Resolutionen noch durch Beschimpfungen der Politik<br />
und auch nicht durch Gesten wie das Anzünden von Kerzen auf<br />
Dauer verstecken.<br />
Europa befindet sich zur Zeit zugleich in einer Verfassungsdebatte und in<br />
einer Orientierungskrise. Das ist, wie die Geschichte lehrt, eine schlechthin<br />
ideale Situation für eine engagierte Debatte über die geistigen Grundlagen<br />
des künftigen Europa, vorausgesetzt, es gelingt, ethische Prinzipien,<br />
geschichtliche Erfahrung und politische Vernunft miteinander zu<br />
verbinden. Sollten dafür die Christen in Europa nicht die besten Voraussetzungen<br />
haben?<br />
104
Die christlichen Werte<br />
Was sind denn nun aber die christlichen Werte, die wir in diese Debatte<br />
einbringen wollen, damit sie das gesellschaftliche Miteinander in Europa<br />
und in unseren Ländern prägen und mitbestimmen? Niemand wird von<br />
mir erwarten, dass ich hier jetzt einen Katalog solcher Werte präsentiere.<br />
Viel wichtiger scheint mir, über den Begriff der christlichen Werte zu<br />
sprechen. Denn ein solches Wort hat ja nur Sinn, wenn es nicht einfach<br />
nur ein anderes Wort ist für den Glauben oder die Frohe Botschaft. Da ist<br />
es zunächst einmal wichtig, sich der Einsicht zu erinnern, dass der Glaube<br />
weder ein politisches Programm noch ein soziales Modell ist. Auch kann<br />
niemand zu den Evangelien greifen, um daraus eine Staatsverfassung zu<br />
formulieren. Der Glaube ist eine von der Geschichte unabhängige Wahrheit.<br />
Und die Frohe Botschaft ist den Menschen aller Zeiten und Völker<br />
gesagt. Der Glaube wirkt aber in konkreten Perioden der Geschichte, und<br />
die Frohe Botschaft ist ein Ruf und ein Zuspruch, dem wir in dieser Zeit<br />
folgen sollen. Glaube und Geschichte, Evangelium und menschliches<br />
Handeln gehören zusammen, aber sie sind nicht das Gleiche, sondern<br />
bilden ein Spannungsfeld. In diesem Spannungsfeld stehen auch die<br />
christlichen Werte, die in einer bestimmten geschichtlichen Zeit wirken.<br />
Sie sind geschichtlich konkrete Schlussfolgerungen aus dem Glauben<br />
und entstehen aus der Auseinandersetzung mit der immer neuen Frage,<br />
wie der Glaube in unserem Leben und durch unser Leben Gestalt annehmen<br />
kann. Das ist eine Frage nicht nur an jeden Einzelnen, sondern auch<br />
an die Kirche als eine Gemeinschaft von Glaubenden, die durch die Geschichte<br />
zu Gott unterwegs ist und sich auf diesem Weg auch ständig<br />
wandeln muss, um ihren Auftrag zu erfüllen. Dabei muss die Kirche immer<br />
wieder um die Frage ringen, wie der Glaube zu verkünden und zu<br />
leben ist. In der Vergangenheit kamen die Impulse meist aus der Mitte der<br />
Kirche. Die Entscheidungen darüber, was der Glaube für die Menschen<br />
und für die Gesellschaft bedeutet, fallen immer in einer bestimmten Zeit<br />
und stehen auch zu dieser Zeit in einer festen Beziehung. Ich will das im<br />
Folgenden an Beispielen erläutern:<br />
• Einer der zentralen Begriffe in der heutigen europäischen Debatte ist<br />
der des Schutzes des menschlichen Lebens und der Menschenwürde.<br />
Die Debatte kreist um die Frage, wie rechtliche Normen, die das Leben<br />
105
und die Würde des Menschen schützen, auszudeuten oder zu definieren<br />
sind. Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik<br />
Deutschland lautet z. B.: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie<br />
zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“<br />
Diese rechtliche Norm ist 1949 formuliert worden als Summe der bösen<br />
und bitteren Erfahrungen, die in Deutschland mit einer staatlichen<br />
Ordnung gemacht worden waren, die ganz ausdrücklich die Rechte des<br />
Menschen negierte und das ganze Volk einem diktatorischen Willen<br />
unterwarf. Zugleich bekannten sich die Schöpfer des Grundgesetzes<br />
damit zur Tradition der Freiheit in der Geschichte Europas und der<br />
westlichen Welt. Die Frage ist jedoch, welche grundsätzlichen Überzeugungen<br />
in dieser Freiheitsgeschichte zum Ausdruck kommen. Für<br />
sich genommen ist nämlich der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde<br />
nur eine Behauptung. Für Christen ist er jedoch die notwendige<br />
Konsequenz aus ihrem Glauben an Gott als den Schöpfer aller<br />
Menschen und an Jesus Christus, der alle Menschen erlöst hat. Ohne<br />
ein solches Fundament hängt der Satz in der Luft. Allerdings müssen<br />
Christen bedenken, dass Menschen auch aus anderen religiösen oder<br />
philosophischen Überzeugungen zu der Einsicht kommen können,<br />
dass die Menschenwürde unantastbar ist. Und die Christen dürfen nicht<br />
vergessen, dass sie selbst erst in einem schwierigen geschichtlichen<br />
Prozess zu der Erkenntnis gelangten, dass es ihrem Glauben angemessen<br />
ist, eine solche rechtliche Norm zu formulieren. Den Grundsatz,<br />
dass die Menschenwürde am Besten durch eine freiheitliche Verfassung<br />
zu schützen ist, hat die Katholische Kirche bekanntlich nicht immer<br />
verfochten. Trotzdem besteht für Christen heute eine wesentliche<br />
Beziehung zwischen der Glaubenswahrheit von der Gotteskindschaft<br />
und der Erlösung aller Menschen und dem politischen Willen, die<br />
Menschenwürde rechtlich zu schützen.<br />
• Was dem Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde jetzt hohe<br />
Aktualität gibt, sind die Fragen nach dem Beginn und dem Ende des<br />
Lebens. Nach christlicher Überzeugung ist das Leben ein Geschenk<br />
Gottes, über das der Mensch weder am Anfang noch am Ende verfügen<br />
darf. Wann aber z.B. das Leben beginnt, welche Bedeutung also – konkret<br />
gesprochen – der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle zukommt,<br />
können wir nicht wissen ohne die Erkenntnisse der Naturwis-<br />
106
senschaften. Das bedeutet nicht, dass der christliche Glaube vom Stand<br />
der wissenschaftlichen Erkenntnis abhängig ist. Was jedoch der Glaube<br />
für eine konkrete Frage des Lebens bedeutet, können wir erst sagen,<br />
wenn uns der Sachverhalt, aus dem sich die Frage ergibt, bekannt ist.<br />
Und auch die Beziehung zwischen der Unantastbarkeit der menschlichen<br />
Würde und der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ist für<br />
die Gegenwart eigentlich nur mit der Kenntnis der naturwissenschaftlich<br />
festgestellten Sachverhalte zu beantworten. Das bedeutet wiederum<br />
nicht, dass wir die Antwort allein aus der Wissenschaft erhalten<br />
oder gar aus dem, was ringsum in der Gesellschaft über die wissenschaftlich<br />
festgestellten Sachverhalte gedacht wird. Sondern wir werden<br />
die Antwort aus dem Glauben heraus nur finden können, wenn wir<br />
die Frage sachgerecht formulieren.<br />
• Im geistigen und politischen Leben wirken die Werte und Wahrheiten<br />
des Glaubens also in enger Wechselwirkung mit dem, was die Christen<br />
als Menschen in ihrer Zeit wissen und denken. Dem christlichen Wert<br />
der unbedingten Achtung der Menschenwürde können sie nur dann gesellschaftliche<br />
Geltung verschaffen, wenn sie als Zeitgenossen handeln<br />
und diesen Wert in den Zusammenhang ihrer geistigen und politischen<br />
Gegenwart einbringen. Für die Menschenwürde kann man wirkungsvoll<br />
nur in der Geschichte und nicht außerhalb der Geschichte eintreten.<br />
Darum hängt es auch ganz generell, aber insbesondere in einer<br />
freiheitlichen Gesellschaft, vor allem von den Laien als den in der Welt<br />
lebenden und tätigen Christen ab, wieweit die Gesellschaft christlich<br />
geprägt ist oder nicht. Eine solche Aufgabe können sie nicht erfüllen,<br />
wenn sie sich nur als Hörende und Ausführende verstehen oder sie so<br />
behandelt werden, sondern dafür müssen sie eigenständig denken und<br />
eigenverantwortlich handeln.<br />
• Das lässt sich an der Gewissensfreiheit zeigen, die eine wichtige Konsequenz<br />
aus dem Respekt vor der Menschenwürde ist. Heute gilt mit<br />
Recht Papst Johannes Paul II. als einer der führenden Mahner und Anwälte<br />
für die Gewissensfreiheit. Papst Pius IX. hatte 1864 in seinem<br />
„Syllabus errorum“ die Gewissensfreiheit noch als Wahnsinn verurteilt.<br />
Das mag man erklären mit den erschreckenden Erfahrungen der<br />
Kirche in der Französischen Revolution, aber das macht aus einem fatalen<br />
Irrtum keine Wahrheit. Bedeutsamer scheint mir freilich, dass<br />
107
katholische Christen, die sich damals in verschiedenen Ländern um die<br />
Freiheit für Glauben und Kirche in einer freiheitlichen Verfassungsordnung<br />
bemühten, sehr bald für die Gewissensfreiheit aller Menschen<br />
eintraten – zunächst in der politischen Praxis, aber dann auch bald in<br />
ihrer politischen Programmatik. Jedenfalls ist es diesen Laien zu danken,<br />
dass die Gewissensfreiheit schon lange als ein christlicher Wert<br />
galt, bevor sie nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen auch<br />
vom Zweiten Vatikanischen Konzil als ein solcher ausdrücklich anerkannt<br />
wurde.<br />
• In gleicher Weise wie die Menschenwürde könnten wir hier weitere<br />
christliche Werte durchbuchstabieren. Ich muss mich aus Zeitgründen<br />
bei den beiden folgenden Beispielen auf wenige Andeutungen beschränken.<br />
Ein wesentliches Feld christlichen Handelns sind Ehe und<br />
Familie. Hier gibt es für Christen grundlegende Werte, die sich unmittelbar<br />
aus der Glaubensbotschaft ergeben. Auch wenn es in Bezug auf<br />
die Sakramentalität der Ehe keine Übereinstimmung mit unseren<br />
evangelischen Geschwistern gibt, so gelten doch allen Christen die<br />
eheliche Treue, die Erfüllung der ehelichen Gemeinschaft in Kindern<br />
und die wechselseitige Verantwortung der Generationen in der Familie<br />
als Tugenden. Jeder weiß, wie sehr dies heute im Kontrast zur gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit steht. Dennoch darf man nicht übersehen,<br />
dass auch die christlichen Werte von Ehe und Familie nur lebendig<br />
bleiben, wenn sie sich nicht außerhalb der Geschichte stellen. Das gilt<br />
vor allem für die gesellschaftliche Stellung der Frau. Es wäre absurd,<br />
wollte man die Bedeutung der Familie gleichsam gegen die Gleichberechtigung<br />
der Frau retten und sich dafür scheinbar christlicher, tatsächlich<br />
aber rein traditioneller Argumente bedienen. Ohne die Wahlfreiheit<br />
der Frau zu gefährden, sich ganz auf ihre Aufgabe als Mutter<br />
zu konzentrieren, wenn sie dies wünscht, muss es für Frauen real möglich<br />
sein, Mutterschaft und Beruf zu verbinden. Genauer gesagt, die<br />
Bedeutung der Familie wird nur bewahrt, wenn es eine gesellschaftliche<br />
Realität wird, Elternschaft und Beruf zu verbinden. Dazu bedarf es<br />
nicht nur fördernder rechtlicher und struktureller Rahmenbedingungen,<br />
sondern auch eines Gesinnungs wandels bei den Vätern, ebenfalls Elternschaft<br />
und Beruf miteinander zu verbinden. Hier ein gutes Beispiel<br />
zu geben, wäre eine christliche Aufgabe.<br />
108
• Ein anderes Feld ist das der sozialen Gerechtigkeit. Hier gibt es auch<br />
unter Christen eine legitime Pluralität der Meinungen über die richtigen<br />
Proportionen zwischen privater Initiative und öffentlicher Verantwortung,<br />
z.B. in der Wirtschaft und in der Kultur. Entsprechendes gilt<br />
einerseits für das rechte Maß von garantierter sozialer Sicherheit und<br />
andererseits eigenverantwortlichem Handeln des Einzelnen. Trotzdem<br />
ist es für Christen grundsätzlich nicht hinnehmbar, wenn es Menschen<br />
real nicht möglich ist, menschenwürdige Existenzbedingungen zu erreichen,<br />
oder wenn ihnen keine gleichwertigen Erfolgs- und Aufstiegschancen<br />
geboten werden. Im Einsatz für soziale Gerechtigkeit kommt<br />
der katholischen Soziallehre eine herausragende Rolle zu. Aber auch in<br />
diesem Falle, wo die Kirche für eine bestimmte geschichtliche Zeit,<br />
nämlich für eine Gesellschaft von Kapital und Arbeit, eine eigene<br />
Lehre entwickelte, gibt es ein geschichtlich begründetes Spannungsfeld<br />
im Maß des heute noch Gültigen. Schwerlich würde man heute<br />
noch auf den Gedanken kommen, die ständestaatlichen Modelle, wie<br />
sie etwa in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931) vorgestellt<br />
werden, zur Grundlage praktischer Politik zu machen. Dagegen sind<br />
die Grundsätze der katholischen Soziallehre, vor allem die Grundsätze<br />
von Solidarität und Subsidiarität und ihr wechselseitiges Verhältnis,<br />
nach wie vor aktuell. Man wird sagen können, dass es ein solcher<br />
grundsatzorientierter, aber praktisch flexibler Umgang war, der die<br />
katholische Soziallehre nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa so<br />
erfolgreich gemacht hat.<br />
Was diese Beispiele des gesellschaftlichen Engagements von Christen<br />
zeigen, das ist die Unsinnigkeit der Behauptung, Religion sei Privatsache.<br />
Bis heute ist dieser Satz in den westlichen Gesellschaften Europas<br />
der Kampfruf eines militanten Laizismus, der die Kirche als Institution<br />
und Gemeinschaft der Gläubigen aus dem öffentlichen Raum verdrängen<br />
will und der nur bereit ist, Religion als Meinung und Lebensprinzip des<br />
Einzelnen hinzunehmen. Sobald es jedoch um öffentliche Entscheidungen<br />
geht, wie z.B. jetzt bei der sogenannten verbrauchenden Embryonenforschung,<br />
wird die Kirche auf die Amtsträger reduziert und diesen das<br />
Recht bestritten, politische Forderungen zu erheben oder an der Debatte<br />
über Gesetzgebung und Gesetzesinterpretation teilzunehmen. Den Laien<br />
109
wird immerhin zugestanden, für ihr persönliches Leben als Sondergruppe<br />
solchen Auffassungen zu folgen. Vertreten sie diese aber gemeinsam in<br />
der politischen Meinungsbildung, dann wird ihnen gern unterstellt, sie<br />
stünden unter der Vormundschaft geistlicher Amtsträger.<br />
Die Erfahrung im östlichen Teil Europas ist ähnlich, aber nicht identisch.<br />
Hier waren Lenin und seine Nachfolger nicht einmal bereit, das Prinzip<br />
„Religion ist Privatsache“ zu akzeptieren. Sie wollten ja nicht nur eine<br />
neue Gesellschaft, sondern auch einen neuen Menschen, und für beide<br />
Ziele galt Religion als schädlich. Deshalb wurden Religion und Kirche<br />
nur noch für eine Übergangszeit geduldet. Am deutlichsten konnte man<br />
das in der Sowjetunion sehen, wo die Kirchen von der kommunistischen<br />
Führung als staatliche Museen behandelt wurden – mit lebendem Inventar<br />
in Gestalt der Geistlichen und Gläubigen, deren Zahl stetig und notfalls<br />
mit Gewalt zu reduzieren war. Es ist klar, dass unter solchen Bedingungen<br />
eine rechtlich verbindliche und tatsächlich auch praktizierte Anerkennung<br />
des Prinzips „Religion ist Privatsache“ für die Gläubigen ein<br />
Vorteil für ihr persönliches Leben gewesen wäre. Aus dem öffentlichen<br />
Raum hatten die leninistischen Marxisten jede eigenständige Regung<br />
ohnehin ausgeschlossen.<br />
Im geschichtlichen Vergleich war die sozialistische Gesellschaft nur eine<br />
Kümmerform von Gesellschaft. Die kommunistische Ideologie war zwar<br />
angetreten, den Staat abzuschaffen und eine klassenlose Gesellschaft zu<br />
errichten. Nachdem die Kommunisten den Staat in die Hand bekommen<br />
hatten, machten sie sich jedoch daran, die Gesellschaft zu verstaatlichen<br />
und jedes Leben einer zentralistischen Kommandostruktur zu unterwerfen.<br />
Die freiheitliche Gesellschaft ist dagegen – jedenfalls potenziell –<br />
eine voll entfaltete Gesellschaft. In ihrem öffentlichen Leben können<br />
Glauben und Kirche jedoch nur zur Wirkung kommen, wenn die Christen<br />
dazu bereit und in der Lage sind, die Herausforderungen einer solchen<br />
Gesellschaft anzunehmen und sich nicht in eine persönliche Glaubensnische<br />
zurückziehen. Selbstverständlich ist auch in der freiheitlichen Gesellschaft<br />
der Glaube eine zutiefst persönliche Sache. Wenn der Glaube<br />
persönliches Lebensprinzip ist, wirkt sich dies auch in der Haltung gegenüber<br />
dem jeweiligen konkreten Mitmenschen aus. Aber dem Glauben<br />
110
geht es nicht nur um die Beziehung zum je konkreten Mitmenschen, sondern<br />
er will das gesellschaftliche Leben prägen. Deshalb muss der christliche<br />
Glaube als eine öffentliche Sache begriffen werden, und die Christen<br />
müssen den Öffentlichkeitsanspruch des Christentums offen und mutig<br />
vertreten. Nichts wäre dafür schädlicher als die nostalgische Verklärung<br />
des den Christen früher durch die kommunistische Herrschaft aufgezwungenen<br />
Sakristeichristentums, wo die Dinge angeblich klar und<br />
einfach waren. Wenn man unter sich ist und die Macht draußen in der<br />
Welt als feindlich erlebt wird, liegt es nahe, in den Kategorien von<br />
Schwarz und Weiß zu denken. Die Wirklichkeit des öffentlichen Lebens,<br />
insbesondere in einer freiheitlichen Gesellschaft, ist aber vielgestaltig<br />
und widersprüchlich. Schwarz-Weiß-Bilder sind zwar bequem, aber fast<br />
immer falsch. In Wahrheit geht es heute darum, dass die Christen öffentlich<br />
handeln und öffentliche Entscheidungen treffen müssen. Unter der<br />
kommunistischen Herrschaft waren die Dinge klar und einfach, weil die<br />
Christen keine öffentlichen Entscheidungen treffen durften und darum<br />
auch keine Entscheidungen zu treffen brauchten. Einen solchen Zustand<br />
sollte sich niemand zurück wünschen, auch wenn die freiheitliche Gesellschaft<br />
komplex und risikoreich ist.<br />
Christliche Werte stehen stets im Wettstreit und im Konflikt mit anderen<br />
Wertvorstellungen – im Leben jedes Einzelnen wie in der Öffentlichkeit.<br />
Die geistige Pluralität ist kein Schönheitsfehler, sondern ein Wesenmerkmal<br />
der freiheitlichen Gesellschaft. Sie ist ein Wesensmerkmal, das<br />
Chris ten ganz ausdrücklich akzeptieren müssen. Zwar macht uns nur die<br />
Wahrheit des Glaubens wirklich frei. Aber zu diesem freimachenden<br />
Glauben können wir uns auch nur in Freiheit entscheiden, weil ein Glaube<br />
aus Zwang oder Unkenntnis kein wirklicher Glaube wäre. In der Freiheit<br />
ringen unterschiedliche Auffassungen vom Leben und Lebenssinn miteinander<br />
und mithin auch unterschiedliche Haltungen zu Gott und zum<br />
Mitmenschen. Was in der freiheitlichen Gesellschaft prägend oder verbindlich<br />
ist, entscheidet sich in diesem ständigen geistigen und politischen<br />
Diskurs. Und es liegt im Wesen eines freiheitlichen Staates, Wertehaltungen<br />
nicht erzwingen zu wollen, sondern sie vorauszusetzen. Dennoch<br />
ist ein Wertekonsens für die innere Stabilität und für die Zukunftsfähigkeit<br />
der freiheitlichen Gesellschaft unverzichtbar. Freilich darf man<br />
111
sich trotz der Bedeutung eines solchen Wertekonsenses über sein Wesen<br />
keine Illusionen machen. Denn erstens handelt es sich meist nur um einen<br />
Minimalkonsens, und zweitens beruhen die in diesem Konsens enthaltenen<br />
Wertegrundlagen einer Gesellschaft nicht auf einem stabilen und<br />
darum verlässlichen Vertrag oder Kompromiss. Der Wertekonsens ist<br />
nichts anderes als das dynamische stets veränderbare Produkt des ständigen<br />
Wertediskurses. Er ist also das Ergebnis von Debatte und Dialog. Um<br />
so wichtiger ist es für die Christen, sich in diesem Wertediskurs wachsam<br />
und offensiv zu engagieren. Nur vom christlichen Engagement, insbesondere<br />
vom Engagement christlicher Laien, hängt es ab, wie weit der gesellschaftliche<br />
Wertekonsens in Gegenwart und Zukunft christlich geprägt<br />
ist. Das bedeutet freilich nicht, dass sich Christen vom gesellschaftlichen<br />
Wertekonsens, auch nicht von seiner rechtlichen Fixierung in Gesetzen,<br />
ihrerseits abhängig machen dürfen. Wenn z. B. die Mehrheitsmeinung<br />
den Schwangerschaftsabbruch oder die so genannte aktive<br />
Sterbehilfe akzeptiert oder sogar für rechtens erklären lässt, so kann dies<br />
kein Grund für Christen sein, auf ihre Wertevorstellungen zu verzichten<br />
oder sie gering zu achten. Auch in diesem Sinne gilt das Prinzip der Freiheit:<br />
Der christliche Glaube hängt nicht von weltlichen Beschlüssen ab.<br />
Weder der Staat noch die vorherrschende Meinung kann den Christen<br />
vorschreiben, was sie für richtig zu halten haben. Übrigens nehmen das<br />
innerhalb der für alle geltenden Verfassung auch die Anhänger anderer<br />
Überzeugungen für sich in Anspruch.<br />
Glaube und öffentliche Verantwortung<br />
Haben wir uns bisher mit den christlichen Werten als dem Inhalt der öffentlichen<br />
Verantwortung der Kirchen beschäftigt, so müssen wir uns nun<br />
der Wirkungsweise dieser öffentlichen Verantwortung zuwenden. Wir<br />
kennen Begriffspaare wie „Kirche und Gesellschaft“ oder „Kirche und<br />
Welt“. Sie sind nützlich und wertvoll, aber sie laden auch ein zu einem<br />
Missverständnis. Gewiss ist die Kirche eine unabhängige Größe, weil sie<br />
sonst ihrem Auftrag, den Glauben zu verkünden und die Sakramente zu<br />
spenden, nicht unverkürzt nachkommen könnte. Denn die Kirche ist vor<br />
allem eine Stiftung Jesu Christi. Damit weist sie über sich selbst hinaus,<br />
112
aber sie bleibt dennoch Teil der Geschichte. Und als geschichtliche Größe<br />
ist sie keine Gegengesellschaft, keine societas perfecta, wie man lange<br />
gemeint hat, um sich von der als gefährlich empfundenen Geschichte und<br />
Gesellschaft der Neuzeit abzugrenzen. Sondern die Kirche wirkt als unabhängige<br />
und eigenständige Kraft in der Gesellschaft, die jedoch zugleich<br />
der lebendige Zusammenhang ist, aus dem sie nicht ausbrechen<br />
und aus dem sie nicht ausgeschlossen werden kann, ohne beiden zu schaden<br />
– der Gesellschaft und der Kirche. Der Zusammenhang zwischen<br />
Kirche und Gesellschaft wird durch die Menschen hergestellt, insbesondere<br />
durch jene, die in der Gesellschaft leben, handeln und entscheiden.<br />
Darum ist die Kirche auch keine Armee, die unter einem zentralen Kommando<br />
in Reih‘ und Glied durch die Geschichte marschiert. Eine solche<br />
Vorstellung von Kirche ist ein Zerrbild, das mit der geschichtlichen Realität<br />
nichts zu tun hat. Würde die Kirche versuchen, sich so durch eine<br />
freiheitliche Gesellschaft zu bewegen, wäre sie bald nicht mehr als eine<br />
kleine Sekte ohne jede geistige und gesellschaftliche Wirkung.<br />
Ich sage das in solcher Klarheit, weil ich aus der doppelten Erfahrung im<br />
Osten Deutschlands, nämlich aus der Zeit des Nationalsozialismus und<br />
aus der Zeit des Kommunismus, weiß, dass ideologisch motivierte Diktaturen<br />
als erstes danach trachten, die Öffentlichkeit mit Hilfe staatlicher<br />
Gewalt zu monopolisieren und darum auch jedes selbständige und eigenverantwortliche<br />
Handeln von christlichen Laien aus der Gesellschaft zu<br />
verbannen. In einer solchen Situation bleibt als einziger Ort von Laienaktivität<br />
der Kirchenraum. Und da auch dieser Raum stets gefährdet ist,<br />
kann Laienaktivität unter solchen Bedingungen nur unter der Verantwortung<br />
des geistlichen Amtes erfolgen. Dessen wichtigste Aufgabe besteht<br />
darin, dafür zu sorgen, dass die Quelle des Glaubens nicht gewaltsam<br />
völlig verschlossen wird. In solchen Zeiten der Bedrückung und Gefährdung<br />
haben Bischöfe, Priester und Laien Bewunderungswürdiges getan<br />
und oft eine neue Art von Gemeinschaft entwickelt. Diese wertvolle geschichtliche<br />
Erinnerung kann aber nicht vergessen lassen, dass es äußerer<br />
Zwang war, der die Kirche in ihrer Bewegung eingeschränkt und so zu<br />
einer Ruine gemacht hat – und das nicht nur in ihren Gebäuden. Die Kirche<br />
und die Christen konnten nicht eigenständig in der Gesellschaft auftreten<br />
und tätig sein und sich nicht an öffentlichen Debatten beteiligen.<br />
113
Die Theologie wurde aus den Universitäten und aus dem Dialog der Wissenschaften<br />
ausgeschlossen. Den praktizierenden Christen wurde der<br />
Zugang zu Bildung und Kultur verwehrt. Die Ortskirchen konnten nicht<br />
mit der Gemeinschaft der Weltkirche im geistigen und praktischen Austausch<br />
stehen. Die Kirche konnte sich nicht selbst als eine dialogische<br />
Gemeinschaft begreifen, weil sie ständig überwacht und belauert wurde.<br />
Eine Kirche, die man gewaltsam daran hindert, frei zu leben und ständig<br />
an sich weiter zu bauen, wird zur Ruine. Daher bedarf es in der gesellschaftlichen<br />
Freiheit des Muts zur Bewegung und der Entschlossenheit<br />
zum Handeln, um diesen aufgezwungenen Zustand rasch zu überwinden.<br />
Dabei ist die Angst vor der Freiheit ein schlechter Ratgeber.<br />
Freilich ist jede Bewegung nach vorn ein Risiko, insbesondere, wenn<br />
man jahrzehntelang an der Bewegung gehindert war. In jenem Teil Europas,<br />
der nach dem Zweiten Weltkrieg unter kommunistische Herrschaft<br />
geriet, gab es vorher in den meisten Ländern nur geringe Erfahrungen mit<br />
der geistigen und politischen Freiheit. Auch war diese Freiheit, weil sie<br />
vertraute Lebens- und Herrschaftsformen in Frage stellte, von den Kirchen<br />
nicht selten mit Misstrauen betrachtet worden. Zwar gab es immer<br />
die Forderung nach der Freiheit der Kirche. Nur wurde darunter meist<br />
allein das Entscheidungsrecht der kirchlichen Autorität verstanden. Eine<br />
so verstandene Freiheit der Kirche steht nicht notwendigerweise im Widerspruch<br />
zu einer autoritären Staatsordnung. Aber die Zeit vor der kommunistischen<br />
Machtergreifung ist ohnehin für immer vorbei. Und jeder<br />
Versuch, dahin zurückzukehren, könnte nur in einer Katastrophe enden.<br />
Die Welt hat sich weiter bewegt, die Kirche hat sich weiter bewegt, die<br />
Menschen haben sich weiter bewegt. Es führt kein Weg zurück in eine<br />
Gesellschaft unangefochtener Autoritäten, es führt kein Weg zurück zur<br />
Kirche vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, es führt kein Weg zurück<br />
zu Menschen, die sich bevormunden lassen. Wirkliche Freiheit der Kirche<br />
gibt es heute nur in einer freiheitlichen Gesellschaft. Und wenn die<br />
Unabhängigkeit der Kirche – so wie in freiheitlichen Verfassungen<br />
selbstverständlich – rechtlich gesichert ist, bedeutet heute Freiheit für die<br />
Kirche das Gleiche wie für alle anderen Institutionen und Gemeinschaften,<br />
nämlich die Chance und das Risiko eigener Existenz. Diese Freiheit<br />
kann die Kirche nur als geschwisterliche Gemeinschaft des Volkes Gottes<br />
114
estehen. Hinsichtlich der Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung<br />
der Kirche in Politik, Gesellschaft und Kultur kommt vor allem den Laien<br />
eine wichtige Aufgabe zu.<br />
Orientierung durch das Zweite Vatikanische Konzil<br />
Für das rechte Verständnis dieser Aufgabe der Laien hat das Zweite Vatikanische<br />
Konzil Bahnbrechendes geleistet, und seine Beschlüsse gründlich<br />
und immer wieder zu lesen, bleibt aktuell. Bekanntlich nahm das<br />
Konzil Abschied von der ungeschichtlichen Vorstellung, man könne aus<br />
den Glaubenswahrheiten und den darauf aufbauenden kirchlichen Lehren<br />
deduktiv ein politisches und gesellschaftliches Programm ableiten, das<br />
vom kirchlichen Amt festgesetzt oder bestätigt wird und unter dessen<br />
Leitung von den Laien umzusetzen ist. In der Kirchenkonstitution<br />
„Lumen gentium“ wurde die Vorstellung eines über die Hierarchie vermittelten<br />
und von dieser abgeleiteten gesellschaftlichen Laienapostolats<br />
durch den Gedanken eines eigenständigen Laienapostolats ersetzt. Art.<br />
31 lautet: „Den Laien ist der Weltcharakter in besonderer Weise eigen …<br />
Sache der Laien ist es, kraft der ihnen eigenen Berufung in der Verwaltung<br />
und Gott gemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes<br />
zu suchen…“ (Lumen gentium, 31).<br />
Auf die Frage, wie diese Aufgabe zu bewältigen sei, gibt die Pastoralkonstitution<br />
„Gaudium et spes“ in Art. 43 eine ebenso klare wie realistische<br />
Antwort. Es gibt keine kirchenamtlich vorgegebene Programmatik und<br />
damit auch keine falsche Sicherheit für die Laien. Sie werden vielmehr<br />
dazu ermutigt, „die jedem einzelnen (Sach)Bereich eigenen Gesetze“ zu<br />
kennen. Oder, wie es in Art. 36 heißt, sie müssen die Tatsache erkennen,<br />
„dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen<br />
Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen<br />
und gestalten muss“. Und sie müssen sich „um gutes fachliches<br />
Wissen und Können in den einzelnen Sachgebieten bemühen“ (Gaudium<br />
et spes, 43). Daraus folgt jedoch kein Automatismus des Sachzwanges,<br />
sondern die Aufgabe der Laien besteht vielmehr darin, als Christ in der<br />
Welt nach bestem Wissen und Gewissen in Freiheit zu handeln. Und ganz<br />
115
wesentlich für die öffentliche Verantwortung der Kirchen und der Christen<br />
ist, was das Zweite Vatikanische Konzil in diesem Zusammenhang<br />
über das Verhältnis von geistlichem Amt und Laien sagt. Denn von den<br />
letzteren heißt es, „Aufgabe ihres dazu von vornherein richtig geschulten<br />
Gewissens ist es, das Gebot Gottes im Leben der profanen Gesellschaft<br />
zur Geltung zu bringen. Von den Priestern aber dürfen die Laien Licht<br />
und geistliche Kraft erwarten. Sie mögen aber nicht meinen, ihre Seelsorger<br />
seien immer in dem Grade kompetent, dass sie in jeder, zuweilen auch<br />
schweren Frage, die gerade auftaucht, eine konkrete Lösung schon fertig<br />
haben könnten oder die Sendung dazu hätten. Die Laien selbst sollen<br />
vielmehr im Licht christlicher Weisheit und unter Berücksichtigung der<br />
Lehre des kirchlichen Lehramtes darin ihre eigene Aufgabe wahrnehmen“<br />
(Gaudium et spes, 43).<br />
Dass diese Aufgabe spannungsvoll ist und eben kein lehramtlich zu regelnder<br />
Vollzug, das macht das Konzil gleich anschließend deutlich, in dem es<br />
die Pluralität als notwendige Konsequenz geistiger und gesellschaftlicher<br />
Freiheit anerkennt. Aus der geschichtlichen Erfahrung beschreibt das Konzil<br />
nämlich ganz nüchtern das Fiasko einer eindimensionalen Ableitung<br />
gesellschaftlicher Ziele aus dem Glauben: „Oftmals wird gerade eine<br />
christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten<br />
Situation nahe legen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es<br />
häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in<br />
der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen. Wenn dann die<br />
beiderseitigen Lösungen … von vielen anderen sehr leicht als eindeutige<br />
Folgerungen aus der Botschaft des Evangeliums betrachtet werden, so<br />
müsste doch klar bleiben, dass in solchen Fällen niemand das Recht hat,<br />
die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und seine eigene Meinung<br />
in Anspruch zu nehmen“ (Gaudium et spes, 43) Die Meinungsbreite, die es<br />
auch unter katholischen Christen z.B. in Bezug auf die Wege zur sozialen<br />
Gerechtigkeit oder bei der Bewahrung oder Wiederherstellung eines gerechten<br />
Friedens gibt, ist also völlig normal und legitim.<br />
Auch den Weg zum Konsens oder zur Toleranz, die sich zwingend aus der<br />
Pluralität ergibt, benennt das Konzil, wenn es sagt: „Immer aber sollen<br />
sie in einem offenen Dialog sich gegenseitig zur Klärung der Frage zu<br />
116
helfen suchen; dabei sollen sie die gegenseitige Liebe bewahren und vor<br />
allem auf das gemeinsame Wohl bedacht sein“ (Gaudium et spes, 43).<br />
Dem wird im Art. 76 noch eine wichtige Mahnung hinzugefügt: „Sehr<br />
wichtig ist besonders in einer pluralistischen Gesellschaft, dass man das<br />
Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und der Kirche richtig<br />
sieht, sodass zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund<br />
im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen<br />
geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen<br />
mit ihren Hirten tun, klar unterschieden wird.“<br />
Es ist also völlig in Ordnung, wenn sich Christen zum gemeinsamen politischen<br />
Handeln zusammen schließen und sie sich dabei auch ganz ausdrücklich<br />
auf ihre christliche Verantwortung berufen. Es wäre nicht in<br />
Ordnung, wenn sie bei ihren öffentlichen Aktionen auf kirchenamtliche<br />
Unterstützung setzen würden. Die Kirche ist in jedem Christen präsent,<br />
der sich öffentlich engagiert – das gilt im Guten wie im Bösen –, aber<br />
kein Christ kann für sich beanspruchen, die Kirche, das heißt das Amt<br />
und das ganze Volk Gottes, zu repräsentieren. Daher müssen wir den Begriff<br />
der öffentlichen Verantwortung sorgfältig differenzieren.<br />
Wenn Christen öffentliche Ämter übernehmen und Entscheidungen treffen,<br />
die für viele ihrer Mitbürger Konsequenzen haben, dann müssen sie<br />
aus dem Geist des Glaubens und in Verantwortung vor ihrem Gewissen<br />
handeln. Es liegt im Wesen der Freiheit, dass dieser Dienst der öffentlichen<br />
Verantwortung auch im Meinungsstreit steht. Denn ob es z.B. im<br />
Sinne der sozialen Gerechtigkeit ist, soziale Einrichtungen mit öffentlichen<br />
Krediten zu finanzieren, oder ob man dies wegen der Belastung für<br />
künftige Generationen nicht für verantwortbar hält, das kann nicht allein<br />
auf Grund eines Glaubenssatzes entschieden werden, sondern ist eine<br />
Sache der gewissenhaften Abwägung der verschiedenen Güter. Freilich<br />
ist auch wahr, dass im alltäglichen Geschäft und beim Kampf um Einfluss<br />
und Positionen die prinzipiellen Maßstäbe aus dem Blick geraten oder<br />
sogar völlig verloren gehen können. Daher muss es unter Christen in der<br />
öffentlichen Verantwortung, auch wenn sie unterschiedlichen politischen<br />
Richtungen folgen, immer wieder zum Dialog über die Grundsätze kommen,<br />
die nach christlicher Überzeugung für die Mitmenschlichkeit in der<br />
117
Gesellschaft notwendig sind. Und diese Mitmenschlichkeit ist auch in<br />
einer freiheitlichen Gesellschaft bedroht. Denn diese Gesellschaft wird<br />
von Konflikten vorangetrieben, und deshalb haben in ihr individuelle Interessen<br />
eine große und nicht selten eine übergroße Bedeutung.<br />
Selbstverständlich sind solche Grundsatzdebatten und die dialogische<br />
Suche nach einem Konsens im Streit zunächst ebenfalls eine Aufgabe der<br />
Laien. Aber es ist zugleich eine Ebene, auf der die Kirche als Institution<br />
und Gemeinschaft eine prinzipielle, ja, eine prophetische Aufgabe wahrnehmen<br />
kann und gelegentlich auch wahrnehmen muss. Das eigentliche<br />
Feld der öffentlichen Verantwortung der Kirche in diesem Sinne ist die<br />
Wahrung und Förderung des Gemeinwohls als Garant der Mitmenschlichkeit<br />
und dabei insbesondere die Achtung der Menschenrechte und der<br />
Schutz der Schwachen in der Gesellschaft.<br />
Ganz fraglos gibt es in Deutschland ein starkes gesellschaftliches Engagement<br />
der katholischen Laien – sowohl in den Parteien und Parlamenten<br />
als auch in den Verbänden und Initiativen. Dennoch ist es in der öffentlichen<br />
Debatte von großem Gewicht, dass die katholischen Bischöfe zu<br />
grundsätzlichen Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des gerechten Friedens<br />
und des unbedingten Schutzes des menschlichen Lebens und der<br />
menschlichen Würde das Wort ergreifen. Ein herausragendes Beispiel<br />
war das gemeinsame Sozialwort der katholischen und der evangelischen<br />
Kirche, das ein großes öffentliches Echo hatte. Wie die Erfahrung lehrt,<br />
ist die Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung der Kirche um so<br />
wirkungsvoller, je glaubwürdiger die Bereitschaft zum Dialog mit allen<br />
demokratischen Kräften in der Politik ist. Nichts ist schädlicher für die<br />
öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber kirchlichen Erklärungen und die<br />
Bereitschaft zum nachdenklichen Gespräch darüber als der Eindruck parteipolitischer<br />
Einseitigkeit. Und nichts ist wirkungsvoller, als wenn die<br />
Repräsentanten des kirchlichen Amtes und die sich in der Gesellschaft<br />
engagierenden Laien vertrauensvoll, aber in Achtung der jeweiligen eigenen<br />
Verantwortung zusammen wirken.<br />
Ich möchte auch das an einem Beispiel aus Deutschland erläutern, weil ich<br />
die Situation im eigenen Land naturgemäß am Besten kenne. Vor zwei Jah-<br />
118
en hatten wir in Bezug auf die Frage, ob menschliche Embryonen für Forschung<br />
oder Therapie verbraucht werden sollten, in der öffentlichen Meinung<br />
durchaus eine ambivalente Haltung. Im Herbst des Jahres 2000 gelang<br />
es dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken durch ein Symposium,<br />
der warnenden Stimme aus dem organisierten Laienkatholizismus<br />
erste größere Aufmerksamkeit zu verschaffen, was sich dann bald durch<br />
das unterstützende Auftreten katholischer Verbände und Einzelpersönlichkeiten<br />
verstärkte. Im Frühjahr des Jahres 2001 gab es dann je eine Erklärung<br />
der Deutschen Bischofskonferenz und einen Beschluss des Zentralkomitees<br />
der deutschen Katholiken, die große Beachtung in der öffentlichen<br />
Debatte fanden und die Möglichkeit von ethischen Allianzen für den<br />
Embryonenschutz verbreiterten. Bei den Debatten des Deutschen Bundestages<br />
Ende 2001/Anfang <strong>2002</strong> hatte schließlich eine Initiative von Bundestagsabgeordneten<br />
aus unterschiedlichen Parteien, die dem Zentralkomitee<br />
der deutschen Katholiken angehören, erhebliches Gewicht, auch wenn der<br />
Mehrheitsbeschluss des Bundestages ihnen letztlich zwar grundsätzlich,<br />
aber nicht in allen Punkten folgte. Natürlich machen wir uns keine Illusionen<br />
darüber, dass dies nur ein vorläufiger Erfolg war und der bioethische<br />
Streit im europäischen und weltweiten Kontext anhält. Unter den Bedingungen<br />
der Freiheit gibt es eben niemals einen endgültigen Abschluss einer<br />
Debatte. Darin liegt ja die Bedeutung unseres Themas von den christlichen<br />
Werten und der öffentlichen Verantwortung der Kirche.<br />
Unser Thema ist nicht zuletzt eine gemeinsame Aufgabe der europäischen<br />
Katholiken. Auch darin sollte sich Katholizität verwirklichen, dass<br />
wir voneinander lernen, jeweils unsere Stärken zu erhöhen und unsere<br />
Schwächen zu vermindern. Dafür ist <strong>Renovabis</strong> ein guter Ort.<br />
Ergänzende und weiterführende Literatur<br />
Ernst-Wolfgang Böckenförde / Annette Schavan (Hrsg.), Salz der Erde. Christliche<br />
Spiritualität in der Welt von heute, Ostfildern: Schwaben, 1999.<br />
Thomas Brose (Hrsg.), Gewagter Glaube, Berlin: Morus, 1998.<br />
Thomas Brose (Hrsg.), Zeitenwende – Glaubenswende, Leipzig: St. Benno, 1998.<br />
119
Hans Buchheim / Felix Raabe (Hrsg.), Christliche Botschaft und Politik. Texte des<br />
Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Politik, Staat, Verfassung und Recht,<br />
Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1997.<br />
Tomásˇ Halík, „Du wirst das Angesicht der Erde erneuern“. Kirche und Gesellschaft<br />
an der Schwelle zur Freiheit, Leipzig: St. Benno, 1993.<br />
Franz-Xaver Kaufmann, Wie überlebt das Christentum? Freiburg: Herder, 2000.<br />
Hans Joachim Meyer (Hrsg.), Dialog und Solidarität. Christen in der pluralistischen<br />
Gesellschaft. Studientagung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Erfurt<br />
1997, Münster: LIT, 1999.<br />
Hans Joachim Meyer / Annette Schavan (Hrsg.), Gott an den Menschen verpflichtet.<br />
Ansichten zum Katholizismus in Deutschland, München: Don Bosco, 2000.<br />
Peter Neuner, Der Laie und das Gottesvolk, Leipzig: St. Benno, 1989.<br />
Annette Schavan, Der Geist weht, wo er will. Christliches Zeugnis in Kirche und<br />
Welt, Ostfildern: Schwaben, <strong>2002</strong>.<br />
Wolfgang Thierse (Hrsg.), Religion ist keine Privatsache, Düsseldorf: Patmos, 2000.<br />
120
Erzbischof Josip Bozanić, Zagreb<br />
Kroatien – eine Gesellschaft im Umbruch<br />
Einleitende Gedanken<br />
An den Beginn meines Beitrags möchte ich ein Zitat des Papstes stellen:<br />
„Gibt es vielleicht auf der Karte von Europa und der Welt nicht Nationen,<br />
welche eine wunderschöne geschichtliche Souveränität besitzen, die aus<br />
ihrer Kultur hervorgeht, gleichzeitig aber ihrer vollen Souveränität beraubt<br />
sind? Ist das nicht ein wichtiger Punkt für die Zukunft menschlicher<br />
Kultur, wichtig vor allem in unserer Zeit, in der es so wichtig ist, die<br />
Reste des Kolonialismus zu beseitigen?“<br />
Diese Frage stellte Johannes Paul II. in Paris, in der Ansprache an die<br />
Organisation der Vereinten Nationen für die Erziehung, Wissenschaft und<br />
Kultur (UNESCO) am 2. Juni des nun schon längst vergangenen Jahres<br />
1980. Eine solche Betrachtungsweise war in dieser Zeit nicht üblich, besonders<br />
nicht für Politiker und andere öffentlich wirkende Personen. Die<br />
Worte des Papstes kündigten fast prophetisch an, was sich ereignen sollte.<br />
Auf der Karte Europas tauchten die Staaten derjenigen Nationen auf, die,<br />
wie der Papst es sagte, eine geschichtliche Souveränität haben, die aus<br />
ihrer Kultur hervorgeht, aber lange ohne politische Souveränität geblieben<br />
sind. Das ereignete sich in ganz Europa – vom Baltikum bis<br />
zur Adria.<br />
Der Fall der Berliner Mauer ist ein Symbol für das Ende der kommunistischen<br />
Utopie und ein Zeichen für den Abschluss der Aufteilung Europas<br />
in die großen politischen Blöcke. Kroatien, das sich zu dieser Zeit im Föderalstaat<br />
Jugoslawien befand, wurde in den Jahren 1989 und 1990 von<br />
diesen Prozessen erfasst. Für Kroatien war das nicht nur ein Prozess der<br />
Befreiung aus der kommunistischen Diktatur, sondern auch, ebenso wie<br />
121
für einige andere europäische Länder, ein Prozess der Erlangung der vollen<br />
staatlichen Souveränität. Leider ging das in Kroatien nicht ohne einen<br />
Krieg über die Bühne, durch den von 1991 bis 1995 einige Gebiete der<br />
Republik Kroatien entlang der serbischen und bosnisch-herzegowinischen<br />
Grenze betroffen waren.<br />
Heute ist Kroatien, zusammen mit so vielen Ländern Ost(Mittel)Europas,<br />
die unter den kommunistischen Regime standen, ein Reformland, ein<br />
Land im Übergang. Auch Kroatien möchte sich mit den neuen Herausforderungen<br />
für den demokratischen Staat, für die neue Kooperation und<br />
eine neue menschenwürdige und zukunftsfähige Gesellschaft auseinandersetzen.<br />
In meinem Vortrag werde ich einige Herausforderungen für<br />
die katholische Kirche in Kroatien darstellen. Das tue ich in den drei<br />
Schritten: l. Kroatien und Europa, 2. Kirche und Staat, 3. Kirche in einer<br />
pluralistischen Gesellschaft.<br />
Kroatien und Europa<br />
Kroatien ist ein mediterranes und mitteleuropäisches Land. Wir mögen<br />
nicht, wenn man zu uns „westlicher Balkan“ sagt. Der Religion nach ist<br />
Kroatien ein Land mit einer katholischen Mehrheit. 88 % der Bevölkerung<br />
bezeichnete sich in der Volkszählung des Jahres 2001 als zur katholischen<br />
Kirche gehörig. In der Religions- und Konfessionslandschaft Europas befindet<br />
sich Kroatien im Grenzgebiet zur Orthodoxie und zum Islam. In<br />
Kroatien ist der Wunsch nach Integration in Europa sehr groß. Eigentlich<br />
gibt es dazu auch keine Alternative. Die Mehrheit der Bevölkerung, besonders<br />
die Jugendlichen, ist gegenüber den Prozessen der europäischen<br />
Integration sehr offen, nur ein kleiner Teil der Bürger ist skeptisch. Die<br />
Integration in die Europäische Union ist ein politisches Ziel aller bisherigen<br />
kroatischen Regierungen. Jedoch bringt die Aufnahme in den europäischen<br />
Integrationsprozess neue Probleme mit sich, bietet aber auch neue<br />
Möglichkeiten zur Entwicklung des Gemeinwesens.<br />
Durch demokratische Veränderungen, aufgrund des plebiszitären Willens<br />
der Bürger von Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Make-<br />
122
donien, aber leider auch durch den aufgezwungenen Krieg mit zahlreichen<br />
Opfern zerfiel der jugoslawische Staat. Dieses Staatsgebilde, das<br />
1918 entstanden war und bis 1991 Bestand hatte, erwies sich als ein politischer<br />
Misserfolg, das letzten Endes durch viele tragische Ereignisse des<br />
Zweiten Weltkriegs und des Krieges am Beginn der neunziger Jahre des<br />
vorigen Jahrhunderts scheiterte. Ebenso groß war der Anteil der Diktaturen<br />
vor und nach dem Zweiten Weltkrieg am Untergang dieses Staates.<br />
Deshalb möchte ich die große Empfindlichkeit und Ablehnung der kroatischen<br />
Bürger betonen, wenn es um die Projekte geht, welche die Integration<br />
und das Zusammenfügen auf der Linie des misslungenen jugoslawischen<br />
Staates vorschlagen und vorschreiben, wie auch immer eine solche<br />
Initiative genannt wird. Eine gewisse Sensibilität gegenüber den<br />
Bürgern und ihrem Gedächtnis ist notwendig. Es ist vernünftig und verantwortlich,<br />
die gemeinsame Zukunft der Kooperation auf zuverlässigere<br />
Fundamente zu stellen. Es ist nötig, Brücken zu allen Nachbarn zu bauen,<br />
aber man darf nicht nur auf ein Schema konzentriert bleiben, sondern es<br />
ist entscheidend, nach neuen Rahmen der Gemeinsamkeiten und der Verbindungen<br />
zu suchen. In diesem Sinn hat die katholische Kirche in Kroatien<br />
die Initiative zu einem Mitteleuropäischen Katholikentag, den wir<br />
für die Jahre 2003 und 2004 vorbereiten, begrüßt und unterstützt.<br />
Kirche und Staat<br />
Unter der kommunistischen Herrschaft waren die Machthaber stark gegen<br />
die Kirche eingestellt, und so wurde die Verbindung der Kirche mit<br />
dem Volk die Hauptquelle für die Kraft der Kirche als Institution. Die<br />
Kirche hat, soziologisch betrachtet, gewusst, wer ihr Feind ist; das weckte<br />
die Kraft und die Sympathie vieler, auch solcher, die nicht gerade gläubig<br />
waren. Zum Teil ist es auch heute noch so. Der Katholizismus ist in Kroatien<br />
in geschichtlicher und kultureller Hinsicht eine wichtige Komponente.<br />
Diesem Umstand soll eine reale und konkrete Politik Rechnung<br />
tragen, wobei die Konkretisierung der Lösungen in einem wahrhaft demokratischen<br />
Prozess erfolgen muss, die den Willen der Bürger respektiert.<br />
123
Mit den demokratischen Veränderungen in Kroatien entstanden die ordnungsgemäßen<br />
Verhältnisse für die rechtliche Regulierung der Beziehungen<br />
zwischen Kirche und Staat. Vorbild dafür waren die Regelungen in<br />
den Ländern, die dem gleichen Kulturkreis angehören und in religiöser,<br />
kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht Kroatien ähnlich sind. So wurden<br />
von 1996 bis 1998 vier Verträge zwischen der Republik Kroatien und<br />
dem Heiligen Stuhl geschlossen: über rechtliche Fragen, über Kooperation<br />
auf dem Gebiet der Erziehung und der Kultur, über Seelsorge der<br />
katholischen Gläubigen im Heer und in der Polizei der Republik Kroatien<br />
sowie über wirtschaftliche Fragen. Diese Verträge beinhalten im Großen<br />
und Ganzen alle Fragen, die regelmäßig Objekt eines Konkordates sind.<br />
Daher kann man sagen, dass mit diesen Verträgen ein solider rechtlicher<br />
Rahmen für das Wirken der katholischen Kirche in Kroatien geschaffen<br />
worden ist. Diese Verträge gaben dem kroatischen Recht einen neuen<br />
Beitrag und eröffneten einen neuen Bereich der Zusammenarbeit zwischen<br />
dem kanonischen und dem bürgerlichen Recht.<br />
Die kroatischen Verträge entstanden in der postkommunistischen Zeit, im<br />
Geist der Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils und stellen unter<br />
diesen Umständen und dem Inhalt nach ein gewisses Modell für die zeitgemäße<br />
Methode der Regelung der Beziehungen zwischen der Kirche<br />
und dem Staat dar, besonders für die Länder, die aus einem kommunistischen<br />
Regime hervorgegangen sind. Sie wurden aufgrund der international<br />
anerkannten Prinzipien über die Religionsfreiheit als das unveräußerliche<br />
Recht jeder menschlichen Person abgeschlossen und beinhalten<br />
auch das Recht auf die öffentliche Manifestation des Glaubens. Einerseits<br />
wird der Grundsatz der Trennung zwischen Kirche und Staat beachtet,<br />
der besagt, dass sie in je ihrem Bereich unabhängig und selbstständig<br />
sind; andererseits wird eine gesunde Kooperation zwischen Kirche und<br />
Staat gefördert. Eine solche Kooperation ist wünschenswert, weil Kirche<br />
und Staat – auf ihre je eigene Art und Weise – im Dienst desselben Menschen<br />
stehen.<br />
Diese allgemein akzeptierten Prinzipien gelten nicht nur für die katholische<br />
Kirche, sondern auch für die anderen Kirchen und Glaubensgemeinschaften<br />
in Kroatien. Mit den Verträgen hat die katholische Kirche in<br />
124
Kroatien ihnen den Weg eröffnet, sodass sie in ähnlicher Weise ihre Beziehungen<br />
mit dem Staat regeln, den Grundsatz über die Religionsfreiheit<br />
respektierend und der Struktur der eigenen Gemeinschaft entsprechend.<br />
Die Verträge erfordern aber eine weitere Durchführung auf der unteren<br />
Ebene. Bis jetzt sind vier Durchführungsverträge zwischen der Kroatischen<br />
Bischofskonferenz und der kroatischen Regierung abgeschlossen<br />
worden (Geschäftsordnung über die Struktur und das Wirken des Militärordinariats<br />
in der Republik Kroatien, Vertrag über den katholischen<br />
Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen und über die Glaubenserziehung<br />
in den öffentlichen vorschulischen Einrichtungen, Übereinkommen<br />
über die Durchführungsweise der festgelegten finanziellen Verpflichtungen<br />
der Republik Kroatien gegenüber der katholischen Kirche<br />
und Übereinkommen zwischen dem Kroatischen Rundfunk und Fernsehen<br />
und der Kroatischen Bischofskonferenz). Zwei weitere Dokumente<br />
(über die Gefängnisseelsorge und über die Eintragung der Rechtspersonen<br />
der katholischen Kirche ins Staatsregister) sind bereits vereinbart<br />
und zur Unterzeichnung vorbereitet.<br />
Durch die Verträge ist der Rechtsrahmen für das Wirken der katholischen<br />
Kirche in Kroatien gegeben. Mehrere Punkte der Verträge sind noch nicht<br />
gänzlich umgesetzt. Dafür wird es noch Zeit und viel guten Willen brauchen.<br />
Zahlreiche Fragen, die das Eigentum betreffen, sind ungelöst geblieben,<br />
besonders die Rückgabe des Besitzes, der unter dem kommunistischen<br />
Regime enteignet worden ist. Dennoch gibt das, was bis jetzt getan<br />
wurde, auf vielen Gebieten die rechtliche Sicherheit für das Wirken<br />
der katholischen Kirche. Zugleich hilft das indirekt dem Staat in seiner<br />
Entwicklung zum Rechtsstaat.<br />
Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft<br />
Kroatien ist ein Reformland auf dem Weg der Demokratisierung. Die<br />
Kirche, die in dieser pluralistischen Gesellschaft dem Evangelium nach<br />
Sauerteig sein möchte, nimmt Rücksicht auf diese gesamte Situation und<br />
versucht das zu unternehmen, was sie ihrer Natur nach in den eigenen<br />
125
Reihen ad intra und ad extra machen kann. Religionssoziologische Untersuchungen<br />
gibt es von Seiten der Kirche erst seit kürzerer Zeit. Bis jetzt<br />
sind einige Untersuchungen durchgeführt worden. Auf diesem Gebiet ist<br />
das von der Kroatischen Bischofskonferenz im Jahr 1997 gegründete<br />
Zentrum für die Förderung der Soziallehre der Kirche besonders aktiv.<br />
Die Kirche möchte im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils weder<br />
Privilegien haben, noch verlangt sie, dass die staatliche Politik die eine<br />
oder andere Weltanschauung vertritt, obwohl sie Wert darauf legt, dass<br />
die fundamentalen Werte ihrer Soziallehre auf profane und demokratische<br />
Weise in der Gesellschaft Fuß fassen und Wurzeln schlagen.<br />
In ihrem Wirken ist die Kirche durch die Liebe Christi motiviert, die sie<br />
in der Caritas entfalten möchte. Dank der Hilfe anderer Ortskirchen, besonders<br />
der deutschen Bistümer, wurde in Kroatien in den schwierigen<br />
Kriegsjahren 1991–1995 die Diözesancaritas relativ gut organisiert; sie<br />
wirkt auch in der Nachkriegszeit in den verschiedenen Bereichen der Kirche<br />
und der Gesellschaft. Die kroatische Caritas arbeitete in der letzten<br />
Zeit zusammen mit der Caritas auf internationaler Ebene in mehreren<br />
europa- und weltweiten Hilfsaktionen.<br />
Um die Löhne der Priester und der anderen kirchlichen Bediensteten anzugleichen<br />
und die Solidarität zwischen den Priestern mehr zu fördern,<br />
wurde im Jahr 2001 auf dem Gebiet der Kroatischen Bischofskonferenz<br />
ein neues einheitliches Finanzsystem geschaffen. Dabei wirken auch die<br />
Laien in den Pfarrgemeinden und als Mitglieder der Pfarrwirtschaftsräte<br />
aktiv mit.<br />
Die theologische Bildung der Laien und ihre Eingliederung in den Dienst<br />
der Kirche ist eine besondere Aufgabe der Kirche in Kroatien. Auf allen<br />
kroatischen kirchlichen Hochschulen studiert eine große Anzahl von<br />
Laien. Bis jetzt übernimmt die Mehrheit von ihnen nach dem Abschluss<br />
des theologischen oder religionspädagogischen Studiums eine Stelle als<br />
Religionslehrer oder Religionslehrerin in den Grund- oder Mittelschulen.<br />
In den Diözesen bemüht man sich im Hinblick auf die Ausbildung der<br />
Laien auch um spezielle Seminare für die Mitglieder der Pfarrgemeinde-<br />
126
äte, der Pfarrwirtschaftsräte und der Pfarrcaritas. Für die Erneuerung des<br />
kirchlichen Lebens in den Ortskirchen werden in manchen Bistümern<br />
Diözesansynoden abgehalten bzw. geplant.<br />
Abschließend möchte ich noch einige Aufgaben aufzählen, die in gewissem<br />
Sinn eine vorrangige Bedeutung für das Wirken der Kirche in der<br />
Gesellschaft Kroatiens haben. Unsere Gesellschaft befindet sich in einem<br />
Umbruch, der auch zu einer Verschärfung der sozialen Lage geführt hat.<br />
Daher sind besonders wichtig:<br />
• Förderung des Unternehmergeistes und zugleich Entfaltung der christlichen<br />
Sensibilität für die soziale Sicherheit der Arbeiter und für die<br />
Solidarität mit den Schwächeren und Ärmeren;<br />
• Förderung der politischen Kultur: des Dienens, der Kooperation, der<br />
Verantwortung und der demokratischen Verhaltensweisen;<br />
• Förderung des Dialogs im Hinblick auf die tiefere Erkenntnis der<br />
Wirklichkeit und auf die Erziehung zur Toleranz als Frucht des Verständnisses<br />
der anderen;<br />
• Förderung der Ökumene und des interreligiösen Dialogs;<br />
• Förderung des Friedens und der Friedfertigkeit als einer fundamentalen<br />
christlichen Haltung, besonders durch die Erziehung zum Frieden.<br />
Das Thema der Vergebung und der Versöhnung hat in Kroatien eine besondere<br />
Bedeutung. In einer säkularen Gesellschaft können diese Argumente<br />
sehr leicht instrumentalisiert werden. Wir Christen sind berufen,<br />
Zeugen der transzendentalen Dimension der Vergebung zu werden, die<br />
Frieden schafft. Es ist schwierig, über die Vergebung zu reden, ohne über<br />
Gott zu sprechen.<br />
Schlussbemerkung<br />
Wir befinden uns heute auf einem Internationalen <strong>Kongress</strong>, der von der<br />
verdienstvollen Einrichtung der deutschen Katholiken <strong>Renovabis</strong> organisiert<br />
wurde. Unser Thema ist die europäische Gesellschaft: Europa als<br />
eine Wertegemeinschaft und die christlichen Fundamente der europä-<br />
127
ischen Gesellschaft. Das tun wir dreizehn Jahre nach dem Fall der Berliner<br />
Mauer, der den europäischen Integrationsprozess auf dem ganzen<br />
Kontinent ermöglichte.<br />
Ich spreche aus der Position eines Landes, das sich im Übergang befindet.<br />
Ohne Zweifel stehen solche Länder viel schwächer da im Vergleich mit<br />
den europäischen Ländern, die bereits in der Europäischen Union sind,<br />
umso mehr, weil viele Reformländer recht kleine Länder sind, die vor<br />
noch nicht allzu langer Zeit von einem kommunistischen Regime beherrscht<br />
wurden. Daher stellt sich die Frage: Auf welche Weise können<br />
die Christen Europas den europäischen Integrationsprozess beschleunigen?<br />
Die Berliner Mauer ist gefallen. Das Europa des 21. Jahrhunderts<br />
darf es sich nicht erlauben, dass auf seinem Kontinent eine neue Mauer<br />
errichtet und neue Blöcke geschaffen werden.<br />
128<br />
Prof. Dr. Vladimir Fedorov
Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg<br />
Christen in Russland an der Schwelle<br />
des 21. Jahrhunderts<br />
Heute ist ein besonderer Tag, der Gedenktag des Metropoliten Nikodim.<br />
Während der Audienz bei Papst Johannes Paul I. ist er am 5. September<br />
1978 in Rom gestorben. Er war fünfzehn Jahre Metropolit in Leningrad<br />
und Nowgorod, 1963 bis 1978, und gerade diese Zeit bildete eine Blütezeit<br />
für die Ökumene, für die Beziehungen zwischen der römisch-katholischen<br />
und der russischen orthodoxen Kirche. Wenn ich heute hier zu<br />
Ihnen spreche, dann habe ich ein ganz eigenartiges, fast schon mystisches<br />
Gefühl. Obwohl ich nicht von meiner Kirche zum <strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong><br />
delegiert worden bin – ich wurde persönlich eingeladen –, fühle ich mich<br />
vom Metropoliten Nikodim delegiert. Er war mein Metropolit, er hat<br />
mich vor 25 Jahren zum Studium als Stipendiat der Deutschen Bischofskonferenz<br />
nach Deutschland geschickt. Ich studierte damals am Ostkirchlichen<br />
Institut in Regensburg.<br />
Gerade in der aktuellen Situation bedeutet Metropolit Nikodim für uns<br />
sehr viel. Heute muss ich ehrlich sagen, dass er uns (nicht nur in Russland!)<br />
sehr fehlt. Alle seine Mitbrüder in der Hierarchie sind heute noch<br />
im Dienst. Wenn ich heute über die Christen in Russland spreche, dann<br />
müssen Menschen wie Metropolit Nikodim genannt werden – dank ihnen<br />
haben wir Religionsfreiheit und Perestroika. All das war schon damals<br />
vorbereitet, auch in der Kirche.<br />
Heute brauchen wir Leute wie Metropolit Nikodim, weil er meiner Meinung<br />
nach sehr stark missionarisch orientiert war und ihm langfristige<br />
Strategien sehr wichtig waren. Darum hatte für ihn die theologische Ausbildung<br />
Priorität. In erster Linie ging es ihm um die theologische Ausbildung,<br />
dann aber auch um persönliche Kontakte mit den Kadern, mit<br />
129
damaligen und künftigen Professoren. Eine persönliche Eigenschaft war<br />
sehr charakteristisch für ihn – er vertraute allen, die zu ihm kamen. Und<br />
von jedem erwartete er die gleiche Hingabe zur Kirche. Deshalb haben<br />
sich auch viele junge Priester und Bischöfe von ihm ordinieren lassen.<br />
Heute sehen wir, dass seine Strategie sehr klug war. Die gegenwärtigen<br />
Spannungen zwischen Unierten und Orthodoxen in der Ukraine könnte<br />
man mit seiner Strategie überwinden. In St. Petersburg, im Orthodoxen<br />
Institut für Missiologie und Ökumene, möchten wir deshalb ein<br />
Gedenkjahr für ihn proklamieren, und zwar ab dem 5. September 2003<br />
bis zum 15. Oktober 2004. Am 15. Oktober 2004 würde er 75 Jahre alt.<br />
Leider gibt es aber in patriotisch-fundamentalistischen Kreisen in Russland<br />
starke Widerstände gegen die Verehrung von Metropolit Nikodim.<br />
Diese Leute sind ganz und gar gegen die ökumenischen Beziehungen<br />
eingestellt, besonders gegen die orthodox-katholischen Einheitsbemühungen.<br />
Dennoch ist das Thema „Die Rolle des Metropoliten Nikodim<br />
und die Ökumenische Bewegung für Wiedergeburt der Kirche in Russland“<br />
ganz aktuell. Jetzt ist die Zeit gekommen, dies genauer zu analysieren.<br />
Vieles verstehen wir heute nicht, weil wir die damalige Situation in<br />
der Breshnew-Ära nicht genug analysieren oder falsch analysieren.<br />
Oft wird Fedor Tjutchev, ein russischer Dichter des 19. Jahrhunderts, zitiert:<br />
„Es ist unmöglich, Russland mit dem Kopf zu verstehen, an Russland<br />
kann man nur glauben“. Das ist wohl richtig, aber über die Russen<br />
kann sicher etwas sagen. Was ist eigentlich Russland, gehört es überhaupt<br />
zu Europa? Was in den Lehrbüchern der Geographie steht, ist oft etwas<br />
ganz anderes als das, was in den Köpfen der Leute steckt. Vor 25 Jahren<br />
habe ich mit einer alten Frau in Paris gesprochen; ich war damals als<br />
deutscher Stipendiat für einige Tage nach Frankreich geschickt worden,<br />
und sie hat mich gefragt: „Woher sind Sie?“ Ich habe geantwortet: „Ich<br />
komme aus Deutschland.“ Da hat sie weiter gefragt: „Aus welchem<br />
Deutschland, aus dem asiatischen Deutschland oder aus dem europäischen<br />
Deutschland?“ Diese Bilder sind bis heute ganz lebendig in mir.<br />
Ich komme aus St. Petersburg, das liegt sicher in Osteuropa. Wir stammen<br />
aus dem Osten, sind von östlicher Mentalität. Aber genauso bin ich<br />
130
westlich, denn ich stamme in gewisser Weise vom äußersten Westen Asiens.<br />
Das ist eine sehr schwierige Sache, die im Einzelnen noch gar nicht<br />
genau analysiert ist und vielleicht auch gar nicht analysiert werden kann.<br />
Im Folgenden möchte ich aber wenigstens einige Punkte zur Klärung anführen.<br />
Noch vor der Taufe Russlands (988) waren wir in Russland ein<br />
Teil Europas, nach der Taufe wurden wir noch europäischer. Die heutige<br />
europäische Integration hat eine lange Geschichte, wobei zu beachten ist,<br />
dass die Kategorien „West“ und „Ost“ oft nicht kulturell, sondern politisch<br />
zu verstehen sind.<br />
Wir leben jetzt im 21. Jahrhundert, sind aber aus dem 20. Jahrhundert in<br />
dieses Jahrhundert mit besonderen Erfahrungen gekommen. Die Religion<br />
hat den totalitaristischen Atheismus überlebt – das war jedoch nur möglich<br />
durch die Solidarität des Westens mit uns und durch den weltweiten<br />
Prozess der Liberalisierung. Wir sind glücklich sagen zu können „Wir<br />
sind wieder frei“. Nur vergessen viele Menschen in Russland und in der<br />
Orthodoxie, dass das nicht einfach ein Wunder war, sondern Teil eines<br />
welthistorischen Vorgangs, eine Frucht des 20. Jahrhunderts, eine Frucht<br />
der Globalisierung. Auch der technologische Fortschritt spielte, so seltsam<br />
das hier klingen mag, eine wichtige Rolle.<br />
Dieses Wunder kam durch Gottes Plan, viele Leute haben dafür gearbeitet<br />
– und dann gibt es gerade in Russland viele, die dem Globalisierungsprozess<br />
kritisch gegenüber stehen und nur über dessen negative Momente<br />
reden. Viele Russen können nicht erfassen, dass es eine Epoche ähnlich<br />
wie andere in der Weltgeschichte ist. Heute brauchen wir Christen in<br />
Russland gute theologische und religiöse Analysen der Geschichte, wir<br />
brauchen christliche Visionen von Begriffen wie Humanismus, Aufklärung<br />
usw. „Christlicher Humanismus“ ist beispielsweise ein ganz normaler<br />
Begriff in der römisch-katholischen Kirche, in der orthodoxen Kirche<br />
kann man diesen Begriff so noch nicht verwenden. „Christliche Aufklärung“<br />
klingt im Westen besonders gut, hat aber auf Russisch einen sehr<br />
negativen Beigeschmack. Aber christliche Aufklärung brauchen wir gerade<br />
heute unbedingt!<br />
Die geschichtliche Analyse hilft uns zu verstehen, warum wir heute eine<br />
solch problematische Situation in der Ökumene haben. Wir sind oft kri-<br />
131
tisch zu den kirchendiplomatischen Beziehungen; wir denken, es sei einfach<br />
nur ein diplomatischer Fehler, wenn da etwas nicht so gut läuft –<br />
aber kirchendiplomatische Beziehungen sind ein Teil der Realität, und<br />
wir bemerken nicht, wie viele Leute überhaupt nichts von anderen Kirchen<br />
verstehen. Das kann schon entmutigen, aber als Christen sind wir<br />
geborene Optimisten.<br />
Wie lassen sich diese Probleme beheben? Ganz entscheidend ist nach der<br />
Analyse der Probleme die Heranbildung von qualifiziertem theologischem<br />
Nachwuchs. Es gibt zwar in Russland theologische Fakultäten und<br />
Institute, aber davon kommt immer noch zu wenig in die Praxis. Wir<br />
müssen unsere Geistlichen so ausbilden, dass sie ihre theologischen<br />
Kenntnisse mit den für unsere Gesellschaft entscheidenden missiologischen<br />
und missionarischen Aktivitäten zusammenbringen. Gestern bin<br />
ich gefragt worden, wieso es möglich ist, dass orthodoxe Geistliche in<br />
Russland überhaupt nicht mit katholischen Priestern zusammenarbeiten<br />
möchten. Ich kenne diese Situation. Wir brauchen Geduld und Verständnis,<br />
dann wird sich das nach und nach ändern, und wir brauchen nicht so<br />
sehr über kirchendiplomatische Schritte nachzudenken, sondern sollten<br />
mehr und mehr gemeinsam auf praktische Fragen antworten.<br />
Es ist ganz interessant, dass sich die Situation am Anfang des 21. Jahrhunderts<br />
in Russland so ähnlich darstellt wie am Anfang des 20. Jahrhunderts.<br />
Viele Leute sprechen in Russland von der Zeit vor 1917 als dem<br />
„heiligen Russland“. Die meisten haben aber keine Vorstellung von den<br />
wirklichen Zuständen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in Russland<br />
zwar eine religiöse Wiedergeburt – trotzdem waren 95 % der Intelligenz<br />
nicht gläubig, wie eine erste und sehr schlichte soziologische Untersuchung<br />
1911 ergeben hat, die wohl einigermaßen zuverlässig ist. 1 Wie<br />
lässt sich dieser Widerspruch erklären?<br />
Der Anfang des 21. Jahrhundert ist noch eine Fortsetzung des ausgehenden<br />
20. Jahrhunderts. Die derzeitige religiöse Wiedergeburt in Russland<br />
1 A. Vvedenskij, Prichinyi neverija russkoj intelligentzii (Die Ursachen des Unglaubens der russischen<br />
Intelligenz), in: Strannik, StP, 1911, S. 672.<br />
132
hat eine Vorgeschichte. Am Anfang des 20. Jahrhunderts existierte eine<br />
interessante Bewegung der Intelligenz hin zur Kirche. Man kann über<br />
eine Parallele sprechen, und wir sollten auch eine Lehre aus dieser<br />
Geschichte ziehen. Was aber die Intelligenz am Vorabend der Revolution<br />
betrifft, so wurden bereits zur damaligen Zeit von den Vertretern dieser<br />
Intelligenz viele aufrichtige Reuebekenntnisse, bittere und vorwurfsvolle,<br />
gleichzeitig aber auch warme Worte ausgesprochen, die von Hoffnung<br />
auf eine religiöse Wiedergeburt erfüllt waren. Hinweisen möchte<br />
ich nur auf den Sammelband „Die Wegzeichen“ (Vechi). Als Beispiel<br />
seien noch einige wenig bekannte Aussagen des bedeutenden russischen<br />
Wissenschaftlers und Denkers V. I. Vernadskij angeführt: „Die russische<br />
Intelligenz ist unter den Trümmern der Revolution untergegangen, und es<br />
ist auch gut so, denn auf ihr, auf der alten russischen Intelligenz, liegt die<br />
Schuld für vieles, was geschehen ist und was jetzt geschieht ... Mehr noch<br />
– die russische Intelligenz war nicht einmal atheistisch, sie war antireligiös.<br />
Sie hat zu leben versucht, ohne religiöse Fragen wahrzunehmen, sie<br />
verschwieg sie. So war es. Aber so wird es in der Zukunft nicht mehr sein<br />
... Es entsteht eine neue Intelligenz für ein neues Russland. Die Umrisse<br />
dieser neuen Intelligenz zeichnen sich ab. Das sich bildende Interesse für<br />
soziale Fragen und Versuche, die reale Orthodoxie wiederzubeleben, sind<br />
Tatsachen von großer Wichtigkeit. Ganz zu Unrecht fürchten sich viele<br />
davor und betrachten dies als Symptome für Reaktion und Stagnation.<br />
Nein. Die Geschichte lehrt uns, dass der menschliche Geist auf dem Gebiet<br />
der wissenschaftlichen Erkenntnis nur dann etwas Neues erfassen<br />
kann und nicht auf der Stelle tritt, wenn die wissenschaftliche Kreativität<br />
mit einer breiten religiösen Kreativität Hand in Hand geht. Die moderne<br />
religiöse Bewegung in Russland ist ein Unterpfand für das zukünftige<br />
Aufblühen der russischen Wissenschaft.“ 2<br />
Das sind lange, aber wichtige Zitate. Vernadskij zeigt Optimismus nicht<br />
nur in Bezug auf die Rolle der Intelligenz in der Zukunft, sondern überhaupt<br />
in Bezug auf Wissenschaft und Zivilisation. An einer anderen<br />
Stelle behauptet er, dass „die Wissenschaft eine große Kraft ist. Sie führt<br />
2 Russkaja intelligencija i novaja Rossija. Doklad na sezde Tavriceskoj naucnoj asso-ciacii, in:<br />
Tavriceskij golos (Simferopol'), 09.11.1920. Zit. nach: V.Vernadskij; Dovol'no krovi i stradani,<br />
in: Vek XX i mir 1/1990, S. 28.<br />
133
zur Verbundenheit der ganzen Menschheit. Sie ist aber ihrem Wesen<br />
nach nicht imstande, den Menschen eine vollständige Vorstellung über<br />
das Leben zu liefern. Sie kann weder Religion noch Kunst ersetzen. Die<br />
westliche Zivilisation mit ihrer materiellen Kultur ist keine Abweichung<br />
von der idealen Ordnung. Die materielle Zivilisation der Menschheit ist<br />
ein kosmischer Prozess in der Geschichte der Erde. Sie ist die gleiche<br />
Erscheinung des Lebenden wie auch das Lebende selbst auf unserem<br />
Planeten.“ 3<br />
Wie mir scheint, haben die Worte von Vernadskij bis heute nichts von ihrer<br />
Aktualität eingebüßt. Wir verbinden die Hoffnung auf das Aufblühen<br />
der Kultur wieder mit einer immer stärkeren Verkirchlichung der Intelligenz.<br />
Schon in 1970er Jahren zeichnete sich in den großen Städten ein<br />
reges Interesse für die Religion besonders unter der Intelligenz ab. Auch<br />
unter der Jugend war das religiöse Suchen hauptsächlich im intellektuellen<br />
Milieu verbreitet. Das verpflichtete die Priester, die sich früher hauptsächlich<br />
auf alte Frauen und den ungebildeten Teil der Bevölkerung konzentrierten,<br />
zur Umorientierung. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es in<br />
Russland ein breites Interesse an Spiritualität und an der Suche nach<br />
Wahrheit, das aber nicht kirchlich gebunden war. Bis dahin stammten die<br />
Seminaristen fast nur aus Priesterfamilien. Das änderte sich in den Jahrzehnten<br />
kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Eine kleine Welle von jungen<br />
Menschen, die nicht aus „kirchlichen“ Familien stammten, ging nun in<br />
die Seminare. Die daraus strömende Erneuerungsenergie für Kirche und<br />
Gesellschaft war aber nicht stark genug, um den folgenden Umwälzungen<br />
zu widerstehen.<br />
Die geistige Einordnung unserer heutigen Intelligenz ist nicht einfach,<br />
weil es ein reiches Spektrum der Haltungen gibt. Der größte Teil ist und<br />
bleibt agnostisch, es gibt aber auch viele Gläubige, und selbst engagierter,<br />
oft leider auch fundamentalistischer Glaube kommt vor. Selbst absurde<br />
Thesen und Weltverschwörungstheorien wie die „Protokolle der<br />
Weisen von Zion“ werden von manchen Menschen bis heute für bare<br />
3 Pis'ma k russkoj i ukrainskoj molodezi. Nabroski, ijun 1924 goda. – Archiv AN SSSR, f. 518, op.<br />
l, d. 220. Zit. nach V. Vernadskij (wie Anm. 2), S. 30.<br />
134
Münze gehalten. Diese Mentalität ist leider bei vielen Leuten verbreitet,<br />
die heute an der Spitze der Wissenschaft stehen.<br />
Viele sind schon vor zwanzig oder mehr Jahren zur Kirche gekommen<br />
sind, sie setzen sich stark für die christliche Kultur ein. Statistisch lässt sich<br />
das alles kaum erfassen. Heute werden in Russland viele religiös-soziologische<br />
Untersuchungen durchgeführt, meist aber von Leuten, die mit der<br />
Kirche praktisch nicht zusammenarbeiten. Entsprechend unterschiedlich<br />
sind die Ergebnisse. Meistens heißt es, dass zwischen 60 % und 70 % der<br />
Bevölkerung gläubig seien, einige Untersuchungen kommen aber nur auf<br />
40 %. Wenn man dann die Untersuchungen näher ansieht, werden die Ergebnisse<br />
noch unklarer. Bei Fragen wie „Sind Sie orthodox?“ sagen 70 %<br />
„Ja“, bei „Glauben Sie an Gott?“ sind es dann nur noch 50 %, bei der Frage<br />
nach monatlichem Kirchenbesuch nur noch 10 %. Was kann die orthodoxe<br />
Kirche in dieser Situation machen? Es gibt keinen Grund für übertriebene<br />
Hoffnung, aber verglichen mit den zurückliegenden Jahrzehnten können<br />
wir doch vertrauensvoll in die Zukunft schauen. Das gilt gerade auch für<br />
den Bereich der christlichen Werte – wenn die Menschen wirklich gläubig<br />
sind, dann werden sie auch ein gutes Verhältnis zu diesen Werten haben.<br />
Ein besonderes Thema ist das Verhältnis zwischen Kirche und Staat.<br />
Dazu möchte ich nur ganz kurz auf das hinweisen, was Präsident Putin<br />
vor wenigen Tagen, am 30. August <strong>2002</strong>, auf dem Dritten Weltkongress<br />
der Tataren gesagt hat: „Nur Religion kann wirklich allgemein menschliche<br />
Werte in unsere Gemeinschaft bringen.“ Die Kommunistische Partei<br />
mit ihren Erziehungsidealen habe versagt, nur die Religion könne allgemein<br />
menschliche Werte vermitteln. Es gab aber sofort Proteste in der<br />
Staatsduma; einige Abgeordnete der Liberalen Partei sagten, der Präsident<br />
dürfe sich zu diesen Fragen nicht äußern. In diesem Zusammenhang<br />
möchte ich auf eine ganz interessante Situation hinweisen. Unsere Hierarchen<br />
sagen, es solle keine Staatskirche mehr geben. Wenn aber in einer<br />
Region ein großes öffentliches Ereignis ansteht, dann wird von den Bürgermeistern<br />
zusammen mit dem Polizeichef und anderen Personen der<br />
Nomenklatur der Bischof eingeladen, weil das als große Ehre gilt. Das ist<br />
schon fast normal, aber viele Leute meinen: „Oh, jetzt sind sie wieder alle<br />
beisammen.“<br />
135
Ein Thema möchte ich unbedingt noch kurz ansprechen, und zwar den<br />
Fundamentalismus. Man könnte dem Phänomen auch andere Namen geben;<br />
entscheidend ist, dass es in jeder Kirche, in jedem Land, in jeder<br />
Kultur existiert. Meiner Erfahrung nach bestehen dabei normalerweise<br />
zwischen den verschiedenen Kirchen keine Probleme. Vielmehr handelt<br />
es sich um innerkirchliche Meinungsverschiedenheiten. So bin ich für<br />
viele meiner Mitbrüder nicht orthodox genug, weil ich ihrer Meinung<br />
nach zu enge Kontakte zu Katholiken und Lutheranern pflege. Diese<br />
patriotisch-bolschewistische Haltung liegt sehr nah an einer fundamentalistischen<br />
Einstellung, etwa im Sinne von „Feinde sind überall“. Die<br />
Hauptaufgabe für Leute mit diesem Komplex besteht nicht in positiver<br />
und konstruktiver Arbeit, sondern darin, Feinde zu suchen und zu vernichten.<br />
Mit dem bolschewistischen Komplex ist das Phänomen des Fundamentalismus<br />
ganz stark verbunden. In der sowjetischen Zeit wurden<br />
die „Imperialisten“ als Feinde definiert – jetzt sucht man die Feinde bei<br />
den Nicht-Orthodoxen. Toleranz geht den Fundamentalisten gänzlich ab.<br />
Das Hauptmotiv für eine Rückkehr zur orthodoxen Kirche in Russland ist<br />
für viele Menschen immer noch die Ideologie und nicht der Glaube! Besonders<br />
gut erkennbar ist diese Haltung in der Armee. Das alles verstehe<br />
ich unter dem Phänomen des Fundamentalismus, das wesentliche Grundlagen<br />
des Christentums zerstört, indem es von eigentlichen Aufgaben der<br />
Kirche in der Welt, etwa im sozialen Bereich, ablenkt. Hier sehe ich noch<br />
sehr viel Arbeit für uns.<br />
In den vergangenen Jahren hat die russische orthodoxe Kirche viel gegen<br />
den Fundamentalismus hin in die Richtung „Stellungnahme zu sozialen<br />
Problemen“ unternommen. Im Jahre 2000 wurde eine Soziallehre formuliert,<br />
worin z.B. auf Gewissensfreiheit und Menschenrechte eingegangen<br />
wird. Ich möchte daraus zitieren: „Das Prinzip der Gewissensfreiheit,<br />
welches als juristischer Terminus im 18.–19. Jahrhundert formuliert<br />
wurde, wird erst im Anschluss an den Ersten Weltkrieg zu einem grundlegenden<br />
konstituierenden Bestandteil der zwischenmenschlichen Beziehungen.<br />
Mittlerweile hat es Eingang in die Allgemeine Deklaration der<br />
Menschenrechte sowie die Verfassungen der Mehrheit der Staaten gefunden.<br />
Die Entwicklung des Prinzips der Gewissensfreiheit ist ein Beleg<br />
dafür, dass heutzutage die Religion von einer ‚öffentlichen‘ zu einer ‚pri-<br />
136
vaten‘ Angelegenheit des Menschen geworden ist. An sich ist diese Entwicklung<br />
ein Beweis für den Zerfall des geistigen Wertesystems, dafür<br />
dass der überwiegende Teil der Gesellschaft, der sich zum Prinzip der<br />
Gewissensfreiheit bekennt, des Strebens nach Heil verlustig gegangen<br />
ist. Und wenn der Staat ursprünglich als Instrument der Durchsetzung des<br />
göttlichen Gesetzes in der Gesellschaft gegründet wurde, so verwandelt<br />
die Gewissensfreiheit den Staat endgültig in eine ausschließlich irdische,<br />
an keine religiösen Verpflichtungen gebundene Institution. Die Durchsetzung<br />
der Gewissensfreiheit als legales Prinzip verweist auf den Verlust<br />
von religiösen Zielen und Werten in der Gesellschaft, den massenhaften<br />
Abfall vom Glauben sowie der faktischen Indifferenz gegenüber dem<br />
Auftrag der Kirche und der Überwindung der Sünde. Dieses Prinzip<br />
erweist sich jedoch als eines der Mittel, die die Existenz der Kirche in der<br />
nichtreligiösen Welt ermöglichen, insofern es dem legalen Status der Kirche<br />
sowie ihrer Unabhängigkeit gegenüber den anders- oder nichtgläubigen<br />
Schichten der Gesellschaft zugrunde liegt.“ 4<br />
Über diese Frage brauchen wir noch eine breite Diskussion in der orthodoxen<br />
Kirche ebenso wie auch im ökumenischen Bereich. Toleranz und<br />
christlichen Spiritualität spielen dabei eine ganz wichtige Rolle. Was<br />
können wir also machen, um die russische Gesellschaft zu verändern, um<br />
ihr wirksam Werte zu vermitteln? Wir brauchen ein neues Konzept von<br />
Erziehung und von Ausbildung, wahrscheinlich von der alten klassischen<br />
Erziehung ausgehend, aber mit neuen Schwerpunkten. Das müssen alle<br />
Konfessionen in Mittel- und Osteuropa unterstützen, und auch <strong>Renovabis</strong><br />
kann dazu viel beitragen.<br />
Am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Ausdruck „Liturgie nach der Liturgie“<br />
populär geworden. Damit wurde die soziale und karitative Arbeit<br />
(Diakonia) bezeichnet. Ich spreche sehr gerne auch über die „Liturgie vor<br />
der Liturgie“ – das meint nicht nur den Katechismus oder die Vorbereitung<br />
zur Heiligen Kommunion, sondern Ausbildung des Menschen auch<br />
4 Absatz III.6 der Soziallehre, Text nach: Josef Thesing/Rudolf Uertz (Hrsg.): Die Grundlagen der<br />
Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche. Deutsche Übersetzung mit Einführung und<br />
Kommentar, Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2001, S. 32.<br />
137
auf dem Weg zu Gott und zum Mitmenschen. Das ist aber eine ökumenische<br />
Aufgabe, und ohne eine solche Zusammenarbeit der Kirchen in<br />
Russ land sehe ich keine Zukunft für die Kirche und das Christentum.<br />
Ich selbst bin zur Zeit beim Weltkirchenrat verantwortlich für die theologische<br />
Ausbildung in Mittel- und Osteuropa und sehe, wo die besonderen<br />
Probleme liegen. Vieles hat sich bereits verbessert, dennoch ist es noch<br />
ein weiter Weg, den Russland zu gehen hat, bis dass es endgültig im<br />
21. Jahrhundert angekommen ist.<br />
Diskussion zu den Vorträgen von Professor Meyer, Erzbischof<br />
Bozanić und Professor Fedorov (Auszüge):<br />
Prof. Dr. Philipp Harnoncourt, Graz:<br />
Meine Frage richtet sich an Erzbischof Bozanić. Über die Situation in<br />
Kroatien seit den neunziger Jahren habe ich einen etwas anderen Eindruck.<br />
Ich bin schon in der Tito-Zeit häufig in Jugoslawien gewesen und<br />
habe öfter mit kroatischen Priestern theologische Veranstaltungen gehalten.<br />
Ich habe den Eindruck, dass der Abschied vom Kommunismus im<br />
ehemaligen Jugoslawien nicht im gleichen Maß stattgefunden hat wie in<br />
den übrigen Ländern des Ostblocks, weil Tito offiziell einen Neutralitätskurs<br />
verfolgte und er nicht zu einem der Blöcke gehört hat. Das hat aber<br />
den Kommunisten die Möglichkeit gegeben, durch rechtzeitiges Umsatteln<br />
auf das nationale Pferd an der Macht zu bleiben. Kollegen aus Slowenien<br />
haben mir das bestätigt und gesagt, eine tatsächliche Demokratisierung,<br />
weg vom kommunistischen System, sei außerordentlich schwierig<br />
und müsse langsam, Schritt für Schritt gehen, auch heute noch.<br />
Die zweite Frage betrifft die Situation in Russland. Ich war 1990 mit Kardinal<br />
König in Audienz bei Patriarch Aleksij; Erzbischof Schönborn war<br />
später ebenfalls dort. Diese Gespräche waren immer sehr schön und<br />
kooperativ; von Proselytismus war nie die Rede, statt dessen von der ge-<br />
138
meinsamen Verantwortung der Christen angesichts einer Säkularisierung<br />
der Welt. Ist es da nicht notwenig, dass man einer Kirche, die große interne<br />
Probleme hat, eine gewisse ökumenische Schonzeit lässt und sie<br />
nicht ökumenisch „erpresst“? Sicher gibt es interne Probleme der russischen<br />
orthodoxen Kirche, und wie es so oft bei innenpolitischen Problemen<br />
geschieht, wird dann nach außen abgelenkt.<br />
Pater Eugen Hillengass SJ, München:<br />
Ich kann vielleicht an die Frage von Herrn Professor Harnoncourt anknüpfen.<br />
Darin taucht meines Erachtens indirekt auch wieder das Thema<br />
der Grenzen Europas auf. Und das ist eben nicht nur eine geographische<br />
Frage. Vielmehr ist es eine Frage, die sich auf die Menschen bezieht, auf<br />
deren Einstellungen und deren Überzeugungen, und sie wird sich deshalb<br />
auch im Laufe der Zeit immer wieder wandeln. Ich persönlich glaube,<br />
dass die Grenze Europas am Pazifik liegt, weil ohne das ganze Russland<br />
die europäische Geistlichkeit und Geistigkeit unvollständig wäre. Das ist<br />
aber natürlich – und das möchte ich betonen – eine Vision, die aber auch<br />
mit dem zu tun hat, was Professor Meyer gesagt hat, nämlich mit der Freiheitsfrage.<br />
Wie steht es darum? Aus meinen Kontakten zum Osten habe<br />
ich den Eindruck, dass ein Zuviel an Freiheit als Bedrohung der eigenen<br />
Wesenheit empfunden wird und dass man sich deshalb im Osten oft gegen<br />
zu viel Freiheit wehrt. Damit ist zugleich die Frage an uns alle gestellt:<br />
Haben wir genügend getan, dass Freiheit und freiheitliches Leben<br />
in der rechten Weise verstanden werden?<br />
Herr Professor Fedorov, Sie haben eben gesagt „wir sind wieder frei“. Ist<br />
das Wort „wieder“ in diesem Satz, wenn man die Zeit vor dem Kommunismus<br />
betrachtet, eigentlich ganz richtig? Was bedeutet es dann für uns,<br />
und was bedeutet es für die unveräußerlichen Werte der Orthodoxie, die<br />
diesem ganzen orthodoxen Lebenssystem auch eine Stärke und eine Geschlossenheit<br />
geben? Da müssen auch wir im Westen uns fragen, was wir<br />
dazu beitragen, damit da nicht etwas mit Gewalt aufgebrochen wird, sondern<br />
damit es auch allmählich und behutsam wächst.<br />
Meine letzte Frage hat auch etwas damit zu tun. Es geht mir um den Mitteleuropäischen<br />
Katholikentag. Herr Erzbischof, können Sie etwas zur<br />
139
Thematik und zu den Terminen sagen? Das wird sicher viele hier im Saal<br />
interessieren.<br />
Prof. Dr. Viorel Ionit,a, Genf:<br />
Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Professor Meyer, für das, was Sie über<br />
Osteuropa gesagt haben, bedanken. Besonders gut gefallen hat mir, wie<br />
Sie auf das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft hingewiesen<br />
haben. Darauf bezieht sich meine Frage, eigentlich mehr eine Ergänzung.<br />
Kirche und Gesellschaft sind in Osteuropa, etwa in meiner Heimat Rumänien,<br />
wo ich in verschiedenen Positionen innerhalb der rumänisch-orthodoxen<br />
Kirche engagiert bin, nicht unbedingt zwei sich völlig gegenüberstehende<br />
Wirklichkeiten. Die Kirche steht mitten im Staat, mitten in<br />
der Gesellschaft. In ihr sind Gruppen, nicht nur einzelne Menschen, tätig,<br />
die sich oft päpstlicher als der Papst verhalten und mit ihrer orthodoxfundamentalistischen<br />
Mentalität Karriere machen. Meine Frage lautet<br />
daher, ob Sie etwas dazu sagen könnten, wie Kirchen und Kirchenleitungen<br />
auf solche Gruppen reagieren sollten. Würde es schwere Folgen<br />
für die Kirche haben, wenn der Einfluss solcher Gruppen gebremst<br />
würde?<br />
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn:<br />
Beim Begriffspaar „Kirche und Gesellschaft“ ging es mir darum zu sagen,<br />
dass das zwar sicherlich ein richtiges Begriffspaar ist, das bestimmte<br />
Aspekte präzise beschreibt; in einer freiheitlichen Gesellschaft kommen<br />
Christen und Kirchen aber nur dann zur Wirkung, wenn sie sich nicht als<br />
ein Gegenüber zur Gesellschaft empfinden, sondern in der Gesellschaft<br />
leben. Nun haben Sie mit Recht darauf hingewiesen, dass es Menschen in<br />
der Kirche, Geistliche und Laien, gibt, die nicht bereit sind, sich auf diese<br />
Herausforderung der Freiheit einzulassen. Die Freiheit wird von diesen<br />
Menschen nur als Chance für sich selbst verstanden, nicht aber als eine<br />
Chance für die, die eine andere Auffassung vertreten. Als Trost kann ich<br />
dazu nur sagen, dass Kirche und Christen in einer freiheitlichen Gesellschaft<br />
nur dann zur Wirkung kommen werden, wenn sie sich auf die Bedingungen<br />
und Herausforderungen von Freiheit einlassen. Die Freiheit<br />
kann man nicht zu einem halben Preis bekommen.<br />
140
Freiheit gibt es nicht unter bestimmten Garantien oder Einschränkungen.<br />
Für die Katholiken in Westeuropa, natürlich auch in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, ist das ein schwieriger Lernprozess gewesen. Mein Vorgänger<br />
im Amt des Präsidenten des ZdK, Hans Maier, hat auf diese Situation<br />
schon in der ersten Hälfte der sechziger Jahre hingewiesen. Die katholischen<br />
Christen müssen sich auf die Herausforderungen der freiheitlichen<br />
Demokratie einlassen. Freiheit bekommt man immer nur ganz. In der jetzigen<br />
Gesellschaft gibt es – und ich fürchte mehr noch unter den Laien als<br />
unter den Amtsträgern – Menschen, Katholiken, die diese Herausforderung<br />
von Freiheit noch nicht verstanden haben. Die machen es natürlich<br />
der Kirche, ihren Katholiken und ihren Mitchristen schwer, in der Gesellschaft<br />
zu wirken. Dessen bin ich mir wohl bewusst. Aber ich wollte das<br />
Problem doch wenigstens kurz angerissen haben.<br />
Erzbischof Josip Bozanić, Zagreb:<br />
Titos Jugoslawien war kommunistisch, aber auf eine etwas andere Art als<br />
die anderen kommunistischen Länder in Mittel- und Osteuropa. Wir hatten<br />
gewisse Freiheiten, z. B. konnten wir frei Bischöfe ernennen, was<br />
etwa in der damaligen Tschechoslowakei nicht möglich war. Aber in<br />
Jugoslawien herrschte die kommunistische Partei auf der Grundlage der<br />
kommunistischen Ideologie, die im Prinzip in allen kommunistischen<br />
Ländern gleich war. Unser heutiges Problem besteht darin, dass die kommunistische<br />
Mentalität, die fünfzig Jahre auf die Menschen gewirkt hat,<br />
nicht einfach verschwunden ist. Ihre Folgen sind immer noch zu spüren.<br />
Privatunternehmertum, Eigeninitiative, Verantwortungsgefühl – all das<br />
wurde während des Kommunismus nicht nur nicht gefördert, sondern<br />
vielmehr brutal unterdrückt. Deswegen ist ein längerer Prozess notwendig,<br />
um diese Mentalität zu überwinden. Vielleicht muss man noch<br />
weitergehendere Studien anstellen, um Wege zur Lösung dieses Problems<br />
zu finden.<br />
Zum Mitteleuropäischen Katholikentag möchte ich Folgendes ergänzen.<br />
Er wird von den Kirchen in Österreich, Polen, der Tschechischen Republik,<br />
der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina<br />
veranstaltet. Der Katholikentag hat eine doppelte Aufgabe. Zum einen<br />
betrifft er die gemeinschaftliche Ebene all dieser Länder, zum ande-<br />
141
en bezieht er sich jeweils auf die einzelnen Länder, wobei aber beide<br />
Teile miteinander verbunden sind und eine wechselseitige Information<br />
erfolgen wird. In diesen Ländern gibt es ganz bestimmte Traditionen von<br />
Pilgerfahrten und Wallfahrten; deswegen ist beschlossen worden, dass<br />
dieser gemeinsame Katholikentag mit einem gemeinsamen Pilgerzug der<br />
Gläubigen im Jahr 2004 nach Mariazell enden wird. Dabei wird besonderer<br />
Wert auf das Treffen junger Gläubiger gelegt werden. Außerdem sollen<br />
in den einzelnen Ländern Symposien abgehalten werden, die immer<br />
von mindestens zwei Bischofskonferenzen mitorganisiert werden. Diese<br />
Symposien werden sich mit Themen wie Kirche und Staat, Familie und<br />
Gesellschaft beschäftigen.<br />
Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg:<br />
Herr Professor Harnoncourt, die von Ihnen erwähnte Begegnung liegt<br />
schon einige Jahre zurück. Damals war die Atmosphäre sehr angenehm,<br />
und es gab viele Pläne zur Zusammenarbeit. Heute ist das leider ganz<br />
anders. Ich kann nur wiederholen: Ohne ökumenische Zusammenarbeit<br />
in Russland sehe ich keine Zukunft für die Evangelisierung und die Missionstätigkeit<br />
der Kirche. Im Gegenteil, Fundamentalismus, Triumphalismus,<br />
Radikalismus – alles, was den Frieden, d.h. das Leben in Christus,<br />
stört, wird zunehmen.<br />
Ich danke Ihnen, Pater Hillengass, für Ihre Bemerkung, mit der ich völlig<br />
einverstanden bin. Einige sagen schon, wir seien wieder frei, aber ich<br />
kann nur erklären und wiederholen, wie ich es sehe. Erstens waren wir<br />
vor 1917 nicht ganz frei, und ich weiß nicht, ob wir heute wirklich schon<br />
frei sind. Auf jeden Fall befinden wir uns in einer ganz neuen Situation.<br />
Auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft stehen wir erst ganz<br />
am Anfang in Russland, und wir haben auch keine Erfahrung damit. Für<br />
viele Russen ist Demokratie ein Schimpfwort, und nach Ansicht mancher<br />
Soziologen stehen 37 % der Bischöfe der Demokratie kritisch gegenüber.<br />
Daher kann ich es an dieser Stelle leider nur noch einmal wiederholen:<br />
Wir stehen erst am Anfang eines mühseligen Weges.<br />
142
Vizepräsident Dr. Ingo Friedrich MdEP, Straßburg/Brüssel<br />
Wertediskussion in Europa an der Schwelle<br />
zur Osterweiterung<br />
Am letzten Tag des <strong>Kongress</strong>es haben Sie, meine Damen und Herren,<br />
natürlich bereits vielfältige Informationen erhalten. Manches davon wird<br />
in unsere Diskussion einfließen. Zuvor möchte ich aber das mir vorgegebene<br />
Thema in drei Aspekten beleuchten.<br />
Grundrechtekonvent und Grundrechtecharta<br />
Den ersten Teil meines Vortrags möchte ich mit „Europa und der Grundrechtekonvent“<br />
überschreiben. Dieser Konvent, der erste in der Geschichte<br />
der Europäischen Union, wurde vom Europäischen Rat 1999<br />
einberufen und nahm seine Arbeit am 17. Dezember desselben Jahres auf.<br />
Den Vorsitz hatte der frühere Bundespräsident Roman Herzog inne. Das<br />
Ergebnis der Arbeiten, die Charta der Grundrechte der Europäischen<br />
Union, wurde am 7. Dezember 2000 anlässlich des Gipfeltreffens der<br />
Staats- und Regierungschefs in Nizza feierlich proklamiert. Als Wortführer<br />
der konservativen Parteien durfte ich an dem 54 Artikel umfassenden<br />
Rechtstext an vorderster Stelle mitwirken.<br />
Europa ist mehr als eine wirtschaftliche oder geographische Gemeinschaft.<br />
Das Argument der Geographie greift zu kurz, wie das Beispiel der Türkei<br />
anschaulich zeigt. Istanbul bildet, zumindest was den Westteil betrifft,<br />
unumstritten einen Teil Europas. Ob die Türkei jedoch wirklich ganz zu<br />
Europa passt, das ist eine ganz andere Frage. Vielmehr muss es darum gehen,<br />
ob die Türkei wirtschaftlich und politisch überhaupt in der Lage ist,<br />
Mitglied in der EU mit ihren bisher 370 Millionen Menschen zu werden.<br />
143
Das Gesicht Europas – das ist meine erste Aussage – ist im Wesentlichen<br />
durch das Christentum geprägt. Der Kontinent ist von der Atlantikküste<br />
bis Osteuropa überzogen von Marksteinen christlichen Einflusses. Vor<br />
wenigen Tagen habe ich die Freude und Ehre gehabt, einen Tag lang auf<br />
dem Jakobsweg zu wandern, diesen Weg, der sich wie ein Spinnennetz in<br />
Richtung Santiago di Compostela über ganz Europa verbreitet hat. Interessant<br />
ist, dass im Augenblick sowohl im katholischen als auch evangelischen<br />
Lager der Jakobsweg wieder entdeckt wird.<br />
Nun zur Grundrechtecharta: Da ging es zunächst einmal darum, die traditionellen<br />
Menschenrechte in Europa zu verankern. Die Charta fasst bürgerliche,<br />
politische, wirtschaftliche und soziale Grundrechte der EU-<br />
Bürger zusammen. Sie hat die Aufgabe, die Rechte der Bürger gegenüber<br />
der Europäischen Union zu formulieren. In der öffentlichen Diskussion<br />
wurde dieser Aspekt meist vernachlässigt. Oft hieß es, die Charta formuliere<br />
grundsätzliche Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Die Europäische<br />
Union ist aber subsidiär aufgebaut. Abwehrrechte der Bürger gegenüber<br />
den einzelnen Nationalstaaten wie Deutschland oder Frankreich<br />
muss jeder Staat selber regeln, die Grundrechtecharta kann dagegen nur<br />
Abwehrkräfte gegenüber den Institutionen der Europäischen Union formulieren.<br />
Von besonderem Interesse ist hier sicherlich die Frage um die so genannte<br />
„invocatio Dei“, die Anrufung Gottes in der Verfassung. Die Kirchenvertreter<br />
haben während der Arbeiten an der Grundrechtecharta – wenn auch<br />
vielleicht ein wenig spät – darauf hingewiesen, dass die Charta einen ähnlichen<br />
Bezug zu Gott aufweisen müsse wie das deutsche Grundgesetz.<br />
Dort ist die Formulierung „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“<br />
festgeschrieben. Als Stimmführer der Christdemokraten habe ich es übernommen,<br />
um eine solche Einfügung zu kämpfen. Das war ein sprichwörtlicher<br />
„Stich ins Wespennest“. So rief etwa der französische Staatspräsident<br />
Jacques Chirac bei Roman Herzog an und beschwerte sich: „Lieber<br />
Herr Präsident Herzog, wir haben seit der Französischen Revolution von<br />
1789 um den Laizismus gegen eine Staatskirche gerungen und ihn endlich<br />
durchgesetzt. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir uns im 21. Jahrhundert<br />
durch euch zwingen lassen, das wieder zu ändern.“<br />
144
Als ich bei der CSU-Gruppe im Deutschen Bundestag über meine Initiative<br />
sprach, meinte ein Bundestagskollege, der Gottesbezug solle unbedingt<br />
Teil der Charta bilden. Ich sagte, das könne vielleicht über eine entsprechende<br />
Entschließung des Deutschen Bundestages erfolgen. Da waren<br />
sich die Kollegen in Berlin einig: „Das bringen wir doch nie im<br />
Deutschen Bundestag durch.“ Als dann darüber diskutiert wurde, man<br />
müsse auch auf andere Traditionen – etwa das humanistische, griechische,<br />
arabische oder jüdische Erbe Europas – Rücksicht nehmen müsse,<br />
konnte ich weitere Diskussionen abwehren. Danach folgte das statistische<br />
Argument: Welche Länder Europas kennen denn überhaupt die „invocatio<br />
dei“ in der Verfassung? Das ist in Polen der Fall, in Irland, in der<br />
Schweiz, in Deutschland und in Bayern. Von den 15 EU-Staaten haben<br />
gerade einmal Deutschland und Irland die „invocatio dei“ in der Verfassung,<br />
nicht einmal „katholische“ Südländer wie Spanien oder Italien.<br />
Mit der Forderung nach einem Gottesbezug stand ich anfangs ziemlich<br />
allein im Grundrechtekonvent und habe Präsident Herzog angekündigt:<br />
„Wenn der Bezug auf die geistigen und religiösen Wurzeln Europas nicht<br />
Teil der Charta bildet, ziehen die 16 Christdemokraten im Konvent geschlossen<br />
unter Protest aus.“ Herzog hat mehrfach mit dem französischen<br />
Premierminister Jospin und mit Staatspräsident Chirac gestritten, mich<br />
dabei immer wieder angerufen und einbezogen. Die Formulierung war ein<br />
Kompromiss, mit dem alle Seiten zufrieden sein konnten: „Die Völker<br />
Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine<br />
friedliche Zukunft miteinander zu teilen, indem sie sich zu einer immer<br />
engeren Union verbinden. Im Bewusstsein ihres geistig-religiösen und<br />
sittlichen Erbes gründet sich diese Union auf die unteilbaren Werte der<br />
Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“<br />
Diese Formulierung war heiß umkämpft. Französische Kollegen rechneten<br />
sogar nach, dass in der Grundrechtecharta nicht weniger als neunmal<br />
das Wort „religiös“ oder „Religion“ vorkommt. Dies sei also eine völlige<br />
Abkehr von der bisherigen Entwicklung der großen Nation Frankreich.<br />
„Le Monde“ schrieb sogar, im Grundrechtekonvent passiere Unglaubliches,<br />
denn offenbar habe der Papst einen Agenten in der Versammlung in<br />
Gestalt des Ingo Friedrich. Nun ist die Wahrheit ein bisschen komplexer,<br />
denn ich bin zwar mit einer katholischen Frau seit 33 Jahren verheiratet,<br />
145
aber Lutheraner geblieben. Gerade wird im zweiten Konvent, der bis<br />
Sommer den Entwurf für einen Verfassungstext vorlegen soll, darüber<br />
diskutiert, den Wortlaut noch einmal zu ändern. Angeregt durch eine Initiative<br />
von meinem Abgeordnetenkollegen Joachim Wuermeling und mir,<br />
hat der Konvent erneut über den Gottesbezug diskutiert. Der Verlauf der<br />
Debatte stimmt hoffnungsfroh, dass ein Gottes bezug ähnlich der polnischen<br />
Verfassung in der EU-Verfassung Niederschlag finden könnte. Die<br />
Minimalforderung ist natürlich die vollständige Integration der Charta an<br />
prominenter Stelle in die europäische Verfassung.<br />
Oft werde ich gefragt, warum ich dem Gottesbezug eine so große Bedeutung<br />
beimesse. Alle Grundrechte haben, wenn man ihnen auf den Grund<br />
geht, einen christlichen Ursprung. Das gilt für die Gleichberechtigung von<br />
Mann und Frau oder auch für das in der Grundrechtecharta erstmals verankerte<br />
Recht der Kinder und das Recht der älteren Menschen. Die Gleichberechtigung<br />
der Frau, die unantastbare Würde des Menschen, Gleichheit<br />
aller vor Gott – das ist genuin christlich. In diesem Sinne ist auch die<br />
Grund rechtecharta christlich. Sie erwähnt in Art. 10 auch die Gedanken-,<br />
die Gewissens-, die Religionsfreiheit, im Art. 21 findet sich die Nichtdiskriminierung<br />
einer Religion. Aber es wurde darüber schon ganz heiß diskutiert,<br />
weil uns die deutschen Kirchen gebeten haben, ihre kooperative<br />
Identität und Unantastbarkeit zu verankern, d. h. die Stellung der Kirchen<br />
als Anstalt des öffentlichen Rechtes. Das war sehr schwierig, weil Sekten<br />
natürlich auch eine solche Rechtsstellung beanspruchen könnten.<br />
Die erste europäische Grundrechtecharta hat Religion und Religiosität<br />
verankert. Sie basiert auf christlichen Werten, ist aber im Sinne der Kirchen<br />
keine christliche Charta, in der expressis verbis stünde „Europa ist<br />
christlich“. Damit kommt etwas ganz Feingliedriges zum Ausdruck: Europa<br />
hat Wurzeln verschiedenster Art. Eine der zentralen Wurzeln ist die<br />
geistig-religiöse Grundlage des Christentums. An dieser Stelle möchte<br />
ich eine Anekdote aus dem Jahre 1983 einfügen. Ich habe 1981 bereits<br />
eine gemeinsame Flagge für die damalige Europäische Gemeinschaft beantragt.<br />
Damals benutzten die unterschiedlichen europäischen Institutionen<br />
verschiedene Symbole. Es gab die so genannte „Churchill‘sche Unterhose“,<br />
ein grünes E, und die nur gelegentlich verwendete Flagge des<br />
146
Europarats, zwölf Sterne vor blauem Hintergrund. Mein Antrag zielte<br />
darauf ab, dieses Symbol zur offiziellen Europaflagge zu erheben. Dafür<br />
habe ich wirklich – vor allem gegen den erbitterten Widerstand der Niederländer<br />
– kämpfen müssen. Als Europa-Hymne war bereits Beethovens<br />
„Ode an die Freude“ festgelegt. Weil es mir um die Symbolkraft ging,<br />
habe ich weiter an meinem Ziel festgehalten. Otto von Habsburg, im Plenum<br />
zwei Stühle neben mir, hat dieses Tun wohlwollend und lächelnd<br />
begleitet. Als die Sache dann endlich unter Dach und Fach war, fragte ich<br />
ihn: „Herr von Habsburg, warum haben Sie immer so geschmunzelt?“ Da<br />
sagte er mir Folgendes: „Weil Sie armer Lutheraner, ohne es zu wissen,<br />
ein Mariensymbol zur Flagge Europas gemacht haben. Wenn Sie sich die<br />
mittelalterlichen Madonnenfiguren anschauen, dann ist sehr häufig ein<br />
zwölfsterniger goldener Kranz um das Haupt der Maria gelegt. Schaut<br />
man das Haupt dieser Statue von unten an, ist der goldene Sternenkranz<br />
vor dem blauen Himmel die Europaflagge.“ Ich war fast ein bisschen<br />
böse und habe gefragt: „Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?<br />
Nicht dass ich es dann etwas anders gemacht hätte, sondern umgekehrt –<br />
ich hätte es mit größter Freude und bestem Gewissen gemacht, weil ich<br />
finde, dass Europa ein Mariensymbol gut zu Gesicht steht.“<br />
Einheit in Vielfalt<br />
Nun möchte ich zum zweiten Aspekt meines Vortrags kommen. Bei einer<br />
Befragung an 1.000 Gymnasien in Europa, mit welchem Motto man Europa<br />
am besten beschreiben könnte, entschieden sich die meisten Schülerinnen<br />
und Schüler für „Einheit in Vielfalt“. Das passt hervorragend. Politische<br />
Entscheidungen haben offenbar nur dann eine Chance, sich langfristig<br />
zu bewähren, wenn sie es schaffen, zwei Prinzipien, die auf den<br />
ers ten Blick nicht zusammen passen, intelligent zusammen zu fügen. Unser<br />
ganzes Leben ist geprägt von einer Dichotomie: hell und dunkel,<br />
rechts und links, oben und unten, Mann und Frau. Zu viel Einheit führt zu<br />
Engstirnigkeit, zu viel Vielfalt zum Chaos.<br />
Gerade das ist auch ein ganzes wichtiges positives Signal: In der europäischen<br />
Einheit ist es nicht dazu gekommen, dass Regionen gleich ge-<br />
147
schliffen worden sind. Vielmehr haben die Regionen in diesem neuen<br />
Europa mehr Bedeutung als je zuvor in der Geschichte. Schottland hat<br />
nach 343 Jahren wieder ein eigenes Parlament. Südtirol lebt in einer Autonomieform<br />
mit Rechten, die es seit der Trennung von Süd- und Nordtirol<br />
nach dem Ersten Weltkrieg noch nie gab. In Belgien besteht sogar<br />
Anlass zur Sorge, dass das Land auseinander fällt, weil Wallonien und<br />
Flandern verhältnismäßig eigenständig geworden sind. Weitere Beispiele,<br />
die ich nicht erläutern muss, sind Bayern und das Elsass. Unter der<br />
Überschrift „Einheit in der Vielfalt“ haben die Regionen ihre Chance im<br />
21. Jahrhundert, und dies ist sicher auch ein Wert, der zutiefst mit Heimat,<br />
mit Verwurzelung des Menschen, mit Chance zur Stabilität in einer instabil<br />
erscheinenden Welt zu tun hat.<br />
Europa steht an der historischen Schwelle zur EU-Osterweiterung. Die<br />
Kriterien für den Beitritt osteuropäischer Länder haben auch – Gott sei<br />
Dank – einen Wertebezug. Dort lautet die oberste Bedingung nicht, dass<br />
die Länder gleich wohlhabend sein müssen wie die anderen. Vielmehr<br />
muss der Schutz der Menschenrechte, die Achtung der Minderheiten<br />
und eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung mit funktionsfähiger<br />
Marktwirtschaft gewährleistet sein. Nur so können diese Staaten<br />
dem Wettbewerbsdruck der Marktkräfte innerhalb der Europäischen<br />
Union standhalten. Dazu möchte ich noch etwas zur sozialen Marktwirtschaft<br />
ergänzen: Wenn man eine Gesellschaft nur auf dem sozialen<br />
Aspekt gründen würde, was moralisch und wertemäßig auf den ersten<br />
Blick vielleicht sympathisch erscheint, hätte diese Gesellschaft in der<br />
heutigen Welt keinerlei Chancen. Eine Gesellschaft, die aber nur auf<br />
Marktkräften gegründet ist, wäre unmenschlich, denn der Markt berücksichtigt<br />
in keiner Weise menschliche Gerechtigkeitsaspekte, sondern<br />
entscheidet allein nach Angebot und Nachfrage. Wenn die drei Tenöre,<br />
so schön wie sie singen, eine Million Dollar oder Euro pro Tag<br />
bekommen, hat das mit Gerechtigkeit nichts zu tun, stattdessen mit<br />
Nachfrage und Angebot. Gerade deshalb ist Ludwig Erhards Gedanke<br />
so genial, mit einer sozialen Marktwirtschaft zwei auf den ersten Blick<br />
sich ausschließende Prinzipien intelligent miteinander zu vernetzen.<br />
Nur so besteht die Chance auf eine langfristige Stabilisierung einer großen<br />
europäischen Gemeinschaft.<br />
148
Osterweiterung<br />
Die Osterweiterung bildet den dritten Teil meines Vortrags. Im Mai 2004<br />
werden zehn Staaten Mittel- und Osteuropas der EU beitreten: Polen,<br />
Ungarn, Slowenien, die Tschechische Republik, die Slowakei, Lettland,<br />
Litauen, Estland, Zypern und Malta. Die Mittelmeerinsel hat ein positives<br />
Zeichen gesetzt und die Serie der Referenden in den Kandidatenländern<br />
über den EU-Beitritt eröffnet. Die Mehrheit der Malteser sprach sich<br />
dabei für eine Vollmitgliedschaft in der EU aus. Die Gemeinschaft muss<br />
mit der Osterweiterung die größte Herausforderung in ihrer Geschichte<br />
stemmen. Bisher leben in der EU rund 370 Millionen Menschen, mit der<br />
Erweiterung kommen knapp 100 Millionen dazu.<br />
Der Ruf nach einer Verschiebung der Osterweiterung wurde häufig laut.<br />
Können wir aber wirklich in einer überdurchschnittlich stabilen Region<br />
mit kalkulierbaren Verhältnissen, in einer der global gesehen attraktivsten<br />
Regionen der Welt – vergleichbar allenfalls mit Nordamerika – als überzeugte<br />
Christen ernsthaft sagen „Wartet noch ein bisschen“? Die Staatschefs<br />
haben schließlich den Polen bereits 1998 die Mitgliedschaft binnen<br />
zwei Jahren versprochen, ganz ähnlich den Ungarn. Ich war dabei, als am<br />
20. August 1996 in Budapest der damals 38-jährige Ministerpräsident<br />
Viktor Orban mit 200.000 Menschen die 1000-Jahrfeier der Christianisierung<br />
Ungarns gefeiert hat. Er zog mit Kardinal Paskai und Otto von Habsburg<br />
durch die Straßen der Hauptstadt. Den meisten Beifall haben der<br />
Kardinal und Otto von Habsburg bekommen, nicht die Mitglieder der<br />
Regierung. Der Ministerpräsident erinnerte an die Krönung Stefans I. als<br />
erster christlicher König Ungarns. Tausend Jahre später, sagte er, habe er<br />
die Freude, zu verkünden, dass das ungarische Volk nach Unterdrückung,<br />
Krieg und Armut in der Familie der Völker Europas aufgenommen wird.<br />
Kann man dann wirklich noch diese Länder vertrösten, auch wenn sie wie<br />
z.B. Estland und Litauen riesige finanzielle Probleme haben? Hier stoßen<br />
das nüchtern-pragmatische Prinzip mit den vehementen Wünschen der<br />
Völker zusammen, die nicht zurück gestoßen werden dürfen.<br />
Persönlich sehe ich durchaus eine Grenze für das erweiterte Europa, und<br />
zwar östlich von Polen oder östlich von Griechenland, auch wenn diese<br />
149
Grenzziehung vielleicht ungerecht erscheinen mag. In der Ukraine gibt es<br />
mit Lemberg eine nahezu „europäische“ Stadt. Und natürlich bemühen<br />
sich in der Türkei viele Eliten, den Staat zu europäisieren. Aus Sicht der<br />
Türkei wurden bereits riesige Fortschritte auf dem Weg zum Westen gemacht,<br />
etwa die Abschaffung der Todesstrafe, für die Türkei ein Quantensprung!<br />
Überhaupt haben sich die Verhältnisse in den türkischen Gefängnissen<br />
entschieden zum Besseren gewandelt. Die Gefängnisaufseher<br />
müssen die Häftlinge als Menschen behandeln. Ich kann das aus eigener<br />
Anschauung bestätigen, denn als ich das erste türkische Gefängnis vor<br />
neun Jahren gesehen habe, ist mir klar geworden, was der Satz „Die<br />
Würde des Menschen ist unantastbar“ bedeutet. Da hat sich seither doch<br />
sehr viel verändert.<br />
Die Osterweiterung „in den Köpfen“ braucht natürlich auch Zeit, sie wird<br />
sicher sehr viel länger dauern als der faktische Beitritt 2004 oder 2005. Es<br />
ist schwierig, auf die Souveränität zugunsten einer größeren Einheit ganz<br />
oder teilweise zu verzichten. Um das zu illustrieren, genügt schon ein<br />
Rückblick ins Mittelalter. Eine Stadt wie Nürnberg mit etwa 40.000 Einwohnern<br />
verfügte über die volle Souveränität. Dazu gehörten das Recht<br />
zur Verhängung der Todesstrafe ebenso wie rigorose Wirtschaftsgesetze,<br />
wonach z. B. Handwerker aus Fürth nichts in Nürnberg verkaufen durften.<br />
Die Außenpolitik lag beim Kaiser, die Souveränität war bei der Stadt<br />
Nürnberg. Dann veränderte sich im 19. Jahrhundert die Landkarte, Bayern<br />
wurde souveränes Königreich und hat Nürnberg annektiert, dessen<br />
Souveränität dahin war. 1835 hatte der Volkswirt Friedrich List dann die<br />
unglaubliche Idee, einen Zollverein zu gründen, der natürlich die Souveränität<br />
in Wirtschaftsfragen beseitigte. Zwischen Bayern und Württemberg<br />
gab es plötzlich keine Grenzen mehr – und ebenso gibt es heute<br />
keine Grenzen mehr zwischen Frankreich und Deutschland.<br />
Die Souveränität in Wirtschaftsfragen ist in der Europäischen Union von<br />
den Nationalstaaten auf die europäische Ebene gewandert. Sie wird dort<br />
allerdings nicht stehen bleiben. Denken Sie etwa an den Patentschutz, der<br />
nicht nur europäisch, sondern global wirksam sein muss. Fairer Handel in<br />
Europa nutzt wenig, wenn China die Welt mit Billigprodukten überflutet.<br />
Das Internet und seine ungeheueren Möglichkeiten, die globale Vernet-<br />
150
zung ganzer Wirtschaftszweige und der Finanzwelt – all das sind Herausforderungen,<br />
denen sich die Europäische Union in den nächsten Jahrzehnten<br />
stellen muss. Damit stellt sich die Frage nach der Souveränität in<br />
völlig neuer und veränderter Form. Durch die globale Vernetzung müssen<br />
wir mit einem neuen Druck leben. Das Tempo der Veränderung wird sich<br />
noch einmal erhöhen, der Druck auf die weniger Starken wird noch größer<br />
werden. Es bedarf auch immer mehr Spielregeln, um der sozialen<br />
Komponenten dieser Entwicklung gerecht zu werden.<br />
Lassen Sie mich mit folgendem Hinweis schließen: Was wir unter dem<br />
Aspekt der Werte und der Berücksichtigung des Menschen langfristig<br />
brauchen, ist eine soziale Marktwirtschaft auf der gesamten Welt. Erste<br />
bereits vorliegende Analysen besagen, dass dieses komplexe Vertragssystem<br />
Europas ein Vorbild für eine global vernetzte Welt sein kann,<br />
wenn z.B. innerhalb Europas Verantwortung für arme Regionen wie Portugal<br />
und die neuen Bundesländer übernommen wird. Dies wird dann<br />
ebenso geschehen, wenn die Europäische Union für Staaten Afrikas oder<br />
Südamerikas entsprechend handelt, egal ob aus christlichen oder rein<br />
pragmatischen Motiven. Die Welt ändert sich mit einer unglaublichen<br />
Geschwindigkeit, das Christentum wird aber meines Erachtens immer<br />
eine zentrale Voraussetzung für menschenwürdiges Leben bleiben.<br />
Diskussion zum Vortrag von Vizepräsident Friedrich<br />
(Auszüge):<br />
Burkhard Haneke, Freising:<br />
Sie haben ausgeführt, dass im Zuge der weiteren Integration Europas „die<br />
Souveränität wandert“. Das gilt natürlich für viele Bereiche der Gesetzgebung<br />
auf europäischer Ebene, und ich möchte zu einem ganz bestimmten<br />
Bereich der Gesetzgebung eine Frage stellen. Unser <strong>Kongress</strong> steht<br />
unter dem Motto „Europa – eine Wertegemeinschaft“, und ich glaube,<br />
was uns Christen doch sehr am Herzen liegt, das sind die Grundfragen der<br />
151
Menschenwürde, die sich gerade im Bereich der neuen biomedizinischen<br />
Forschung stellen. Ich meine besonders die Grenzfragen am Anfang und<br />
am Ende des menschlichen Lebens. Wir hatten erst kürzlich in Deutschland<br />
die heftige Diskussion um die Frage des Imports embryonaler<br />
Stammzellen; eine andere ähnlich brisante Frage wäre die nach der<br />
Euthanasie. All dies sind aber Dinge, die in Europa unterschiedlich gehandhabt<br />
werden. Wir sind alle in einer gewissen Sorge, dass in diesen<br />
sensiblen Bereichen in anderen Ländern eine größere Liberalität gegeben<br />
ist als bei uns in Deutschland. Was haben wir aber dann von Europa unter<br />
dem Gesichtspunkt einer „Wertegemeinschaft“ bezüglich der Gesetzgebung<br />
noch zu erwarten?<br />
Pater Dietger Demuth CSsR, Freising:<br />
Als Vizepräsident des Europäischen Parlaments sprechen Sie ganz selbstverständlich<br />
für den Bereich der Europäischen Union. <strong>Renovabis</strong> hat jedoch<br />
einen weiteren Europa-Begriff, denn wir möchten gerade auch für<br />
die europäischen Länder da sein, die aus dem Prozess der Erweiterung<br />
herausfallen. Meinen Sie nicht, dass man in der Europäischen Union auch<br />
ein bisschen stärker an diese Länder denken müsste?<br />
Dr. Johannes Oeldemann, Paderborn:<br />
Zwei kurze Fragen möchte ich stellen. Wenn die Grenzen Europas östlich<br />
von Polen und östlich von Griechenland gezogen werden, möchte ich um<br />
eine Begründung dafür bitten. Sind es pragmatische Gründe, weil die<br />
Europäische Union das nicht mehr verkraftet, oder gibt es andere Gründe<br />
dafür? Meine zweite Frage: Wenn Europa jetzt weiter wächst, dann wird<br />
die Zahl der Staaten, die zur Europäischen Union gehören und gleichzeitig<br />
Mitglied im Europarat sind, immer größer. Wie sehen Sie das Verhältnis<br />
dieser Institutionen zueinander? Könnte man den Europarat – vereinfacht<br />
gesagt – als eine „Wertegemeinschaft“ bezeichnen, während die<br />
Europäische Union eher eine „Wirtschaftsgemeinschaft“ bildet?<br />
Prof. Dr. Manfred Spieker, Osnabrück:<br />
Ich knüpfe an Ihrem letzten Punkt zur Globalisierung an und sehe einen<br />
gewissen Widerspruch zwischen dem, was Sie zum Deutschen Zollverein<br />
152
sagten, dessen Früchte Sie in höchsten Tönen priesen, und Ihren Bemerkungen<br />
zur Globalisierung, bei der Sie nur den Druck betonen, der aus ihr<br />
erwächst. Vielleicht können Sie doch noch etwas zu den positiven Früchten<br />
der Globalisierung sagen. Globalisierung ist ein Instrument, und es<br />
hängt davon ab, was die Menschen aus ihr machen. Können Sie außerdem<br />
noch etwas zu dem skandalösesten Beschluss des Europäischen<br />
Parlaments in den letzten zwanzig Jahren sagen, der auf Initiative einer<br />
spanischen Sozialistin hin gefasst worden ist? Er wirft der katholischen<br />
Kirche vor, undemokratisch und fundamentalistisch zu sein, und fordert<br />
von ihr, ihre innere Ordnung zu ändern, z.B. das Priesteramt für Frauen<br />
einzuführen. Dabei handelt es sich um einen massiven Eingriff in die<br />
Religionsfreiheit. Sie wissen sicher, welchen Beschluss ich meine.<br />
Josef Rottenaicher, Halsbach:<br />
Ich kann zwar alles unterstreichen, was Sie gesagt haben, aber eines ist<br />
mir aufgestoßen. Sie haben die soziale Marktwirtschaft als ökonomische<br />
Leitidee für ganz Europa vorgestellt. Ich meine, dass es an der Zeit ist,<br />
nach den Konferenzen von Rio de Janeiro und von Johannesburg und angesichts<br />
zunehmender Naturkatastrophen die ökologische Komponente<br />
mit aufzunehmen. Ziel muss es sein, die soziale Marktwirtschaft zu einer<br />
ökologisch-sozialen Marktwirtschaft weiter zu entwickeln, zu einem<br />
neuen Leitbild auch im Sinne der Schöpfungsverantwortung.<br />
Vizepräsident Dr. Ingo Friedrich, Straßburg/Brüssel:<br />
Ich möchte versuchen, in aller Kürze zu diesen wichtigen Fragen Stellung<br />
zu nehmen. Zunächst zur Gentechnologie: Die Grundrechtecharta enthält<br />
leider nur das Verbot des reproduktiven Klonens, das heißt also der<br />
Schaffung eines Zwillings von einer bestimmten Person. Über alle Parteien<br />
hinweg ist man sich einig, dass das verboten ist. Das lässt sich auch<br />
ziemlich schnell begründen. Nicht verankert hingegen ist das so genannte<br />
medizinische Klonen. Die Diskussion muss an dieser Stelle weitergehen.<br />
Stammzellenimport- und Stammzellenexportverbote gibt es in den meisten<br />
Ländern. England schert leider ein bisschen aus. Solchen „Tourismus“,<br />
etwa den Abtreibungstourismus, gibt es in vielfältiger Form, und<br />
das wird es natürlich auch in Zukunft geben, solange nicht in ganz Eur-<br />
153
opa in diesen Fragen ein einheitliches Recht existiert. Warum sollte man<br />
aber eigentlich nicht ein Herz klonen können? Man braucht dazu allerdings<br />
eine omnipotente Stammzelle, also eine solche, aus der sich ein<br />
Mensch entwickelt – und da sage ich nein. Anders wäre es, wenn es sich<br />
um eine begrenzt potente Stammzelle handelt, sozusagen eine pluripotente<br />
Zelle, aus der man ein Herz nachklonen könnte. Es wird aber noch<br />
Jahre dauern, bis das möglich ist. Die Diskussion wird uns noch lange<br />
begleiten.<br />
Die Europäische Union und ihre künftigen Grenzen: Dieses Thema bewegt<br />
uns natürlich auch im Europäischen Parlament. Zahlreiche Firmen<br />
investieren jetzt schon in Polen, in Ungarn, in der Tschechischen Republik,<br />
in Slowenien, weil sie wissen, dass diese Staaten 2004 beitreten.<br />
Unsere Sorgenkinder sind Rumänien, Bulgarien und die Ukraine.<br />
Damit möchte ich gleich die Frage nach dem „Warum“ dieser Grenze beantworten.<br />
Es gibt verschiedene Gründe. Europa würde implodieren,<br />
wenn es statt um 100 Millionen um zwischen 150 Millionen und 200 Millionen<br />
Menschen erweitert würde; allein die Türkei hat 80 Millionen<br />
Menschen. Ich habe das bewusst vorsichtig formuliert und bitte, dies für<br />
absehbare und lange Zeit mitzunehmen. In 80 oder 100 Jahren kann das<br />
natürlich alles anders aussehen. Aber wenn man jetzt gleich alle Länder,<br />
die in Frage kommen, also die Ukraine, Weißrussland und die Türkei,<br />
dazunehmen würde, dann können wir die Europäische Union vergessen,<br />
weil sie dann unregierbar und unverwaltbar wäre. Europa wäre selber<br />
gefährdet. Daher muss man schrittweise vorgehen. So wie zunächst der<br />
Zollverein Deutschland geeint hat, dann kam die deutsch-französische<br />
Freundschaft, danach die Sechsergemeinschaft, schließlich die Zehnergemeinschaft,<br />
heute die Fünfzehnergemeinschaft; in fünf Jahren wird es<br />
die 27er-Gemeinschaft sein – und dann sehen wir weiter. Nur dieses<br />
schrittweise Vorgehen birgt in sich die Chance, dass man auch die Aufgaben<br />
bewältigt. Was nicht heißt, dass mit anderen Ländern eine enge Form<br />
der Partnerschaft statt einer Vollmitgliedschaft ausgeschlossen ist. Gott<br />
sei Dank gibt es eine Vielzahl von Programmen, die heute Ländern helfen,<br />
die nicht zur EU gehören können. Ich denke etwa an den Barcelona-<br />
Dialog, zu dem alle Länder ums Mittelmeer eingeladen sind. Sogar<br />
Ägypten gehört dazu. Israel ist mit der Europäischen Union assoziiert.<br />
154
Das globale Ziel lautet, Europa als Insel der Stabilität zu vergrößern, soweit<br />
die Bürger dies wünschen. Aber das geht eben nur schrittweise und<br />
nicht auf einmal.<br />
Die Zeit ist immer ein wichtiger Faktor, und das spielt gerade auch bei<br />
einem Land wie der Türkei eine wesentliche Rolle. Die Türkei braucht<br />
vielleicht noch 100 Jahre, um in etwa den europäischen Standard zu erreichen<br />
im Hinblick auf Menschenrechte oder Rechte der christlichen<br />
Kirchen. Vor diesem Hintergrund halte ich die genannten Grenzen für<br />
berechtigt.<br />
Auch der deutsche Zollverein war der Ausgangspunkt des wirtschaftlichen<br />
Aufblühens der deutschen Bundesstaaten. Eine Grenzöffnung bringt<br />
langfristig immer Vorteile. Das Problem ist die Kurzfristigkeit. Wenn<br />
heute jemand die Grenze zur Tschechischen Republik aufmacht und man<br />
privat problemlos den Wohnort zwischen Cham und Marienbad hin- und<br />
herwechseln kann, so ist das sehr positiv. Wenn aber plötzlich das Zementwerk<br />
oder die Porzellanindustrie verlagert wird, wenn viele zum Essen auf<br />
die andere Seite gehen, wenn der Zahnarzt auf der anderen Seite besucht<br />
wird, weil er billiger ist, dann sind das schmerzhafte Folgen der Anpassung,<br />
die es zu überwinden gilt. Dazu braucht man einen langen Atem.<br />
Das galt für Nürnberg und für die deutschen Bundesstaaten im 19. Jahrhundert,<br />
das gilt für den europäischen Binnenmarkt und es gilt global.<br />
Langfristig ist das in Ordnung – die Probleme liegen in der kurzfristigen<br />
Anpassung der Struktur an eine derart gigantische Veränderung durch<br />
Öffnung der Grenzen zwischen zwei sehr unterschiedlichen Niveaus.<br />
Als 1992 die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich geöffnet<br />
wurde, da habe ich selbst Folgendes erlebt. Ich lebte im Hotel in Kehl, da<br />
sagte mein Bäcker: „Lieber Herr Abgeordneter, ich mag Sie eigentlich,<br />
aber jetzt machen Sie einen totalen Blödsinn, Sie öffnen die Grenze nach<br />
Frankreich. Überlegen Sie doch einmal, jetzt können die Leute hinüber<br />
fahren und drüben ihre Baguette kaufen, und wir gehen pleite!“ Umgekehrt<br />
sagte mein französischer Friseur: „Sie sind Stammkunde bei mir,<br />
aber was machen Sie jetzt für einen Blödsinn, schauen Sie, das Benzin in<br />
Deutschland ist um 20 Pfennig billiger, jetzt werden alle mittelständischen<br />
Tankstellen auf der Grenze bis Kehl auf der französischen Seite<br />
zumachen, weil die Leute zum Tanken hinüberfahren.“<br />
155
All das hat zum Teil gestimmt. Nur blühen heute beide Regionen auf,<br />
übrigens ist das Benzin heute auf der deutschen Seite teurer als auf der<br />
französischen Seite. Das Problem liegt in der Kurz- und Mittelfristigkeit<br />
und außerdem in dem Erfordernis von globalen Spielregeln. Was uns<br />
fehlt, ist eine globale Kartellbehörte, die die globale Marktwirtschaft<br />
durchsetzen würde.<br />
Zu dem Beschluss im Europäischen Parlament möchte ich Folgendes bemerken:<br />
Wir Christdemokraten bilden ein Drittel der Abgeordneten im<br />
Europäischen Parlament; von daher ist es manchmal erstaunlich, was alles<br />
möglich ist. Ab und zu setzen sich besonders extreme Meinungen durch,<br />
aber der Beschluss, den Sie, Herr Professor Spieker, meinten, ist nur mit<br />
drei Stimmen Mehrheit gefasst worden. Das Ganze beeinflusst die Atmosphäre,<br />
bleibt aber Gott sei Dank ohne formaljuristische Folgen.<br />
Bei der ökologischen Komponente stimme ich Ihnen völlig zu. Die Nachhaltigkeit<br />
ist ein ganz zentrales Prinzip, das wir in unser gesamtes Handeln<br />
einbauen müssen, nicht nur wegen der Bewahrung der Schöpfung.<br />
Die Ökologie bildet ein zentrales Lebenselement unserer Zukunft und<br />
bietet auch wieder ein schönes Beispiel dafür, dass die Souveränität wandert.<br />
Was nützt heute ein bayerischer oder deutscher Umweltbeschluss,<br />
selbst ein europäischer Umweltbeschluss wirklich, wenn Treibhausgase<br />
und andere Klimaveränderungen global bekämpft werden müssen? China<br />
plant 43 Kernkraftwerke – also hat ein Beschluss, bei uns in ganz Europa<br />
die Nutzung der Kernkraft zu verbieten, keinen Sinn, wenn wir nicht<br />
auch dafür globale Spielregeln einführen.<br />
Mit dem Wandern der Souveränität wandelt sich auch die Identität der<br />
Menschen, und das ist ein sehr komplexer Prozess. Mein Vater konnte<br />
mir noch genau erklären, worin der Unterschied zwischen Franzosen,<br />
Deutschen und Engländern besteht. Heute sind wir Bayern, wir sind<br />
Deutsche, wir sind Europäer von unserer Identität her, und ich nehme an,<br />
dass wir auch irgendwann weltbürgerliche Identität entwickeln werden.<br />
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die Kirche von Rom<br />
einer der ersten globalen Faktoren der Welt war und ist. In ihrer grandiosen<br />
Entwicklung mit allen Höhen und Tiefen ist sie ein gutes Beispiel<br />
für eine Einheit in Vielfalt.<br />
156
Podiumsgespräch<br />
Gesellschaftliches Handeln in christlicher Verantwortung<br />
Teilnehmer: Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb<br />
Beata Broczky, Budapest<br />
Pavol Kossey, Bratislava<br />
Rita Waschbüsch, Lebach<br />
Moderator: Dr. Gerhard Albert, Freising<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Ich möchte noch einmal auf das Podium des ersten Abends zurückkommen.<br />
Da gab es manche Feststellungen, die nicht unwidersprochen blieben,<br />
wonach die Werte in bestimmten Regionen Mittel- und Osteuropas<br />
noch leere Begriff seien. Dort zeige sich eine starke Bewegung hin zum<br />
Individualismus, der nach dem verordneten Kollektivismus nun einfach<br />
die herrschende Lebensform sei. Auch Professor Meyer hat gestern in<br />
seinem umfassenden Vortrag hervorgehoben, dass zur Zeit in ganz Europa<br />
die Offensive eines schrankenlosen Individualismus festzustellen ist.<br />
Kämpfen wir also auf verlorenem Posten, können wir bestenfalls im abgeschlossenen<br />
Kirchenraum Werte leben?<br />
Meiner Einschätzung nach gibt es in Ost- und Westeuropa viele Beispiele,<br />
die dem widersprechen. Unser Podium umfasst Personen aus ganz unterschiedlichen<br />
Bereichen, Initiativen und Aktivitäten, die sich dafür einsetzen,<br />
dass Werte gelebt, weitergegeben und sogar immer mehr zum Leitbild<br />
werden können. Eröffnen möchte ich unser Gespräch mit Professor<br />
Stjepan Baloban. Er hat im Auftrag der kroatischen Bischöfe das Zentrum<br />
zur Förderung der Soziallehre in Kroatien aufgebaut, eine Einrichtung,<br />
die eine der Prioritäten im Verkündigungsauftrag und in der pastoralen<br />
Strategie der Bischofskonferenz bildet. Wie dieses Zentrum in die Gesellschaft<br />
wirkt, wie es in dieser schwierigen Neuorientierungsphase Akzente<br />
setzen kann, wird er uns am besten selbst sagen.<br />
157
Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb:<br />
Schon gestern hat Erzbischof Josip Bozanić von Zagreb dargelegt, dass<br />
sich die kroatische Gesellschaft im Umbruch befindet. Kroatien hat zwar<br />
viele Probleme, aber auch gute Perspektiven auf dem Weg in die Europäische<br />
Union. Was tun nun die Christen, wenn die Frage nach ihrem gesellschaftlichem<br />
Handeln gestellt wird? 87,8 % der Bevölkerung rechnen<br />
sich nach der Volkszählung von 2001 zur katholischen Kirche. Ich<br />
möchte besonders auf zwei Dinge hinweisen, unsere Laientreffen und das<br />
Zentrum zur Förderung der Soziallehre.<br />
Nach der Wende haben wir seit 1990 bis heute in Kroatien drei große<br />
Treffen von Laien organisiert. Mehr als 600 Laien aus verschiedenen Teilen<br />
Kroatiens haben 1992 über das Thema „Der Christ in der Kirche und<br />
in der Gesellschaft“ diskutiert. Im Mittelpunkt stand das Apostolische<br />
Schreiben „Christifideles laici“ von Papst Johannes Paul II. 1995 fand in<br />
Zagreb ein großes Treffen von ungefähr 1.000 Christen unter dem Thema<br />
„Kirche, Demokratie und Gemeinwohl in Kroatien“ statt. Dort haben wir<br />
über die Rolle der Laien in der Demokratie, in der Politik, in der Schule<br />
und in der Wirtschaft diskutiert. Im Oktober 2001 fand noch ein Treffen,<br />
diesmal in Osijek, über verschiedene aktuelle Fragen statt, und zwar unter<br />
dem Titel „Möglichkeiten der organisierten Tätigkeit von Laien in<br />
Kroatien“.<br />
Im November 1997 hat mit finanzieller Unterstützung von <strong>Renovabis</strong> das<br />
Zentrum zur Förderung der Soziallehre der Kirche seine Arbeit aufgenommen.<br />
Ich möchte mich als Leiter des Zentrums dafür bei <strong>Renovabis</strong><br />
ganz herzlich bedanken. Das Zentrum ist bis heute die einzige Institution<br />
dieser Art in Kroatien und spielt seit einigen Jahren in der kroatischen<br />
Gesellschaft mit seinen Veranstaltungen, Büchern, Rundfunksendungen<br />
und Seminaren eine wichtige Rolle. Grundsätzlich arbeiten wir in zwei<br />
Richtungen: a) Verbreitung der Soziallehre der Kirche; b) sozioreligiöse<br />
Untersuchungen zusammen mit der Theologischen Fakultät der Universität<br />
Zagreb. Einige Themen, die bisher bearbeitet wurden, möchte ich<br />
kurz nennen: der Christ im öffentlichen Leben; Herausforderungen der<br />
Zivilgesellschaft in Kroatien; die kroatische Familie im Umbruch; die<br />
soziale Zukunft der Kroaten; Christen, Nation, Politik und Europa. Bis<br />
158
jetzt haben wir neun Bücher herausgegeben, eins davon zweisprachig in<br />
deutsch und kroatisch. 1999 haben wir ein Treffen für Politiker unter dem<br />
Titel „Christentum, Kirche und Politik“ organisiert.<br />
Kroatien ist ein Reformland, in dem der Kommunismus im Leben und<br />
der Mentalität der Menschen tiefe Spuren hinterlassen hat. Die vergangenen<br />
zwölf Jahre haben gezeigt, dass die kroatische Gesellschaft nur<br />
schwer mit sozialen Problemen umgehen kann. Was dieser Gesellschaft<br />
fehlt, ist Wissen, Bildung und auch Tradition. In den postkommunistischen<br />
Gesellschaften muss es unbedingt zu einem Strukturwandel und<br />
auch zu einem Bewusstseinswandel kommen. In Kroatien gibt es kein<br />
adäquates Netz von Institutionen und Mechanismen, das den Menschen<br />
die Möglichkeit böte, den zweifellos vorhandenen guten Willen in gute<br />
Taten einmünden zu lassen. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem<br />
Zusammenhang die Frage der Entstehung und Entfaltung der Zivilgesellschaft.<br />
Die Gefahr besteht, dass die Zivilgesellschaft in den Reformländern<br />
ohne Engagement und Einflussnahme der christlichen Laien geschaffen<br />
wird. Die Christen können und müssen aber beim Aufbau der<br />
Demokratie eine bedeutende Rolle spielen.<br />
Unser Zentrum bemüht sich gerade deshalb auch darum, das Interesse für<br />
soziale Fragen bei den Laien, in den Pfarreien, in Laienorganisationen<br />
und nicht zuletzt bei den Medien weiter zu entwickeln. Wichtig ist die<br />
Heranbildung von Multiplikatoren unter den jungen Leuten in den einzelnen<br />
Diözesen, die dann planmäßig die Soziallehre der Kirche in das<br />
ganze Land tragen sollen. Außerdem werden Seminare für Personen veranstaltet<br />
werden, die in den Diözesen Sozialbüros leiten sollen. Schließlich<br />
führt das Zentrum zusammen mit der kroatischen Caritas ein Projekt<br />
über die Erforschung der Armut in Kroatien durch. In den nächsten drei<br />
Jahren ist in einigen kroatischen Diözesen die Eröffnung von Zweigstellen<br />
des Zentrums geplant.<br />
Der 6. Internationale <strong>Kongress</strong> <strong>Renovabis</strong> neigt sich dem Ende zu. Haben<br />
wir Antworten auf die verschiedenen Fragen erhalten? Ich halte es für<br />
wichtig, dass wir am Schluss noch einmal den Untertitel „Gesellschaftliches<br />
Handeln in christlicher Verantwortung“ aufgreifen. Bernhard Häring,<br />
einer meiner Lehrer in Rom, ein bekannter Moraltheologe, hat für<br />
159
das christliche Leben folgendes Motto vorgeschlagen „Die Verantwortung<br />
kommt aus der kreativen Freiheit und der kreativen Treue“. Die Referate<br />
und Diskussionen auf dem <strong>Kongress</strong> haben gezeigt, dass das größte<br />
Problem für die Christen in Deutschland, in Westeuropa ebenso wie für<br />
die Christen in den Reformländern folgendes ist und bleibt: Wie kann<br />
man als Christ im öffentlichen Leben, in den Medien, in der Politik, in der<br />
Wirtschaft mit Erfolg wirken? Ich habe bisher keine überzeugenden Rezepte<br />
gehört – und das ist auch gut so. Wir alle, die Christen in den ehemals<br />
kommunistischen Ländern und die Christen in den westeuropäischen<br />
Demokratien sind aufgerufen, für die neue Situation neue Wege zu<br />
suchen. In diesem gemeinsamen Suchen können wir uns gegenseitig bereichern.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Rechts neben mir sitzt Frau Rita Waschbüsch, die auf ein vielfältiges Engagement<br />
in Politik und gesellschaftlichem Handeln über viele Jahre<br />
hinweg im katholischen Raum in Deutschland zurückblicken kann, das<br />
sie weiterhin noch tatkräftig mitgestaltet. Frau Waschbüsch ist maßgeblich<br />
mit der Gründung der Aktion <strong>Renovabis</strong> verbunden als damalige<br />
Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Auch jetzt ist<br />
sie noch in unseren Gremien an verantwortlicher Stelle im Aktionsausschuss<br />
und im Vorstand tätig.<br />
Frau Waschbüsch, vorgestern Abend fiel im Hinblick auf die Gesellschaften<br />
in Mittel- und Osteuropa der Begriff „Entsolidarisierung“. Auch bei<br />
uns im Westen konnte man in den letzten Jahren immer wieder vergleichbare<br />
Warnungen hören, wonach Solidarität ein verblassender Wert sei. Ist<br />
er inzwischen noch weiter verblasst? Teilen Sie diese Skepsis, wenn Sie<br />
auf Ihr Engagement und auf Ihre Erfahrung zurückblicken?<br />
Rita Waschbüsch, Lebach:<br />
Keineswegs teile ich diese Skepsis. Die Skepsis in Osteuropa ist entstanden,<br />
weil Solidarität und Wille zur Solidarität missbraucht worden sind.<br />
Diktaturen missbrauchen die guten Absichten der Menschen, leiten sie<br />
oft in falsche Bahnen – und das weckt Enttäuschung. Die guten Erfahrun-<br />
160
gen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland mit der Solidarität gemacht<br />
haben, sind ein Ansporn für uns. Unabhängig davon bleibt der<br />
Auftrag an die Christen, aus dem Evangelium heraus solidarisch zu sein<br />
und das Gebot „Liebe deinen Nächsten!“ ernst zu nehmen.<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich an die jüngere Geschichte erinnern,<br />
an die Gründer Europas, so wie wir es anstreben, an Robert Schuman,<br />
Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer. Natürlich ist Gott der<br />
Herr der Geschichte, aber Menschen handeln in der Geschichte, und gerade<br />
diese drei Personen, die am Anfang der europäischen Idee stehen,<br />
haben sich Gott verpflichtet gefühlt. Ihr Wirken war auch Diakonia,<br />
Weltdienst von Christen. Auch die Geschichte der Deutschen in der Bundesrepublik<br />
Deutschland sollte man erwähnen, in der versucht worden<br />
ist, etwa in unserem Grundgesetz, aus den schlimmen und bitteren Erfahrungen<br />
der Nazizeit Konsequenzen zu ziehen. Vieles davon dürfte<br />
unseren ausländischen Gästen nicht so sehr präsent sein, darum möchte<br />
ich doch betonen, dass es vor allem Christen waren, die zusammen mit<br />
anderen Gutwilligen das geschaffen haben, worauf wir eine Gesellschaft<br />
aufbauen konnten, die die freieste ist, die es bisher auf deutschem Boden<br />
gegeben hat. Das von den Christen geforderte Prinzip der Solidarität<br />
spielte dabei eine entscheidende Rolle. Dass Christen sich engagiert haben,<br />
dass sie sich herausgefordert fühlen, hat auch mit der Geschichte<br />
des Katholizismus in Deutschland zu tun. Mehrfach wurde hier das Zentralkomitee<br />
der deutschen Katholiken (ZdK) erwähnt. Den Menschen aus<br />
den ehemaligen kommunistischen Länder sage ich immer: „Seien Sie<br />
getrost, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat es schon lange<br />
vor den kommunistischen Zentralkomitees auf der Welt gegeben, und es<br />
wird länger bestehen als alle kommunistischen Zentralkomitees.“ Der<br />
Name mag merkwürdig klingen, aber es ist tatsächlich der Zusammenschluss<br />
von Christen, von katholischen Laien in enger Verbindung mit<br />
den Bischöfen und den Priestern seit 150 Jahren gewesen. Mitte des<br />
19. Jahrhunderts dachte man darüber nach, was in der Gesellschaft und<br />
für die Gesellschaft aus christlichem Engagement heraus getan werden<br />
könne. Menschen aus diesem Umfeld des ZdK, und natürlich auch evangelische<br />
Christen, engagierte evangelische Laien, haben auch 1949 erkannt,<br />
dass gehandelt werden muss. Nicht nur die aktuelle Diskussion<br />
161
um Fragen der Bioethik in Deutschland ist ein Beispiel dafür, sondern es<br />
ging von Anfang an um Mitgestaltung in vielen Feldern der Politik und<br />
Gesellschaft. Die Christen in Deutschland haben sich in Fragen der Familienpolitik,<br />
des Lebensschutzes, der sozialen Gerechtigkeit zu Wort<br />
gemeldet und ihre Überzeugungen vertreten. Sie waren und sind aber<br />
auch zum Handeln bereit, indem sie in den Gemeinden, in den Landesparlamenten<br />
und im Bundestag Mandate übernommen haben – also<br />
nicht nur mitreden, sondern auch selbst handeln, mit allen damit verbundenen<br />
Risiken. Denn eines ist sicher: Wer handelt, wer sich einsetzt,<br />
setzt sich immer auch der Kritik aus, wird immer auch Fehler machen.<br />
Wenn wir aber aus festem Willen und bestem Gewissen heraus handeln<br />
– und wir Christen haben ja im Evangelium das Rüstzeug dazu –, können<br />
wir unsere Anliegen überzeugt vertreten. Natürlich sagt das Evangelium<br />
nicht, wie man Steuergesetze gerecht macht, aber den Grundgedanken<br />
der Gerechtigkeit kann man daraus ableiten, ebenso den Grundgedanken,<br />
wie Leben zu schützen ist.<br />
So beurteile ich die Chancen für die Umsetzung christlicher Werte in unserem<br />
Land. Ich sehe das nicht naiv in zu rosigen Farben, sondern weiß<br />
auch um die Schwierigkeiten. Professor Meyer hat dies gestern erwähnt.<br />
Sein Vorgänger im Amt des Präsidenten des ZdK, Hans Maier, hat ein<br />
sehr lesenswertes Büchlein mit dem Titel „Welt ohne Christentum – was<br />
wäre anders?“ geschrieben. Wie würde die Welt denn eigentlich ohne das<br />
Christentum, ohne die christlichen Werte aussehen? Wie stünde es denn<br />
mit der aktuellen bioethischen Debatte, wenn nicht – manchmal unter<br />
sehr großen Mühen und mit sehr großem Widerstand und Gegenwind –<br />
die evangelischen und katholischen Christen gemeinsam in diesem Land<br />
um die Bewusstseinsbildung nicht nur der Abgeordneten, sondern auch<br />
der Bevölkerung dafür gestritten hätten, dass das menschliche Leben von<br />
seinem natürlichen Beginn als Embryo bis zum natürlichen Tod zu schützen<br />
ist? Wie stünde es um die Familienpolitik in diesem Lande, wenn<br />
nicht immer wieder die Christen mit anderen Gleichgesinnten darauf hingewiesen<br />
hätten, dass heutzutage Familien Kinder groß ziehen, deren<br />
Zukunft in diesem Wohlstandsland nicht gut gesichert ist?<br />
In drei Wochen wird ein neuer Bundestag gewählt, und bei allen Parteien<br />
ist die Familienpolitik ein Thema. Der Kanzler hat noch vor vier Jahren<br />
162
gesagt, Frauen und Familienpolitik seien „Gedöns“, womit er sich vielleicht<br />
scherzhaft, aber doch ziemlich abwertend zu dieser entscheidenden<br />
Thematik geäußert hat. Ich möchte das hier nicht vertiefen. Ich möchte<br />
nur noch einmal betonen, dass es überhaupt nichts nützt, wenn Christen<br />
schöne Beschlüsse in Freising oder anderswo fassen. Entscheidend ist<br />
unser Handeln. Gott hat nur unsere Hände, nur unsere Füße und nur unseren<br />
Kopf in dieser Gesellschaft. Wir müssen bereit sein, uns selbst in<br />
diese Gesellschaft einzubringen.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Ich begrüße weiterhin auf dem Podium Frau Beata Broczky. Sie ist die<br />
Geschäftsführerin der ungarischen Kommission „Justitia et Pax“. An dieser<br />
Stelle möchte ich einmal etwas weiter ausholen: Es war die Rede von<br />
Missbrauch, Monopolisierung und Instrumentalisierung der Werte und<br />
Wertbegriffe durch totalitäre Ideologien. Frieden und Gerechtigkeit<br />
waren solche Begriffe, die in ganz besonderem Maße in der kommunistischen<br />
Ideologie vereinnahmt wurden und dann von Werten zu Herrschaftsinstrumenten<br />
oder zumindest zu Propagandaworthülsen degradiert<br />
worden sind. Die Kommission „Justitia et Pax“ gibt es weltweit seit dem<br />
Pontifikat Papst Paul VI., der ihre Gründung im Vollzug des Zweiten Vatikanischen<br />
Konzils angeregt hat. In den mittel- und osteuropäischen<br />
Staaten war die Entstehung die Kommissionen naturgemäß erst nach<br />
1989 möglich, weil die Monopolisierung der Beschäftigung mit diesen<br />
Begriffen durch die kommunistischen Systeme das vorher verhindert hat.<br />
In den Kommissionen „Justitia et Pax“ versucht man, zentrale christliche<br />
Begriffe als Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Die ungarische Kommission<br />
„Justitia et Pax“ hat sich – ich möchte das besonders hervor heben<br />
– in den letzten Jahren eine Namen gemacht, weil sie versucht, in Südosteuropa<br />
in der dortigen Situation nach den Kriegen auf dem Balkan<br />
Plattformen für Gespräche anzubieten und Modelle zu gestalten, wie die<br />
Gesellschaften nach dem Ende des Krieges, nach den Verheerungen moralischer<br />
und materieller Art wieder Fuß fassen können und wie vor allem<br />
konkrete Hilfe beschlossen werden kann. Frau Broczky, berichten Sie<br />
bitte etwas über diese auch internationale Dimension von Solidarität und<br />
Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit!<br />
163
Beata Broczky, Budapest:<br />
Unsere große Chance besteht darin, dass „Justitia et Pax“ sich im öffentlichen<br />
Leben einsetzen kann, ohne selbst eine Partei zu sein. Die Kommission<br />
entstand 1994 im Rahmen eines Strukturaufbauprogramms der europäischen<br />
Konferenz „Justitia et Pax“, auch dank der großzügigen Hilfe<br />
von <strong>Renovabis</strong>. Die Arbeit in Ungarn konnte 1997 aufgenommen werden.<br />
Wir möchten dafür unseren Partnern in Deutschland und in den<br />
anderen Ländern Westeuropas noch einmal herzlich danken. Grundlage<br />
unserer Tätigkeit sind die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils<br />
und die christliche Soziallehre. Unsere Arbeit umfasst Projekte zu Themen<br />
wie Versöhnung und Globalisierung. Dies möchte ich mit einigen<br />
Beispielen illustrieren.<br />
Versöhnungsarbeit ist an sich nicht neu, denn die Beziehungen zwischen<br />
den Völkern in der Nachbarschaft Ungarns sind durch Vorwürfe und Vorurteile<br />
vergiftet. Weil Kirche und Religion in diesem Prozess bis heute<br />
eine große Rolle spielen, müssen wir die Frage nach ihrem Einfluss auf<br />
die Nationen und die Nationalkultur stellen. Dabei sind die Ergebnisse<br />
gemischt, es gibt nicht nur „schwarz“ und „weiß“. So haben wir im Rahmen<br />
des Stabilitätspakts im Mai 2000 religiöse Würdenträger nach Budapest<br />
eingeladen. Erinnern Sie sich bitte daran, dass die Situation in Südosteuropa,<br />
besonders im ehemaligen Jugoslawien, damals sehr kritisch<br />
und voller Spannungen war! Anwesend waren neben katholischen und<br />
orthodoxen Würdenträgern auch der Obermufti von Bulgarien als Vertreter<br />
der türkischen Minderheit, weitere islamische Würdenträger und Vertreter<br />
der Konferenz europäischer Kirchen. Ökumenische bzw. interreligiöse<br />
Zusammenarbeit ist in einer solchen Krisenlage ganz entscheidend.<br />
Natürlich waren auch ungarische Regierungsvertreter und Journalisten<br />
dabei. Ein solches Treffen trägt zum Abbau von Spannungen bei.<br />
Als weiteres Beispiel möchte ich die Beziehungen zwischen der Slowakei<br />
und Ungarn ansprechen. Unsere Kommission hat dazu zwei Treffen in den<br />
letzten beiden Jahren organisiert, in Komárom und Esztergom, Grenzstädten<br />
an der Donau. Die neue Brücke zwischen der Slowakei und Ungarn ist<br />
zwar noch nicht ganz fertig, aber wir haben versucht, eine „lebendige“<br />
Brücke zu errichten. Mehr als hundert Teilnehmer aus den beiden Ländern<br />
haben über die geschichtlichen Fundamente der beiderseitigen Beziehun-<br />
164
gen diskutiert und kamen zu dem Ergebnis, dass es zwischen Ungarn und<br />
der Slowakei viele Konflikte gibt, die nicht von einem einseitigen Standpunkt<br />
aus betrachtet oder gar gelöst werden können. Das ist ein schmerzhafter<br />
Prozess, in dem wir sehr viel voneinander lernen können.<br />
1998 organisierten wir eine Konferenz über sicherheitspolitische Fragen,<br />
an der u.a. Jan Čarnogourski aus der Slowakei, Adrian Severin, der ehemalige<br />
Außenminister von Rumänien, und mehrere katholische Bischöfe<br />
aus Rumänien teilgenommen haben. Dort ging es um die Konsequenzen<br />
der ungarischen NATO-Mitgliedschaft. Diese Veranstaltung wurde übrigens<br />
zusammen mit der österreichischen Kommission „Justitia et Pax“<br />
organisiert.<br />
Ein anderer Themenbereich ist die Globalisierung. Wir haben im November<br />
2000 eine Konferenz zur Frage „Globalisierung und internationale<br />
Kapitalbewegung“ durchgeführt. Unsere Gäste waren Ökonomen aus allen<br />
gesellschaftlichen Bereichen, also nicht nur Christen, Vertreter von<br />
Banken und Politiker, u.a. der jetzige Ministerpräsident, der damals Präsident<br />
einer ungarischen Handelsbank war. Sehr viele positive Ergebnisse<br />
zeigten sich auch von dieser Konferenz. Am 29. und 30. November <strong>2002</strong><br />
werden wir zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung eine Konferenz<br />
zum Thema „Globalisierung und europäische Werte“ veranstalten,<br />
an der deutsche, österreichische und ungarische Fachleute, Professoren<br />
und kirchliche Würdenträger teilnehmen werden. Außerdem führen wir<br />
die Südosteuropa-Konferenzen unter dem Thema „Die Korrelation zwischen<br />
Kultur und Kirche“ weiter. Das sollen nur einige Beispiele für unsere<br />
weitgespannte Arbeit sein.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Herzlichen Dank für dieses eindrucksvolle Bild und die vielfältigen Engagements!<br />
Schließlich ist Herr Pavol Kossey aus Bratislava in der Slowakei<br />
auf das Podium gekommen. Er war einige Jahre lang geschäftsführender<br />
Sekretär der Laienkommission der slowakischen Bischofskonferenz;<br />
heute ist er als internationaler Sekretär der christlich-demokratischen<br />
Bewegung, also einer politischen Partei, tätig. Ich möchte eine<br />
Frage an Sie richten. Herr Professor Baloban hat festgestellt, dass der<br />
Einfluss der katholischen Laien auf die Zivilgesellschaft in Kroatien zu<br />
165
schwach ist und dass sich Zivilgesellschaften ohne den Beitrag der katholischen<br />
Laien zu bilden drohen. Nun ist die Slowakei ein Land, in dem<br />
sich katholische Laien schon bald nach der Wende in großer Vielfalt wieder<br />
organisiert und innerhalb und außerhalb der Kirche zu Wort gemeldet<br />
haben. Können Sie die Feststellungen von Professor Baloban bestätigen<br />
oder haben Sie andere Erfahrungen?<br />
Pavol Kossey, Bratislava:<br />
Meine Aufgabe, in der slowakischen Gesellschaft aktiv christliche Prinzipien<br />
zu vertreten, ist nicht so schwer wie die von Professor Fedorov im<br />
großen Russland. Trotzdem haben wir unsere Schwierigkeiten, denn auch<br />
in der Slowakei läuft nicht alles so einfach. Als Einstiegsinformation<br />
möchte ich ganz kurz von den Resultaten der Volkszählung im Mai letzten<br />
Jahres sprechen. Im Vergleich mit der Zählung von 1991 hat der Anteil<br />
der Christen zugenommen. Zur römisch-katholischen Kirche bekennen<br />
sich 69 % der Bevölkerung, zur griechisch-katholischen etwa 4 %,<br />
zur evangelischen Kirche ca. 7 %, das macht zusammen 80 %, mit den<br />
sonstigen Christen ungefähr 84 % der Bevölkerung. Diese großen Zahlen<br />
belegen, dass die Religion in der Slowakei immer noch eine wichtige<br />
Rolle spielt. Die reale Präsenz der Gläubigen in der Gesellschaft entspricht<br />
aber meiner Meinung nach gar nicht diesem Prozentsatz. Es gibt<br />
Schätzungen, nach denen in den großen Städten ca. 10 %-15 % der Bevölkerung<br />
regelmäßig die Kirche besuchen, auf dem Land 15 %-20 % –<br />
aber es gibt auch noch Dörfer, besonders in der Nord- und Ostslowakei,<br />
wo mehr als 50 % der Bewohner zu den Sonntagsmessen gehen.<br />
Trotz aller Schwierigkeiten glaube ich sagen zu können, dass mein Apostolat<br />
und der Einsatz vieler anderer Gleichgesinnter aus christlicher Sicht<br />
in der Gesellschaft wirksam ist. Es gibt ca. 30 Laienbewegungen, die in<br />
der ganzen Slowakei tätig sind, und ca. 40 christliche Vereine und Organisationen,<br />
die in verschiedenen Bereichen zur Christianisierung der Gesellschaft<br />
beizutragen versuchen. Wenn ich diese Zahlen und ihre Qualität<br />
beschreiben soll, möchte ich mit einer Episode aus dem Leben Papst<br />
Johannes XXIII. antworten. Er wurde einmal gefragt, wieviele Mitarbeiter<br />
im Vatikan arbeiten. Er hat dann eine Weile nachgedacht und geantwortet:<br />
„Etwa die Hälfte.“<br />
166
Die Hauptstrukturen zur Koordinierung und Unterstützung des Laienapostolates<br />
befinden sich noch in einer Entwicklungsphase. Das ist vielleicht<br />
zu bedauern, wird aber hoffentlich bald vorbei sein. Bei der Bischofskonferenz<br />
gibt es den Rat für apostolische Laienbewegungen, daneben<br />
das Forum für christliche Institutionen. Ich kann jetzt nicht auf alle<br />
Details eingehen, meiner Überzeugung nach entwickelt sich die Situation<br />
der Kirche und besonders der Laienorganisationen jedoch ziemlich positiv.<br />
Allerdings müsste die Koordination der Laienorganisationen verbessert<br />
werden, was dann zu Selbstvertrauen und mehr Professionalität führen<br />
würde.<br />
Die Diskussion mit der Gesellschaft und in der Gesellschaft über ihre<br />
Zukunft als Bürgergesellschaft hat bereits begonnen. Im Juni dieses Jahres<br />
hat das Forum für öffentliche Fragen eine öffentliche Diskussion in<br />
der Universität in Bratislava organisiert, an der 600 Personen teilgenommen<br />
haben. Im Oktober wollen wir eine weitere Diskussion mit Spitzenpolitikern<br />
über die Grundwerte in der Gesellschaft führen. Dabei sollen<br />
auch Fragen wie Schutz des Lebens, Familienunterstützung, Umgang mit<br />
Drogen angesprochen werden.<br />
Die slowakischen Laien gelten als sehr papsttreu. Heilige sind wir sicher<br />
nicht, aber wir versuchen, Gottes Willen zu gehorchen, offen für ihn zu<br />
sein und ihn im täglichen Leben in der Gesellschaft zu verwirklichen, am<br />
Arbeitsplatz, im Familienleben und allgemein in der Nächstenliebe. Das<br />
nächste Treffen des Forums der christlichen Institutionen wird unter dem<br />
Thema „Träger der Hoffnung in der Gesellschaft“ stehen. Das ist für uns<br />
der Kern dessen, was wir als Laien für die Gesellschaft leisten sollten: in<br />
ihr Zeichen der Hoffnung sein.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Ich möchte nun das Publikum einladen, Fragen an das Podium zu richten.<br />
Prof. Dr. Manfred Spieker, Osnabrück:<br />
Meine Frage geht an Herrn Professor Baloban. Sie haben die Tätigkeitsfelder<br />
Ihres Zentrums beschrieben. Das sind alles wichtige Aufgaben,<br />
167
und man kann dazu nur gratulieren. Ein wichtiges Feld fehlte mir aber,<br />
die Priesterausbildung. Welche Rolle spielt die Soziallehre der Kirche in<br />
der Priesterausbildung? Jetzt werden Sie vielleicht sagen, dass es nicht<br />
Sache Ihres Zentrums sei, sondern der Fakultät oder später der Weiterbildung<br />
derjenigen Priester, die schon im Amt sind und die Soziallehre der<br />
Kirche in kommunistischen Zeiten nicht kennen lernen konnten. Das ist<br />
in allen Transformationsländern ein großer Schwachpunkt und scheint zu<br />
bestätigen, was zwei amerikanische Jesuiten in einem Buch beschrieben<br />
haben, das den Titel „Die Soziallehre der Kirche. Our best kept secret“ –<br />
„Das bestgehütete Geheimnis der Kirche“ trägt.<br />
Pater Eugen Hillengass SJ, München:<br />
Für mich ist sehr beeindruckend, was sowohl in der Slowakei als auch in<br />
Ungarn bereits alles geschieht. Besonders würde mich interessieren, ob<br />
die Arbeit von „Justitia et Pax“ auch weiter nach Osten ausstrahlt. Kann<br />
<strong>Renovabis</strong> dabei noch mehr als bisher helfen?<br />
Dr. Anton Neuwirth, Bojnice:<br />
Ich komme aus der Slowakei und möchte meine Frage an Frau Broczky<br />
richten. Frau Broczky hat ein sehr wichtiges Thema angeschnitten, die<br />
Beziehungen zwischen den Nationen. Wir haben aus historischen Gründen<br />
tatsächlich Probleme zwischen den Slowaken und den Ungarn, aber<br />
ich meine, diese Probleme wären nicht so groß, wenn die Kinder von der<br />
ersten Schulklasse an einen richtigen Geschichtsunterricht hätten. Jede<br />
Nation erklärt nämlich gewisse Ereignisse der Geschichte aus ihrer Sicht,<br />
und das ist meist nicht rational, sondern affektiv und damit einseitig. Dadurch<br />
wurden beispielsweise die Franzosen zu den Erbfeinden der Deutschen<br />
gemacht. Ähnlich ist es zwischen den Ungarn und den Slowaken.<br />
Gemeinsam erstellte Schulbücher würden da sicher Abhilfe schaffen<br />
können. Es hat zwar schon einige Kommissionen dazu gegeben, aber sie<br />
haben den Fehler begangen, dass sie einfach einen Durchschnitt gemacht<br />
haben, der keiner Seite ganz gerecht geworden ist. Wir müssen aber irgendwie<br />
versuchen, feindliche Grundhaltungen schon bei den Kindern zu<br />
überbrücken. Vielleicht kann da „Justitia et Pax“ etwas bewirken. Auch<br />
für <strong>Renovabis</strong> wäre das eine wichtige Aufgabe.<br />
168
Prof. Dr. Philipp Harnoncourt, Graz:<br />
Meine Frage geht in die Richtung des Vertrauensverhältnisses zwischen<br />
den Laien und den Geistlichen in den ehemals kommunistischen Ländern.<br />
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Kardinal Bengsch, 1975 oder<br />
noch früher; er hat mir damals gesagt, in einer kommunistischen Diktatur<br />
könnte die Kirche nur durch den Klerus sprechen, für Laieninitiativen<br />
wäre das außerordentlich schwierig. Vor drei Jahren hat es ein ähnliches<br />
Podium wie das heutige in der Ukraine gegeben, wo über die Verantwortung<br />
der Kirche und der Christen gesprochen worden ist. Daran haben nur<br />
Geistliche teilgenommen, und es ist ihnen in erster Linie darum gegangen,<br />
dass die Kirche ihre Rechte bekommt. Hier und heute sehe ich mit<br />
großer Freude, dass Laien in diesen Ländern christliche Verantwortung<br />
übernehmen. Wieweit dürfen sie das in Eigenverantwortung, wieweit<br />
erlauben die einzelnen Bischöfe den Laien, dies zu tun?<br />
Bischof Dr. Szilárd Keresztes, Nyiregyhaza:<br />
Ich habe keine Frage an das Podium, sondern eine allgemeine Bemerkung<br />
zum <strong>Kongress</strong>. Priester und Laien in ganz Europa leben heute in einer<br />
stark kirchenfernen, oft sogar antichristlichen Umgebung. Wenn wir<br />
das christliche Erbe bewahren wollen, ist der Einsatz aller, gerade auch<br />
der christlichen Politiker, sehr wichtig. Für die Politik und die Wirtschaft<br />
haben wir heute morgen die von Dr. Friedrich angeführten Beispiele gehört.<br />
Alle Christen in Europa sind dazu aufgefordert, einen neuen Weg zu<br />
finden, wie ihn das Evangelium beschrieben hat. Dazu gehören Geduld,<br />
Demut, Dienstbereitschaft, Freundschaft und Respekt für den Nächsten.<br />
Ich bin sehr dankbar, dass <strong>Renovabis</strong> einen <strong>Kongress</strong> organisiert hat, auf<br />
dem wir uns mit dieser Realität Europas auseinandersetzen konnten. Nur<br />
das offene Gespräch kann uns weiterhelfen.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Herzlichen Dank für diese ermutigenden Worte, die auch für die Arbeit<br />
von <strong>Renovabis</strong> sehr wichtig sind! Nun möchte ich das Wort an Professor<br />
Baloban weitergeben.<br />
169
Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb:<br />
Vielen Dank für Ihre Frage, Herr Professor Spieker! Ich lehre an der<br />
Theologischen Fakultät der Universität Zagreb Moraltheologie und Soziallehre<br />
und bemühe mich daher, diese Themen dem Priesternachwuchs<br />
zu vermitteln. Auch die Laien, die Theologie studieren, beschäftigen sich<br />
mit der Soziallehre. Das eigentliche Problem besteht aber darin, wie die<br />
Soziallehre der Kirche in die Praxis umgesetzt werden kann. Ich glaube,<br />
dass wir dafür einfach Zeit brauchen, damit die jungen Leute ihr Wissen<br />
in der Praxis, in den Gemeinden anwenden können. Was das Verhältnis<br />
zwischen Priestern und Laien angeht, bestehen Schwierigkeiten auf beiden<br />
Seiten. Nach der Wende 1990 versuchten wir, neue Beziehungen<br />
zwischen Priestern und Laien in Kroatien zu finden und zu fördern. Das<br />
Ganze müsste sich aber noch offener gestalten. Auf Seiten der Bischöfe<br />
und Priester ebenso wie auf Seiten der Laien braucht es guten Willen,<br />
aber auch Zeit.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Zwei Fragen haben sich im Wesentlichen an Frau Broczky gerichtet. Zum<br />
einen ging es um die Auswirkungen der Arbeit von „Justitia et Pax“ über<br />
den engeren Raum Ungarns hinaus, zum anderen um die Vermittlung<br />
eines neuen Geschichtsbildes zwischen Ungarn und der Slowakei.<br />
Beata Broczky, Budapest:<br />
Die Öffnung nach Osten, Pater Hillengass, ist für uns sehr wichtig. In<br />
diesem Jahr haben wir mit verschiedenen Kursen begonnen, teils als Mitveranstalter,<br />
für die ungarische Minderheiten in Siebenbürgen (Rumänien),<br />
in Tirgu Mures¸ und in Oradea. Wir wollen uns dort für die Verbreitung<br />
christlicher Modelle in der Verwaltung und der Politik einsetzen.<br />
Darüber hinaus möchten wir mittelfristig einer „Justitia et Pax“-Kommission<br />
in Rumänien auf die Beine helfen.<br />
Was die Minderheiten, ihr Zusammenleben und das Geschichtsbild angeht,<br />
so kann ich sagen, dass es da auch ermutigende Ansätze gibt. Natürlich<br />
gab es Spannungen, aber auch Phasen friedlichen Zusammenlebens.<br />
Die ungarische Kommission „Justitia et Pax“ engagiert sich mit bei der<br />
170
Gestaltung eines gemeinsamen Lehrbuches über die Geschichte der<br />
Ungarn und Slowaken.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Frau Waschbüsch wollte zu diesen beiden Fragen ebenfalls kurz Stellung<br />
nehmen.<br />
Rita Waschbüsch, Lebach:<br />
Die Frage der Minderheiten, des Verhältnisses zwischen Ungarn und Slowaken,<br />
hat mich berührt, denn ich stamme aus dem westlichen Teil der<br />
Bundesrepublik, nahe der französischen Grenze, wo es eine ähnliche Entwicklung<br />
gegeben hat. Diese Grenzregion wurde in der Geschichte von<br />
viel Schmerz und Leid geprägt. Seit 1945 hat sich das völlig geändert,<br />
jetzt gibt es überhaupt keine Probleme mehr. Das hat meines Erachtens<br />
damit zu tun, dass man die Minderheiten gegenseitig als solche anerkennt<br />
und sie als Gewinn betrachtet. Wenn die Europäische Union bei ihrer Erweiterungspolitik<br />
darauf drängt, dass man entsprechende Minderheitenstandards<br />
einführt und beachtet, dann eben deshalb, damit sich die Minderheiten<br />
entfalten und Freundschaften zwischen unterschiedlichen<br />
Menschen entstehen können. Das baut nämlich die Vorurteile ab. Die<br />
Frage des Geschichtsunterrichts spielt dabei natürlich eine ganz wichtige<br />
Rolle. Ich denke da, wenn es um Deutschland und Frankreich geht, an<br />
meine Jugend, als meine Großmutter den Refrain eines Gedichtes zitierte,<br />
den nach dem Krieg 1870/71 alle deutschen Kinder lernen mussten „und<br />
ewig dräuet, dräuet der Erbfeind“. Die Franzosen waren der „Erbfeind“,<br />
und in den Schulen Frankreichs waren es umgekehrt die Deutschen.<br />
Heute sind die Saarländer aus meiner Heimat stolz, wenn sie zu einem<br />
Volksfest auf die andere Seite der Grenze gehen. Auch die Franzosen haben<br />
gelernt und ermöglichen es heute, dass die Elsässer und Lothringer<br />
deutscher Zunge ihre Muttersprache pflegen können.<br />
Ich wollte noch etwas zum Vertrauensverhältnis zwischen Priester und<br />
Laien bemerken. Herr Kossey hat gesagt, die Slowaken seien sehr papsttreu.<br />
Manche Deutsche glauben das von sich selbst nicht so sehr, aber im<br />
Grunde genommen sind sie es doch. Mir hat einmal eine junge Polin beim<br />
<strong>Renovabis</strong>-<strong>Kongress</strong> vor ein paar Jahren gesagt: „Ihr deutschen Laien kriti-<br />
171
siert den Papst zu sehr, ihr liebt ihn nicht.“ Ich habe ihr geantwortet: „Wir<br />
lieben ihn vielleicht etwas kritischer als die Polen, aber wir lieben ihn<br />
auch.“ Es kann unterschiedliche Herangehensweisen geben, auch im Verhältnis<br />
Laien und Priester. Ich möchte dazu etwas aus der Geschichte von<br />
<strong>Renovabis</strong> ergänzen. Vor einigen Jahren haben wir eine Arbeitsgruppe<br />
„Laien“ gegründet, und diese Arbeitsgruppe „Laien“ hat die Bischöfe, die<br />
in den osteuropäischen Ländern für Laienarbeit zuständig sind, nach Freising<br />
eingeladen. Weihbischof Schwarz hat damals die Einladung an die Bischöfe<br />
unterschrieben, es kamen zwölf Bischöfe – und sie waren, glaube<br />
ich, ein wenig schockiert, als bei der Eröffnung des Gesprächs nicht Weihbischof<br />
Schwarz in der Mitte saß, sondern ich. Er hatte nämlich vorher zu<br />
mir gesagt: „Sie sind die Vorsitzende, also arbeiten Sie jetzt einmal.“ Er hat<br />
sich dann zur Seite gesetzt, und ich habe die Bischöfe, die für die Laienarbeit<br />
zuständig sind, begrüßt. Das fanden sie offensichtlich sehr merkwürdig<br />
– ein Laie und dazu auch noch eine Frau! Wir haben zwei Tage miteinander<br />
diskutiert, und ich glaube, dass den Laien die Sorge der Bischöfe deutlich<br />
geworden ist, aber auch, dass die Bischöfe gemerkt haben, dass es uns genauso<br />
ein Anliegen ist, dass Kirche lebt und wächst. Einem Bischof, der<br />
sehr skeptisch war, habe ich am Rande des Gespräches gesagt: „Warum<br />
glauben Sie nicht, dass den Laien die Kirche genauso am Herzen liegt wie<br />
Ihnen? Ich bin Mutter von fünf Kindern, ich muss doch genauso interessiert<br />
sein, dass Kirche lebt, dass Kirche existieren kann. Warum glauben Sie<br />
nicht, dass Taufe und Firmung auch die Laien verpflichten und binden?“<br />
Begegnungen dieser Art sind ganz entscheidend. Nur so kann die Kirche,<br />
der eine Leib Christi mit unterschiedlichen Gliedern und unterschiedlichen<br />
Gaben, die verschiedenen Aufgaben erfüllen. Ich denke an die schon<br />
erwähnte Magna Charta der Laienarbeit, an „Christifideles laici“, und<br />
würde mir wünschen, dass dieses großartige Dokument über die Rolle<br />
der Laien in der Kirche bei der Priesterausbildung in Ost und West stärker<br />
berücksichtigt würde.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Vielen Dank für Ihre ausführliche Stellungnahme! Ich möchte zur<br />
Schlussrunde kommen und stelle eine Frage, deren Antwort bei jedem<br />
von Ihnen möglichst aus nur einem Satz bestehen sollte. Wie setzt man<br />
172
die Werte in der Gesellschaft um? Herr Professor Baloban, Sie haben<br />
gesagt, „unser größtes Problem ist es, wie man es mit Erfolg tun kann“.<br />
Nun ist Erfolg keiner der Namen Gottes, aber er hindert uns wirklich<br />
nicht daran, uns Ziele zu setzen. Herr Kossey, was ist Ihr nächstes Ziel?<br />
Pavol Kossey, Bratislava:<br />
Ich schließe mit einer Ermahnung von Otto von Habsburg, der uns im<br />
Dezember voriges Jahr bei einer Veranstaltung in Bratislava ermuntert<br />
hat, als Christen in der Gesellschaft mitzuwirken, um damit Gott in die<br />
Gesellschaft hineinzubringen. Gott darf nicht aus dieser Gesellschaft verschwinden,<br />
und dafür wollen wir uns mit Zuversicht einsetzen.<br />
Beata Broczky, Budapest:<br />
Die ungarische Kommission „Justitia et Pax“ ist bestrebt, durch Zusammenarbeit<br />
mit Politikern, Verantwortlichen und so genannten Entscheidungsträgern<br />
christliche Werte in unsere Gesellschaft zu bringen. Diese<br />
Lobby-Arbeit ist ganz wichtig für uns in Ungarn. Wir müssen dazu, wie<br />
Bischof Keresztes schon gesagt hat, Geduld und Demut aufbringen. Die<br />
Zahl der engagierten Laien ist zum Glück schon sehr groß.<br />
Rita Waschbüsch, Lebach:<br />
Immer, wenn ich besonders traurig und mutlos bin oder in meiner Arbeit<br />
etwas ganz falsch gemacht habe, bin ich getröstet, wenn ich die Bibel<br />
nehme und den Satz lese „Ich bin bei euch alle Tage“. Dann weiß ich,<br />
dass alles zu einem guten Ende kommen wird.<br />
Prof. Dr. Stjepan Baloban, Zagreb:<br />
Was werden wir weiter tun? Wir werden in der Kirche Kroatiens als<br />
Pries ter und Laien neue Wege des Zusammenlebens suchen.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising:<br />
Danke schön! Vielen Dank an alle, die hier auf dem Podium und im Plenum<br />
mit diskutiert haben. Das letzte Wort hat jetzt der Geschäftsführer<br />
von <strong>Renovabis</strong>, Pater Dietger Demuth, für das Schlusswort.<br />
173
Am Podium von links:<br />
Prof. Dr. Stjepan Baloban, Rita Waschbüsch,<br />
Dr. Gerhard Albert, Beata Broczky, Pavol Kossey
III. Berichte aus den Arbeitskreisen
Blick in Arbeitskreis 6 (oben) und auf die Podien<br />
der Arbeitskreise 2 (Mitte) und 5 (unten)
Arbeitskreis 1<br />
Christlicher Humanismus – Angebot einer<br />
gemeinsamen Wertebasis?<br />
Referenten: Dr. Maria Martens MdEP,<br />
Straßburg/Brüssel<br />
Prof. Dr. Helmut Juros, Warschau<br />
Moderation: Prof. Dr. András Máté-Tóth, Szeged/Ungarn<br />
Der Arbeitskreis – mit ca. 20 Personen und einer starken Präsenz von<br />
Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus den östlichen Nachbarländern –<br />
knüpfte unmittelbar an die Hauptthematik des <strong>Kongress</strong>es an. Sie aufgreifend<br />
und zuspitzend, formulierte der Moderator als Ausgangsfragen:<br />
1. Welche Werte werden den europäischen Prozess tragen? 2. Gibt es<br />
spezifisch christliche Werte, die wir in die Wertediskussion einzubringen<br />
haben und wo werden sie für die Praxis relevant? Ein Blick auf die<br />
europäische Wertedebatte zeigt, dass ein solcher Beitrag seitens der<br />
Chris ten und der Kirchen heute von vielen Politikern erwartet wird.<br />
Während Frau Martens auf das unleugbar in der christlichen Tradition<br />
wirksame Humanitätspotential hinwies (in den Niederlanden sind die<br />
Christen Spitzenreiter bei Sammlungen für soziale Zwecke), betonte<br />
Professor Juros die Notwendigkeit, den Begriff des christlichen Humanismus<br />
genauer zu definieren. Damit gab er das Stichwort für zahlreiche<br />
Diskussionsbeiträge, die um den offensichtlich nicht ganz einfachen<br />
Begriff des christlichen Humanismus kreisten. Worin liegt das Unterscheidende<br />
des christlichen Humanismus gegenüber den Humanismen<br />
anderer, z.B. liberaler oder sozialistischer Prägung? Gibt es einen ethischen<br />
„Mehrwert“ des Christlichen? Wenn ja, worin besteht er, worin<br />
gründet er?<br />
177
So sehr diese Frage die Teilnehmer umtrieb, so klar war, dass die Diskussion<br />
nur Annäherungen erbringen konnte. Dabei verwies eine Reihe von<br />
Diskussionsrednern auf das dem Christentum eigene ganzheitliche Verständnis<br />
des Menschen, das den Menschen auf eine letzte Wahrheit und<br />
ein unbedingtes Gute ausgerichtet sieht. Hier komme ein „Absolutes“ in<br />
den Blick, das den Einzelnen dem Zugriff alter (politischer) und neuer<br />
(gesellschaftlicher) Totalitarismen entziehe und als Bezugspunkt für die<br />
notwendige Verständigung über die Werte, die in Europa gelten sollen,<br />
unverzichtbar sei.<br />
Andere argumentierten eher offenbarungstheologisch, indem sie das spezifisch<br />
Christliche weniger in der Abgrenzung von den universellen humanen<br />
Werten als in deren Radikalisierung, Begründung und Vertiefung<br />
erblickten. Christlicher Humanismus könne nicht davon absehen, dass<br />
Gott in Jesus Christus nicht nur sich selbst, sondern auch dem Menschen<br />
den Menschen geoffenbart habe. Der unbedingte Anspruch des Evangeliums,<br />
die Gleichsetzung von Nächsten- und Gottesliebe, das neue Gebot<br />
(Lieben wie Er, bis zum Kreuz) setzen menschliche Werte nicht außer<br />
Kraft, sondern entbinden, tragen und stützen sie. Gibt es überhaupt einen<br />
Humanismus ohne dieses Fundament? Zeigt nicht gerade die europäische<br />
Geschichte das Scheitern einer Ethik ohne Gott? Warum konnte „Weimar“<br />
das in seiner Nachbarschaft liegende „Buchenwald“ nicht verhindern?<br />
Es wurde aber auch davor gewarnt, ein bestimmtes Ethos ausschließlich<br />
Christen zuzuschreiben. Findet man nicht mitunter außerhalb des Bezirks<br />
der Kirchen überzeugendere Beispiele „evangeliumsgemäßen“ Handelns?<br />
Es wurde an Karl Rahner erinnert, der von einem „anonymen<br />
Christentum“ sprach. Viele fühlen sich den ethischen Maßstäben des<br />
Evangeliums verpflichtet, ohne an Jesus Christus zu glauben. Das muss<br />
bei den Christen Interesse wecken. Hier eröffnen sich Felder solidarischer<br />
Zusammenarbeit. Spielen offenbarungstheologische oder metaphysische<br />
Begründungen überhaupt eine Rolle, wenn es um praktisches<br />
Handeln geht?<br />
Wie man diese Frage auch beantworten mag, einig war man sich im Arbeitskreis,<br />
christliches Ethos erweise sich in der Praxis vor allem in der<br />
178
Zuwendung zu den Kleinen und Schwachen, zu den Alten und Kranken.<br />
Christlich sei es, dem anderen einen „Vorschuss“ an Liebe entgegenzubringen,<br />
ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Christen sollten bereit<br />
sein, den ersten Schritt zu tun, wo die Verhältnisse in rein menschlicher<br />
Hinsicht ausweglos erscheinen. Die Relevanz einer solchen Haltung für<br />
das Zusammenwachsen Europas zeige sich beispielsweise im Umgang<br />
mit Minderheiten und allen gesellschaftlichen Gruppen, die auf besondere<br />
Solidarität angewiesen sind. Aufschlussreich war in diesem Zusammenhang<br />
auch der Hinweis auf die Gefahr der Manipulation des Menschen<br />
durch humangenetische Eingriffe, wie sie ein aktueller „Posthumanismus“,<br />
dem zufolge der Mensch erst noch zu kreieren sei, empfiehlt.<br />
In einem zweiten Gesprächsgang versuchte der Arbeitskreis, die Frage<br />
des christlichen Humanismus mit konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen<br />
zu verbinden. Wo sind heute Werte bedroht? Was sind unsere<br />
Antworten? Die Schilderung einer Teilnehmerin aus Litauen machte die<br />
Dramatik der Fragestellung deutlich. Litauen weist im Weltmaßstab eine<br />
der höchsten Suizidraten bei alten Menschen auf. In einem zunehmend<br />
materialistischen Klima erfahren sich alte Menschen vorwiegend als<br />
Last. Reicht hier eine verbesserte soziale Betreuung (falls Geld zu finden<br />
ist)? Ist hier nicht auch ein Umdenken in der Gesellschaft erforderlich?<br />
Wie kann dieses politisch gefördert werden?<br />
Andere Stimmen verwiesen auf den allgemeinen Trend zur Ellenbogengesellschaft,<br />
die ethisches Verhalten als Schwäche bestraft und unsolidarisches<br />
Verhalten prämiiert. Doch wo die „Gefahr“ nahe, da ist auch das<br />
„Rettende“ nicht fern. Als Symptome eines gegenläufigen Trends wurden<br />
die überraschend große Hilfsbereitschaft bei Katastrophen und die Hochschätzung<br />
von Liebe, Gemeinschaft und Solidarität in der jungen Generation<br />
genannt.<br />
In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Zeit musste es bei solchen<br />
Hinweisen bleiben. Die schlichte Feststellung, dass Werte (als Qualitäten<br />
des Handelns) nur da sind, wenn jemand nach ihnen handelt, sollte in jede<br />
Reflexion über christlichen Humanismus und Werte Eingang finden.<br />
Man mag die heutige Situation als „Werterelativismus“ oder „bloß“ als<br />
179
„Werteverschiebung“ beschreiben, fest steht: sie fordert Christen zum<br />
Dialog heraus – zu einem Dialog im Respekt vor der Meinung des Anderen<br />
und in Anerkenntnis der unsere Gesellschaft prägenden Autonomie<br />
(Martens). Christlicher Humanismus erweist sich dabei weniger in der<br />
Verteidigung eines spezifischen Wertekatalogs als im Bezeugen der befreienden<br />
Erfahrung, dass „Gott in Jesus Christus jeden Menschen als<br />
wertvoll angenommen hat“ (Juros).<br />
180<br />
Wilhelm Rauscher, Berlin
Arbeitskreis 2<br />
Politik aus christlicher Verantwortung:<br />
Anspruch und Wirklichkeit<br />
Referenten: Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Bonn<br />
Prof. Dr. Manfred Spieker, Osnabrück<br />
Erzabt Asztrik Várszegi, Pannonhalma/Ungarn<br />
Moderation: Burkhard Haneke, Freising<br />
Der Arbeitskreis stellte sich die Frage, wie der Mensch christliche Werte<br />
in der Politik verwirklichen und Politik aus christlicher Verantwortung<br />
gestaltet werden kann. Vor Wahlterminen (Bundestagswahl im September<br />
<strong>2002</strong>) rücken Themen, die sich mit christlichen Werten auseinandersetzen,<br />
stärker in den Vordergrund. Welche Bedeutung haben heute diese<br />
christlichen Werte? Spielen sie im täglichen Umgang miteinander eine<br />
Rolle? Nach dem Wahlsieg der SPD im Jahre 1998 verzichteten einige<br />
SPD-Minister bei der Vereidigung auf den Passus „so wahr mir Gott<br />
helfe“. Brauchen wir also Gott und die Kirche in der Politik? Häufig wird<br />
gar die Frage gestellt, was überhaupt der Glaube in der Politik zu suchen<br />
habe. Gibt es somit eine Orientierungskrise in der Gesellschaft? Was ist<br />
überhaupt eine Bürgergesellschaft? An diese eingangs vorgebrachten<br />
Überlegungen von Burkhard Haneke gingen die drei Referenten unterschiedlich<br />
heran.<br />
Professor Meyer stellte fest, dass das ZdK keine parteipolitische Nähe zu<br />
einer der Parteien einnehmen dürfe. In fast allen deutschen Parteien seien<br />
aktive Christen tätig. Es gäbe kein Parteiprogramm der Christen. In<br />
Deutschland habe es historische Ursachen für die Gründung einer CDU<br />
gegeben. Evangelische und katholische Christen hätten die Gründung<br />
dieser Partei als Notwendigkeit nach den Ereignissen vor und während<br />
181
des Zweiten Weltkriegs gesehen. Dieser Anspruch, die Christen in einer<br />
Partei zu einen, habe natürlich auch Kritik auf sich gezogen. Heute müsse<br />
man sich auch in der CDU die Frage stellen, ob eine solche Partei eine<br />
Zukunft habe, wenn Christen in der Gesellschaft in der Minderheit seien.<br />
Erzabt Várszegi setzte sich äußerst kritisch mit der Situation der Kirche<br />
und der Politik in Ungarn auseinander. Die Gesellschaft sei feudal. Es<br />
herrsche eine Art „Josephinismus“. Bis vor zwölf Jahren habe es in Ungarn<br />
eine Staatskirche gegeben. Die Vision der Kirche, eine Volkskirche<br />
zu sein, sei nicht gegeben. Heute fühle sich die Kirche als Mehrheit und<br />
benehme sich wie eine Minderheit. Es gebe Christen, die sich aktiv in der<br />
Politik einbringen, aber es müsse hinterfragt werden, ob es dadurch eine<br />
christliche Politik gebe. Es müsse grundsätzlich geklärt werden, wie die<br />
Kirche sich zum Staat stelle. In vielen postkommunistischen Ländern<br />
seien heute die Kirche und der Staat schwach. Der Staat brauche vielfach<br />
die Kirche zur Legitimation seiner Ordnung. Somit ergebe sich die paradoxe<br />
Situation, dass die Kirche an der Seite der Mächtigen eine vermeintlich<br />
starke Position gewinnt. In Ungarn erzielten Parteien mit historischen<br />
Wurzeln eine gewichtigere Bedeutung. Derzeit befänden sich die „Partei<br />
der Kleinwirte“ und die der „Jungdemokraten“ im Aufschwung.<br />
Professor Spieker mahnte, dass das Verhältnis von Glaube und Politik<br />
richtig bestimmt werden müsse, da man sonst leicht in Sackgassen geraten<br />
könne. In der heutigen Zeit sei es bedeutsam, dass auch die Presse die<br />
christlichen Werte nicht verletze. Ein arbeitsfähiges Pressegesetz sei notwendig.<br />
Für die Politik stellte er fünf Leitlinien auf:<br />
– Politik hat eine sittliche Bedeutung;<br />
– kein Reich dieser Welt ist eine Verwirklichung der christlichen Werte;<br />
– legitime Autonomie der Politik;<br />
– Sachgerechtigkeit politischer Entscheidungen (Sachkompetenz);<br />
– legitimer Pluralismus politischer Entscheidungen (Suche nach dem<br />
kleinsten Übel).<br />
Die anschließende Diskussion stellte Macht als eine Notwendigkeit für<br />
das politische Gestalten und Weiterkommen dar. Kritisch wurde angemerkt,<br />
dass Christen häufig mit dem Faktor „Macht“ Schwierigkeiten<br />
182
hätten. Die kontroverse Diskussion, die nicht zu einem abschließenden<br />
Ergebnis gelangte, soll hier in Fragmenten wiedergegeben werden:<br />
• Der Gebrauch von Macht sei ein Mittel zur Zielerlangung. Die Macht<br />
erlaube es zu gestalten, aber stelle dabei keinen Wert dar. Die Verachtung<br />
von Macht sei Drückebergerei. Der aktive Mensch müsse Entscheidungen<br />
suchen. Das christliche Menschenbild sei dabei ein genereller<br />
Orientierungspunkt.<br />
• Der Gestaltungsakteur in der Politik sei der christliche Mensch. Er<br />
könne mit der ihm auf Zeit übertragenen Macht die Politik gestalten. Er<br />
könne Ideen und Werte verwirklichen. Für die Zielerlangung habe er<br />
die Möglichkeit, sich in Interessenverbänden zusammenzuschließen.<br />
Das christ liche Weltbild stelle eine Orientierungshilfe dar.<br />
• In unserer heutigen Gesellschaft seien Parteien notwendig; Politik sei<br />
Parteipolitik. Der Einzelne müsse sich organisieren, um Ziele zu erreichen.<br />
Man müsse auch andere Auffassungen tolerieren. Die Rolle der<br />
Opposition gehöre zur modernen Demokratie. Kritische Äußerungen<br />
kamen von Vertretern aus den Staaten Mittel- und Osteuropas. Die Bürger<br />
würden nach nahezu 50 Jahren totalitärer Herrschaft nun Demokratie<br />
erleben. Leider zeige sich heute die Politik vielfach von der schmutzigen<br />
Seite. Die Grundelemente der Demokratie müssten noch erlernt<br />
werden. Uneinigkeit bestand dabei, wie die Kirche sich verhalten solle.<br />
Das Meinungsspektrum reichte von aktiver Einmischung in tagespolitische<br />
Abläufe bis hin nur zur Beschränkung auf die Verkündigung des<br />
Wortes Gottes.<br />
• Übereinstimmend begrüßt wurde eine politische Schulung für engagierte<br />
Christen. Sie sollten den Herausforderungen der Umbruchzeit<br />
nicht tatenlos ausgeliefert sein. Die Kirche sollte sich zu Grundsatzfragen<br />
äußern. Die Bischöfe könnten Laien unterstützen, aber keine Regelungen<br />
vorschlagen. Hier stelle sich die Frage, woher sie denn die<br />
Kompetenz hätten. Politik lebe von Wahlen und Veränderungen.<br />
Hierzu seien Parteien notwendig. Die Parteien müssten Programme<br />
formulieren. Zur Formulierung von Programmen müssten Sachverhalte<br />
diskutiert werden. Abschließend müssten Entscheidungen gefunden<br />
werden. Hierzu müssten Lernprozesse ablaufen. Die Kirche könne<br />
diese Diskussionen anregen und ein Forum bieten. Der Laie in der Kirche<br />
könne für die Politik trainieren. Nur durch Bildung und Erziehung<br />
183
könne man aktive Politik gestalten. Die historischen Umbrüche in der<br />
ehemaligen DDR und Polen zeigten, dass die Kirche Politik beeinflussen<br />
könne.<br />
• Politik sei existenziell für die Gesellschaft. Der Bürger ist der politische<br />
Akteur. Der Politiker werde gewählt und sei nur der Vertreter der<br />
Bürger. Politik ist nicht alles, aber in allem. Die Bischöfe sollten sich<br />
politisch weiterbilden. Sie müssten eine gewisse Befangenheit abbauen.<br />
• Die Kirche benötige Lobbyisten. Christen müssten ihre Anliegen deutlicher<br />
artikulieren. Zwischen Politik und Kirche müsse ein informelles<br />
Netzwerk aufgebaut werden. Beide Seiten sollten verstärkt gegenseitiges<br />
Vertrauen aufbringen. Für die anstehenden Probleme brauche die<br />
Kirche die Politik und die Politik die Kirche.<br />
184<br />
Paulis Apinis, Bonn
Arbeitskreis 3<br />
Die Benesˇ-Dekrete – eine „offene Wunde“ auf dem<br />
Weg nach Europa?<br />
Referenten: Abg. Ing. Jaroslav Lobkowicz, Pilsen<br />
Dr. Walter Rzepka, München<br />
Moderation: Dr. Gerhard Albert, Freising<br />
Das deutsch-tschechische Verhältnis ist bis heute durch die Auswirkungen<br />
der so genannten Benesˇ-Dekrete belastet. Darunter wird eine Reihe<br />
von Verfügungen des Präsidenten Edvard Benesˇ zusammen gefasst, die<br />
am Ende des Zweiten Weltkrieges die Rechtsgrundlage für die Enteignung<br />
und Vertreibung der deutschen und ungarischen Bevölkerung aus<br />
der damaligen Tschechoslowakei bildeten. Nach Ansicht politischer Beobachter<br />
in Deutschland und in der Tschechischen Republik wird die<br />
Frage der Bewertung dieser Dekrete auch im Zusammenhang mit dem<br />
geplanten Beitritt Tschechiens (und der Slowakei) zur Europäischen<br />
Union eine wichtige Rolle spielen. Die Alternative lautet, ob die Dekrete,<br />
die zu einer lang anhaltenden Diskriminierung der im Lande verbliebenen<br />
Deutschen führten, aufgehoben werden müssen – so etwa die sudetendeutsche<br />
Sicht – oder ob sie formell weiter bestehen sollten, jedoch<br />
ohne irgendwelche Rechtsfolgen für die in Tschechien lebenden Deutschen,<br />
da andernfalls – so die überwiegende Haltung der heutigen Tschechen<br />
– schwerwiegende Folgen für den Staatsaufbau der Tschechischen<br />
Republik zu befürchten seien. Eine abgewogene Auseinandersetzung mit<br />
der Problematik wird leider durch populistische Äußerungen beiderseits<br />
der Grenzen erschwert.<br />
Am Arbeitskreis, der sich mit dieser Thematik auseinandersetzte, nahmen<br />
28 Personen teil. Experten waren Ing. Jaroslav Lobkowicz, Abge-<br />
185
ordneter des Tschechischen Parlaments (Fraktion KDU-CSL/Christliche<br />
Demokraten) und Dr. Walter Rzepka, Bundesgeschäftsführer der sudetendeutschen<br />
Ackermann-Gemeinde. Im Anschluss an die Vorstellung<br />
der beiden Gesprächspartner entwickelte sich ein Gespräch mit den<br />
Schwerpunkten:<br />
– grundsätzliche Überlegungen zur Entstehung und Bedeutung der Dekrete;<br />
– Vorstellung politischer und kirchlicher Dokumente und Äußerungen<br />
zur Beurteilung der Benesˇ-Dekrete;<br />
– die Dekrete im Zusammenhang mit dem Beitritt der Tschechischen<br />
Republik zur EU;<br />
– rechtliche und politische Bewertung in der Slowakei.<br />
Eine wichtige Rolle zur Verbesserung des deutsch-tschechischen Verhältnisses<br />
kommt den Erklärungen der Kirchen und christlich orientierter<br />
Organisationen wie der Ackermann-Gemeinde zu (z.B. Gemeinsame Erklärung<br />
der Bischofskonferenzen 1995). Als Zeichen der Verständigung<br />
ist auch die Teilnahme von Erzbischof Jan Graubner, dem Vorsitzenden<br />
der Tschechischen Bischofskonferenz, am Sudetendeutschen Tag <strong>2002</strong><br />
zu werten. Ing. Lobkowicz und Dr. Rzepka betonten die Bedeutung des<br />
persönlichen Kennenlernens, z.B. durch Jugendtreffen und internationale<br />
Tagungen. Auch der Versöhnungsfonds wurde in diesem Zusammenhang<br />
erwähnt.<br />
Problematisch bleibt der Vorwurf der Kollektivschuld gegen die Sudetendeutschen,<br />
der in den Dekreten erhoben wird, weshalb nach Ansicht von<br />
Dr. Rzepka eine Aufhebung unabdingbar sei. Mit rechtsstaatlichen Prinzipien<br />
sei die in den Dekreten enthaltene Straffreiheit ebenfalls nicht vereinbar.<br />
Ing. Lobkowicz betonte, die Dekrete seien aus dem Geist der Zeit<br />
zu verstehen und hätten heute keine praktische Auswirkung mehr, was<br />
Dr. Rzepka allerdings nicht vorbehaltlos unterstützen konnte.<br />
Nach übereinstimmender Ansicht aller Teilnehmer ist es noch ein beschwerlicher<br />
Weg zur Überwindung der Spannungen zwischen Deutschen<br />
und Tschechen. Die Benesˇ-Dekrete bilden derzeit ein großes Hin-<br />
186
dernis auf dem Weg zur deutsch-tschechischen Versöhnung. Ob sich das<br />
in naher Zukunft ändern wird, hängt sehr stark von den politisch verantwortlichen<br />
Personen in beiden Ländern ab.<br />
Dr. Gerhard Albert, Freising<br />
Im Rahmen des 6. Internationalen <strong>Kongress</strong>es <strong>Renovabis</strong> fand ein<br />
erstes Treffen von <strong>Renovabis</strong>-Stipendiaten statt. Schwester Waltraud<br />
Schulte PIJ, zu diesem Zeitpunkt noch als <strong>Renovabis</strong>-Referentin für<br />
die Stipendien zuständig, freute sich, die Basis für ein Netzwerk der<br />
im deutschsprachigen Raum studierenden jungen Menschen mit auf<br />
den Weg bringen zu können.<br />
187
Arbeitskreis 4<br />
Frauen in Mittel- und Osteuropa:<br />
Aufbruch – Stagnation – Resignation?<br />
Referenten: Inge Bell, München<br />
Judit Féher, Aachen/Budapest<br />
Renata Jankeviciute, Vilnius<br />
Moderation: Eva Wawrzyniak, Freising<br />
Vorstellung der Referentinnen<br />
– Inge Bell: geboren in Siebenbürgen/Rumänien, seit 1972 in Deutschland,<br />
Studium der Geschichtswissenschaften; freie Journalistin in<br />
München, besonders <strong>Dokumentation</strong>en und Reportagen zum Thema<br />
„Frauenhandel“ (Berichte aus Bulgarien, Makedonien, Rumänien).<br />
– Judit Féher: Studium der Germanistik und Anglistik in Budapest; mehrere<br />
Jahre Tätigkeit als Lehrerin, z. Zt. zweijähriger Europa-Studiengang<br />
in Aachen.<br />
– Renata Jankeviciute: Studium der Germanistik; Gymnasiallehrerin,<br />
Mitarbeit in der katholischen Laienarbeit in Litauen.<br />
Schwerpunkte der Statements<br />
(Die Diskussion knüpfte teilweise direkt an einzelne Punkte an.)<br />
a) Inge Bell<br />
– Weitverbreitete zerrüttete Familiensituation, Kinder fliehen aus ihren<br />
Familien (Alkohol, Drogen, Arbeitslosigkeit);<br />
– „vorauseilende Resignation“ vieler Frauen: selbstständige (berufliche)<br />
Initiative hat ohnehin keinen Sinn; Ursache: „Aushungerung“ der<br />
MOE-Länder im Kommunismus;<br />
188
– Falle für viele Frauen: Verlockung des „schnellen Geldes“ im Westen<br />
und Wagnis zum Neuanfang im westlichen Ausland;<br />
– „Frauenhandel“: Thema, das mit unvorstellbarem Leid für viele Frauen<br />
verbunden ist (auch eine Anfrage an die westlichen Gesellschaften:<br />
Frauenhandel „boomt“ durch Nachfrage!); rumänische Frauen verkaufen<br />
sogar ihre Kinder wegen extremer materieller Armut; solche Mütter<br />
kommen oft schon aus geschädigten Familien (Teufelskreis!);<br />
– die Kirche muss gerade die Frauen zur Initiative ermutigen und Starthilfe<br />
geben (materiell, moralisch). (Dazu mehrere kritische Anfragen<br />
aus dem Teilnehmerkreis: Welche fördernde bzw. entmündigende<br />
Rolle spielen die Kirchen in MOE in dieser Frage?);<br />
– entsprechende Projekte brauchen Zeit, um nachhaltig zu wirken (mindestens<br />
drei Jahre); EU-Projekte sind häufig zu kurzfristig angelegt;<br />
– Rumänien ist besonders problematisch hinsichtlich der Rechtslage: bei<br />
Straffälligkeit im Ausland werden Frauen mit Passentzug und Ausreiseverbot<br />
bestraft;<br />
– nachweisbare Zusammenhänge zwischen konfessioneller Prägung und<br />
Mentalität (orthodoxe Frauen sind im Durchschnitt „schicksalsergebener“<br />
als katholische Frauen);<br />
– in Rumänien fehlen die Ansätze zu einer Zivilgesellschaft noch völlig.<br />
b) Renata Jankeviciute<br />
– In Litauen ist die Rate von Frauen in der Erwerbstätigkeit sehr hoch;<br />
– kirchliches Engagement von Frauen steht in den Anfängen, da Strukturen<br />
von Laienarbeit erst im Aufbau sind;<br />
– traditionell eine hohe Bildungsbereitschaft der Frauen, bedeutende Frauenliteratur<br />
in der litauischen Geschichte, hohe Akademikerinnenrate;<br />
– aktuelle Problematik: hohe Rate von Kindestötungen und -aussetzungen;<br />
– Caritas Litauen sucht mit Zentren für Mutter und Kind gegenzusteuern,<br />
ein Adoptionsprogramm ist in Planung.<br />
c) Judit Féher<br />
– Ungarn hat die höchste Selbstmordrate in Europa;<br />
– es gibt eine gewisse Bewegung des „stillen Aufbruchs“ von Frauen in<br />
Ungarn;<br />
189
– die Rechte der Frauen sind im Vergleich zur allgemeinen Entwicklung<br />
im Transformationsprozess noch wenig entwickelt (Feminismus ist ein<br />
Schimpfwort in Ungarn); das „Frauenthema“ ist weitgehend unpopulär<br />
in Ungarn; es ist überhaupt kein „Männerthema“;<br />
– noch immer herrscht eine patriarchalische Familienordnung in Ungarn<br />
vor (Trennung zwischen Arbeit (Mann) und Familie/Erziehung (Frau);<br />
wie im Westen Mehrfachbelastung von Frauen;<br />
– Heiratsalter: vor der Wende zwischen 20 und 23 mit Kindern in frühen<br />
Ehejahren (staatliche Vergünstigungen), nach der Wende zwischen 27<br />
und 30;<br />
– heute: ausgeprägte Single-Kultur (Zahl der Eheschließungen geht stark<br />
zurück);<br />
– Rate der Ehescheidungen bei über 50 % – viele Ehemänner verstehen<br />
sich nicht als Partner, die ihre Frau in verschiedenen Lebenssituation/<br />
Lebenslagen unterstützen;<br />
– vielfache Belastung durch Alkohol- und Drogenprobleme;<br />
– stark entwickelter Dienstleistungs-Sektor: bessere Chancen für die<br />
Frauen auf dem Arbeitsmarkt – dennoch ungleiche Chancen und Verdienste<br />
für Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt (Verdienstunterschied<br />
hat sich aber etwas angeglichen);<br />
– Frauen müssen Belastungen durch die Arbeitslosigkeit ihrer Männer<br />
ausgleichen (Kind(er) und Beruf);<br />
– die Quote der Frauen mit Hochschulstudium ist nach der Wende angestiegen;<br />
– Frauen sind besonders im kommunalpolitischen Bereich aktiv;<br />
– nach der Wende haben sich neue Frauenorganisationen entwickelt (u.a.<br />
demokratischer Neuanfang des „Ungarischen Frauenrats“ (staatlich<br />
kontrollierte Organisation)).<br />
Als offene Frage bleibt stehen, ob mit der Erweiterung der Europäischen<br />
Union nach Osten und dem Beitritt von Ländern wie Ungarn, Litauen und<br />
Rumänien eine nachhaltige Verbesserung der Rechte der Frauen in diesen<br />
Staaten erwartet werden kann. Anzumerken ist außerdem, dass es mit den<br />
Rechten auf dem Papier nicht getan ist – entscheidend wird der tatsächliche<br />
Wandel zum Besseren sein.<br />
190<br />
Thomas Müller-Boehr, Freising
Arbeitskreis 5<br />
Bosnien-Herzegowina:<br />
Ein Gott – drei Glauben – gemeinsame Werte?<br />
Referenten: Pater Mile Babić, Sarajevo<br />
Prof. Dr. Niko Ikić, Sarajevo<br />
Pfarrer Jovan Marić, Wuppertal<br />
Moderation: Prof. Dr. Thomas Bremer, Münster<br />
In den Eingangsstatements zur Situation der Ökumene in Bosnien-Herzegowina<br />
stimmten die Diskutanten in ihrer Einschätzung darin überein,<br />
dass eine Dialogkultur zwischen den Religionsgemeinschaften als Basis<br />
für ein ökumenisches Zusammenleben nicht existiere. Professor Ikić<br />
sprach von „Gesprächsbarrikaden“ und „Requiematmosphäre“; Pater<br />
Babić wies auf den Zusammenhang von religiöser und nationaler Zugehörigkeit<br />
im kommunistischem System hin und warf den Religionsgemeinschaften<br />
vor, sich nicht ausreichend vom Nationalismus distanziert<br />
zu haben. Pfarrer Marić machte auf die Instrumentalisierung der Religionen<br />
für politische Zwecke nach dem Zusammenbruch des Kommunismus<br />
in Jugoslawien aufmerksam. Kritisch fragte er, ob die kirchlichen Würdenträger<br />
tatsächlich für ihre Gläubigen sprächen und Nächstenliebe<br />
predigten. Das Wesen der abrahamitischen Religionen liege schließlich<br />
im Vertrauen und der Liebe, darauf lasse sich die Zukunft von Bosnien-<br />
Herzegowina aufbauen. Inzwischen hätten die Religionsgemeinschaften<br />
Schritte hin zum Dialog gemacht, was lokale Initiativen bewiesen.<br />
Wie konnte aus dem ehemals friedlichen Zusammenleben<br />
Feindschaft entstehen?<br />
Auf die Frage, wie es möglich gewesen sei, dass aus friedlichem Zusammenleben<br />
Feindschaft entstanden sei, antwortete Professor Ikić, der Dia-<br />
191
log im religiösen Sinn habe nie eine höhere Stufe erreicht. 50 Jahre kommunistischer<br />
Ära bedeuteten eine Zeit des Verlusts ethischer und moralischer<br />
Werte. Dialog brauche aber die ständige Praxis und Vertiefung; dies<br />
sei nicht gegeben gewesen, sodass eine Angstatmosphäre entstanden sei,<br />
in der programmierter Hass auf die Existenz des Anderen und gegen Andersgläubige<br />
geschürt und die Grenzen zwischen Gut und Böse aufgelöst<br />
worden seien. Theologisch gesprochen: das Bild vom Anderen sei in seiner<br />
Wahrheit nicht akzeptiert worden. Der Krieg habe die Radikalisierung<br />
verstärkt, auch durch den zunehmenden Einfluss von Fundamentalisten,<br />
was den „Anschein eines Religionskriegs“ erweckt habe, in dem die Heiligtümer<br />
der Religionsgemeinschaften zu Zielscheiben geworden seien.<br />
Pfarrer Marić bemerkte, dass früher ein Dialog zwischen Katholiken,<br />
Protestanten und Orthodoxen stattgefunden habe, er aber häufig an der<br />
Oberfläche geblieben sei. Kontakte zu islamischen Vertretern seien darüber<br />
hinaus noch schwieriger zu knüpfen.<br />
Welche Werte für Bosnien-Herzegowina?<br />
Aktuell würden die Wertvorstellungen von Westeuropa und den USA<br />
übernommen, was eine Verabsolutierung und Ideologisierung ökonomischer<br />
Werte nach sich ziehe, kritisierte Pater Babić, und forderte den Vorrang<br />
geistiger vor materiellen Werten. Pfarrer Marić sprach den Werteverlust<br />
hinsichtlich der Menschenrechte an: „Nirgends ist ein Menschenleben<br />
billiger als in Bosnien.“ Vor diesem Hintergrund merkte Professor<br />
Bremer an, dass das Zusammenleben der Religionsgemeinschaften schon<br />
vor dem Krieg nicht stabil gewesen sein könne. Die Verletzung der Menschenrechte<br />
könne nur gestoppt werden, wenn im Zuge des „institutionbuilding“<br />
private Konflikte in staatliche Verantwortung gelegt würden.<br />
Aber wer definiere „Menschenrechte“? Wolle man beispielsweise muslimischen<br />
Gemeinschaften Regeln aufzwingen, die nicht ihrer Tradition<br />
entsprächen? Gibt es eine Universalität der Menschenrechte?<br />
Ökumene – „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“?<br />
Auf das Stichwort von Professor Bremer wurde besonders mit Blick auf<br />
die islamischen Gemeinschaften eingegangen. Während des Krieges<br />
sei der traditionell säkularisierte bosnische „Euro-Islam“ stärker von ex-<br />
192
tremen Strömungen geprägt worden, wobei sich die Diskutanten darin<br />
einig waren, dass dafür „importierte fundamentalistische Kräfte“ verantwortlich<br />
zu machen seien. Diese Entwicklung sei schwer rückgängig zu<br />
machen.<br />
Die Rolle der Hilfsorganisationen<br />
Die Diskutanten stimmten in der Einschätzung überein, dass die Vertreter<br />
von Hilfsorganisationen häufig die offizielle Regierungspolitik ihrer jeweiligen<br />
Herkunftsländer verfolgten. Ein weiteres Problem liege in pauschalen<br />
Beurteilungen der Region und Konfliktsituation sowie mangelndem<br />
Verständnis für die Komplexität der Probleme. Über Hilfsorganisationen<br />
mit konfessionellem Hintergrund werde weiterhin Einfluss auf die<br />
Empfänger von Hilfsgütern genommen, z.B. durch kostenloses Verteilen<br />
von Büchern mit extremen religiösen Ansichten, wobei von dieser Praxis<br />
alle Religionsgemeinschaften betroffen seien.<br />
Kann der bosnisch-europäische Islam eine Brückenfunktion<br />
übernehmen?<br />
Als problematisch wurde die unterschiedliche Verwendung finanzieller<br />
Unterstützung eingeschätzt: Während die christlichen Gemeinschaften<br />
einen hohen Nachholbedarf hätten, was den Bau von Kirchen angehe,<br />
förderten islamische Länder v. a. Moscheebauten; verwiesen wurde auf<br />
das Projekt „1.000 Moscheen für Bosnien und Herzegowina“, von denen<br />
bereits 500 renoviert bzw. neu gebaut worden seien. Dieses Vorgehen<br />
werde als ein Akt der Provokation verstanden von den Menschen, die aus<br />
ihren ursprünglichen Heimatgebieten vertrieben worden seien, welche<br />
inzwischen mehrheitlich von muslimischen Einwohnern bewohnt würden.<br />
Dagegen investiere der Westen eher in den Aufbau der Infrastruktur.<br />
Gibt es positive Erfahrungen des Dialogs zwischen den<br />
Religionsgemeinschaften?<br />
Die Bilanz von Professor Ikić fiel ernüchternd aus: Gemeinsame Gebete<br />
und Zusammenkünfte seien bisher nur auf privater Ebene möglich, ein<br />
institutioneller Austausch finde kaum statt. Es gebe zwar das Sprichwort<br />
193
„Not verbindet“, doch in Bosnien-Herzegowina habe die Not die Menschen<br />
voneinander getrennt. Ökumene werde als überflüssig betrachtet,<br />
der Wille zur Verständigung fehle beim Großteil beider Seiten, was auch<br />
daran liege, dass viele Menschen Ökumene mit dem Verlust ihrer religiösen<br />
Identität gleichsetzten.<br />
194<br />
Pia Kohorst, Münster
Arbeitskreis 6<br />
Rumänien: Nebeneinander oder Miteinander in Christus<br />
Referenten: Prof. Dr. Viorel Ionit,a, Genf<br />
Dr. Dan Ruscu, Cluj Napoca<br />
Pfr. Sorin Ghilezan, Temesvar/Timis¸oara<br />
Moderation: Martin Buschermöhle, Freising<br />
Arbeitskreis 6 begann mit einem stellvertretend von Pfarrer Sorin Ghilezan<br />
vorgetragenen Grußwort des rumänisch-orthodoxen Metropoliten Nicolae<br />
Corneanu, Bischof von Temesvar/Timis¸oara, der ursprünglich als<br />
Gast auf dem Podium erwartet worden war. Darin hob der Metropolit<br />
hervor, dass katholische und orthodoxe Christen gemeinsam Verantwortung<br />
für den Kontinent Europa übernehmen müssen. Voraussetzung dafür<br />
sei der Wunsch, dass Orthodoxe und Katholiken als Brüder und Schwestern<br />
leben wollen. Er zeigte weiterhin Felder gemeinsamen Handelns<br />
auf: die gemeinsame Feier liturgischer Feste, z.B. durch eine mögliche<br />
Angleichung des Datums der Osterfeier, weiterhin die Verbesserung des<br />
ökumenischen geistlichen Lebens und gemeinsame Hilfsaktionen. 1<br />
Bei aller Versöhnungsbereitschaft, die dem Schreiben des Bischofs zugrunde<br />
lag, wurden die Spannungen zwischen der orthodoxen und insbesondere<br />
der griechisch-katholischen Kirche in den Beiträgen der Podiums-<br />
und Diskussionsteilnehmer überdeutlich. Dr. Dan Ruscu, Historiker<br />
an der griechisch-katholischen Theologischen Fakultät in Cluj, wies in<br />
seinem Beitrag auf das Verbot der griechisch-katholischen Kirche durch<br />
die Kommunisten und die Übertragung ihrer Güter an die orthodoxe Kirche<br />
in Rumänien im Jahr 1948 hin. Er würdigte den mutigen Schritt des<br />
1 Vgl. dazu auch OST-WEST. Europäische Beziehungen 3/<strong>2002</strong>, S. 226–229.<br />
195
Metropoliten Corneanu, der nach der Wende schon im Jahre 1990 zahlreiche<br />
enteignete Kirchen den ursprünglichen Eigentümern oftmals in<br />
feierlicher Form zurückgegeben hatte. Dr. Ruscu betonte jedoch auch,<br />
dass dieses auf das Banat begrenzte Handeln eine Ausnahme sei, die<br />
allein dem unermüdlichen Bemühen des Metropoliten um den interkonfessionellen<br />
Dialog geschuldet sei. Andere orthodoxe Diözesen seien<br />
diesem Beispiel leider nicht gefolgt, hätten sogar gewaltsam juristisch<br />
erstrittene Rückgaben von Kircheneigentum verhindert.<br />
Der Kommunismus habe die Grundlage des rumänischen Denkens zerstört,<br />
Chauvinismus und Intoleranz gesät. So wurden Andersdenkende,<br />
insbesondere Intellektuelle und religiöse Menschen, mundtot gemacht<br />
und ins Gefängnis geworfen. Alle griechisch-katholischen Bischöfe wurden<br />
in dieser Zeit politischer Verfolgung umgebracht. Nach den schrecklichen<br />
Verwerfungen durch die jüngere rumänische Geschichte bedarf es<br />
einer „sanatio ad radicem“. Ruscu mahnte ferner: „Jedes Volk braucht<br />
eine Ikone.“ Für das rumänische Volk könnte diese die christliche Liebe<br />
sein.<br />
Professor Ionit,a fügte dieser Darstellung ein Modell gelungenen ethnischen<br />
und religiösen Zusammenlebens hinzu, das er der älteren Geschichte<br />
insbesondere Siebenbürgens entlehnte. Erst die Zerstörungswut<br />
des Kommunismus und die postkommunistische „nationale Besinnung“<br />
habe aus einem wenigstens friedlichen Nebeneinander ein feindliches<br />
Gegeneinander erzeugt, bestätigt er. Außerdem verwies Ionit,a auf die<br />
pogromartigen Ausschreitungen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre<br />
in Tirgu Mures¸ und anderen Städten. Während der kommunistischen Unterdrückung<br />
habe es eine „Ökumene unter dem Kreuz“ gegeben. Der<br />
Beitritt der orthodoxen Kirche Rumäniens zum ÖRK ermöglichte seinerzeit<br />
wenigsten einen theologischen Austausch und den Kontakt zur Weltkirche,<br />
der heute leider wieder am Boden liege.<br />
Die Geister der Diskussionsteilnehmer schieden sich im nachfolgenden<br />
Austausch an der Frage des kirchlichen Baubooms. In Rumänien wurden<br />
– so lautete ein Vorwurf – im letzten Jahrzehnt mehr Kirchen errichtet als<br />
im ganzen zwanzigsten Jahrhundert. Der Bauboom aller Konfessionen<br />
196
wird als Ausdruck der Konkurrenz zwischen den Kirchen und als <strong>Dokumentation</strong><br />
ihrer Präsenz und Stärke gedeutet.<br />
Ein Theologe unter den Diskussionsteilnehmern wies darauf hin, dass<br />
die Institution Kirche Konfessionen und ihre vielfältigen Ausdrucksformen<br />
brauche. Eine praktizierte Ökumene sei heute in Rumänien zwar die<br />
Ausnahme. Umso wichtiger seien aber gelungene Beispiele der Verständigung,<br />
etwa ein gemeinsames Forschungsprojekt, das die Theologischen<br />
Fakultäten von vier christlichen Konfessionen an der Universität<br />
Cluj angeregt haben. Man könne sich auch erinnern, dass es noch bis<br />
1948 üblich gewesen sei, dass sich in Kleinstädten orthodoxe und griechisch-katholische<br />
Priester bei Abwesenheiten gegenseitig vertreten<br />
hätten. Auch hätten die Ehefrauen der Priester nicht bei ihren Ehemännern<br />
gebeichtet, sondern die Frau des griechisch-katholischen Priesters<br />
beim orthodoxen Priester und umgekehrt dessen Frau beim griechischkatholischen<br />
Pries ter.<br />
In der weiteren Diskussion wurde auch die Frage nationalistischer Tendenzen<br />
in Rumänien berührt. Das Land liegt ökonomisch am Boden. Die<br />
Menschen sind oft arm und verzweifelt. Sie suchen nach einfachen Lösungen,<br />
die von Kommunisten und insbesondere Nationalisten angeboten<br />
werden. Nachdem die christdemokratische Regierungspartei bis zum<br />
Jahre 2000 keine einschneidenden Veränderungen erbracht habe, wird<br />
Rumänien wieder von den Ex-Kommunisten unter Einbeziehung einer<br />
Nationalistischen Partei regiert. Der Glaube an die Hilfe aus dem Ausland<br />
ist erschüttert und die Furcht vor einer Vereinnahmung des Westens groß.<br />
In dieser mitunter hoffnungslosen und spannungsvollen Situation, so ein<br />
Teilnehmer, wird die tiefe Religiosität der Rumänen zu einer wichtigen<br />
Ressource. Die Kirchen stehen vor der großen Aufgabe, eine Kultur der<br />
Werte neu zu beleben. In Cluj beispielsweise werde an der theologischen<br />
Fakultät ein Studiengang zum Sozialarbeiter angeboten, der sehr erfolgreich<br />
sei. Weitere Erfolgsgeschichten wurden erzählt, etwa von einem<br />
Haus für gefährdete Frauen in Ias¸i unter der Leitung der Kirche, von Ausbildungsgängen<br />
für Religion – ein Fach, das erst nach 1989 wieder an öffentlichen<br />
Schulen unterrichtet werden darf –, oder vom Bau von Waisenhäusern,<br />
die ebenso wichtig seien wie Kirchbauten.<br />
197
Professor Ionit,a betonte zum Abschluss, dass auch die rumänisch-orthodoxe<br />
Kirche, in einer Zeit, in der sie um Orientierung ringe, eine Soziallehre<br />
dringend brauche. Richtlinien für die Praxis christlichen Lebens<br />
seien gefordert. Er hob hervor, dass der rumänisch-orthodoxe Patriarch<br />
von Bukarest eine Abteilung „Kirche und Gesellschaft“ gegründet habe,<br />
die sogar die größte der ganzen Verwaltung des Patriarchats sei: ein weiteres<br />
Hoffnungszeichen auf dem Weg zu einem Miteinander in Christus.<br />
198<br />
Michael Schirmer, Göppingen
Arbeitskreis 7<br />
Orthodoxie und Katholizismus:<br />
Zwischen „Tauwetter“ und „neuer Eiszeit“<br />
Referenten: Prof. Dr. Vladimir Fedorov, St. Petersburg<br />
Dr. Johannes Oeldemann, Paderborn<br />
Weihbischof Stanislav Schyrokoradiuk, Kiev<br />
Moderation: Dr. Christof Dahm, Freising<br />
Mit der Errichtung der ordentlichen Hierarchie in Russland durch Papst<br />
Johannes Paul II. im Februar <strong>2002</strong> brach ein offener Streit zwischen der<br />
römisch-katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche aus, der während<br />
des gesamten Jahres <strong>2002</strong> und auch darüber hinaus zu einer erheblichen<br />
Verschlechterung der beiderseitigen Beziehungen geführt hat. Die<br />
Auseinandersetzungen mündeten in gegenseitige Schuldvorwürfe ein,<br />
wonach man auf beiden Seiten die besonderen Rechte, Gegebenheiten<br />
und Empfindlichkeiten nicht beachtet habe. Vor diesem Hintergrund ist<br />
es verständlich, dass der Arbeitskreis „Orthodoxie und Katholizismus“<br />
von zeitweise mehr als 50 Teilnehmern besucht war, zumal die Experten<br />
recht unterschiedliche Ansätze in ihren Statements und Beiträgen wählten<br />
und aus dem Publikum eine Reihe wichtiger Ergänzungen gemacht<br />
wurden.<br />
Prof. Dr. Vladimir Fedorov beschrieb eingangs in sehr persönlich vorgetragener<br />
Skizze seine Sicht der Ursachen der jetzigen verfahrenen Situation.<br />
Er knüpfte dabei an seine Ausführungen vom Vormittag an und<br />
stellte in einem weiten Bogen die Entwicklung der orthodoxen Kirche in<br />
Russland vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dar. Als Folge jahrzehntelanger<br />
Unterdrückung ist die russische Orthodoxie von tiefer Verunsicherung<br />
und Verletzung geprägt. Dies bewirkt u.a. eine Verhaftung<br />
199
in alten Denkmustern und historisch verwurzelten Vorurteilen gegenüber<br />
„Rom“. Das müsse man auf katholischer Seite stärker berücksichtigen.<br />
Entscheidend ist, wie er betonte, die Tatsache, dass die orthodoxe Kirche<br />
in Russland zwar ein Erbe von 1000 Jahren habe, damit aber nicht für die<br />
heutige Situation gerüstet sei. Es habe durchaus Phasen enger Zusammenarbeit<br />
zwischen der orthodoxen und katholischen Kirche gegeben,<br />
z.B. im 16. Jahrhundert, und auch das Problem des Proselytismus werde<br />
seiner Erachtens überbetont.<br />
Als „Außenstehender“ stellte Dr. Johannes Oeldemann seine Sicht zur<br />
Genese des Konflikts dar. Er verwies auf Weichenstellungen seit den<br />
achtziger Jahren, etwa unter dem Schlagwort „Identität durch Abgrenzung“.<br />
Die Situation der russischen Orthodoxie sei durch eine langsame,<br />
aber doch stetige Verbesserung der Strukturen gekennzeichnet. Dies<br />
zeige sich z.B. in einer Verbesserung der theologischen Ausbildung – die<br />
aber immer noch nicht ausreichend sei – und beeinflusse auch die sich<br />
positiv entwickelnden Weihezahlen. Insgesamt trete die Orthodoxie<br />
selbstbewusster als noch vor wenigen Jahren auf, und das habe sicher<br />
auch mit zu den aktuellen Spannungen beigetragen.<br />
Eine in mehrfacher Hinsicht von der Minderheitensituation geprägte<br />
Stellung vertrat Weihbischof Stanislav Schyrokoradiuk. Die römisch-katholische<br />
Kirche in der Ukraine befinde sich gegenüber der ukrainischunierten<br />
Kirche und der in drei rivalisierende Richtungen gespaltenen<br />
Orthodoxie in einer kleinen Randlage, die allerdings auch gewisse Chancen<br />
biete, da man sozusagen im Windschatten lebe. Allerdings sei das<br />
Verhältnis zwischen unierten und römischen Katholiken in den vergangenen<br />
Jahren auch nicht immer ganz spannungsfrei gewesen.<br />
Die Schwerpunkte der Diskussion lassen sich wie folgt zusammenfassen:<br />
– Die Spannungen sind in Russland besonders dort zu erkennen, wo<br />
durch äußere Faktoren (z. B. Medien, Lokalpolitiker) Vorurteile geschürt<br />
und Missstimmung künstlich erzeugt wird – bis hin zu Ausweisung<br />
von Geistlichen, Anschlägen gegen kirchliche Einrichtungen<br />
usw.<br />
200
– Das historisch gewachsene Ungleichgewicht zwischen Orthodoxie und<br />
Katholizismus werde von vielen Menschen in Russland so gedeutet,<br />
als ob „Rom“ mit materieller und personeller Überlegenheit Russland<br />
„erobern“ und „bekehren“ wolle. Die katholische Seite müsse – so eine<br />
von vielen Mitdiskutierenden vorgetragene Mahnung – mehr Sensibilität<br />
an den Tag legen und ggf. auch zur Zurücknahme überzogener Positionen<br />
bereit sein.<br />
– Der aktuelle Konflikt spiegelt nur ein tieferes Nichtverstehenwollen<br />
bzw. -können auf beiden Seiten. Bezogen auf die Orthodoxie ist der<br />
Konflikt „Rom – Moskau“ Teil einer Reihe weiterer ungelöster Problemfelder.<br />
Erinnert sei an die Situation in der Ukraine, in der orthodoxen<br />
Auslandskirche von Großbritannien und auf dem Athos.<br />
– Unklar ist, wieweit ein Dialog auf höchster Ebene zur Verbesserung<br />
der Situation beitragen kann. Das immer wieder angemahnte Treffen<br />
zwischen Papst und Patriarch von Moskau hat bis heute nicht stattgefunden.<br />
Ob es wirklich zur Klärung beitragen würde, lässt sich nicht<br />
eindeutig sagen.<br />
Als Fazit kann man festhalten: Entscheidend sind die persönlichen Kontakte,<br />
die zum Abbau von Missverständnissen und Vorurteilen beitragen.<br />
Auf der Ebene von Mensch zu Mensch ist das Verhältnis zwischen Katholiken<br />
und Orthodoxen in Russland und in den benachbarten GUS-<br />
Staaten erheblich besser als auf offizieller Ebene.<br />
Ein großes Problem bilden nach wie vor die Ausbildung des orthodoxen<br />
Nachwuchses und die Vertiefung der Kenntnisse auf katholischer Seite<br />
über die Orthodoxie. Bessere Kenntnisse des jeweils anderen (auf beiden<br />
Seiten!) tragen wesentlich zum Abbau von Misstrauen und zum Miteinander<br />
im Sinne von „Einheit in der Vielfalt“ bei. Natürlich sind damit<br />
nicht alle Grundprobleme gelöst; vor allem über das Selbstverständnis<br />
der Kirche und das Miteinander der Kirchen sollte im Anschluss an das<br />
Zweite Vatikanische Konzil weiter nachgedacht werden. Der Dialog zwischen<br />
den Kirchen ist aber schon voll im Gange und wird, wie die Gesprächsteilnehmer<br />
betonten, auch nicht mehr abreißen.<br />
Dr. Christof Dahm, Freising<br />
201
Arbeitskreis 8<br />
An der Schwelle zur Europäischen Union:<br />
Beitrittsländer zwischen Zuversicht und Skepsis<br />
Referenten: Cornelius Fetsch, Düsseldorf<br />
Nawojka Cieslińska-Lobkowicz, Warschau/München<br />
Dr. Volker Treier, Bamberg<br />
Moderation: Wolfgang Grycz, Königstein<br />
Einführungsgedanken von Frau Nawojka Cieslińska-Lobkowicz<br />
In Polen gibt es einen breiten Konsens bezüglich des Beitritts zur EU. Mit<br />
Ausnahme der Partei von Andrzej Lepper sind alle Parteien mehr oder<br />
weniger deutlich für den EU-Beitritt. In der Bevölkerung beträgt die<br />
Zustimmungsquote derzeit etwa 65 %. Trotzdem ist der Ausgang des Referendums<br />
im Frühsommer 2003 noch offen, weil damit auch regionale<br />
oder nationale Themen verknüpft werden.<br />
Einführungsgedanken von Cornelius Fetsch<br />
Bei der bevorstehenden Erweiterung der EU kommen etwa 100 Millionen<br />
Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern dazu. Dabei<br />
geht es mehr als nur um eine europäische Wiedervereinigung. Der Einigungsprozess<br />
ist niemals einseitig; er verändert sowohl die bestehenden<br />
als auch die neu hinzu kommenden Staaten. Skeptisch in den neuen Ländern<br />
sind vor allen Dingen Landwirte, ältere Menschen und gering Qualifizierte.<br />
Der Zusammenschluss ist in erster Linie politisch motiviert:<br />
Frieden statt Krieg. Wichtig sind gemeinsame Werte, die auf dem Christentum<br />
basieren, besonders die soziale Marktwirtschaft und eine engagierte<br />
Bürgergesellschaft. Auf dem Weg zur künftigen Gesellschaft<br />
braucht Europa ein Wertefundament. Die Osterweiterung ist kein Endpunkt,<br />
sondern vielmehr Start in eine neue Zukunft.<br />
202
Einführungsgedanken von Dr. Volker Treier<br />
Die mitteleuropäischen Beitrittsländer sind in sich und untereinander so<br />
unterschiedlich strukturiert wie auch die westeuropäischen Länder. Die<br />
in diesen Staaten wirtschaftlich weit verbreitete Skepsis ist vergleichbar<br />
mit den Argumenten der Globalisierungsgegner weltweit. Vorteile des<br />
EU-Beitritts aus der Sicht der mittelosteuropäischen Länder sind freier<br />
Güterhandel und erweiterte Produktionsmöglichkeiten aufgrund komparativer<br />
Kostenvorteile. Befürchtungen bestehen wegen des möglichen<br />
Aufkaufes von Land und Betrieben sowie eines Ausverkaufs von qualifizierten<br />
Menschen.<br />
Schwerpunkte der Diskussion<br />
a) Skepsis<br />
– mentale Unterschiede bleiben bestehen, weil es über Generationen hinweg<br />
unterschiedliche Erfahrungen gegeben hat;<br />
– Warnung vor dem Überstülpen wirtschaftlicher und politischer Konzepte;<br />
– an der neuen Ostgrenze der EU gibt es neue Probleme („silberner Vorhang“);<br />
– ein besonders sensibler Bereich ist die Landwirtschaft, hier insbesondere<br />
in Polen;<br />
– Sorge, ob in den Beitrittsländern auch Wertediskussionen geführt<br />
werden;<br />
– mangelnde bzw. wenig sachgerechte Informationspolitik in Mittel- und<br />
Osteuropa bezüglich der EU;<br />
– zentrale Ängste: Souveränitätsverlust, nachdem die Länder erst seit ca.<br />
zehn Jahren frei sind;<br />
– in Slowenien ist man skeptisch, z. B. bei ausländischen Investitionen<br />
(Banken, Brauereien).<br />
b) Zuversicht<br />
– die unternehmerischen Initiativen in Mittel- und Osteuropa sollten<br />
grundsätzlich positiv aufgenommen werden;<br />
– viele bereits stattgefundene Begegnungen, Austauschprogramme und<br />
wirtschaftliche Verflechtungen stimmen zuversichtlich;<br />
203
– die Rolle der Heimatvertriebenen ist teilweise sehr konstruktiv, wenn<br />
diese zurückkommen und anpacken;<br />
– die bereits bestehenden Euregios bringen sehr viel Gemeinsamkeit;<br />
– Hoffnung, dass der Beitritt von zehn relativ dynamischen Reformstaaten<br />
einen neuen Schub zur Aufhebung von westlichen Reformstaus<br />
bringen wird;<br />
– die Kirche unterstützt in allen Beitrittsländern den EU-Beitritt.<br />
Vorschlag<br />
– Die Kirche(n) soll(en) noch viel mehr für Begegnungen, Pfarr- und<br />
Verbändepartnerschaften, das Anbahnen von Kommunalpartnerschaften<br />
usw. tun.<br />
204<br />
Sepp Rottenaicher, Halsbach
Liste der Referenten und Moderatoren<br />
Dr. Gerhard Albert<br />
Stellvertretender Geschäftsführer<br />
von <strong>Renovabis</strong>, Freising<br />
Pater Mile Babić<br />
Franziskaner, Sarajevo<br />
Prof. Dr. Stjepan Baloban<br />
Zentrum zur Förderung der<br />
Soziallehre, Zagreb<br />
Inge Bell<br />
Journalistin, München<br />
Erzbischof Josip Bozanić<br />
Erzbischof von Zagreb<br />
Prof. Dr. Thomas Bremer<br />
Ökumenisches Institut der Katholisch-Theologischen<br />
Fakultät,<br />
Universität Münster<br />
Beata Broczky<br />
Kommission „Justitia et Pax“, Budapest<br />
Martin Buschermöhle<br />
Länderreferent bei <strong>Renovabis</strong>,<br />
Freising<br />
Nawojka Cieslińska-Lobkowicz<br />
Kunsthistorikerin und Kulturpublizistin,<br />
Warschau/München<br />
Dr. Christof Dahm<br />
Wissenschaftlicher Referent<br />
bei <strong>Renovabis</strong>, Freising<br />
Prof. Dr. Vladimir Fedorov<br />
Leiter des Orthodoxen Instituts<br />
für Missiologie, Ökumene und<br />
neue religiöse Bewegungen,<br />
St. Petersburg<br />
Judit Féher<br />
Studentin, Budapest/Aachen<br />
Cornelius Fetsch<br />
Ehrenvorsitzender des Bundes<br />
Katholischer Unternehmer,<br />
Düsseldorf<br />
Dr. Ingo Friedrich MdEP<br />
Vizepräsident des Europäischen<br />
Parlaments, Straßburg/Brüssel<br />
Pfr. Sorin Ghilezan<br />
Pfarrer in Temesvar/Timis¸oara<br />
205
Wolfgang Grycz<br />
Wissenschaftlicher Berater bei<br />
<strong>Renovabis</strong>, Königstein<br />
Burkhard Haneke<br />
Leiter der Abteilung Kommunikation<br />
und Kooperation bei<br />
<strong>Renovabis</strong>, Freising<br />
Prof. Dr. Niko Ikić<br />
Dozent an der Theologischen<br />
Hochschule in Sarajevo<br />
Prof. Dr. Viorel Ionit,a<br />
Studienleiter der Konferenz Europäischer<br />
Kirchen (KEK), Genf<br />
Renata Jankeviciute<br />
Caritas Litauen,Vilnius<br />
Prof. Dr. Helmut Juros<br />
Ordinarius für Sozialethik,<br />
Politik- und Gesellschaftswissenschaften,<br />
Kardinal-Stefan-<br />
Wyszyński-Universität, Warschau<br />
György Konrád<br />
Präsident der Akademie der<br />
Künste, Berlin/Budapest<br />
Pavol Kossey<br />
Sekretär der christlich-demokratischen<br />
Bewegung, Bratislava<br />
206<br />
Peter Kujath<br />
Leiter des Bereichs Zentrale<br />
Aufgaben in der Hörfunkdirektion<br />
des Bayerischen Rundfunks,<br />
München<br />
Karl Kardinal Lehmann<br />
Bischof von Mainz und Vorsitzender<br />
der Deutschen Bischofskonferenz<br />
Abg. Ing. Jaroslav Lobkowicz<br />
Abgeordneter des Tschechischen<br />
Parlaments, Pilsen<br />
Adrian H. van Luyn SDB<br />
Bischof von Rotterdam,<br />
stellvertretender Vorsitzender<br />
der ComECE<br />
Erzpriester Jovan Marić<br />
Serbisch-orthodoxe Kirchengemeinde,<br />
Wuppertal<br />
Dr. Maria Martens MdEP<br />
Mitglied der Fraktion der<br />
Europäischen Volkspartei,<br />
Straßburg/Brüssel<br />
Prof. Dr. András Máté-Tóth<br />
Dozent an der Forschungsstelle<br />
für angewandte Religionswissenschaften,<br />
Szeged
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer<br />
Präsident des Zentralkomitees der<br />
deutschen Katholiken, Bonn<br />
Dr. Johannes Oeldemann<br />
Johann-Adam-Möhler-Institut<br />
für Ökumenik, Paderborn<br />
Dr. Dan Ruscu<br />
Dozent für Kirchengeschichte<br />
an der Griechisch-katholischen<br />
Theologischen Fakultät der<br />
Universität Cluj-Napoca<br />
Dr. Walter Rzepka<br />
Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde,<br />
München<br />
Weihbischof Stanislav<br />
Schyrokoradiuk<br />
Römisch-katholische Diözese<br />
Kiev-Zhitomir<br />
Prof. Dr. Manfred Spieker<br />
Ordinarius für Christliche Sozialwissenschaften,<br />
Institut für<br />
Katholische Theologie,<br />
Universität Osnabrück<br />
Dr. Volker Treier<br />
Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl<br />
für Finanzwissenschaft,<br />
Universität Bamberg<br />
Bischof Asztrik Várszegi<br />
Erzabt der Erzabtei Pannonhalma<br />
Rita Waschbüsch<br />
Stellvertretende Vorsitzende des<br />
Aktionsausschusses <strong>Renovabis</strong>,<br />
Lebach<br />
Eva Wawrzyniak<br />
Wissenschaftliche Referentin<br />
bei <strong>Renovabis</strong>, Freising<br />
207